Das Verschwinden der Luft - Christian Kahl - E-Book

Das Verschwinden der Luft E-Book

Christian Kahl

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bei einem Urlaub in Malaysia lernt der vermögende Mat Endesfelder die Schweizerin Darlene Waltz kennen, die in einem Tauchresort arbeitet. Eigentlich aber ist die junge Frau nur aus einem einzigen Grund auf Mataking: Sie will ihren Bruder James finden, der vor Jahren im Dschungel von Borneo verschwunden ist. Verschwunden wie die "Luft", das Urwaldvolk, bei dem er eine Zeit lang gelebt hat. Mat Endesfelder finanziert Darlene eine Expedition – unter der einzigen Bedingung, dass er sie begleiten darf. Mit einem einheimischen Guide brechen sie auf in die Regenwälder Borneos und werden Zeugen der Brandrodung, mit der eine skrupellose Holzmafia immer größere Flächen des Dschungels vernichtet, um Palmölplantagen anzulegen. Nach dem Verlust ihres Satellitentelefons ist die Gruppe ohne Verbindung zur Außenwelt. Da wird Darlene entführt und die Kidnapper drohen mit ihrer Hinrichtung. Mat hat 14 Tage Zeit, ihre Bedingung zu erfüllen: Er soll mit seinem Vermögen ein Stück Urwald kaufen. Wer aber sind die mysteriösen Auftraggeber der Entführung? Die Terrorgruppe Abu Sayyaf? Dieselben skrupellosen Geschäftemacher, die auch James Waltz auf dem Gewissen haben? Mat bleibt keine Wahl: Er muss um Darlenes und um sein Leben kämpfen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Das Verschwinden der Luft

Christian Kahl

 

Das Verschwinden der Luft

 

Thriller

Auch wenn dieser Geschichte tatsächliche Begebenheiten zugrunde liegen, sind doch Personen und Handlung fiktiv.

Dunkelheit

Er spürte einen stechenden Schmerz. Sein Hinterkopf tat weh. Er öffnete die Augen und sah schwarz.

Ein tiefes, undurchdringliches Schwarz.

Nur langsam gewöhnten sich seine Augen daran. Ein dünnes, sehr diffuses Licht verwandelte Schwarz in Grau. Zum ersten Mal hatte er den Hauch eines räumlichen Gefühls. Seine Synapsen übersetzten Farben und Abstände in Signale, die sein Verstand nun mühsam dechiffrierte: Er hatte etwas über dem Kopf, in seinem Mund steckte etwas, das nach Stoff schmeckte, und seine Hände waren gefesselt. Zumindest konnte er sie nicht bewegen. Um ihn herum roch es nach rostigem Eisen und er hörte ein dumpfes Klopfen. Als er sich zur Seite bewegte, bekam er einen Tritt in die Magengrube. Er zuckte zusammen. Dann setzte ein gleichmäßiges Wummern ein. Zuerst dachte er an einen Motor. Doch das Geräusch klang anders. Es pulsierte, waberte. Eine laute, einnehmende Präsenz. Ein Helikopter! Rotoren. Ja, er musste sich in einem Helikopter befinden. Er wusste nicht, wie lange er schon auf dem Boden lag und dieses Geräusch verfolgte. Minuten, vielleicht Stunden – ein traumähnlicher Zustand der Zeitlosigkeit setzte ein.

Als ihn mehrere Hände umfassten, kam er wieder zu sich. Fremde Stimmen waren zu hören. Hände zerrten an ihm, hoben ihn an und trugen ihn davon. Etwas quietschte. Vielleicht eine Tür. Sein Kopf wurde angehoben, die Beine nach unten gedrückt und man richtete ihn auf, bevor man ihn auf einen weichen Untergrund legte. Ein Bett. Er lag auf einem Bett. Schritte entfernten sich und es wurde ruhiger. Bis auf das Atmen einerPerson war nichts zu hören. Die Person berührte seine Hände. Etwas wurde zerrissen, vielleicht auch zerschnitten, ein kurzer Schmerz. Dann waren seine Hände frei. Man rollte ihn auf den Bauch. Dann entfernten sich die Schritte.

Stille.

Er rollte vorsichtig zur Seite und bewegte seine Arme. Keine Tritte. Langsam zog er die Maske von seinem Kopf und spuckte den Stofffetzen aus.

Der kleine Raum, in dem er sich befand, war abgedunkelt. Die vergilbten Vorhänge zugezogen. Trotzdem musste er die Augen zusammenkneifen. Alles wirkte so irrsinnig hell. Was war passiert? Wo zum Teufel hatte man ihn hingebracht?

Er richtete sich auf und erblickte seinen Rucksack. Jemand hatte tatsächlich seinen Rucksack neben das Bett gestellt. Hastig öffnete er die Verschlüsse. Alles schien an seinem Platz zu sein, sogar Ausweis, Geld und Kreditkarten. Wieso hatten sie das nicht gestohlen? Daneben fand er Schuhe, schmutzige Unterwäsche, Hosen, Shorts und eine Karte von Sarawak, die er nie benutzt hatte. Die größte Überraschung erwartete ihn in der rechten Seitentasche: ein Satellitentelefon. Es war nicht das gleiche Telefon, das im Dschungel so plötzlich verschwunden war. Aber es funktionierte. Er nahm den Rucksack, ging zur Tür und öffnete sie.

Eine Holztreppe führte nach unten. Dann stand er plötzlich vor einer verschlossenen Tür – der Ausgang, wie er vermutete. Kurz zögerte er, dann drückte er die Klinke nach unten. Die Tür sprang auf, grelles Licht blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Umrisse der Umgebung zu erkennen. Eine karge Landschaft, getrockneter Schlamm, überall Baggerspuren. Irgendwo am Rand vermutete er die Reste verbrannter Palmen. Kaum erkennbare, in der Hitze flimmernde Stummel.

Weiter unten gab es mehrere Baracken, ähnlich dem kleinen Haus, aus dem er gekommen war. Daneben lagen abgeschlagene Baumstämme, kahl und tot. Alles erinnerte an ein Holzfällercamp. Arbeiter sah er nicht. Er kontrollierte, ob er das Satellitentelefon eingesteckt hatte. Es war existenziell, seine einzige Verbindung in die Zivilisation. Er hielt das dunkle Plastik fest in der Hand und überlegte, was er tun sollte. Bevor er einen Entschluss gefasst hatte, klingelte das Telefon. Ein leises, dumpfes Geräusch. Das Display leuchtete grün auf.

Als hätte er darauf gewartet, nahm Mat das Gespräch an. „Hallo?“

Zuerst nur Rauschen.

Dann ertönte eine dunkle Stimme, die ihm unmissverständlich mitteilte, dass sie Darlene in ihrer Gewalt hatten. Wenn er sie wiedersehen wolle, solle er sich strikt an die Anweisungen halten. Der Mann sprach ein leicht gebrochenes Englisch. Mat konnte der Stimme kein Gesicht zuordnen.

„There is a bus stop down in the village. Der Bus fährt in fünfzehn Minuten nach Kuching. Nehmen Sie den Bus und warten Sie in Kuching auf weitere Anweisungen. Haben Sie das verstanden?“

„Verstanden.“

„And no police!“

„No police“, wiederholte Mat.

„If you do not follow our instructions, we'll chop off her head!“

Mat zitterte. Wir werden sie köpfen, wenn du unsere Anweisungen nicht befolgst! Dann wurde das Gespräch beendet.

*

Hinter einem der Schuppen fand er tatsächlich ein verrostetes Schild, auf dem ein Fahrzeug abgebildet war. Vermutlich die Bushaltestelle. Er stellte sich direkt daneben. Die Sonne brannte, er schwitzte. Ihm wurde heiß und augenblicklich wieder kalt, eine Art Fieberattacke, die nicht einmal verschwand, als er sich übergab. Der widerliche Geruch nach Magensäure stieg in seine Nase. Die Übelkeit wirbelte seine Gedanken auf. Alles raste, kreiste, verschwand für einen Augenblick in einer verschwommenen Leere, um dann wieder an die Oberfläche zu gelangen.

„If you do not follow our instructions, we'll chop off her head!“

Er wusste, dass in diesem Teil der Welt solche Dinge passierten. Er hatte Bilder im Netz gesehen von maskierten Männern, die einen Journalisten geköpft hatten. Umgeben von weinenden Müttern und schreienden Kindern hatten sie den Toten auf die Straße geworfen und dort liegen lassen. Ein Blick in den Abgrund war das gewesen, ein stilles Entsetzen aus der sicheren Distanz des eigenen Schreibtisches. Die empirische Bestätigung eines Grauens, das irgendwo tief in uns allen existiert. Selbst Teil dieses Wahnsinns zu sein, war jedoch etwas völlig anderes.

Irgendwann tauchte der Bus auf. Es war ein klappriges Mercedes-Modell. Der Busfahrer öffnete die Tür. Mat stieg die Stufen hoch und fragte auf Englisch, wo er sei. Der Busfahrer gab keine Antwort und zündete sich eine Nelkenzigarette an. Mat warf einen Blick in den Bus. Die meisten Sitze waren leer. Hinter dem Fahrer saßen zwei Arbeiter. Ihre Kleidung wirkte schmutzig und alt.

„Journalist?“, fragte der Busfahrer.

„No.“ Mat schüttelte den Kopf.

Der Fahrer schien beruhigt zu sein.

„What is the name of this place?“ Mat zeigte durch die mit Sand und Dreck beschmutzten Fenster nach draußen.

„No English.“

„This bus? Kuching?“

„Kuching!“ Dieses Wort schien der Mann zu kennen. „Yes.“

Mat bezahlte und setzte sich in die Mitte des Busses. Den Rucksack mit dem Telefon klemmte er zwischen seine Beine. Sein Gepäck durfte er auf keinen Fall verlieren. Vor allem das Telefon nicht. Es war sein Kontakt zu diesem Mann, dessen Stimme er noch nie zuvor gehört hatte.

Um auf Nummer sicher zu gehen, stieg er mit dem rechten Bein in die Schlaufe des Rucksacks und band sich die andere um das linke Bein. Falls er einschlafen und jemand ihn bestehlen sollte, würde er es so hoffentlich merken.

*

Gegen drei Uhr morgens kam er in Kuching an. Die Straßen waren leer. In der Ferne rauschten Motoren, es roch nach Urin und Abfall. Vereinzelt hörte er das Surren der Laternen, die in unregelmäßigen Abständen die Straße ausleuchteten. Er sehnte sich nach einem Bett, einem Ort, wo er heiß duschen und sich wie ein zivilisierter Mensch fühlen konnte; einem Ort, wo er nachdenken und verstehen konnte, was hier vor sich ging. Die letzten Stunden waren ein Sog gewesen, der ihn mit immenser Wucht – um genau zu sein, mit einem sehr heftigen Schlag – aus seiner Umgebung gerissen hatte. Überfordert und müde ließ er sich von einem Taxi ins nächstbeste Hotel fahren.

An der Rezeption des Pullmann Hotels musste er warten. Seine Klamotten waren mit Schlamm verkrustet, seine Haare fettig und ungewaschen. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Wäre er in dieser Verfassung im Four Seasons aufgetaucht, wo er auf Reisen für gewöhnlich wohnte, man hätte ihm vermutlich den Zutritt verweigert. Seine Platin-Kreditkarte erfüllte jedoch ihren Zweck. Sein Portemonnaie hatten sie ihm seltsamerweise gelassen.

Mat hinterließ ein großzügiges Trinkgeld von dreißig Ringgit, was in etwa zehn Euro entsprach. Dann nahm er den Aufzug in die elfte Etage. Sein Zimmer war modern und geräumig. Ein King-Size-Bett stand quer zum Fenster. Direkt daneben ein Flachbildfernseher und eine Minibar. Mat nahm sich ein Tiger Beer. Nach deutschen Standards schmeckte das Bier wässrig, aber es beruhigte seine Nerven. Erschöpft ließ er sich mit seinen Kleidern auf das Bett fallen und schloss die Augen. Statt vom Schlaf wurde er von den Fetzen seiner Erinnerung übermannt: Er hörte das Schreien der Affen, das Rauschen des Waldes, sah nackte Frauen, die Tiere an ihren Brüsten stillten. Darlene hatte ihn fotografieren wollen. Dann der Schlag und die tiefschwarze Finsternis.

Die Sonne ging um halb sechs auf. Mat lag immer noch auf dem Bett. Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugetan. Diese fremde, tiefe Stimme war ihm nicht aus dem Kopf gegangen: „If you do not follow our instructions, we'll chop off her head.“

Gegen 7.30 Uhr klingelte erneut das Satellitentelefon.

Mat schrak auf. Unbewusst hatte er auf dieses Geräusch gewartet. Als es erklang, begann er zu zittern. Sein Magen zerrte sich zu einer Faust zusammen. Er musste sich zwingen, den Anruf entgegenzunehmen.

„Sind Sie in Kuching?“ Es war die tiefe Stimme. Gebrochenes Englisch, starker asiatischer Akzent. Er war sich sicher, dass er die Stimme vor dem ersten Anruf noch nie gehört hatte.

„Yes. Kuching.“

„Do you have a pen?“

“A pen?“ Mat war überrascht.

“Yes, to write.“

Er ging zum Nachttisch, zog die Schublade auf und fand einen Notizblock des Pullmann. Daneben lag ein Kugelschreiber mit dem Logo des Hotels. „Ja, jetzt.“

„Notieren Sie sich folgende Koordinaten: N32/S47. Der Mann am anderen Ende gab ihm noch drei weitere Angaben durch. „Innerhalb dieser Koordinaten liegt der Dschungel, den Sie kaufen werden.“

Er erwiderte nichts.

„Sie haben zwei Wochen Zeit. Wir haben in Ihrem Namen bereits einen Antrag beim Präfekten von Kuching gestellt.“

Mat brachte kein Wort heraus. Ein Dschungel!

„Gehen Sie in die Villa des Präfekten. Er wird einen Vertrag für Sie vorbereiten. Schreiben Sie sich die Adresse auf: Jalan Padungan, 93675 Kuching. Haben Sie das notiert?“

„Ja.“

„Sie haben zwei Wochen Zeit.“

„Warten Sie!“, sagte Mat.

Was ist mit Darlene?, wollte er fragen, doch er sagte nichts, wartete, bis die Stimme fortfuhr: „Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage.“

„Darlene!“ Mat schrie ihren Namen in den Hörer. „Ich will ein Lebenszeichen!“ Das Gespräch verschwamm für einen Moment in einem Teppich aus disharmonischen Klängen. Dann ein Klicken. Es hörte sich an, als würde jemand einen Schalter bedienen.

Mat hörte die Stimme von Darlene. Hastig sagte sie ihren Namen und die richtige Uhrzeit. Ihre Stimme klang leise, ängstlich. Dann war sie wieder weg. Mehrere Stimmen waren zu hören.

Mat stand leichenblass neben dem Bett. Seine Hände schwitzten. „Darlene? Bist du noch dran?“

Erneutes Klicken. „Kaufen Sie den Dschungel! Sie haben zwei Wochen Zeit.“

Es klang wie ein Befehl, eine militärische Order, deren Konsequenzen man lieber nicht bedenken wollte. Mat wurde schwarz vor Augen. Ein immenser Druck breitete sich unter seiner Schädeldecke aus. In seinen Ohren fiepte es, alles schien sich zu entfernen. Doch er kämpfte dagegen an, schaffte es, sich mit aller Gewalt aus dieser Anspannung zu befreien, und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.

„Moment! Was ist ...“ Der Hals schnürte sich ihm zu. „Was ist mit den anderen?“, brachte er schließlich heraus.

Doch es war zu spät. Ein lang anhaltender Ton blieb in der Leitung zurück. Konstant, gleichmäßig, endgültig.

1. Teil

Tawau (Borneo)

Zwei Monate vor dem Anruf

Der Himmel über Tawau war wolkenlos. Die Sonne strahlte auf die Landebahn, färbte das Firmament azurblau. Mat verließ das Flugzeug und setzte seine Sonnenbrille auf. Der Winter in London war lang und kalt gewesen, trist und grau. Jetzt endlich, nach Monaten des endlosen Nieselregens, wurde alles hell und blau. Sogar die Luftfeuchtigkeit war erträglich. Er hatte sich das Klima auf Borneo drückender vorgestellt. Offensichtlich war der März ein sehr guter Monat zum Reisen. Die Wetter-App auf seinem Smartphone zeigte 29,4 Grad Celsius an. Er lief die Gangway hinab, passierte die Grenzkontrolle und hielt Ausschau nach seinem Fahrer. Er musste nicht lange suchen. Ein Malaie mit Jeans, T-Shirt und knallgelben Nike-Sneakers hielt ein Pappschild in die Höhe: MATTHIAS ENDESFELDER – MATAKING ISLAND.

Mat nickte und wurde mit einem Lächeln empfangen. „Welcome to Borneo, Sir. My name is Naname San. I am yur driva.“

„Matthias. But you can call me Mat“, sagte er und schüttelte dem Fahrer die Hand. Den „Call me Mat“-Spruch verwendete er schon seit fünfundzwanzig Jahren. Damals war er zum Studieren nach London gezogen und hatte sich schnell damit abfinden müssen, dass ihn niemand mit Matthias anreden würde. Nur seine Mutter nannte ihn noch so und seine Frau, wenn sie wütend war. Ansonsten war er einfach nur Mat. Gerade beim Reisen war das einfacher. „Matta, Massa, Messias.“ Er hatte schon alle möglichen Varianten gehört.

„Where are you from?“ Der Handschlag hatte den Fahrer offenbar gesprächig gemacht.

„Germany.“

„Yu sound like somebodi from Great Britanni.“

„Well, I have been living in London for quite a while“, erwiderte Mat akzentfrei und stieg in den Jeep.

Die Fahrt führte an der Peripherie von Tawau entlang. Auf der rechten Seite der Schnellstraße tauchten Einkaufszentren, Hochhäuser und Werbeschilder auf, in einer Sprache, die er nicht verstand. Auf der linken stieg schwarzer Rauch auf und ein leichter Geruch nach Verwesung lag in der Luft. Mat war froh, als sie den Slum passiert hatten und die Umgebung grüner wurde. An den Straßenrändern wucherten Blumen und wilde Orchideen. Silberfarben glänzende Palmwedel. Es sah aus, als habe die Regenzeit dem Land einen guten Dienst erwiesen.

Mat war siebenundvierzig Jahre alt und ein erfahrener Taucher. Er war fast überall gewesen: auf Curaçao, den Malediven, in den Höhlen von Yucatán, auf den Simalan Inseln, in Mikronesien und natürlich am Great Barrier Reef. Jedes Jahr nahm er sich mindestens sechs Wochen Zeit, beobachtete Wale, Haie, Mantarochen, Unterwasserschildkröten und alle möglichen Arten von Doktor-, Papageien- und Clownfischen. Hätte er Kinder gehabt, er hätte ihnen jede Fischart bei Findet Nemo benennen können.

In diesem Jahr stand Siapadan auf dem Programm, ein Tauchrevier, das Jacques Cousteau einmal als das schönste der Welt bezeichnet hatte. Riffhaie, Barrakudas und vor allem die Wasserschildkröten sollten fantastisch sein. Dass er pro Tag fast zweitausend Euro für das Luxusresort auf Mataking Island zahlte, störte ihn nicht. Seit er seine Firma verkauft hatte, ging es in Mats Leben nicht mehr um Geld, sondern eher darum, zu vergessen, dass er so viel Geld hatte. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb führten er und seine Frau ein unauffälliges Leben. Sie fuhren keine teuren Sportwagen, trugen keine Diamanten und hatten keine Yacht. Der einzige Luxus, den Mat sich gönnte, waren eine Villa in Greenwich, London, und ein Gestüt in Richmond.

Wer Mat Endesfelder traf, sah ihm nicht an, dass er Geld hatte. Und das mochte er. Nach dem Verkauf seiner Firma an Microsoft hatte er sein Vermögen recht konservativ in Immobilien angelegt. Der Aktienmarkt war ihm zu unstetig gewesen, der Kauf anderer Firmen zu zeitaufwendig. Das hatte dazu geführt, dass er Ende der Neunziger einige Immobilien in London erworben hatte: ehemalige Social-Housing-Komplexe, mehrere Stadthäuser in Chelsea und Kensington und das Gestüt im Süden von Richmond. Sein Estate hatte damals knapp dreißig Millionen Euro gekostet und war mittlerweile locker das Fünf- bis Sechsfache wert.

Als Investor hatte Mat alles richtig gemacht. Er hatte keinen Cent in die New Economy gesteckt. Und er profitierte von den steigenden Preisen auf dem Londoner Immobilienmarkt, die von russischen Oligarchen, saudischen Prinzen, US-Amerikanern, Indern und reichen Europäern in die Höhe getrieben wurden. Falls er sich keine massive Fehlinvestition leistete, musste er sich in diesem Leben keine Gedanken mehr um seine Finanzen machen.

Mataking

Das Boot legte vor Mataking an. Eine leichte Gischt wurde aufgewirbelt. Unter Mat schimmerte smaragdgrünes Wasser. In den kristallklaren Strukturen spiegelte sich der Rumpf des Bootes. In der Ferne tanzten die Fächer der Palmen, Holzhütten säumten die schneeweißen Sandstrände und es roch nach Salz und Sonne.

Mat war nicht zum ersten Mal auf einer Privatinsel. Doch jedes Mal war die Ankunft etwas Besonderes. Gerade an einem Tag wie diesem: blauer Himmel, ruhige See und ein sanfter Wind.

Er ging über den Steg, der zu einer auf Holzpfeilern errichteten Empfangshalle führte. Überall standen mit weißem Stoff überzogene Korbsessel und Tische, auf denen Tauchmagazine und Bücher lagen. Daneben: asiatische Gottheiten, hinduistische Götter und Buddhas. An der Rezeption erwartete ihn eine lächelnde junge Dame. Dass sie perfekt Deutsch sprach und überaus westlich wirkte, überraschte ihn nicht. In einer fremden Welt, mitten im Ozean, jenseits der Realität, war alles möglich.

„Hallo, Herr Endesfelder. Willkommen auf Mataking.“ Die Empfangsdame lächelte. Mat sagte keinen Ton. Ihre großen Augen und ihre hohen Wangenknochen faszinierten ihn. Sie hatte blonde, kurz geschnittene Haare. Mit ihren geschätzten eins fünfundsiebzig war sie fast so groß wie Mat.

„Asong wird Sie zu Ihrer Lodge bringen“, sagte die Frau. Asong war der Gepäckträger.

Mat stand einfach nur da und nickte. Wie einer dieser Wackeldackel auf der Rückablage eines Autos.

Er wusste, dass er dem Gepäckträger, Asong, folgen sollte. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen starrte er auf den Busen der Empfangsdame, wo er ein Namensschild entdeckte: Darlene.

Es war schließlich der Gepäckträger, der ihn mit einem sanften „Please, follow me, Sir“ aus der Lobby komplimentierte. Der Flug aus London, die Empfangsdame, sein Schweigen, ja die ganze Insel hatten ihn überfordert. Unentschlossen, ob er all das kitschig oder schön finden sollte, verließ er die Rezeption.

Der Privatsteg vor seiner Hütte reichte gefühlt bis zum Horizont. Ein Gegenentwurf zur bedrückenden Enge Londons. Keine Häuser, keine Stromleitung, keine S-Bahn, nicht mal eine Straße. Mat betrachtete die endlose Weite, kniete sich auf den Holzsteg und wirbelte mit seinen Fingern die klare Struktur des Wassers auf. Dann wandte er sich um und betrat die Luxushütte. Lautlose Ventilatoren sorgten für einen angenehmen Luftzug. Dass man auf eine Klimaanlage verzichtet hatte, gefiel ihm. Im Zentrum des Raumes stand ein Himmelbett. Seiner Frau hätte das gefallen. Die vielen Tücher und Kissen waren schön, wirkten seiner Meinung nach aber ein bisschen zu pompös. Der private SPA-Bereich dagegen beeindruckte ihn. Das in den Holzboden eingelassene Bad wirkte einfach und luxuriös. Er freute sich auf die sechs Wochen, die vor ihm lagen. Keine Immobilien, keine Shoppingtrips, keine Wohltätigkeitsveranstaltungen. Er war allein und konnte sich ganz aufs Tauchen konzentrieren.

Dass seine Frau und er beschlossen hatten, einmal im Jahr getrennt voneinander in Urlaub zu fahren, hatte ihre Ehe gerettet. Die Ferien, die sie gemeinsam gemacht hatten, waren unerträglich gewesen. Fast jedes Mal hatten sie sich in die Haare bekommen, und zwar aus einem einfachen Grund: Er tauchte am liebsten und Michele konnte sich am besten bei Kulturtrips entspannen. Sie liebte Städtereisen, er hasste das. Seitdem sie verstanden hatten, dass ihre Ehe nur dann funktionierte, wenn jeder in den Ferien das machen durfte, was er wollte, war ihre Beziehung harmonischer geworden.

Sie verbrachten schon zu Hause genug Zeit miteinander. Beide hatten seit Jahren keinen festen Job mehr, was nicht bedeutete, dass sie keinen Alltag hatten. Sie standen jeden Morgen um sieben Uhr auf und gingen gegen Mitternacht ins Bett. Eine Struktur zu haben gab ihnen das Gefühl, bodenständig zu sein.

Während Mat es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, nach dem Frühstück eine Runde durch den Greenwich Park zu spazieren, vorbei am Greenwich Maritim Museum und der alten Sternwarte, machte Michele jeden Morgen eine Stunde Yoga, bevor sie sich in ihr Büro im obersten Stock der Villa zurückzog. Dort kümmerte sie sich um die Stiftung, die vom Geld ihres Mannes finanziert wurde.

Mat war froh, dass Michele sich für die Stiftung begeisterte. Er selbst kümmerte sich um die Immobilien. Viele Freunde hatten ihm dazu geraten, nach seinem Verkauf an Microsoft eine neue Firma zu gründen oder seinen kleinen Estate zu vergrößern. Beides interessierte ihn nicht. Er wollte erhalten, was er hatte. Außerdem empfand er den Papierkram und die Meetings mit den Immobilienverwaltern und Steuerberatern als echte Arbeit.

Mat war nicht faul. Aber er hatte kein Interesse daran, sein Vermögen weiter zu vermehren. Warum auch? Er hatte nicht mal Kinder, denen er etwas vererben konnte. Wenn er die Immobilienangelegenheiten abgearbeitet hatte, kochte er gegen Mittag (oftmals zusammen mit seiner Frau), legte sich dann eine halbe Stunde hin und beschäftigte sich am Nachmittag mit seiner Bibliothek. In aller Ruhe sortierte er dort Bücher und Bildbände. Auf seinen Tauchreisen rund um die Welt hatte er angefangen, sich für Forschungsliteratur zu interessieren. Seit Jahren sammelte er Werke von Abenteurern, Entdeckern und Anthropologen. Für viel Geld hatte er eine Originalabschrift von Marco Polos Tagebüchern erstanden und einen Kompass, der angeblich einmal Christoph Columbus gehört haben sollte. Wenn man ernsthaft tauchte, drang man in Gebiete vor, die kaum erschlossen waren. Die Frage, wie es für all jene gewesen sein musste, die als erste Europäer in diesen Gebieten gelandet waren, drängte sich förmlich auf.

Das Tauchen war auch der Grund, warum Mat wie ein Wahnsinniger trainierte. Wenn er am späten Nachmittag seine Bibliothek verließ, besuchte er entweder ein Schwimmbad oder ein Fitnessstudio in Canary Wharf. Er gehörte zu jenen Endvierzigern, die im Alter fitter waren als in ihrer Jugend. Mat Endesfelder hatte ziemlich genau drei Hobbys: Tauchen, Reisen und Entdeckerliteratur. Alles andere (dazu zählten der Immobilien-Estate und auch große Teile der Stiftungsarbeit) betrachtete er als eine Notwendigkeit. Und weil er sich regelmäßig und auch gewissenhaft mit all diesen lästigen Dingen herumschlug, hatte er auch kein schlechtes Gewissen, sechs Wochen im Jahr Tauchurlaub zu machen.

*

Am Abend seiner Ankunft gab es ein Dinner am Strand. Überall standen weiß gedeckte, von brennenden Fackeln umgebene Tische. Palmen raschelten im Wind, Zikaden zirpten und neben den Gesprächen, die Mat entgegenschwappten, hörte er das leise Rauschen des Meeres.

Die meisten Leute waren in Mats Alter – irgendwo zwischen vierzig und fünfundfünfzig Jahren, aber es gab auch ein paar jüngere Gäste. Er registrierte drei junge blonde Frauen. An einem anderen Tisch saßen drei Männer um die Dreißig.

Mat war zu schüchtern, um sich zu den Blondinen zu setzen, und zu eitel für den Tisch mit den älteren Leuten. Der Tisch mit den jungen Männern erschien ihm genau richtig. Außerdem saß dort noch ein Paar in seinem Alter.

Es dauerte keine Minute, bis Mat wusste, dass das Pärchen aus Australien und die Jungs aus London kamen. London wurde sofort zum Gesprächsthema.

„Mat! In welchem Teil der Stadt wohnen Sie?“, fragte einer der Männer, der sich als John Blakely vorgestellt hatte.

„Greenwich.“

„Besitzen Sie eins der Häuser auf dem Hügel?“

Mat fand die Frage etwas zu persönlich, wollte aber nicht unfreundlich sein und nickte.

„Was kostet so ein Haus dort oben? Neun, zehn Millionen?“

Die Frage war so unverschämt direkt, dass Mat keine Antwort gab. Er war hier im Urlaub und nicht bei einem Verhör. Er konnte es nicht leiden, wenn man ihn ausquetschte. Manieren schienen diese Leute nicht zu haben. Außerdem war so eine direkte Ansprache einfach nur not very British.

„Und wo kommen Sie ursprünglich her?“, wollte ein anderer wissen, als klar war, dass Mat den Wert seines Hauses nicht preisgeben würde. „Sie klingen wie ein echter Brite, haben aber diesen leichten Akzent.“

„Germany“, sagte Mat.

„Bloody Germans! Vor euch ist man auch nirgends sicher“, rief John Blakely. Es sollte ein Scherz sein, klang aber wie eine Beleidigung.

Die zierliche Australierin, die sich als Grace vorgestellt hatte, versuchte zu schlichten. „Immerhin trägt Mat keine Socken in den Sandalen.“

„Nach einer repräsentativen Umfrage des Goethe-Instituts glaubt der Durchschnittsbrite, dass alle Deutschen Nazis sind, die uns im Urlaub die Sonnenliegen wegschnappen“, sagte Blakely.

Die Londoner lachten schallend. Mat grinste angestrengt.

Wie sich herausstellte, waren die jungen Männer Trader in der Londoner City. Ausschweifend erzählten sie von riskanten Deals, warfen stolz mit Broker-Slang um sich und brüsteten sich damit, einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet zu haben, den Libor gefälscht zu haben.

„Und was machen Sie?“, fragte John Blakely herablassend.

„Ich habe vor sechzehn Jahren meine Firma an Microsoft verkauft“, antwortete Mat gelassen. Der Australier nickte anerkennend.

„Für wie viel?“

Mat und die Australier waren gelangweilt. Die Investmentbanker waren zum ersten Mal in einem Luxusresort wie Mataking. Spätestens als sie erwähnten, sie würden pro Jahr locker hunderttausend britische Pfund verdienen, mussten Mat und die Australier schmunzeln. Die Banker hatten keine Ahnung, wie man sich hier verhielt. Es gab zwar nicht viele Regeln, doch eine sollte man immer befolgen: Sprich niemals über Geld. Ein Klischee. Aber eben auch nicht ganz falsch. Dass alle Reichen Louis Vuitton, Diamantohrringe und Rolex trugen, war eine Mär. Mat kannte wesentlich mehr Leute mit Geld, die keinen Wert darauf legten, ihren Reichtum zur Schau zu stellen, und sich tendenziell eher an der oberen Mittelschicht orientierten. Natürlich gab es auch die Bling-Bling-Reichen, wie Mat sie gerne nannte. Doch in den wirklich guten Resorts dieser Welt sah man den Glamour eher selten. Wenn man die vier M (Moskau, Monaco, Mayfair und Miami) ignorierte, gab es mehr als genug Raum für unauffällige Dekadenz.

Nachdem die Londoner so dick aufgetragen hatten, konnte Mat nicht anders, als ihnen den Todesstoß zu versetzen, und zwar mit ihren eigenen Waffen. Eine kurze Antwort auf die „Wie viel?“-Frage reichte aus: „Ich habe für etwas mehr als hunderttausend britische Pfund an Microsoft verkauft“, sagte er. „Und da ich äußerst bescheiden lebe, bin ich seitdem arbeitslos.“

Der Australier lachte, seine Frau schmunzelte.

Zwei der Banker wurden knallrot. Der dritte sagte kein Wort. Sie hatten verstanden, dass sie den Gegner unterschätzt hatten. Knock-out in der ersten Runde.

Der Australier legte dezent nach und erzählte von seiner Firma, die Konservendosen und PVC-Materialien für den pazifischen Raum inklusive Ozeanien herstellte, und von einer Ranch, die er zwei Stunden landeinwärts von Sydney bewohnte. Ohne eine Zahl zu nennen, hatte auch Anthony sich als Schwergewicht geoutet.

Milliarden oder Millionen. Das spielte keine Rolle.

Doch wenn manche Typen glaubten, sich mit Peanuts profilieren zu müssen, hielt das Establishment zusammen.

*

Über ihm lag eine Wand aus beweglichem Wasser. Streifenweise hellte die Sonne das Blau auf, durchdrang die Moleküle und erzeugte vereinzelt ein grünliches Schimmern. Mat atmete Sauerstoff ein und ließ Wasserbläschen aufsteigen. Dann ließ er sich absinken. Ruhig und schwerelos glitt er durch das Wasser. Er war in seinem Element. Mat fühlte sich hier als Teil eines fremden, vielleicht sogar künstlichen Universums, das unabhängig von ihm selbst existierte. Es war ein schwer zu beschreibendes Gefühl von Nähe und unüberbrückbarer Distanz.

Nähe und Distanz.

Mat gefiel diese Ambivalenz. Vielleicht auch deshalb, weil er über die Jahre ein zwiespältiges Verhältnis zu sich selbst und seinem Reichtum entwickelt hatte. Das viele Geld, das er beim Verkauf der Firma verdient hatte, hatte ihn frei und unabhängig gemacht. Er konnte reisen, wann und wohin er wollte, und je nach Belieben Hilfsprojekte unterstützen. Aber es gab auch Freunde, die sich von ihm abgewandt hatten, weil der finanzielle Graben zu tief geworden war.

An manchen Tagen, wenn das Gefühl der Einsamkeit zu groß wurde und er sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft fühlte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und rechnete aus, wie viel Geld er bis zu seinem Tod ausgeben müsste, um mittellos zu sterben. Die Zahl, die sein Rechner ausspuckte (wenn man annahm, dass er mit fünfundachtzig Jahren sterben würde), lag, je nach Stand des Pfunds und den Preisen des Immobilienmarktes, irgendwo zwischen 20.000 und 30.000 britischen Pfund. Pro Tag. Wie er jemals so viel Geld ausgeben sollte, war ein Rätsel, das ihm schlaflose Nächte bereitete.

Aus diesem Grund hatte er vor acht Jahren ein Stipendium ins Leben gerufen, das Studenten die Möglichkeit gab, ein Jahr lang das zu tun, was sie schon immer tun wollten. Da er keine Kinder hatte, war das Stipendium eine Möglichkeit, anderen zurückzugeben, was ihm durch harte Arbeit, Risiko, aber auch Glück in die Hände gefallen war.

Der Papierkram war fürchterlich gewesen. Doch die Anstrengungen hatten sich gelohnt.

Mittlerweile wählte Mat jedes Jahr zwei junge Menschen aus, die er nie traf, denen er aber, je nach Projektvorhaben, bis zu hunderttausend Pfund zur Verfügung stellte. Nach Ablauf des Stipendiums gab es nicht einmal die Notwendigkeit, die Projektergebnisse zu präsentieren. Das „Do what you love“-Stipendium hatte einen gewissen Grad an Berühmtheit erlangt und war der Hauptgrund für die vielen Briefe, die er Jahr für Jahr bekam. Da Mat seine Adresse nicht öffentlich machte, gab es einen Mittelsmann, der ihm die Post zustellte. In oftmals seitenlangen Schreiben dankten die Stipendiaten ihm für die finanzielle Unterstützung. Obwohl es keine Bedingung war, hatte er noch jedes Mal erfahren, was sie mit dem Geld gemacht hatten. Einige drehten Filme, andere versuchten sich an Romanen und Kurzgeschichten und wieder andere unterstützten Hilfsprojekte. Ein Student hatte ein Start-up gegründet, das Unternehmen Elektroautos als Taxiersatz anbot. Ein Student aus Hackney, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte, war mit einer Gruppe Abenteurer zum Nordpol gewandert. Interessanterweise bedankten sich auch diejenigen, die das Geld vershoppt, versoffen oder anderweitig aus dem Fenster geworfen hatten. Immer, wenn Mat einen dieser Briefe las, spürte er tiefe Verbundenheit, die er sich (da machte er sich nichts vor) erkauft hatte. Mit echter Freundschaft hatte das nichts zu tun.

Als Mat mit einunddreißig Jahren seine Firma für 56,4 Millionen Pfund an Microsoft verkaufte, hatte sich das Verhältnis zu seinen Eltern dramatisch verschlechtert. Während wildfremde Studenten ihm ungefragt ihr Herz ausschütteten, hatte das Geld eine gewisse Distanzzwischen ihm und seiner Familie erzeugt.

„Zu viel Geld verdirbt den Charakter“, hatte sein Vater gesagt und sich geweigert, auch nur einen einzigen Cent von Mats Vermögen anzunehmen. Auf Spenden sei man nicht angewiesen. Seitdem hatte Mat das Thema nie wieder angesprochen.

Seine katholischen Eltern hatten nie verstanden, warum er seit dem Verkauf nichts „Ernsthaftes“ mehr mit sich und seinem Leben anstellte. Seine Immobilienprojekte, die sein Vermögen in eine Sünde babylonischen Ausmaßes verwandelt hatten, ignorierten sie. Mat hatte das Gefühl, dass sie ihn aus einer bizarren Protesthaltung heraus nicht verstehen wollten.

Sie selbst hatten vierundzwanzig Jahre gebraucht, um das eigene Haus abzubezahlen. Dass ihr Sohn innerhalb so kurzer Zeit zu so viel Geld gekommen war, erschien ihnen schlichtweg kriminell. Sie hatten geschuftet, damit es ihre Kinder einmal besser haben würden, und Mat mit Hilfe eines Kirchenstipendiums zum Informatik- und Mathematik-Studium nach London geschickt. Für sie war ein Leben nur dann gut, wenn man einen ehrlichen Beruf ausübte. Als Microsoft die Online-Plattform ihres Sohnes nicht einmal nutzte, hielten sie Mat endgültig für einen Hochstapler.

Während er die Welt bereiste, neue Tauchgebiete entdeckte und gemeinsam mit seiner Frau Spendengalas in London besuchte, fuhren seine Mutter und sein Vater im Sommer ins Tessin und im Winter in den Schwarzwald. Dass seine Eltern und er keine gemeinsamen Interessen hatten, konnte Mat noch verkraften, doch ihre Ablehnung tat weh.

Als er sich jetzt in die Tiefe gleiten ließ, vorbei an Korallen, Seeanemonen und Doktorfischen, dachte er weder an Geld noch an seine Eltern. Er ließ sich einfach nur treiben, passte sich der kaum spürbaren Strömung des Wassers an, tarierte in einer Tiefe von zehn Metern seine Fallgeschwindigkeit und schwebte durch den Ozean.

Dschungel von Sarawak

Der Mann schwitzte. Schweiß lief ihm über die Stirn. Die Äderchen in seinen Augen waren geplatzt. Panisch suchte er nach Möglichkeiten, der Situation zu entkommen. Aber es war aussichtslos. Jemand, dessen Hände und Füße an einen Baum genagelt waren, konnte nicht fliehen. Jeder Versuch, die Position seiner Arme und Beine nur minimal zu bewegen, löste einen unerträglichen Schmerz aus, der in Wellen durch seinen gesamten Körper lief.

Er konnte nicht einmal schreien. Diese Bastarde hatten einen Knebel in seinen Mund gesteckt.

Hatten sie ihn gekreuzigt, weil er Christ war, weil irgendwo ein Stück Papier existierte, das ihn als Mitglied der römisch-katholischen Kirche auswies? War das der Grund, warum der Alte und die Soldaten ihn quälten? Oder taten sie ihm das an, weil er sich geweigert hatte, das Land seines Volkes an einen Holzkonzern zu überschreiben?

Das Stück Papier jedenfalls hatte er einem Missionar zu verdanken, der vor über achtzig Jahren seinen Stamm zum Christentum bekehrt hatte. Trotz der neuen Religion hatten sie weiterhin die Geister des Waldes angebetet. Selbst sein Urgroßvater, der den Missionar ins Dorf gelassen hatte, war den Naturgeistern treu geblieben. Ihre Religionszugehörigkeit war nichts weiter als eine Formalie. Sollten sie ihn wirklich deshalb quälen, weil er auf dem Papier Christ war?

Mehr und mehr rückte sein Geist in eine diffuse, tranceartige Sphäre. Es fiel ihm schwer, alles genau zu durchdenken. Dieser Schwebezustand ermöglichte es ihm jedoch, seine Situation aus der Distanz zu betrachten. Hinter seinem Körper war ein massiver Baum. Seine leicht aus dem Boden ragenden Wurzeln reichten bis tief ins Erdreich, bedeckt von modrigem, mit Bakterien und Insekten angereichertem Schlamm. Es roch nach Verwesung, nach dem ewigen Zyklus von Leben und Tod.

Sein blutender, langsam dehydrierender Körper war gewaltsam mit dem Baum verbunden. Sie hatten seine Hände über seinen Kopf genagelt und seine Füße an die Wurzeln. Der Alte hatte nur daneben gestanden und gegrinst.

Aus der Ferne sah sein Körper aus wie eine dünne Linie, die sich nur leicht von der dunklen Rinde des Baums abhob.

Plötzlich schlug ein Hammer auf die Rinde.

Direkt neben ihm.

Er zuckte zusammen. Doch dieses Mal traf der Hammer nur den Baum.

Er blickte auf, sah den Mann an, den er für den Anführer hielt. Seine Gesichtszüge waren eingefallen, Falten zerfurchten seine lederartige Haut. Der Alte trat sehr dicht an ihn heran. Seine Augen waren furchterregend klar.

Er hatte von diesem Mann gehört. Die Stammesältesten hatten über ihn und seine Soldaten gesprochen. Von Folter hatten sie berichtet und einem Penan, dem der Alte vor einigen Jahren die Haut vom Körper gezogen hatte. Und das nur, weil er – gemeinsam mit einem Weißen – gegen die Holzfäller und die Macht der Konzerne protestiert hatte. Er selbst hatte die Geschichten der Stammesältesten heimlich belächelt. Jetzt hatte ihn der Alte höchstpersönlich vom Gegenteil überzeugt. Einen stichhaltigeren Beweis als die rostigen Nägel in seinen Händen und Füßen konnte es nicht geben.

„Du fragst dich, was das hier soll“, sagte der Alte. Seine Stimme war tief, aber sanft. Er hatte einen härteren Ton erwartet. „Und du fragst dich, was du tun kannst, um dich aus der Situation zu befreien.“

Der Alte runzelte die Stirn. „Leider kannst du sehr wenig tun, um ... nun ja ... diesem Ritual zu entkommen. Wenn ich dir den Knebel aus dem Mund nehmen würde, könntest du mich vielleicht sogar davon überzeugen, dass ich dich laufen lassen soll. Sie sagen, du bist ein kluger Häuptling, jung, aber sehr umsichtig und bedacht. Manche behaupten sogar, du bist weise. Das respektiere ich. Ich mag Menschen, die nachdenken, bevor sie etwas tun. Umsicht ist eine Gabe, die sehr wertvoll sein kann. Die einem echte strategische Vorteile bringen kann. Unter anderen Umständen hätten wir miteinander geredet und unsere Erfahrungen ausgetauscht. Möglicherweise wären wir sogar Freunde geworden. Aber dazu wird es nicht kommen, weil ich dir den Knebel nicht aus dem Mund nehmen werde.“ Der Alte wandte sich von ihm ab, machte ein paar Schritte, blieb dann abrupt stehen und fuhr fort: „Die Wahrheit ist, dass du das hier nicht überleben wirst.“

Er spürte, dass er panisch wurde. Angst kroch in seine Poren, breitete sich in seinem Körper aus wie ein aggressiver Virus. Er atmete hastig. Er würde diesen Ort nie wieder verlassen.

„Die Zeit deines Volkes ist abgelaufen. Was ihr tut, ist nicht mehr zeitgemäß“, sagte der Alte. „Niemand sollte hier in den Wäldern leben. Hier draußen gibt es keine Zukunft. Weder für deine Generation noch für deine Kinder. Es mag sich seltsam anhören, aber nicht ich habe diese Entscheidung getroffen, sondern das Kollektiv der modernen Welt. Und dieses Kollektiv will nur das Beste für seine Kinder. Bessere Schulen, bessere Chancen, mehr Wohlstand, mehr klimatisierte Büros. Vermutlich kannst du nicht beurteilen, ob das wirklich das Beste ist, weil du nicht weißt, was Büros überhaupt sind. Vermutlich hast du noch nie in deinem Leben einen Computer gesehen. Und ich sage dir, eigentlich hast du nichts verpasst. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Fest steht, dass die moderne Welt sich entschieden hat. Sie will Popcorn, Kinofilme, Urlaub, feste Arbeitszeiten und künstliche Hüftgelenke. Und deshalb müsst ihr Platz für das bessere Leben machen. Ihr habt keine andere Wahl, als den Dschungel zu verlassen und in die Stadt zu ziehen. Es ist an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. Und dieses Zeichen bist du.“

Der Alte sah dem jungen Häuptling noch einmal in die Augen. „Ich habe dich ausgewählt, weil du ein vernünftiger Anführer bist. Tötet man die Vernunft, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der nackte Wahnsinn euer Gleichgewicht zerstört.“

Damit drehte der Alte sich um und entfernte sich mit seinen Männern, verschwand zwischen dichten Farnen und schwerem Wurzelwerk. Die Schreie der Affen und das leise Zirpen der Zikaden waren alles, was blieb.

Mataking

Gegen 17 Uhr setzte Mat sich an die Poolbar. Das Resort war wunderbar ruhig. Die meisten Gäste hatten den Poolbereich verlassen und bereiteten sich in ihren Luxushütten auf den Abend vor. Mat saß in Shorts und Poloshirt vor einer Piña Colada. Leise Musik tröpfelte durch die Luft. Die Oberfläche des Pools war ein glänzender Spiegel aus Wasser. Direkt dahinter begann der Ozean. Zum ersten Mal seit Langem verspürte Mat wieder das Gefühl, frei zu sein. Er genoss dieses Gefühl, das, verstärkt durch den Alkohol, langsam jede Zelle seines Körpers durchströmte.

„Wie war Ihr Tauchgang?“ Es war Darlene, die hübsche Empfangsdame. Sie setzte sich auf den Barhocker neben ihn.

„Sehr gut. Danke der Nachfrage“, antworte er. Es war das erste Mal, dass er wieder mit Darlene redete. Dass es dieser Frau gelungen war, ihn bei seiner Ankunft im Resort so aus der Fassung zu bringen, war ihm immer noch peinlich. Andererseits kein Wunder. Er gehörte nicht zu den älteren Männern, die sich ständig mit jungen Frauen umgaben. Junge Frauen sah er praktisch nur bei seinen morgendlichen Spaziergängen im Greenwich Park oder nachmittags im Fitnessstudio.

„Sami hat erzählt, Sie sind ein richtiger Profi, quasi Tauchlehrer“, sagte Darlene.

„Ich habe einige Tauchscheine, Lehrer bin ich aber nicht. Und Sie? Tauchen Sie auch?“

Darlene schüttelte den Kopf. „Ich leide an Asthma. Eine Krankheit, die ich meinem Bruder zu verdanken habe.“

Ihr Bruder? War ihr das nur so herausgerutscht oder wollte sie, dass er nachfragte? Sollte er Interesse zeigen oder war es zu aufdringlich, wenn er bei etwas so Privatem nachhakte? Aus Angst, einen Fehler zu begehen, sagte er schließlich gar nichts. Ein beklemmendes Schweigen war die Folge.

Es war schließlich Darlene, die sie aus der unangenehmen Situation befreite. „Und was machen Sie im normalen Leben?“

„Du“, sagte Mat vielleicht etwas zu hastig, „ich bin Matthias, aber die meisten nennen mich Mat.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

„Darlene.“

Ich weiß, wollte er sagen. Doch dann konzentrierte er sich nur auf ihre Hand. Sie war weich, gleichzeitig übten ihre Finger einen beachtlichen Druck aus. Eine Mischung, die ihm gefiel.

„Also, was machst du?“

Wenn ihm jemand diese Frage stellte, antwortete er in der Regel, dass er Unternehmer sei, auf Nachfrage erwähnte er seine Immobiliengeschäfte. Erst wenn er Vertrauen zu seinem Gegenüber gefasst hatte, erzählte er vom Verkauf seiner Firma an Microsoft. Darlene sagte er frei heraus, dass er seine Firma verkauft hatte und seitdem in Rente war. Das wirkte vielleicht arrogant, aber auch selbstbewusst.

„Sie gehören also zu den Leuten, die vor lauter Geld keine Ahnung haben, was sie mit sich und ihrem Leben anfangen sollen“, sagte Darlene spöttisch.

Mat überlegte, ob er das Gespräch beenden sollte. Solche Diskussionen führten zu nichts, das wusste er aus Erfahrung. Doch er war immer noch bemüht, einen guten Eindruck zu hinterlassen.

„Waren wir nicht beim Du?“

„Tut mir leid“, sagte sie. „Ich hatte nicht die Absicht, dich zu beleidigen. Ich hatte nur gerade bei diesen Investmentheinis aus London zu tun. Die … ach … die …“

„… sind Idioten.“

„Wenn Leute glauben, dass ich ihnen für tausend Dollar einen Blowjob gebe, macht mich das immer noch fassungslos.“

Mat sagte nichts.

„Sorry, das hätte ich besser für mich behalten sollen. Aber Sie glauben nicht, wie oft ich hier solche Angebote bekomme.“

„Also, ich ...“ Mat wusste nicht, wie er reagieren sollte.

„Irgendwie ist heute nicht mein Tag. Ich habe keine Ahnung, warum ich Ihnen das alles erzähle.“

„Ist schon in Ordnung.“ Endlich hatte er sich wieder im Griff. „Wie wäre es mit einem davon?“ Er zeigte auf seine Piña Colada.

„Während der Arbeitszeit leider nicht gestattet.“ Sie wandte sich dem Barmann zu, redete mit ihm in einer Sprache, die Mat nicht verstand, und bekam eine Flasche Wasser.

Mat versuchte, sie unauffällig von der Seite zu mustern. Es war nicht seine Art, aber er konnte nicht anders, er musste sie anstarren. Eigentlich verachtete er Männer in seinem Alter, die ungehemmt mit jungen Frauen flirteten. Im Fitnessstudio, in dem er trainierte, gab es eine Gruppe von Männern, die junge Frauen wie Fleischstücke betrachteten. Er hatte sich immer etwas darauf eingebildet, in dieser Hinsicht anders zu sein, distanzierter, respektvoller. Ältere Männer, die mit jungen Frauen anbandelten, waren ihm lächerlich erschienen, irgendwie verzweifelt. Darlene gegenüber verspürte er jedoch eine ungewohnte Neugier, die sich nicht abschütteln ließ. Am liebsten hätte er einen Finger ausgestreckt und sie zärtlich berührt. Was war nur los mit ihm?

Darlene bemerkte seine Blicke nicht. Sie war immer noch gereizt, ärgerte sich, dass sie so offen gewesen war. Das war absolut unprofessionell. Dafür konnte sie gefeuert werden. Bevor sie noch mehr Unheil anrichtete, stand sie auf. „Dir noch einen schönen Tag.“

„Ebenfalls.“ Schon wieder hatte er es nicht geschafft, sie in ein längeres Gespräch zu verwickeln.

Sie blieb kurz stehen, schien einen Moment lang zu überlegen und trat dann sehr nah an ihn heran. „Und diese Sache mit dem …“

„Blowjob?“

„Ja. Genau. Das bleibt bitte unter uns. Wenn jemand erfährt, dass ich mit dir darüber geredet habe, bekomme ich Ärger.“ Ihre Worte klangen wie ein Befehl. Er würde ihn in jedem Fall befolgen.

*

Darlene konnte nicht schlafen. Unruhig wälzte sie sich auf ihrem Bett hin und her. Über ihr surrte ein Ventilator, draußen zirpten Grillen. Die Hütten der Bediensteten lagen im Inneren der Insel. Verdeckt von Kokospalmen, dichtem Gebüsch und einem eingezäunten Elektromotor, der Mataking mit Strom versorgte, gab es hier keinen Meerblick. Nicht einmal Sterne waren zu sehen.

Heute war sie nach Dienstschluss in ihrer Hütte verschwunden, hatte den Ventilator angestellt und war ins Bett gefallen. Dass ihr die Investmentbanker Geld angeboten hatten, beschäftigte sie weniger als die Tatsache, dass sie die Geschichte weitererzählt hatte.

Blowjob gegen Geld. Davon ging die Welt nicht unter. Ihr eigentliches Problem war dieser Matthias Endesfelder. Er wusste jetzt etwas, das sie in Schwierigkeiten bringen konnte. In der Vergangenheit waren Angestellte wegen ähnlicher Dinge gefeuert worden. Vor vier Monaten hatte Lucien Steiner, der Resortleiter, ein malaysisches Zimmermädchen an die Luft gesetzt, das von einem Japaner mit einem Gürtel verprügelt worden war. Sie hatte den Fehler gemacht, sich zu beschweren.

So kurz vor dem Ziel zu stehen und einen so dummen Fehler begangen zu haben, machte sie rasend.

Schweiz

Zehn Jahre früher

Es gibt Menschen, die Dinge so miteinander kombinieren, dass etwas Neues entsteht. Benz, Porsche, Gates und Jobs waren solche Menschen. Sie hatten Einzigartiges geschaffen, indem sie hartnäckig eine Vision verfolgt und sich über konservative Geister hinweggesetzt hatten. Ihr Erfolg lag letztendlich darin, dass sie das Bewahrende zur Seite gedrängt und etwas noch nie Dagewesenes entwickelt hatten.

James Waltz war einundzwanzig Jahre alt und hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, welche Art von Mensch er war. Dass er sich vor einigen Jahren dazu entschlossen hatte, das Gymnasium in Zürich zu verlassen und eine Lehre als Tischler im ländlichen Tessin zu machen, war eine intuitive Entscheidung gewesen. Für ihn war schnell klar gewesen, dass er sich nicht für die Funktionsweise von Computern interessierte, kein Interesse an Literatur, Architektur, chemischen Prozessen oder Vektoren hatte. Er interessierte sich ausschließlich für die Hardware der Natur.

In der Natur gab es genug Dinge und Materialien, aus denen man Nützliches herstellen konnte. James interessierte sich für alles, was mit Handwerk und jeglicher Form von Handarbeit zu tun hatte. Nach seiner Ausbildung zum Tischler besuchte er Kurse an der Volkshochschule, lernte, wie man Körbe flocht, Kleider nähte und Tierhäute in Leder verwandelte. Vor allem letztere Tätigkeit, das Gerben, fesselte ihn. Im Garten der Großeltern standen seine Töpfe mit tierischen Fetten, mit denen er sich an der Fettgerbung versuchte. Er war fasziniert davon, Leder herzustellen, und verzichtete dabei auf chemische Bindemittel wie Acrylate, Butadiene und Polyurethane.