Das verschwundene Gemälde - Petra Haghjou - E-Book

Das verschwundene Gemälde E-Book

Petra Haghjou

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Beschreibung

Eine Schar von Besuchern hat sich zu einer Vernissage im Kunstmuseum Wehling versammelt, als die Journalistin Charlotte Schrader den Kurator mit einer Kopfwunde in seinem Büro entdeckt – er liegt sterbend auf dem Boden. Diese Entdeckung ist für Charlotte besonders heikel, denn ihre Schwester arbeitet seit kurzem für den Toten. Obendrein wird am Ausstellungstag ein kostbares Gemälde vermisst. Zufall oder steckt mehr dahinter?

Ein äußerst komplizierter Fall, in dem Charlotte Unterstützung vom charmanten IT-Experten Niklas Ahrens erhält. Kurz vor seinem Tod hatte der Kurator ihn gebeten, dem Rätsel um das verschwundene Gemälde nachzugehen. Doch die illustre Kunstgesellschaft trägt eher zur Verschleierung als zur Aufklärung des Falls bei.

Als ein zweiter Mord geschieht, ist Charlotte nicht mehr aufzuhalten und gerät gemeinsam mit ihrer Schwester in größte Gefahr ...

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Seitenzahl: 395

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Eine Schar von Besuchern hat sich zu einer Vernissage im Kunstmuseum Wehling versammelt, als die Journalistin Charlotte Schrader den Kurator mit einer Kopfwunde in seinem Büro entdeckt – er liegt sterbend auf dem Boden. Diese Entdeckung ist für Charlotte besonders heikel, denn ihre Schwester arbeitet seit kurzem für den Toten. Obendrein wird am Ausstellungstag ein kostbares Gemälde vermisst. Zufall oder steckt mehr dahinter?

Ein äußerst komplizierter Fall, in dem Charlotte Unterstützung vom charmanten IT-Experten Niklas Ahrens erhält. Kurz vor seinem Tod hatte der Kurator ihn gebeten, dem Rätsel um das verschwundene Gemälde nachzugehen. Doch die illustre Kunstgesellschaft trägt eher zur Verschleierung als zur Aufklärung des Falls bei.

Als ein zweiter Mord geschieht, ist Charlotte nicht mehr aufzuhalten und gerät gemeinsam mit ihrer Schwester in größte Gefahr ...

Über Petra Haghjou

Die Liebe zu Büchern begleitet Petra Haghjou seit ihrer Kindheit. Aber immer stand neben dem Lesen auch das eigene Schreiben.

Mit ihren Romanen lädt die Autorin ihre Leserinnen und Leser ein, sich auf Erzählreise zu begeben. Ihre Geschichten bestechen durch feinen Humor, getragen von vielschichtigen Figuren und Orten, die sie besonders inspirieren.  

Im Aufbau Verlag sind bisher ihre Romane „Kleider machen Liebe“ und „Filmreif verliebt“  erschienen.

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Petra Haghjou

Das verschwundene Gemälde

Journalistin Charlotte Schrader ermittelt

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Impressum

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1

»Verflixt!«, rief Charlotte Schrader angesichts des Staus auf Höhe des Altonaer Rathauses. »Wir hätten besser den Weg entlang der Elbe nehmen sollen.«

Der Taxifahrer, der sich in dem Moment gezwungen sah, einem schwungvoll abbiegenden Radfahrer auszuweichen, schaute nach dem Bremsmanöver seinen Fahrgast scharf im Rückspiegel an. »Auf der Breiten Straße gibt es mehrere Baustellen. Da geht es über die Max-Brauer-Allee schneller.«

Charlotte ignorierte die Blicke des Taxifahrers und spähte durch die Seitenscheibe nach draußen. Von schneller konnte kaum die Rede sein. Auf den ersten Kilometern entlang der Elbchaussee waren sie flott vorwärtsgekommen, aber nun steckten sie in der Blechlawine fest, und es bestand wenig Hoffnung, rechtzeitig das Kunstmuseum Wehling zu erreichen. Ausgerechnet in dieser verfahrenen Situation meldete sich ihr Smartphone mit einer Nachricht ihrer Schwester. Bist du schon unterwegs?

Charlotte ließ sich in den Rücksitz des Taxis fallen. Da es mit dem Stau vermutlich länger dauerte, konnte sie ebenso gut zurückrufen.

»Ich bin auf halber Strecke, Annika«, ließ sie wissen.

»Halb? Da fehlt dann aber noch ein Stück. Warum bist du nur so spät losgefahren?«

Charlotte hörte, wie ihre Schwester heftig ins Telefon schnaufte, und verbiss sich eine spontane Antwort. An einem späten Donnerstagnachmittag im Januar konnte niemand – selbst Annika nicht – erwarten, dass man pünktlich zu einer Veranstaltung kam. In der Nacht hatte es über Hamburg geschneit, aber leicht gestiegene Tagestemperaturen hatten von der weißen Pracht nur Matsch übriggelassen. Wie von Wetterdiensten den Tag über prophezeit, hatte in den frühen Abendstunden erneut Schneefall eingesetzt, der drohte den Verkehr vollends zum Erliegen zu bringen. Abschleppdienste waren im Dauereinsatz, um Autos, die auf rutschigem Untergrund Auffahrunfälle gebaut hatten, von den Straßen zu bekommen. Staus und Verspätungen waren somit vorprogrammiert, und so manche Nerven lagen blank.

»Mein Ressortleiter hat mir einen Außeneinsatz aufs Auge gedrückt«, erklärte Charlotte so ruhig, wie es ihr möglich war. »Ausgerechnet ein Artikel über die Einweihung dieser neuen Schnellstraße im Osten der Stadt. Den Nachmittag habe ich mir am Straßenrand die Füße in den Bauch gestanden und todlangweiligen Reden von noch todlangweiligeren Stadtpolitikern gelauscht. Ich kam einfach nicht eher weg.«

Plötzlich fand es Charlotte furchtbar stickig in dem beheizten Taxi. Nun rächte sich, dass sie im Eiltempo von der U-Bahn-Station durch die Straßen nach Hause gelaufen war und sich in Windeseile umgezogen hatte. Die Hetzerei war einfach zu viel für ihren Kreislauf. Sie drückte auf die Taste an der Beifahrertür und ließ das Seitenfenster einen Spalt herunter. Dankbar atmete sie die kühle Luft ein.

»Es geht weiter, Annika«, verkündete sie, als die Bremslichter des vorderen Wagens erloschen und ihr Taxi mit einem Ruck anfuhr. »In ein paar Minuten bin ich da. Keine Panik!«

Der Taxifahrer, ein langer, dünner Kerl mit spitzer Nase, drehte ihr seinen Kopf zu, kaum, dass sie aufgelegt hatte. »Da schätzen Sie die Lage reichlich optimistisch ein.« Offenbar nahm er ihr die Besserwisserei von vorhin nicht länger übel. »Ist im Kunstmuseum Wehling heute etwas Besonderes los?«, erkundigte er sich plötzlich wieder manierlich, als säßen sie nett zusammen in einem Café und hätten alle Zeit der Welt. Letzteres war zumindest in seinem Fall richtig, zumal der Taxameter zu seinen Gunsten tickte.

Es mochte an dem anstrengenden Tag liegen, an der Enge in dem Taxi oder an der anteilnehmenden Art, die sich hinter der Frage versteckte – Charlotte streifte jede Zurückhaltung und jeglichen Gedanken an himmelhohe Fahrtkosten ab.

»In knapp einer halben Stunde beginnt dort eine Vernissage, und meine jüngere Schwester hat sie mitorganisiert.«

Der Taxifahrer gab einen interessierten Laut von sich, was Charlotte verleitete, ihm anzuvertrauen: »Sie hat den Job als Assistentin des Kurators erst seit drei Wochen und will mich als moralische Unterstützung dabeihaben.«

»Also, wenn das so ist.« Der Taxifahrer nahm die zeitliche Vorgabe als Kampfansage an, denn er setzte sich gerade auf, umfasste mit beiden Händen fest das Lenkrad und bog bei der nächsten Gelegenheit rechts ab. Von dort schlängelte er sich durch Nebenstraßen, von denen Charlotte noch nie gehört hatte. Einmal erspähte sie von Weitem die Kunsthalle Hamburg und wusste, dass sie sich ihrem eigenen Ziel näherten. Ansonsten blieben sie schweigsam, zumal Charlotte ihr Bestes gab, trotz des Gerüttels mithilfe ihres Handspiegels etwas Mascara und Lippenstift aufzutragen, wozu sie bisher nicht gekommen war.

Als der Taxifahrer schwungvoll vor dem Kunstmuseum Wehling hielt, drehte er sich zu ihr um. »Wir sind da!«

Charlotte beugte sich, beeindruckt von den Fahrkünsten des Mannes, vor. »Tolle Leistung. Ich werde mir Ihre Nummer für den nächsten Sondereinsatz merken.«

Sie legte zu den Fahrtkosten ein gebührendes Trinkgeld drauf und stieg aus. Von Vernissage-Besuchern war keine Spur zu sehen, dafür kratzten bis zur Unkenntlichkeit vermummte Männer in Arbeitskleidung mit ihren Schaufeln die Treppen von der weißen Last frei und streuten kräftig Splitt hinterher. Mittlerweile fielen aus dem Schneehimmel unaufhörlich dicke Flocken herab, die der strenge Wind in der Luft herumwirbelte. Sie war froh, als sie den Eingang, ohne auszurutschen, erreichte, nur erwies sich dieser als verschlossen. Charlotte hämmerte so vehement dagegen, bis sich einer der schneeschaufelnden Männer aufrichtete und sie anblaffte, dass der Rummel bestenfalls in einer Viertelstunde losgehe. »Sofern die Leute es pünktlich hierherschaffen«, setzte er pessimistisch hinterher.

Mit klammen Fingern rief Charlotte ihre Schwester an. »Ich stehe hier draußen vor verschlossener Tür. Komm und mach mir auf.« Es brauchte dann kaum eine Minute, bis sie eilige Schritte nahen hörte und die hohe Holztür von innen aufgerissen wurde.

Annika stand vor ihr und sah kein bisschen aufgeregt aus. Mit ihrem figurbetonten Etuikleid und den hochhackigen Pumps hätte sie ohne Weiteres an einem Fotoshooting für die französische Vogue teilnehmen können.

Charlotte ärgerte sich augenblicklich. Da hatte der Taxifahrer seine Fahrkünste mobilisiert und sie sich unter erschwerten Bedingungen Farbe ins Gesicht gemalt, und nun sah es so aus, als wäre die Hetzerei nicht nötig gewesen.

»Du hast es zum Glück pünktlich geschafft!« Annika zog sie in das Innere und schloss die Tür hinter ihnen. »Mit dir ist wenigstens eine aus meiner Familie bei dem Event dabei. Ausgerechnet diese Woche ist Clemens auf einer Anwaltstagung in Frankfurt, und Mama und Papa müssen sich unbedingt im Januar staubige Steinhaufen in Ägypten ansehen.« Sie sah dem abfahrenden Taxi hinterher. »Warum bist du nicht mit deinem Auto gekommen?«

Charlotte schüttelte den Kopf und folgte Annika in die menschenleere Vorhalle. »Das war mir zu stressig, noch dazu bei dem Wetter. Außerdem wollte ich mich im Taxi in aller Ruhe schminken. Der Taxifahrer hat währenddessen alle Geschwindigkeitsrekorde gebrochen, damit ich rechtzeitig ankomme.«

»Wer hat alle Rekorde gebrochen? Etwa Charlotte mit ihrem alten Corsa?«, erklang eine junge männliche Stimme von hinten.

Charlotte wirbelte herum. Kilian Passlick war groß gewachsen, sportlich, furchtbar jung, und vor allem hatte er einen äußerst attraktiven Patenonkel im Familienstammbaum vorzuweisen, der es schaffte, regelmäßig in ihrem Kopf herumzuspuken – nur glänzte Niklas Ahrens seit Wochen mit Abwesenheit. Dabei würde ihr gemeinsam gelöster Mordfall von letztem September sie beide verbinden, sollte man meinen. Kilian, als sein Neffe, hatte eher ihr Wohlbefinden im Auge gehabt, als er ihr eine Wohnung in seinem Haus angeboten hatte. Nun wohnte Charlotte im ersten Stock unterhalb von Kilians Dachwohnung, und wenn sie hin und wieder über den Grund nachdachte, warum sie seinen attraktiven Onkel so selten zu Gesicht bekam, so ließ sie sich davon weder aus der Ruhe bringen noch in der täglichen Arbeit für ihre Zeitung im Geringsten beirren. Zumindest redete sie sich das ein und jagte ansonsten Storys hinterher, die ihre Leser hoffentlich jeden Donnerstag mit dem Frühstück verschlangen.

Kilian ging derweil in seiner Tätigkeit als Nachwuchsfotograf auf. Auch Annika war seinem jungenhaften Charme erlegen und hatte ihn vom Fleck weg engagiert, um die heutige Vernissage abzulichten.

Momentan konzentrierte Kilian seine Energie auf etwas anderes. »Da vorne kannst du deinen Mantel abgeben, Charlotte«, sagte er und schielte um die Ecke.

Es war klar, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Galant, und nicht ganz selbstlos, half er ihr aus ihrem Mantel und marschierte damit voran Richtung Garderobe, wo eine blutjunge Frau an der Theke herumlümmelte und träge in einer Modezeitschrift blätterte.

Als Kilian ihr das Kleidungsstück reichte, erwachte sie umgehend aus ihrer Lethargie. Mit spitzen Fingernägeln riss sie einen rosafarbenen Abholzettel vom Block und legte ihn auf den Tresen, wobei sie Kilian ein kokettes Lächeln zuwarf, bevor sie mit ihrer Last zwischen gähnend leeren Stangen verschwand und umständlich mit Bügeln herumklapperte.

Na, das kann was werden, dachte Charlotte, die Kilian dichtauf gefolgt war, um den Abholzettel in ihrer Abendtasche zu verstauen. Wie die junge Frau bei diesem Arbeitseinsatz den hoffentlich bald näher rückenden Besucheransturm bewältigen wollte, war ihr ein Rätsel.

Kilian schaffte es irgendwie, seine Gedanken von der Garderobiere loszueisen, und folgte Charlotte zurück in die Vorhalle. »Schick siehst du übrigens aus«, urteilte er. »Das schwarze Kleid steht dir.«

Annika schürzte die Lippen. »Nur deine Haare … Also echt, Charlotte, die sehen reichlich mitgenommen aus. Hast du dich heute Morgen überhaupt frisiert?«

»Steh du mal den ganzen Tag bei diesem Wetter am Straßenrand herum. Ich hatte keine Zeit mehr für eine perfekt sitzende Frisur.« Charlotte wühlte in ihrer Abendhandtasche nach einem Kamm, der sich nicht fand. Genauso wenig wie ihr Smartphone. Ersterer mochte wer weiß wo stecken, Letzteres hoffentlich in ihrem Mantel.

»Ich habe mein Telefon vergessen. Bin gleich zurück.«

Die Garderobiere war mit ihrer Zeitschrift durch und starrte mit dem Kinn auf die Hand gestützt Löcher in die Luft, als Charlotte sich erneut ihrem Arbeitsplatz näherte.

Mittlerweile berieselte ein nostalgisches Medley aus Schlagerhits den Garderobenbereich aus unsichtbaren Lautsprechern.

»Entschuldigung. Mein Handy muss noch in der Manteltasche stecken. Könnten Sie nachsehen?«

Die junge Frau seufzte, während sie ihre rotblonden Prachtlocken zurückwarf und sich zu den zwei einsamen Kleidungsstücken aufmachte, die an der Stange im hintersten Eck hingen.

»Welcher ist Ihrer?«, wollte sie wissen.

Allmählich verstand Charlotte Deutschlands Debatte um den Fachkräftemangel.

»Der Damenmantel«, gab sie ruhig zur Antwort und sah ihr hinterher.

Ihr Smartphone steckte dann in der seitlichen Tasche. Sie gab den Mantel zurück und trat in dem Glauben, dass sie allein war, einen Schritt zurück. Dabei stieß sie mit jemandem zusammen, der lautlos näher gekommen war. Sie glaubte, feinen Zigarettenrauch zu riechen, während sie sich umdrehte. »Oh, Verzeihung. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass jemand hinter mir steht«, entschuldigte sie sich.

Eine Frau in etwa ihrem Alter sah sie mit kaum verhohlener Neugierde an. »Es ist meine Schuld. Ich hätte mich bemerkbar machen sollen.« Die Frau musterte sie ungeniert. »Sie dürften die erste Besucherin sein.«

»An sich bin ich nicht wirklich ein Gast.«

»Sind Sie etwa von der Presse?«, wollte die Frau wissen, als stünde auf ihrer Stirn »Achtung, Reporterin!« geschrieben.

Charlotte fühlte sich durch die selbstbewusste Art der Unbekannten überrumpelt und entschied sich für den schmalen Grat zwischen Wahrheit und Lüge. »Ich bin eher privat hier. Meine Schwester arbeitet seit Kurzem für den Kurator des Museums.«

Die Frau atmete erleichtert auf. »Ach, Sie meinen sicher Annika. Dann ist ja alles gut. Bei Presseleuten muss man nämlich immer furchtbar aufpassen, was man so unbedarft daherplappert. Das kann schlimm ausgehen.«

»Wegen mir müssen Sie sich wirklich keine Sorgen machen«, versicherte Charlotte.

Sie musste der Frau vor ihr nicht gleich auf die Nase binden, dass ihr Arbeitgeber Hanseatische Wochenchronik hieß und sie von Berufs wegen durchaus Journalistin war.

»Dann kann ich mich gleich mal vorstellen«, sagte die Frau. »Ich bin Rebecca Vossen, die Cousine des Kurators.«

Charlotte nannte ihren Namen. Dabei entging ihr nicht, dass Rebecca Vossens nachtblauer Einteiler mit weiten Hosenbeinen schlicht wirken mochte, jedoch sündhaft teuer gewesen sein musste. Die Trägerin dieser edlen Kreation streckte den schmalen Hals aus dem Neckholderkragen und guckte Richtung Eingang, was Charlotte an ein Erdmännchen erinnerte.

»Wie ich sehe, ist Richard gerade gekommen und spricht mit dem Fotografen.« Rebecca Vossen zog den Hals wieder ein. »Wenn Sie möchten, mache ich Sie mit meinem Cousin bekannt.«

Die Garderobiere zeigte zur Abwechslung vollen Arbeitseinsatz und nahm mit Rebeccas Vossens pelziger Jacke geschäftig das dritte Kleidungsstück des Abends entgegen.

»Richard sollte wirklich mal etwas gegen diese angestaubte Musik unternehmen.« Rebecca Vossen griff unter den Klängen von Leonard Bernsteins Tonight ihren rosa Abholzettel. »Aber solange seine altgediente Sekretärin hier noch das Sagen hat, werden wir uns mit der Wirtschaftswunder-Hitparade abfinden müssen. Genauso wie mit Frau Speths Jobbezeichnung.«

Sie stopfte den Streifen Papier achtlos in ihre Abendtasche, wo sie garantiert ihre Zigarettenpackung versteckt hielt. »Vermutlich käme Richard ohne Frau Speth gar nicht zurecht. Die Frau riecht Richards Bedürfnisse regelrecht. Jede andere hätte es schwer, da mitzuhalten.«

Charlotte hätte gern gewusst, ob die Feststellung auf Annika abzielte. Ihre Schwester hatte mit ihrem frischen Abschluss in Kulturmanagement völlig andere Aufgaben inne, und so ging sie kommentarlos Annikas Chef entgegen.

Der Kurator des Kunstmuseums Wehling wirkte neben Kilians kraftstrotzender Jugend geradezu schmächtig, stellte Charlotte beim Näherkommen fest. Richard Vossen mochte um die Mitte vierzig sein, hatte ein breites Gesicht und trug das länger geschnittene Haar locker nach hinten aus der Stirn gekämmt. Die Natur hatte ihn mit einem ausgeprägten Unterkiefer ausgestattet. Kerzengerade und selbstsicher wie ein Feldherr blickte er um sich. Mit dieser stolzen Pose würde Richard Vossen sich später einmal anstandslos in die Ahnengalerie des Kunstmuseums Wehling einreihen, die großformatig an der Wand direkt hinter seinem Rücken prangte.

Rebecca Vossen stellte sich neben ihren Cousin und sagte im Plauderton: »Ich bringe dir jemanden mit, Richard. Charlotte ist Annikas Schwester und will bei dem Spektakel heute Abend dabei sein.«

»Schwester?« Richard Vossen sah Charlotte mit kaum verhohlener Neugierde an. »Sie sehen einander nicht sehr ähnlich.«

Charlotte vermied, über ihre hellbraunen Haare zu streichen, die sich nicht mit Annikas blonder Tipptopp-Hochsteckfrisur messen konnten, und antwortete stattdessen: »Stimmt. Ich komme mehr nach unserem Vater, wogegen Annika unserer Mutter ähnelt.«

Richard Vossen wirkte, als müsste er die Familienverhältnisse seiner Assistentin erst gründlich sortieren. »Unser junger Fotograf hier ist aber nicht verwandt mit Ihnen, oder?«, fragte er vorsichtshalber nach.

Während Charlotte verneinte, hatte seine Cousine Kilian bereits in eigener Sache im Visier. »Ich entwerfe beruflich Brautkleider und bin immer auf der Suche nach einem guten Fotografen, der meine Kundinnen ablichtet. Ich veröffentliche sie regelmäßig auf meiner Homepage und auf Instagram«, ließ ihn Rebecca Vossen wissen. »Möglicherweise könnten wir hier zusammenkommen.«

Kilian sah bei der Vorstellung, Fotograf für hysterische Bräute werden zu dürfen, nicht glücklich drein, und zog es vor, das Angebot zu überhören.

»Sie müssen sich Rebeccas Atelier einmal ansehen, Charlotte«, schlug Richard Vossen vor. »Eventuell wollen Sie in nächster Zeit heiraten? Eine attraktive Frau wie Sie dürfte in festen Händen sein.«

Na super, dachte Charlotte. Wenn sie sich nicht täuschte, begann Annikas Chef gerade auffällig mit ihr zu flirten.

»Aktuell steht nichts dergleichen auf dem Plan«, murmelte sie ausweichend. »Aber ich werde bei Bedarf gerne darauf zurückkommen.«

»Charlotte geht gerade voll in ihrem Beruf auf«, verriet Kilian. »Sie arbeitet seit ein paar Monaten für die Hanseatische Wochenchronik.«

Charlotte hätte ihm am liebsten ans Schienbein getreten, als sie bemerkte, wie Rebecca Vossen scharf die Luft einzog, denn schließlich hatte diese noch vor wenigen Minuten geklungen, als wären Journalisten für sie lästige Pollen, auf die sie allergisch reagierte.

»Ich bin wirklich rein privat hier«, beeilte sie sich zu sagen.

Richard Vossen schien ihre Entlarvung weniger auszumachen. Im Gegenteil. Er reckte das Kinn um ein paar Zentimeter mehr vor, als käme ihm unversehens eine Idee. »Was halten Sie davon, wenn Sie mich später in meinem Büro interviewen? Wir könnten Ihren Text in die Internet-Präsentation zu Kilians Fotos einbauen.«

Charlotte suchte verzweifelt nach einer Ausrede, aber Richard Vossen war schneller. »Ich schlage vor, am besten nach meiner Ansprache. Passt Ihnen gegen halb neun?«

Der Mann ließ einfach nicht locker, bemerkte Charlotte und war froh, als es in Vossens Anzugjacke zu klingeln begann.

Ungeniert plärrten die Rolling Stones ihre Unzufriedenheit in die Eingangshalle des Museums hinaus. Von sanfter Hintergrundmusik schien der Kurator persönlich nicht viel zu halten.

»Entschuldigung. Da muss ich rangehen. Es ist Manuel Lasalle.«

Der Star des Abends war mit einer hohen Stimme gesegnet, die bruchstückhaft zu hören war. Charlotte verstand aus den Wortfetzen, dass Lasalle im schlimmsten Stau des Winters feststeckte und es nicht rechtzeitig zu seiner eigenen Vernissage schaffen würde.

Richard Vossens Gesicht verfinsterte sich zusehends, bis er den Redeschwall seines Künstlers energisch stoppte. »Da kann man nichts machen. Vermutlich werden sich auch etliche der Gäste verspäten. Wir fangen einfach später an.« Er verstaute das Telefon in der Jackentasche und drehte sich nach Annika um, die sich in diesem Moment zu ihnen gesellte. »Sie kommen wie gerufen, Frau Stuppe. Es wäre ein Wunder, wenn an so einem Abend nicht gleich mehr Dinge schiefgehen. Bis Lasalle eintrifft, habe ich oben im Büro noch etwas zu erledigen. Bitte vertreten Sie mich einstweilen bei den Gästen.«

Hatte Charlotte gehofft, dass ihr Interview für das Kunstmuseum Wehling damit in Vergessenheit geraten würde, so hatte sie sich getäuscht.

Richard Vossens Blick legte sich auf sie. »Passt es Ihnen, wenn wir das Interview unter den gegebenen Umständen vorverlegen?« Er sah auf die Uhr. »So in einer halben Stunde? Kommen Sie einfach in mein Büro nach.«

Er wartete eine Antwort nicht ab und verschwand geschwind über das mit Marmorsäulen verzierte Treppenhaus nach oben.

Charlotte blieb keine Zeit, weiter mit ihrer unerwarteten Nebenbeschäftigung zu hadern, denn von irgendwoher tauchten beschürzte Kellner auf und postierten sich an einer provisorisch aufgebauten Bar, während ein Museumsangestellter wie auf Befehl weit die Doppeltüren des Eingangs öffnete. Von der Straße waren Motorengeräusche zu hören, und als sie vor die Tür spähte, sah sie die ersten Autos und Taxis vorfahren.

Sie hörte, wie Annika hinter ihr ein abgrundtiefer Seufzer entfuhr. »Ach, sieh an! Einige der Besucher schaffen es, pünktlich zu erscheinen. Die Vernissage ist damit halbwegs gerettet. Ich muss den Leuten lediglich die Botschaft verkünden, dass sie auf Lasalle und Herrn Vossen warten müssen.«

2

»Du übernachtest heute bei Michael und Nadine«, sagte Niklas Ahrens energisch zu seiner Tochter. »Ich kann dich leider nicht mitnehmen.«

Als Antwort drückte Philippa am Autoradio herum, bis eine Boygroup ihren Song in das Wageninnere schmetterte. Niklas Ahrens taten bereits nach den ersten Tönen die Ohren weh.

Seit sie losgefahren waren, schmollte Philippa auf dem Beifahrersitz des Autos vor sich hin. Er strich sich das blonde Haar aus der Stirn und konzentrierte sich auf den Verkehr. Der Schneefall nahm zu, so dass er nur langsam vorwärtskam. Der städtische Räumdienst hatte den Wintereinbruch verschlafen, und die Autofahrer teilten sich in zwei menschliche Gattungen: Die Todesverächter fuhren mit über 50 km/h über schneebedeckte Fahrbahnen, während die Überängstlichen das Lenkrad krampfhaft umklammerten und dahinkrochen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte er das Reihenhaus seines Bruders.

»Wir sind da«, sagte er betont munter.

»Ich könnte mich irgendwo in dem Museum hinsetzen und warten, bis du mit deiner Arbeit fertig bist, Papa«, versuchte Philippa erneut zu verhandeln.

Niklas Ahrens strich über die Wange seiner Tochter. »Das haben wir bereits besprochen, Philippa. Ich weiß einfach nicht, wie lange es dauert. Und du hast morgen Schule.«

Er schulterte beim Aussteigen den Rucksack mit den Übernachtungsutensilien seiner Tochter und half ihr aus dem Auto. Sein Bruder hatte die Straße vor seinem Reihenhaus vorbildlich freigeschaufelt, aber Hamburg wurde an diesem Abend der Schneemassen kaum Herr. Auf dem Vorgarten lag erneut eine weiße Decke, als sie dem Weg zum Haus folgten. Niklas drückte die Klingel und sah seine Tochter aufmunternd an, während sie warteten. Im Hausflur waren Schritte zu hören, das Licht ging an, und sein Bruder öffnete die Tür.

»Da seid ihr beide endlich. Reichlich spät, aber immerhin«, sagte Michael Ahrens. »Kommt rein, ihr beide bringt eine Eiseskälte mit.« Er zupfte neckisch an Philippas schneebedeckter Bommelmütze.

Die Zehnjährige zeigte sich heute immun gegen Zärtlichkeitsbekundungen und marschierte grußlos über den Flur Richtung Wohnzimmer.

»Sie ist mir böse«, erklärte Niklas unaufgefordert. »Wir wollten heute Abend Kastanien grillen und uns einen Film ansehen.«

»Bei diesem Wetter jagt man kein Kind vor die Tür, Niklas«, warf Michael ihm vor.

Niklas nahm die Bemerkung nicht übel. Sein Bruder war um vier Jahre älter und mit einem besonnenen Charakter gesegnet. Seine Arbeit bei der Mordkommission pflegte er mit Gartenarbeit auszugleichen. Jetzt im Winter kümmerte er sich hingebungsvoll um die Zimmerpflanzen, wie ein reich blühender Weihnachtsstern auf der Dielenkommode bewies. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war unverkennbar, auch wenn Michael die letzte Zeit um die Körpermitte herum an Gewicht zugelegt hatte, was seine Frau Nadine regelmäßig zu neckischen Vergleichen verleitete.

»Richard Vossen würde mich nicht anrufen und bitten, zu ihm zu kommen, wenn es nicht etwas Ernstes wäre.« Niklas drückte seinem Bruder kategorisch Philippas Rucksack in die Hand. »Ich schulde ihm einen Gefallen, immerhin ist er mir bei der Geschichte mit den Kunstdiebstählen behilflich.«

»Hat er dir Näheres erzählt?«

»Er erwähnte am Telefon lediglich, dass eines der Gemälde von Manuel Lasalle verschwunden ist. Und ausgerechnet heute Abend findet die Vernissage dazu statt.«

»Das wäre somit eine klare Sache für die Polizei.« Plötzlich klang Michael wie der Kriminalhauptkommissar, der er von Berufs wegen war.

»Ich kenne noch keine Einzelheiten«, beschwichtigte Niklas. »Vossen hat mich gebeten, möglichst schnell vorbeizukommen.«

Michael wirkte nicht sonderlich begeistert. »Du wirst hoffentlich wissen, was zu tun ist. Bloß denk bitte daran: Du bist vom LKA engagiert, im Netz wegen der organisierten Diebstähle von Gemälden zu recherchieren. Im Internet wohlgemerkt. Dafür nennst du dich Cyber-Sicherheitsexperte. Die Arbeit an der Front bleibt allerdings immer noch der Polizei überlassen. Schieß also nicht über das Ziel hinaus.«

»Du solltest mich besser kennen. Ich bin immer vernünftig. Übrigens ist Kilian heute Abend als Fotograf mit dabei. Er wurde für die Fotoserie engagiert.«

»Das wusste ich nicht.« Michael klang nachdenklich. In diesem Moment brauchte es keine großen Worte zwischen ihnen. Niklas sah seinem Bruder an, dass auch dieser an den Prozess und Mordfall vom letzten Jahr dachte, bei dem sie dem Sohn ihrer Schwester unverrückbar zur Seite gestanden hatten.

»Übrigens danke, dass ich Philippa so kurzfristig zu euch bringen konnte. Und dafür, dass ihr sie morgen zur Schule fahrt. Ihre Sachen habe ich mit eingepackt.«

»Wir sind daran gewöhnt«, antwortete Michael Ahrens gelassen.

Niklas wandte sich zum Gehen, als Philippa aus dem Wohnzimmer auftauchte und auf ihn zulief. Sie schlang fest die Arme um ihn. »Tschüs, Papa.«

Über den Kopf seiner Tochter hinweg sah er, wie seine Schwägerin ihm zublinzelte. Sie hatte anscheinend ein Wort von Frau zu Frau mit Philippa gesprochen. In Momenten wie diesen wurde ihm bewusst, dass es kompliziert werden würde, seine Tochter nach der Trennung von seiner Frau allein aufzuziehen.

»Habt ihr vorher etwas gegessen?«, erkundigte sich Nadine.

»Nur eine Kleinigkeit auf die Schnelle. Sicher hat Philippa noch Hunger mitgebracht.«

»Dagegen können wir etwas machen«, versicherte Nadine.

»Dann bis morgen, Pippa!« Niklas gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn, bevor er das Haus verließ und den gewundenen Weg zurückschlitterte.

Es war kurz vor halb acht, als Niklas seinen in die Jahre gekommenen Fiat auf dem Parkplatz hinter dem Kunstmuseum abstellte. Richard Vossen hatte am Telefon besorgt, nahezu aufgebracht geklungen. Und das wiederum hatte ihn äußerst beunruhigt. Er hatte Richard Vossen als einen besonnenen Menschen kennengelernt, als er ihn vor wenigen Wochen um sein fachkundiges Urteil zu einem gestohlenen Gemälde gebeten hatte.

Ein eisiger Wind schlug Niklas entgegen, als er um die Ecke bog und die Stufen zum Museum hochlief. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Fassade. Plakate an den Seiten bauschten sich im Wind und wiesen auf die Sonderausstellung von Manuel Lasalle hin. Das Gebäude selbst stammte aus der guten alten Kaiserzeit und hatte in seiner Geschichte so manchen Sturm überstanden. Auch an diesem Abend trotzte es mit seinen dicken Mauern unerschütterlich den Tücken des Winterwetters.

Vor der Eingangstür tat ein Wachmann mit frostroter Nase eisern seinen Dienst. Sein dampfender Atem löste sich in der Nachtluft auf, als Niklas ihm seinen Namen nannte und meinte, er würde von Herrn Vossen in seinem Büro erwartet. Der Wachmann zog mithilfe seiner Vorderzähne den rechten Handschuh aus, stopfte ihn sich unter die Achsel und strich mit dem Zeigefinger bedächtig über ein Tablet. »Richtig. Hier steht’s. Ahrens. Sie haben keine Einladung, sind aber angekündigt.«

Der Wachmann begutachtete ihn noch einmal eingehend von oben bis unten und stemmte mit der linken behandschuhten Hand die Tür auf.

Ohne Vorwarnung brachen Wärme und ohrenbetäubender Lärm über Niklas herein. Gefühlt Dutzende lebhafter Zungen redeten und lachten in höchsten Tonlagen und Lautstärken. Niklas war groß genug, um über die Köpfe einer Menschenmenge hinwegzublicken. Nebenan im Ausstellungssaal drängten sich noch mehr Menschen, und er sah dazwischen die Gemälde von Manuel Lasalle an den Wänden hängen. Angesichts der guten Stimmung schien die Vernissage ein voller Erfolg zu sein. Das fehlende Gemälde fiel dem Anschein nach niemandem auf.

Angestrengt hielt Niklas nach Richard Vossen Ausschau und überhörte fast das Läuten des Telefons in seiner Manteltasche. Es war seine Schwägerin, und es konnte nur wegen Philippa sein. Bevor er den Anruf entgegennehmen konnte, verstummte der Klingelton. Niklas sah sich um. Bei den vielen Menschen ringsum verstand man kaum sein eigenes Wort. Besorgt machte er kehrt und eilte ins Freie zurück, wo er besser telefonieren konnte. Der Wachmann musterte ihn neugierig, als er sich ein paar Meter entfernt an die Mauer stellte und die Nummer anwählte. Ein ankommendes Taxi lenkte den Wachmann von ihm ab.

Niklas folgte seinen Blicken und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich ein Mann aus dem Fond des Taxis schälte und mit gesenktem Kopf zum Eingang schritt. Er hörte, wie der Wachmann ihn mit »Herr Lasalle« begrüßte. In dem Moment meldete sich seine Schwägerin.

»Ich habe gebratene Selleriescheiben auf Rote-Bete-Salat zum Abendessen vorbereitet.«

Niklas atmete erleichtert auf. Mit seiner Tochter war also alles in Ordnung, und den Grund, warum Nadine ihm das Abendessen aufzählte, würde er sicher gleich zu hören bekommen.

»Pippa behauptet, dass sie auf Rote Bete allergisch reagiert. Warum verschweigst du uns so wichtige Sachen, Niklas? Solche Informationen sind relevant für uns, wenn sie mit uns essen soll.« Nadines Stimme klang streng.

»Philippa ist das gesündeste Kind, das ich kenne«, antwortete er. »Sie hat im Leben noch nie eine Allergie gezeigt. Sie mag nur keine Rote Bete und drückt sich davor, sie zu essen. Ich denke, sie wollte dir nicht wehtun und dein Essen schnöde ablehnen.«

Er hörte, wie Nadine sich räusperte. »Also dann …«

»Ich muss jetzt auflegen und mich um das Gemälde kümmern«, unterbrach Niklas, bevor seine Schwägerin das Thema Essensgeschmack von Kindern vertiefen konnte. Philippas angebliche Rote-Bete-Allergie sollte heute Abend Nadines erzieherische Sorge sein.

3

So langsam regte sich in Charlotte der Verdacht, dass Annikas Mann Clemens haargenau gewusst hatte, was er tat, als er sich nach Frankfurt zu seiner Anwaltstagung aus dem Staub machte. Der Abend verlief im Schneckentempo. Zwar trudelten immer mehr Besucher ein, nur bildeten diese umgehend ihre geheimen Zirkel. Da wurde untereinander geküsst, gelacht und geplaudert. Annika betrieb indes kräftig Small Talk und hatte ansonsten keine Minute Zeit für sie. Charlotte fragte sich immer öfter, wozu ihre Schwester sie überhaupt hierhergeschleift hatte.

Nach einer guten halben Stunde Rundgang durch die Ausstellungshalle hatte sie genug von den Exponaten und stellte sich in der Vorhalle in eine abseits gelegene Ecke, wo sie sich ein Glas Champagner genehmigte, das ihr ein Kellner auf einem Tablett anbot. Beinahe hätte sie verpasst, wie am Eingang ein kleiner Tumult entstand. Manuel Lasalle hatte es zu seiner eigenen Party geschafft und schritt über die Türschwelle. Einige der Gäste schienen so erleichtert zu sein, sich nicht umsonst in Schale geworfen zu haben, dass sie ihm applaudierten.

Charlotte kannte den Star des Abends bisher nur von seiner Website. Die Fotos darin waren, wie bei Bewerbungsfotos, etwas geschönt, stellte sie fest. Lasalle hatte dort volles hellbraunes Haar und eine gleichmäßige Gesichtsfarbe, dazu eindringliche, in die Kamera blitzende Augen. Er verharrte dabei häufig in Denkerpose und schaute mit der Hand am Kinn aus, als sinnierte er über eine besonders verzwickte Licht-Schatten-Landschaftsmalerei. Der echte Lasalle war kaum größer als sie selbst, und das hieß einhundertsechsundsechzig Zentimeter plus ein paar Zerquetschte obendrauf. Das volle Haar war in Wirklichkeit eher fluffig, und die Schultern hingen träge nach vorn, statt dynamisch durchgestreckt zu sein. Die Augen guckten wenig blitzend, dafür hellblau matt drein. Unseligerweise war Lasalle mit dieser hohen nasalen Stimme gesegnet, die den Gehörgang wie ein Zahnbohrer durchdrang, was die kulturverliebte Gesellschaft nicht zu stören schien. Im Gegenteil: Sie hingen regelrecht an seinen Lippen.

Während Charlotte den Huldigungen zusah, gesellte sich Richard Vossens Cousine zu ihr.

»Was für ein Abend.« Anmutig wedelte sich Rebecca mit der Hand Luft zu. »Ich habe mein Bestes getan, gute Laune zu verbreiten, während wir alle auf Lasalle gewartet haben.«

Ihre Stimme klang dabei ein wenig erschöpft, fand Charlotte, obwohl sie mit dem perfekten Make-up aussah, als hätte sie den Nachmittag im Beautycenter verbracht.

Weil sie nicht wusste, was sie zu Rebecca Vossens gesellschaftlichem Dilemma beitragen konnte, trank sie ihr Glas in einem Zug leer. Der Kellner scharwenzelte schon wieder um sie herum. Galant bot er verführerisch die nächste Ladung Champagner an, und sie sagte nicht Nein. Der Champagner war einfach zu lecker. Wenn es bei einer Vernissage nichts zu essen gab, würde sie sich eben flüssig ernähren.

Allerdings musste sie sich mit dem zweiten Glas beeilen, denn es war allmählich Zeit für ihr vorgezogenes Interview mit Richard Vossen. Charlotte nahm hastig einen Schluck, als sich ihnen ein junger Mann näherte. Er war mittelgroß, trug zerfetzte Jeans, darüber ein kurzärmeliges T-Shirt und sah aus, als hätte er sich damit auf die falsche Party zur falschen Jahreszeit verirrt. Seine schulterlangen Haare umrahmten sein Gesicht und erinnerten an Rockstars aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts.

»Du hast dich also doch durchgerungen zu kommen, Torsten«, begrüßte Rebecca ihn.

»Klar. Und sogar pünktlicher als der Star des Abends.« Lässig steckte der junge Mann die Daumen in den Bund seiner Jeans. »Naomi ist auch da. Sie unterhält sich seit geraumer Zeit mit einem alten Bekannten ihres Vaters, der in Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Zeiten schwelgt.«

»Jedenfalls ist es schön, dass ihr es geschafft habt.«

Etwas in der Art, wie Rebecca die Worte aussprach, ließ Charlotte vermuten, dass sie dabei nicht aufrichtig war.

»Torsten ist übrigens der Freund von Richards Tochter Naomi«, stellte Rebecca den Mann vor. »Außerdem ist er Bildhauer, und als solcher verschanzt er sich gerne tagelang in seinem Atelier mit seinen Skulpturen und ignoriert die Welt um sich herum. Ich hatte damit gerechnet, dass er die Vernissage einfach vergisst.«

Torsten lächelte mittlerweile weniger strahlend, sondern ein wenig beschämt, als ginge ihm etwas durch den Kopf. »Tatsächlich musste mich Naomi an den Termin erinnern«, gab er zu. »Wir Künstler sind eben keine zuverlässigen Zeitgenossen.«

»Ich würde sagen, an manchen Tagen sogar unerträglich für den Rest der Welt.« Die Sprecherin, eine Frau nicht älter als zwanzig, hatte sich unbemerkt genähert und stellte sich neben Torsten. Sie war schmal und wirkte mit ihrem blassen Teint fast durchsichtig. Die schwarzen Haare waren im Nacken zusammengesteckt. Einzelne Haarsträhnen hatten sich gelöst und hingen ihr ins Gesicht. Zwanglos sagte sie an Charlotte gerichtet: »Hi. Ich bin Naomi Vossen. Mein Vater ist der Kurator des Ganzen hier. Falls Sie sich langweilen, geben Sie einfach ihm die Schuld.«

»Ich werde mich hüten«, antwortete Charlotte, etwas irritiert über die direkte Art der jungen Frau. Diese steckte in einem sackähnlichen Hängekleid, das eher zu einem Bio-Stand am Wochenmarkt gepasst hätte als zu der eleganten Abendgesellschaft ringsum. Damit stach sie genauso unkonventionell heraus wie ihr Freund Torsten. Trotzdem wirkten merkwürdigerweise beide, als würden sie mehr in diese Umgebung gehören als so mancher Gast. »Meine Schwester ist die Assistentin Ihres Vaters. Annika würde mich in der Luft zerreißen, sollte ich etwas Negatives über die Vernissage sagen.«

»Dazu besteht hoffentlich kein Grund«, murmelte Rebecca. »Bis jetzt äußern sich alle Besucher begeistert von den Bildern.«

»Das könnte an dem edlen Tropfen liegen, mit dem ihr eure Gäste zuschüttet.« Torsten deutete auf das Champagnerglas in Rebeccas Hand.

»Das war nicht nett«, entfuhr es Naomi, ehe sie fast entschuldigend sagte: »Torsten hat immer nur seine Skulpturen im Kopf. Als gäbe es keine andere Kunstform. Ich werde mir auf alle Fälle Lasalles Exponate ansehen.«

»Dann lass uns in den Ausstellungssaal gehen und es hinter uns bringen.« Energisch nahm Torsten Naomis Hand in die seine, während sie sich verabschiedeten.

Charlotte sah dem jungen Paar nach, wie sie sich durch die Menschengruppen bewegten.

Als sie auf die Armbanduhr blickte, war es bereits weit nach halb acht.

»Ich mache mich auf den Weg in Herrn Vossens Büro wegen des Interviews.« Charlotte zögerte kurz. »Vielleicht möchte Ihr Cousin das Interview mit mir nach hinten verschieben, nun, da Herr Lasalle eingetroffen ist?«

»Sie können ihn gerne fragen. Allerdings fehlen noch immer etliche Gäste. Vorher wird Richard nicht mit seiner Rede anfangen wollen.« Rebecca deutete auf die große Treppe. »Sein Büro liegt im zweiten Stock. Sie können es gar nicht verfehlen.«

Charlotte stellte ihr halb leer getrunkenes Glas Champagner einem vorbeikommenden Kellner aufs Tablett. Ihr war etwas flau, und der Lärm und das Gedränge des Abends taten ihr Übriges dazu. Sie durchquerte die Halle und stieg die Stufen hoch.

Das Stimmengewirr aus dem Erdgeschoss klang merklich gedämpfter an ihre Ohren, und als sie im zweiten Stock ankam, herrschte geradezu himmlische Ruhe. Über ihr ragte das gläserne Kuppeldach des Museumsgebäudes in den schwarzen Nachthimmel. Bei Tage konnte man direkt in den Himmel sehen, erinnerte sie sich und verfolgte in einem Anflug kindlicher Freude, wie Schneeflocken auf die Glaskonstruktion rieselten. Gegenüber der Treppe führte eine Flügeltür auf eine Terrasse.

Neugierig rüttelte sie am Knauf, und zu ihrer Freude ließ sich die Tür öffnen. Trotz der Kälte trat sie ins Freie. Vor ihr lag eine parkähnliche Anlage, die bei Tageslicht beeindruckend weitläufig sein musste. In der Dunkelheit sah sie nur die nackten Silhouetten von Bäumen. Irgendwo im Gebäude schlug eine Tür zu. Gerade als sie sich zum Gehen wandte, fielen ihr Fußspuren auf der Terrasse auf. Sie zeichneten sich deutlich auf dem schneebedeckten Boden ab und führten bis zur Balustrade und wieder zurück. Möglicherweise stammten sie von Richard Vossen, der sich eine Zigarettenpause oder einfach nur frische Luft gegönnt hatte, bevor er in sein Büro gegangen war.

Plötzlich fröstelte Charlotte in ihrem dünnen Kleid. Hier draußen war es unerträglich kalt. Sie rieb sich die Oberarme und schloss die Terrassentür schnell wieder hinter sich, während sie Ausschau nach der Verwaltung hielt.

Einem Hinweisschild folgend wandte sie sich nach rechts. Vor einer Holztür mit der Aufschrift Museumsverwaltung blieb sie stehen. Die Tür war nicht abgeschlossen, und sie konnte sie mühelos aufdrücken.

Vor ihr lag ein Korridor, von dem auf beiden Seiten Zimmer abgingen. Beim Vorbeigehen las sie die Namensschilder mit der jeweiligen Funktion des Angestellten. Es sah aus wie in einer beliebigen Behörde, und vermutlich unterschied sich die Verwaltung eines Kunstmuseums nicht wesentlich davon. Nicht ohne Stolz entdeckte sie auf einem der letzten Schilder den Namen ihrer Schwester: Annika Stuppe, Creative Assistant. Moderne Berufsbezeichnungen, unter denen sich die wenigsten Menschen etwas vorstellen konnten, hatten im altehrwürdigen Kunstmuseum Wehling Einzug gehalten.

Ihre Schritte hallten laut auf dem Parkettboden, als sie die wenigen Meter bis zur Tür an der Vorderseite zurücklegte. Dr. Richard Vossen, Kurator stand daneben und darunter: Gesine Speth, Sekretariat. Hier herrschte noch die gute alte deutsche Rang- und Namensordnung.

Die Tür war nur angelehnt, und sie interpretierte dies als Einladung, ohne anzuklopfen eintreten zu können. Dahinter befand sich das verwaiste Vorzimmer der unbekannten Frau Speth und strahlte unter eingeschalteten Deckenleuchten Sauberkeit und Akkuratesse aus. Papiere lagen ordentlich gestapelt in Ablagefächern, Stifte ragten gespitzt aus einem Ständer heraus, und das fleckenlose Keyboard war in einer parallelen Linie zum ebenfalls fleckenlosen Computerbildschirm angeordnet.

Sie löste sich von dem Bild peinlichster Ordnung und sah sich um. Rechter Hand ging es direkt zum Allerheiligsten, und heilige Ruhe herrschte darin.

Merkwürdig befangen räusperte sie sich. »Herr Vossen? Sind Sie da?«

Keine Antwort. Sie verwünschte die Situation und Vossen gleich mit. Ein plötzliches Geräusch aus dem offen stehenden Büro schreckte sie auf. Es war sehr leise, mehr ein Rascheln, dank der Stille ringsum jedoch überdeutlich zu hören. Für Sekunden rührte sie sich nicht vom Fleck, bevor sie ihrem Impuls nachgab und über die Türschwelle trat.

Einen Moment später hörte sie ihren eigenen Aufschrei wie durch einen Nebel. Sie blinzelte mehrere Male, um sicher zu sein, dass das, was sie sah, kein Trugbild von zu hastig getrunkenem Alkohol war. Richard Vossen lag in der Mitte des Raumes auf dem Boden, genauer gesagt auf einem Perserteppich mit kunstvoll geschwungenen Ornamenten. Ihre spontane Hoffnung, dass Richard Vossen sich auf dem Teppich vor seiner Rede ein kurzes Nickerchen gönnte, erwies sich angesichts seines verzerrten Gesichts und einer klaffenden Wunde am Kopf als vergebens. Die dazugehörige Blutlache kam ihr ungeheuer groß vor.

Der Anblick Vossens war dermaßen schockierend, dass sie sich unwillkürlich die Hand vor den Mund hielt und gegen einen Würgereiz ankämpfte. In ihrem Kopf herrschte nur gähnende Leere. Verzweifelt bemühte sie sich zu begreifen, was sie vor Augen hatte.

Einen Moment lang fragte sie sich, warum sie Annikas Einladung generell und Vossens Wunsch nach einem Interview im Besonderen nachgekommen war. Dann gelang es ihr, sich wieder zu fassen.

Grimmig entschlossen presste sie die Lippen zusammen und überwand ihren Ekel trotz des Blutes, das sich tiefrot und klar auf dem Perserteppich ausgebreitet hatte. Was, wenn Richard Vossen noch lebte? Kopfwunden bluteten schauerlich, das wusste jeder.

Sie lief zu Vossen und kniete sich neben ihn. Einige Strähnen aus dem nach hinten gekämmten Haar hatten sich gelöst und fielen nach vorn, wo das Blut sie getränkt hatte. Er lag so zur Seite gedreht, dass die dem Teppich abgewandte Gesichtshälfte gut zu sehen war. Oberhalb der Schläfe klaffte eine tiefe Wunde. Sie beugte sich tiefer zu Vossens Kopf hinunter. Seine Wimpern flatterten, als würde er merken, dass jemand neben ihm war.

»Können Sie mich verstehen?« Erstaunlicherweise klang ihre Stimme in ihren eigenen Ohren normal, wobei ihr Herz wie wild gegen ihre Brust hämmerte.

Vossen bewegte den Kopf und öffnete leicht die Augen. Ihre Worte waren zu ihm durchgedrungen.

Charlotte drückte vorsichtig seine Hand, die auf seiner Brust lag, während sie fieberhaft versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Mit zitternden Fingern fischte sie ihr Telefon aus der Abendtasche.

»Ich rufe einen Rettungswagen, Richard. Sie haben eine Kopfverletzung. Bleiben Sie ruhig liegen.«

Seine Finger bewegten sich, sie fühlte ihren leichten Druck. Plötzlich ließ der Druck nach. Zaghaft wanderte ihr Blick zu seinem Gesicht. Ihr Herzschlag setzte aus, als sie in erstarrte braune Augen sah. Es bestand nicht der geringste Zweifel: Richard Vossen hatte gerade seinen letzten Atemzug getan. Vor ihr lag nun seine Leiche.

Ausgerechnet in dieser Schrecksekunde durchschnitt eine Männerstimme hinter ihr die Totenstille.

»Was zum Teufel …!«

Sie fuhr herum und stieß einen scharfen Laut aus. Der Mann füllte den Türrahmen aus, an Weglaufen war also nicht zu denken. Das war aber nicht nötig, denn sie kannte das schmale intelligente Gesicht mit der geraden Nase und den graublauen Augen. Niklas Ahrens sah sie unverwandt an. Unter dem Schein der Deckenbeleuchtung schimmerten seine dichten blonden Haare feucht. Auf seinem Kurzmantel schmolzen letzte Schneeflocken und durchnässten den Stoff. Niklas musste direkt aus dem Schneetreiben gekommen sein.

Charlotte stierte Niklas an wie einen Geist. »Er ist tot«, brach sie das Schweigen.

Zum Beweis richtete sie sich auf und gab den Blick auf Vossens Oberkörper und das Blut frei.

Der überraschte Ausdruck verschwand schlagartig aus Niklas’ Gesicht. Eilig lief er zu ihr. »Bist du verletzt?«

»Mir fehlt nichts«, versicherte sie und fühlte ihr Herz rasen, wobei sie nicht genau wusste, ob es eine Reaktion auf ihren Leichenfund war oder ob es von Niklas’ unerwartetem Auftauchen herrührte.

»Sicher?«

Niklas’ Finger zeigte auf ihr rechtes Handgelenk, an dem Spritzer von Blut klebten.

»Ganz sicher«, beteuerte sie. »Ich habe Herrn Vossen helfen wollen. Das Blut stammt von ihm. Gerade wollte ich nach dem Notarzt rufen.«

Von irgendwoher zog Niklas eine Packung Taschentücher hervor und reichte sie ihr. »Nimm das. Damit kannst du es abwischen. Den Notruf übernehme ich.«

Während sie sich säuberte, hörte sie zu, wie Niklas der Leitzentrale die Geschehnisse meldete. »Ich passe auf und stelle mich an den Eingang, sobald Sie eintreffen.«

»Was um alles in der Welt machst du hier?«, entfuhr es ihr, als er auflegte.

»Das Gleiche wollte ich dich fragen«, wich Niklas einer Antwort aus. »Hast du gesehen, was mit Richard geschehen ist?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Ich bin in Herrn Vossens Büro gekommen und habe ihn so vorgefunden.«

Wie letzten September, als sie Kilians Freund ertrunken an einem Teich aufgefunden hatten, beugte Niklas sich gefasst über den Toten und betrachtete eingehend seine Verletzung. Das Blut auf dem Gesicht und auf dem Teppich begann zu gerinnen. Niklas ging tief in die Knie und legte vorsichtig seinen Zeigefinger auf Vossens Hand.

»Die Haut ist noch warm«, bemerkte er.

»Natürlich ist sie das. Er hat gerade noch gelebt.«

Niklas kniff die Augen zusammen. »Dann war er bei Bewusstsein, als du ihn gefunden hast?«

»Richtig. Er ist mir im wahrsten Sinn des Wortes unter den Fingern weggestorben. Nur wenige Sekunden danach bist du auf der Bildfläche erschienen. Als ich hereinkam, war er noch nicht tot.«

»Konnte er sprechen? Dir etwas sagen?«

Charlotte schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Aber er hat gespürt, dass ich da war. Er hat seine Finger bewegt.«

Niklas’ Blick glitt über das viele Blut auf dem Teppich, über Vossens Körper und zurück zu seinem eingeschlagenen Schädel.

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass er mit dieser Wunde und bei dem Blutverlust lange gelebt hat«, sagte er bestimmt.

Charlotte schluckte schwer bei Niklas’ Worten. Was auch immer in diesem Raum geschehen sein mochte, es musste sich kurz vor ihrem Eintreffen ereignet haben. Sie hatte es vermutlich nur knapp verpasst!

Niklas schien ähnliche Gedanken zu haben, denn er räusperte sich auffällig. »Ich rufe jetzt die Polizei.«

Für einen Mann seiner Größe stand er ungewöhnlich gelenk auf und schaffte es zugleich, ihr auf die Beine zu helfen. Charlotte folgte ihm mit den Blicken, als er danach zum Fenster ging und sein Smartphone aus der Tasche zog.

Dort wählte er eine eingespeicherte Nummer. »Ihr müsst sofort zu Vossen ins Museum kommen, Michael. Der Mann liegt erschlagen auf dem Boden seines Büros. Einen Rettungswagen habe ich bereits angefordert. Ich bin mir nicht sicher …«

Den Rest sprach er leise, und sosehr Charlotte die Ohren spitzte, verstand sie nur etwas von Zufall und Gemälde.

»Polizei und Rettungswagen sind beide unterwegs«, ließ er sie wissen und steckte das Telefon zurück in die Jacke.

»Wie schön«, murmelte sie ungehalten, weil sie sich über sein Geflüster am Telefon ärgerte.

Niklas schob davon ungerührt den dicken Vorhang beiseite und spähte in die Dunkelheit hinaus. Ihr entging nicht, wie er durch die Scheibe ihr Spiegelbild beäugte.

In ihrem Kopf schwirrte es von offenen Fragen. Und eine davon hatte mit dem Mann vor ihr zu tun.

»Warum bist du hier?«, fragte sie geradeheraus.

»Das ist einfach«, erklärte Niklas, während er sich zu ihr umdrehte und seinen Mantel auszog, »Richard Vossen kontaktierte mich und bat mich vorbeizukommen. Ich arbeite momentan für die Polizei wegen einer Serie an Kunstdiebstählen. Richard half mit, Gemälde, die wiederaufgetaucht sind, auf ihre Echtheit zu prüfen.«

»Aha. Muss aufregend sein.«

»Es geht so. Die meiste Zeit sitze ich vor dem Computer und verfolge virtuell Bösewichter und ihre Geldströme.«

»Warum wollte dich Herr Vossen ausgerechnet am Abend der Vernissage sprechen?«

Niklas neigte den Kopf zur Seite, als wollte er seine Worte erst abwägen. »Es geht um eines der Bilder. Richard Vossen bestand darauf, noch heute mit mir darüber zu reden.«

»Was war denn so wichtig daran?«, bohrte Charlotte nach.

Niklas sah sie an, als hätte er einen besonders anstrengenden Menschen zum ungünstigsten Zeitpunkt vor sich stehen.

»Eines von Lasalles Exponaten ist unauffindbar«, gab er zu.

»Das kann kein Zufall sein«, entfuhr es Charlotte. Sie deutete in Richtung Teppich.

»Nicht so voreilig. Wir wissen nicht, ob ein Zusammenhang besteht.« Niklas zog es vor, nicht weiter auf diese Diskussion einzugehen. »Ich musste vorher meine Tochter erst noch bei meinem Bruder und seiner Frau abliefern. Damit es für Philippa wegen der Schule morgen nicht zu spät wird, bin ich früh losgefahren, zumal das Wetter draußen grausig ist. Der Verkehr hierher hat mich ausgebremst, sonst wäre ich womöglich rechtzeitig angekommen.« Seine Stimme wurde leiser, als er hinzusetzte: »Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dich hier anzutreffen.«

Er lehnte sich ans Fenstersims und kreuzte die langen Beine. »Und nachdem wir beide ein weiteres Mal so vertraut neben einer Leiche beieinanderstehen und auf die Polizei warten, verrätst du mir sicher im Gegenzug, was dich heute Abend hierhergeführt hat.«

»Das ist ebenfalls einfach«, ging sie auf seine Frage ein. »Meine Schwester arbeitet seit Kurzem als Herrn Vossens Assistentin. Annika hat mich eingeladen, und darüber hinaus hat sie Kilian den Fotojob für die Vernissage vermittelt.«

»Kilian hatte mir von seinem Auftrag erzählt«, gab Niklas zu. »Weißt du, wo er gerade steckt?«

»Er dürfte immer noch unten im Saal sein.«

»Und warum bist du hier oben?«

»Herr Vossen hatte die Idee, dass ich ein paar Zeilen zu seiner Person schreiben sollte. Den Text hätte man für Kilians Fotoserie verwenden können. Er wollte das Interview in Ruhe in seinem Büro führen. Grundsätzlich wäre das eine hervorragende Idee gewesen, wenn …«

Ja, wenn er sich nicht hätte ermorden lassen. Denn davon war Charlotte überzeugt. Kein Mensch brachte sich eine derart tiefe Wunde selbst bei. Die Möglichkeit, dass Richard Vossen gestürzt und gegen etwas Hartes gestoßen war, schien ihr unwahrscheinlich. Prüfend umkreiste Charlotte den Teppich auf der Suche nach Indizien, wobei sie tunlichst vermied, den Körper darauf anzusehen. Aber außer verknoteten Teppichfransen, die dringend einmal fachmännisch gekämmt werden müssten, entdeckte sie nichts Auffälliges.