Das verschwundene Meer - Carlos Franz - E-Book

Das verschwundene Meer E-Book

Carlos Franz

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Beschreibung

»Meisterlich geschrieben und konstruiert, ist ,Das verschwundene Meer‘ einer der originellsten Romane, die die moderne lateinamerikanische Literatur hervorgebracht hat.« Mario Vargas Llosa »Wie jeder große Roman – und dieser ist ein solcher – stellt ,Das verschwundene Meer‘ das Schicksal des Einzelnen dem kollektiven Schicksal gegenüber.« Carlos Fuentes Zwanzig Jahre, nachdem sie als Richterin abgesetzt wurde und aus ihrem Heimatland Chile nach Berlin floh, kehrt Laura Larco in die Kleinstadt Pampa ­Hundida­ zurück, eine in den Weiten der Atacama-Wüste verlorene Oase. Gleichzeitig kehrt auch Major Cáceres dorthin zurück, der damals, nach dem Militärputsch gegen den Präsidenten ­Salvador Allende, Kommandant eines Lagers für politische Gefangene nahe der Stadt gewesen war. Damals hatte er der jungen Richterin einen Deal vorgeschlagen: Für jede Nacht, die sie mit ihm verbringt, würde er einen Gefangenen freilassen. Laura lässt sich auf diesen „Pakt mit dem Teufel“ ein, nur um später festzustellen, dass sie betrogen wurde. Während in der Stadt ein ausgelassener heidnischer Karneval tobt, treffen die beiden erneut aufeinander. Vor dem Hintergrund der chilenischen Geschichte ist es Carlos Franz gelungen, einen Schlüsselroman zu schreiben, der literarische Meisterschaft mit außerordentlicher Sensibilität und Empathie in der Darstellung der Protagonist*innen verbindet.

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Dieser Übersetzung liegt die 2014 im Verlag Alfaguara erschienene Ausgabe zu Grunde. In Absprache mit dem Autor wurden in der deutschen Übersetzung einige Korrekturen und leichte Kürzungen vorgenommen. Titel der Originalausgabe: „El desierto“.

Copyright © Carlos Franz 2014

Der Übersetzer dankt dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (Wien), das den Beginn der Arbeit im Rahmen eines „World Literature Translator Fellowship“ gefördert hat.

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

Obra editada en el marco del Programa de Apoyo a la Traducción para Editoriales Extranjeras, de la Dirección de Asuntos Culturales (DIRAC) del Ministerio de Relaciones Exteriores de Chile.

Dieses Werk wurde im Rahmen des Programms zur Übersetzungsförderung der Abteilung für kulturelle Angelegenheiten (DIRAC) am chilenischen Außenministerium herausgegeben.

1. Auflage

© 2023 der deutschen Ausgabe

by mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Lektorat: Kai U. Jürgens

Für meine Mutter, Miriam Thorud, Schauspielerin

Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens …

Friedrich Nietzsche,Die Geburt der Tragödie

Inhalt

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Epilog

Danksagungen für die deutsche Ausgabe

1

Das Erste, was Laura wiedererkannte, als sie die riesige Wüstenebene um die Oase von Pampa Hundida erreichte, war der Horizont aus flüssiger Luft. Wie eine Fata Morgana stand die flimmernde Spiegelwand in der Ferne quer über der Autobahn: ein Wasserfall brodelnder Hitze stürzte aus dem vom Widerschein der Salzpfannen gleißenden Himmel ins Bett des Meeres, das sich eine Million Jahre zuvor von hier zurückgezogen hatte. Einen Augenblick lang glaubte Laura, hinter dieser Hitzemauer, die wie Glas vibrierte, riesige Gesichter auszumachen, die Umrisse mächtiger menschlicher Gestalten mit weit aufgerissenen Mündern, die sie um etwas anflehten, ihr etwas entgegenschrien.

Laura kniff die Augen zusammen, kämpfte gegen die Halluzinationen an, die ihr die Müdigkeit vorgaukelte. Die Reise dauerte nun schon länger als vierundzwanzig Stunden – von Berlin nach Frankfurt, von dort ein Nachtflug nach Buenos Aires, dann der Sprung nach Santiago; und von dort der Anschlussflug in die Bergbaustadt hoch im Norden, wo sie das Auto mietete, um in das glühende Herz der Wüste zu fahren. Mit einer Hand das Lenkrad haltend, rieb sie sich mit der anderen die fiebrigen Augen und hatte dabei das Gefühl, dass sie die Kontrolle über den Wagen verlor. Und einen Augenblick lang sah sie auf der Netzhaut ihrer Erinnerung das blutrote Pferd, den Vollblüter, im gestreckten Galopp über die Ebene jagen, mit den Vorderhufen einknicken und sich überschlagen.

Als sie die Augen öffnete, musste Laura heftig das Steuer herumreißen, um nicht von der Straße abzukommen. Und wie schon in jener Nacht vor zwei Jahrzehnten spürte sie plötzlich ganz deutlich, dass sie gerade den Horizont überschritten hatte, durch die Mauer aus flüssiger Luft getaucht war und sie von einer Seite zur anderen durchquert hatte, bis auf die Kehrseite des Himmels, wo ihre Vergangenheit auf sie wartete und wo wir auf sie warteten.

„Wo warst du, Mamá, als all diese schrecklichen Dinge in deiner Stadt geschahen?“ Während sie die Kontrolle über das Fahrzeug zurückgewann, dachte Laura wieder an den Brief von Claudia, voller Fragen wie dieser, den sie drei Monate zuvor in Berlin erhalten hatte. Er steckte, neben ihrem Pass, den Flugtickets und ihrer Antwort, in ihrer Aktentasche; viele Seiten, an denen sie drei Monate lang geschrieben hatte, nur um sich während des Flugs nach Chile, beim Schreiben eines Postskriptums, endgültig darüber klar zu werden, dass die einzig richtige, wahrhaftige Antwort an ihre Tochter genau diese Heimreise war. Mit offenen Augen den flimmernden Horizont zu durchbrechen und sich diesen unförmigen, heulenden Silhouetten zu stellen. So, wie sie es gerade getan hatte.

Während sie sich in die Schlange der Fahrzeuge einreihte, die zur Oase hin abbog, dachte Laura an den Brief, in dem sie ihrer Tochter die Geschichte ihres Lebens erzählte, die Geschichte der Frau, die sie gewesen war, bevor Claudia zur Welt kam; die verdrängte Geschichte, vor der sie ihre Tochter beschützte und vor der sie sich selbst zwanzig Jahre lang beschützt hatte. So offen und ehrlich hatte sie ihr erzählt, dass sie damit nicht nur die schlafenden Ungeheuer ihrer Erinnerung weckte, sondern bei ihrer Ankunft in Santiago auch nicht mehr in der Lage war, ihrer Tochter den Brief zu übergeben. Denn auf dem langen Nachtflug über den Atlantik, der sie gegen die Uhrzeit Richtung Süden trug (unserer Vergangenheit entgegen), hatte sie ihre eigene Antwort noch einmal gelesen und bestätigt gefunden, was ihr beim Schreiben des Briefes immer stärker klar geworden war: dass es Fragen gibt, auf die man nur mit dem wirklichen Leben antworten kann.

Bei ihrer Landung in Santiago vier Stunden zuvor hatte Laura die Tochter umarmt, die sie zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren sah, und war dann, statt ihr den Stapel handgeschriebener Blätter zu geben, direkt zum Schalter der nationalen Fluggesellschaften gegangen. Unter den verblüfften Blicken ihrer Tochter buchte sie den nächsten Flug in die Bergbaustadt in der Wüste des Nordens und gab ihr Gepäck sofort wieder auf.

Claudia – so groß wie ihre Mutter, doch mit rot gefärbtem, wild geschnittenem Haar – hatte ihr dabei nur verständnislos zugesehen, bis sie begriff, was vor sich ging. Dann schüttelte sie den Kopf, lächelte mit all der Enttäuschung, dem traurigen Zorn, den ihre Mutter in ihr hatte wachsen lassen, und fragte: „Wann wirst du endlich aufhören, wegzulaufen, Mamá?“ Und ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich um und verließ grußlos die Flughafenhalle.

* * *

Die Fahrzeugschlange der Pilger, die zur jährlichen Wallfahrt, dem Karneval der „Diablada“, nach Pampa Hundida kamen, und die sich fast einen Kilometer vor ihr erstreckte, hielt neben einer seltsamen Werbetafel: einem Teufel aus Neonlampen, dessen ausgestreckter Arm weg von der Carretera Panamericana, dem Panamerican Highway, und zur Stadt hinunter wies. Vor sich sah Laura übervolle Busse und klapprige Taxis, rostige Lastwagen mit abgefahrenen Reifen, auf deren Ladeflächen sich die Menschen wie Vieh, wie Kriegsgefangene drängten; allerdings Kriegsgefangene mit Gesichtern voller Hoffnung, strahlend vor überschäumender Freude nach der Fahrt durch die Wüste. Aufgebracht darüber, dass der Stau sie aufhielt, jetzt, wo sie das Ziel so nah vor Augen hatten, sprangen Dutzende Pilger, ganze Bruderschaften, von den sich kaum bewegenden Lastwagen und setzten ihren Weg unter den ersten Klängen ihrer Musikkapellen im Laufschritt fort.

Zwischen den glänzenden Messinginstrumenten und dröhnenden Pauken und Trommeln sah Laura im weißen Widerschein des Himmels und dem Staub, den sie aufwirbelten, neben ihrem Auto Kostüme spanischer Konquistadoren, als Totemtiere – Jaguare und Kondore – verkleidete Indios, bemalte Schwarze, federgeschmückte Krieger aus den Wäldern auf der anderen Seite der Berge, Höflinge mit weißen Perücken, mythologische Dämonen der Andenhochebene … Eine bunte, willkürlich zusammengewürfelte Menge, Wesen, die nicht aus anderen Regionen oder Ländern kamen, sondern aus einer früheren Zeit und Welt.

Festgehalten in der Fahrzeugschlange, inmitten der Menschenmenge, hatte Laura das Gefühl, als käme auch sie, genau wie alle diese fremden Menschen, um zu beten und zu feiern, zu bitten und zu tanzen; als käme sie, um in den Worten der Überlebenden, der Zeugen und der Täter, eine andere Stimme zu hören … Vielleicht ihre eigene Stimme, die sie so lange unterdrückt hatte.

Auf jeden Fall kam sie nicht, um die Stimme der Gewissheiten zu hören; es rief sie nicht die Stimme der Vernunft, sondern die Stimme der Leidenschaft. Denn es wurde ihr immer klarer, dass die Reise von Berlin hierher, die parabelförmige Flugbahn der Maschine, die sie über sechs Zeitzonen, mehr als sechzig Längengrade und siebzig Breitengrade nach Süden trug, nicht nur physisch den Abstieg zur anderen Seite der Erde bedeutete. Es war auch eine Reise auf die Kehrseite aller Gewissheiten, hin zur Ahnung einer Leidenschaft, mit der diese monotonen Pauken und Trommeln ihr übernächtigtes Grübeln einem Rhythmus unterwarfen, der unendlich viel älter war als jede Theorie. Beim Klang der Panflöten, Pauken und Rasseln begriff Laura, dass sie nicht einfach vom Himmel des Nordens zu seiner Rückseite gekommen war, wo sich die Sichel des zunehmenden Mondes umgekehrt zeigt. Sie verstand, dass sie bei dieser Reise auch die scheinbare Harmonie ihres Lehrstuhls für Philosophie gegen den vielstimmigen Trubel des Festes eingetauscht hatte, wo sie, so hatte sie es beschlossen, ihr Urteil über das Unbegreifliche fällen wollte.

* * *

Drei Monate vor ihrer Rückkehr nach Chile hatte Laura in ihrem Arbeitszimmer der Philosophischen Fakultät an der Freien Universität Berlin gedankenverloren auf die Tannen im Park vor ihrem Fenster geschaut, die der Frühling zaghaft ergrünen ließ, bevor sie schließlich ihr Schicksal herausforderte. Ohne der Angst Zeit zu lassen, sich als Klugheit zu verkleiden, griff sie zum Telefon, um den chilenischen Justizminister Don Benigno Velasco in Santiago anzurufen, ihren ehemaligen Juraprofessor. Er hatte sie damals gefördert, hatte ihre Justizkarriere begründet, indem er seinen Einfluss geltend machte, damit man sie, eine zweiundzwanzigjährige, frischgebackene Rechtsanwältin, zur Gerichtssekretärin von Pampa Hundida ernannte, einem entlegenen Ort in der Provinz. Dort vertrat sie sofort die auf Dauer krankgeschriebene Richterin, mit solchem Erfolg, dass man sie nach nicht einmal zwei Jahren zur Richterin für Zivil- und Strafsachen ernannte, der jüngsten in der Geschichte der chilenischen Justiz. So etwas geschah tatsächlich während des „chilenischen Wegs zum Sozialismus“ Anfang der 1970er Jahre, dieser bewegten, unerschrockenen Zeit, in der es schien, als sei die Zukunft schon angebrochen und die Jugend ihre legitime Eigentümerin. Bevor der Bocksgesang erklang und der Präsidentenpalast in Flammen stand und auch Lauras Jugend in Flammen aufging, bevor Präsident Allende seinem Leben ein Ende setzte, sich opferte, und sein Opfer auch Laura erfasste (und uns, die wir vor den rauchenden Trümmern unseres Scheiterns standen).

Den Entschluss, ihren ehemaligen Professor anzurufen, der gerade erst zum Minister ernannt worden war, hatte sie gefasst, nachdem sie lange nachdenklich im Tiergarten spazieren gegangen war, wobei ihr der goldene Engel hoch oben auf seiner Säule zusah. Am Abend zuvor hatte sie noch einmal den Brief ihrer Tochter gelesen, in dem Claudia ihr die Frage stellte, die Laura seither verfolgte, auch auf dieser Reise um die halbe Welt: „Wo warst du, Mamá, als all diese schrecklichen Dinge in deiner Stadt geschahen?“ Und sie hatte ihrem Antwortbrief, an dem sie seit Tagen schrieb, weitere Seiten hinzugefügt.

Doch an jenem Abend war sie sich endlich über zwei Dinge klar geworden: Ihrer Tochter zu antworten, hieß auch, sie mit dem zu konfrontieren, was sie ihr immer verschwiegen hatte, gab es doch keine andere Möglichkeit, ihr das Unerklärliche zu erklären. Und sie begriff, dass sie ihr eine solche Antwort persönlich überbringen musste. Da erinnerte sie sich an etwas, hielt im Schreiben inne und überflog noch einmal den Brief ihrer Tochter. Dort stand sie, die Information, die Lauras Augen mehrmals gelesen hatten, ohne sie zu beachten: Die Richterstelle von Pampa Hundida war nicht besetzt. Der vorige Richter war ein paar Monate zuvor plötzlich verstorben und man hatte noch keinen Nachfolger ernannt. Claudia erwähnte dies wie nebenbei, um ihren Protest zu bekräftigen: Nicht einmal das Schicksal wollte in Chile für Gerechtigkeit sorgen. Doch Laura begriff plötzlich, dass diese unbesetzte Stelle, diese Lücke, dieses offene Fenster über dem Abgrund für sie geöffnet worden war, und dass sie von dort aus jemand anschaute und nach ihr rief.

Und so wartete sie am folgenden Morgen, bis die Erde sie bei der Drehung um ihre Achse mit der Uhrzeit ihres Heimatlandes in Einklang gebracht hatte, und rief im chilenischen Justizministerium an.

„Du würdest tatsächlich auf deine Stelle an einer deutschen Universität verzichten, auf das Ansehen, das du dir in Europa verdient hast? Die Autorin von Moira will hierher zurückkommen, um sich in jener gottverlassenen Oase lebendig begraben zu lassen, einem elenden Loch in der Wüste?“, hatte sie ihr ehemaliger Professor gefragt, ungläubig und zugleich darüber erfreut, gebraucht zu werden.

* * *

Dieses Loch in der Wüste … Die Fahrzeugschlange bewegte sich ein Stück weiter auf die Abzweigung zu und riss sie für einen Moment aus ihren Gedanken. Als sie wieder zum Halten kam, sah Laura die Pilgerstadt vor sich liegen. Unter dem Feuerregen der Mittagssonne dehnte sich vor ihr das Tal der Oase voller Weinund Obstgärten mit der Wasserquelle, die sie möglich machte, jener fruchtbare Einschnitt in der gegerbten Haut der Wüste, der sich über mehrere Kilometer hinzog und dabei nur fünfzig Meter unter die Horizontlinie abfiel. Eine geringe Tiefe, die ausreichte, um dem Ort den Namen „Pampa Hundida“, gesunkene Ebene, zu geben, denn aus der Ferne gesehen verschwand sie wie eine optische Täuschung, eine Luftspiegelung, und es blieb nichts als die endlose Ebene und die schillernden, schwindelerregenden Spiegelungen der Salzpfannen. Von der Überführung aus, auf der sich die hupenden Autos stauten und die Pilger singend an ihr vorbeidrängten, erlebte Laura wieder das überraschende, unwirkliche Gefühl, das dieser grüne Fleck in der Wüste auslöste: Da war das unregelmäßige Schachbrett der Stadt, auf dem hier und da zwischen den Baumwipfeln die Straßen erkennbar waren, der Sendemast der Radiostation, die massigen Umrisse des Hotels Nacional, die drei- oder vierstöckigen Gebäude, die den Hauptplatz, die Plaza de la Matriz, umgaben. Und mitten auf der Plaza die Basilika, ihr unregelmäßiger Glockenturm, das Kirchenschiff kleiner als in ihrer Erinnerung, doch immer noch riesig für die geringe Größe des Ortes, ihre mondweiße Kuppel, Abbild des gleißenden Wüstenhimmels.

Und in der Nähe des Ortes, nur wenige Kilometer nördlich der Stadtgrenze, doch schon auf der öden, unbewohnten Ebene, wie in einer anderen Welt, die Ruinen. Die Geisterstadt der Salpetermine, die dann zum Gefangenenlager geworden war und später wieder verfiel; die die Stadt verdoppelte wie eine Luftspiegelung oder eine Warnung. Oder, schlimmer noch, wie ein böses Omen: ihre Stacheldrahtumzäunung, ihre sternförmig angeordneten Holzbaracken, die mit eingestürzten Dächern einsam vor sich hin rotteten, das verlassene Theatergebäude, das vorsintflutliche Skelett der Dampfmaschine mit ihrem roststarrenden Gestänge, der hohe, löchrige Schornstein, der einst als Wachturm diente, mit den Löchern, auf denen der Wind des Nachts Flöte spielte und uns, die schlaflosen Bürger von Pampa Hundida, aus dem Schlaf aufschreckte wie das Klagen eines waidwunden Tiers: tuuuut …!

* * *

Drei Monate zuvor hatte Laura nach dem Telefonat mit dem Minister noch lange mit dem Hörer am Ohr dagesessen und das beharrliche, schmerzhafte „Tuuuut!“ gehört, das sie an etwas erinnerte. Als sie endlich auflegte, wandte sie sich zum Fenster, das auf den Park der Universität hinausging. Dicht dahinter begann gleich der Wald, die Bäume wurden schon wieder grün. Während in Berlin der Frühling erwachte, zog dort unten, in ihrem Heimatland, der Herbst ein. Nicht jedoch, niemals, in der Einöde der Atacama-Wüste, der trockensten Gegend des Planeten, die nur eine einzige Jahreszeit kannte: die Sonne. Auf die andere Seite der Welt zurückzukehren, zu den Antipoden, von wo sie vor zwei Jahrzehnten hierhergekommen war … Der Tag blieb frisch und klar, nur wenige Angestellte liefen über die Wege zwischen den modernen Gebäuden der Universität, unter den Augen der Rehe, die zwischen den moosbewachsenen Stämmen des nahen Waldes von Zeit zu Zeit ihre nervösen Schnauzen, ihre samtigen Geweihe sehen ließen.

Laura sah ihr zweifaches Spiegelbild im Doppelfenster ihres Büros. Sie stand auf und musterte sich, maß sich, so wie man sie einst gemessen hatte (und ihr Maß war der Verrat gewesen). Würde sie der Herausforderung jetzt gewachsen sein? Sie war nicht mehr jung, aber sie sah nicht schlecht aus mit ihren vierundvierzig Jahren. Die langen Beine, der flache Bauch, die festen Brüste, die sie mit einer Stunde Sport und einer weiteren Stunde Yoga täglich in Form hielt. Nur eine graue Strähne, die sie in ihrem sonst schwarzen Haar, glatt und glänzend wie das einer Asiatin, ungefärbt ließ, verriet mit entwaffnender Ehrlichkeit ihr wirkliches Alter. „Für wen hältst du dich eigentlich so in Form, Laura, du hast doch nicht mal einen Freund?!“, fragten sie die Freundinnen im Sportstudio, mit dieser maliziösen Bewunderung von Frauen in den Vierzigern. Dann lächelte sie geheimnisvoll und gab nur vage Informationen über ihr Vorleben preis: Sie war schon jung Mutter geworden, hatte mit vierundzwanzig ihre einzige Tochter zur Welt gebracht, Claudia. Seit langem wusste sie um die Macht einer Frau, die morgens neben niemandem erwacht, und sie wusste sie zu nutzen.

Laura setzte sich wieder an den Schreibtisch und las noch einmal den Brief ihrer Tochter mit den Fragen, den sie von der anderen Seite der Welt bekommen hatte, von der anderen Seite der Zeit, von der anderen Seite ihres Lebens. Sie schaute auf die gleichmäßige, energische Schrift der jungen Frau, merkte gerührt, wie sie manchmal verzweifelt mit der spanischen Grammatik kämpfte. Sie liebte Claudia, war stolz auf sie, auf die zähe, wachsame Art von Eltern rebellischer Kinder. Sie hatte ihrer Tochter ihre Statur und ihr Aussehen vererbt, aber zu ihrem Leidwesen und gegen all ihre Ratschläge auch ihren kompromisslosen Hang zur Gerechtigkeit, einen Hang, den sie selbst vor langer Zeit gegen den Hang zur Philosophie eingetauscht hatte … „Zur Theorie, Mamá!“, berichtigte ihre Tochter sie tadelnd.

Ja, sie hatte Claudia auch ihren Charakter vererbt, ihr unbezähmbares Misstrauen gegenüber den Rechtfertigungen, die wir erfinden, um leben zu können. Claudia ertrug es nicht, dass ihre Mutter eine Philosophin war. Ihr zufolge hieß das, dass sie nur nachdachte, statt zu handeln. „Und wenn das Gedachte nicht in Handeln umgesetzt werden kann, dann war es nicht der Mühe wert, gedacht zu werden, Mamá! Dabei gibt es so viele dringende Probleme auf der Welt …“ Vielleicht war Claudia deshalb nach dem Abitur in jenes Land zurückgekehrt, das sie nicht kannte, das aber dennoch das ihre war, um dort Jura zu studieren. „Den Beruf, den du aufgegeben hast, Mamá. Doch bei mir wird das anders sein: Ich will für Gerechtigkeit sorgen, nicht nur darüber philosophieren. Und das will ich dort tun, wo es die Mühe lohnt. Nicht hier in Deutschland, wo die Menschen alles haben. Ich will für die Armen und Schutzlosen kämpfen, in einem armen, schutzlosen Land. An der Veränderung der Welt mitarbeiten!“ Genau deshalb wollte sie nach Chile gehen, „in ein junges Land, wo man noch Ideale haben kann“.

„Ich will keine theoretische Gerechtigkeit wie die deine, Mamá! Ich will keine Wissenschaft, sondern Leidenschaft!“ Und deshalb wollte sie an der Universität von Chile studieren und nicht an der Freien Universität Berlin, wo sie alles an ihre Mutter erinnerte. Die hatte sich an der philosophischen Fakultät mit ihrem prophetisch-pessimistischen Seminar über die Tragödie einen Namen gemacht und dann vor allem mit ihrem Buch Moira. Jetzt war es schon mehr als ein Jahr her, dass Claudia in jenem Land lebte, das sie beharrlich „mein Land“ nannte. Und sie hatte sich sehr schnell eingewöhnt, als habe sie immer schon dort gelebt, und sprach sogar Spanisch mit einem nur ganz leichten Akzent, den man kaum als den einer Ausländerin identifizieren konnte. Seit Monaten versuchte Laura auch nicht mehr, sie umzustimmen, sie zurückzuholen. Es war offensichtlich, dass sie damit gescheitert war, sie auf Abstand zu halten, die Spuren zu verwischen, sie im freiwilligen Exil der Mutter zu verwurzeln. Claudias „Rückkehr“ in das Land, in dem sie nicht einmal geboren war, stellte für Laura die endgültige Niederlage dar, den Bankrott in diesem langen, schon zwei Jahrzehnte währenden Unternehmen von Flucht und Vergessen. Auf unerwartete Weise hatte ihre Tochter einen Instinkt für den Weg zurück nach Hause entwickelt. Einen Instinkt, eine Intuition, eine unbezwingbare Neugier.

Seit Claudia in Chile lebte, telefonierten sie ein paarmal im Monat miteinander. Meistens war es Laura, die ihre Tochter anrief, denn Claudia ließ oft zwei, drei Wochen verstreichen, ohne sich zu melden. Sie warf ihrer Mutter vor, sie nicht zu verstehen, ihr Leben kontrollieren zu wollen, und dass sie sich doch immer nur stritten; dass sie nichts zu erzählen hätte, was ihre Mutter wirklich verstünde. Und sie flüchtete sich in das störrische Schweigen einer Heranwachsenden.

Bis Laura plötzlich völlig überraschend diesen Brief bekam. Den ersten in den fast anderthalb Jahren, die sie jetzt getrennt waren, den ersten, seit Claudia in jenes ihr unbekannte Land gereist war. Als Laura den Poststempel mit dem Namen „Pampa Hundida“ im violetten Kreis sah, wusste sie, noch bevor sie den Umschlag öffnete, was er enthielt. Und sie wusste auch, dass die Zeit, sich zu verstecken, vorbei war. Die Waage, die einmal, vor so vielen Jahren, in der Schwebe geblieben war, begann sich unaufhaltsam der Vergangenheit zuzuneigen. Dieser Brief kam von der anderen Seite der Zeit, aus einer versunkenen Welt, aus einer Geisterstadt. Darin erklärte ihre Tochter, sie hätte beschlossen, den Vater kennenzulernen, zu dem sie nie Kontakt gehabt hatte, und sei in den Großen Norden gereist, zur Oase und Pilgerstadt Pampa Hundida.

Claudia erzählte ihr in allen Einzelheiten von der Woche, die sie in dem Haus verbracht hatte, wo ihre Eltern vor ihrer Trennung lebten, in jenem Zimmer, das ihr Zimmer hätte sein sollen, wenn sie dort und nicht im Exil zur Welt gekommen wäre. Von der langen, durchwachten Nacht, die sie mit dem Mann geredet hatte, den „Vater“ zu nennen sie sich nicht anzugewöhnen vermochte: mit Mario. Von den Kisten mit Büchern und Krimskrams, die er sie hatte durchforsten lassen und in denen sie Dinge fand, die von ihrer Mutter zurückgelassen worden waren, als sie fortging.

Und dann, als brächen alle auf einmal die Dämme der Entfremdung, des Verschweigens und der Einsamkeit, die Laura zu errichten versucht hatte, stellte ihre Tochter die Fragen, die offen waren zwischen ihnen, eine nach der anderen, unbarmherzig und unbeschwert von der Vergangenheit, wie es nur jene vermögen, die eine solche Vergangenheit noch gar nicht kennen, und die in jener Frage gipfelten: „Wo warst du, Mamá, als all diese schrecklichen Dinge in deiner Stadt geschahen?“

* * *

Die Fahrzeugschlange setzte sich wieder in Bewegung. Sie hatten jetzt die Überführung hinter sich gelassen, und die Karawane mit Lauras Auto in der Mitte fuhr langsam in die fruchtbare Senke der Oase hinab. Die Wüste blieb über ihnen zurück, verschwand einfach. Man hätte meinen können, sie sei nichts anderes als ein Traum, wäre da nicht der weiße Widerschein des Sonnenlichts gewesen, das die Salzpfannen spiegelten. Die Menschenmenge wurde dichter, die Fußgänger liefen auf der engeren Straße nahe neben den Autos her. Die Pilger sprangen aus den Bussen und grüßten aufmunternd diejenigen, die zu Fuß gekommen waren und nach Schatten und Wasser lechzten, die Büßer, die zu Boden fielen, weil sie gelobt hatten, den Weg bis zur Basilika auf Knien zurückzulegen, wobei sie sich den Rücken geißelten und so ihr Gelübde vom letzten Jahr einlösten.

Am Rand der Straße sah Laura einen Karren ohne Pferd, dessen Deichsel schräg in den Himmel ragte. In seinem schmalen Schatten saßen auf einer Decke drei schwarz gekleidete alte Frauen mit Tüchern über ihren Köpfen und boten Websachen feil, während sie nebenbei große Büschel Wolle spannen und webten.

Wieder hielt die Karawane an. Während oben in der Wüste ab und zu ein leichter Wind wehte, wurde hier im Tal die Hitze unerträglich. Laura öffnete das Autofenster, doch das reichte nicht, sie musste aussteigen. Dabei wurde ihr schwindlig, sie lehnte sich gegen das Auto und spürte, wie der Schein der Sonne, vom feinen Staub getrübt, sich wie eine Hand über sie legte, sie mit Schweiß überzog. Die Wolke rötlichen Staubs drang ihr in die Nase, in die Augen, tönte die Welt in eine blutähnliche Farbe, als habe jemand die trockene Kruste einer riesigen Wunde zerrieben, bis sie zu diesem feinen, rötlichen Pulver wurde, das die Menge aufwirbelte. Ans Auto gelehnt, kämpfte Laura gegen das Schwindelgefühl, die scharfen Gerüche, die die Menge verströmte.

Auf der anderen Seite des Menschenstroms konnte sie auf der Lichtung eines Wäldchens aus Tamarugo-Bäumen das Zeltlager einer großen Bruderschaft erkennen. Ein Grüppchen dieser Pilger – wahrscheinlich Leute aus dem Süden – schnitt gerade einem lebenden Lamm, das an den Hinterläufen von einem Ast baumelte, die Kehle durch, um das Blut aufzufangen und mit Gewürzen vermischt zu trinken – das Ñachi, ein ritueller Opfertrank –, bevor das Tier mit dem Beil zerteilt wurde.

Laura sah das Blut fließen und sich am Boden mit dem rötlichen Staub von der gleichen Farbe mischen, der Erde, die reines, getrocknetes Blut sein konnte, Zeugnis eines uralten, ewigen Opfers. Sie verspürte den unbezähmbaren Drang, sich zu übergeben. Sie wollte so schnell wie möglich weg von dort, doch der Verkehr war völlig zum Erliegen gekommen. In diesem Augenblick schien ihr der einzige Zufluchtsort – die einzige Zuflucht vor dem Blut des Lamms, das auf die blutrote Erde fiel – der karge Schatten des Karrens ein wenig weiter oben zu sein, wo die alten Frauen spannen und webten. Laura wollte sich durch den Strom der Pilger kämpfen, doch einer der Büßer, die die Straße herunterkamen und sich dabei den nackten Rücken geißelten, versperrte ihr den Weg. Der Mann schlug sich abwechselnd rhythmisch die mehrstriemige Peitsche über die linke und rechte Schulter, ohne Schmerz zu zeigen, konzentriert, beherrscht, in einer Art freudiger Ekstase.

Überwältigt vom Drang, sich zu übergeben – gelbliche Galle floss in den rötlichen Staub wie ein weiteres Opfer –, stand Laura gegen den Wagen gelehnt und dachte, mit welch seltsamer Klarheit sie inmitten des Anfalls von Übelkeit diese drei- oder vierfache Harmonie bemerkte: das Blut des getöteten Tiers, die Blutstropfen wie Blüten oder Trauben auf dem Rankgitter des Pilgerrückens, ihre eigene Galle, all dies gemischt mit dem feinen, rötlichen Staub, der selbst wie eine Blutkruste über einer riesigen, vor Schmerz brodelnden Wunde war.

„Fühlst du dich nicht gut, Töchterchen?“

Unterstützt von einer großen, braunen Hand, die ihr sanft, doch intensiv den Solarplexus rieb, richtete Laura sich auf. Eine der schwarz gekleideten Alten stand neben ihr. Doch aus der Nähe schien die Frau, wie sie Laura da so breit mit ihren im kupferfarbenen Mondgesicht blitzenden Zähnen anlächelte, überhaupt nicht älter als sie selbst zu sein. Ungläubig und verwirrt sog Laura den Geruch von roher Wolle und Zitrone ein, den dieser große Körper verströmte – und den sie wiedererkannte. Eine weit zurückliegende, längst begrabene Erinnerung, aus dem Staub selbst erwachsen, stand plötzlich vor ihr.

„Sie haben sich ja immer noch nicht das Pferd für Ihren Karren gekauft“, sagte Laura schließlich.

Und die andere lachte, wobei ihre großen Brüste hin und her schwangen.

„Ah, Sie erinnern sich ja noch, Töchterchen, dass Sie mir einmal das Geld für den Gaul schuldig geblieben waren. Nein, stellen Sie sich vor, es gibt ja kaum Arbeit für uns.“

„Gibt es denn für eine Hebamme hier in der Stadt nichts mehr zu tun?“

„Heutzutage ist alles moderner, jetzt besuchen uns geprüfte Krankenschwestern, wissen Sie. Es gibt auch ein neues Krankenhaus. Aber wegen der üblichen Sachen kommen die Leute auch weiter zu mir. Unterdessen helfe ich mir wie immer mit der Wolle meiner Lamas, wie Sie sehen. Und sehen Sie nur, die Leute kaufen lieber die handgewebten Stoffe.“

Es entstand eine Stille zwischen ihnen, und mit der Stille kam die Erinnerung zurück. Laura sah sich auf dem Rücken liegen, nackt, ihre Beine hingen an Seilen, und sie sprach zum Abgrund oder zum Kalenderbild der Schutzpatronin, das neben ihr im Dampf eines kochenden Wasserkessels hin und her schwang … „Wo warst du, Mamá, als all diese furchtbaren Dinge in deiner Stadt geschahen?“

Plötzlich wusste Laura, dass sie schon den Beginn einer Antwort für ihre Tochter hatte, die tatsächlich ihrem Leben gerecht wurde; dazu wenigstens diente diese Rückkehr. Sie hatte dort unter dem löchrigen Dach gehangen, würde sie ihr sagen, und den Abgrund angeschrien. Sie hatte immer dort gehangen! Hatte nie aufgehört, dort zu hängen.

Vielleicht erkannte die Hebamme den Schatten dieser Erinnerung in Lauras Gesicht, denn plötzlich hob sie ihre braune Hand und streichelte mitleidig ihre Wange: „Danke, dass Sie sich an mich erinnert haben, Töchterchen. Wissen Sie, alle Welt vergisst immer uns Hebammen. Dabei sind alle zuallererst in unseren Händen gewesen.“

Dann drehte sie sich um und ging zwischen den Pilgern hindurch zu ihrem Karren zurück, zu ihren Comadres, ihren Gevatterinnen. Kurz bevor sie wieder bei ihnen war, wandte sie sich noch einmal um und rief ihr von der anderen Seite des Pilgerstroms herüber: „Sie haben es nie bereut, nicht wahr, Töchterchen?“

Da fühlte Laura, wie sie ein großer Frieden erfüllte. Sie brauchte sich nicht anzustrengen, nicht einmal ihre Erinnerung zu bemühen, um zurückzurufen:

„Nein, niemals!“

2

Claudia, meine Tochter, es ist zwei Uhr morgens hier in Berlin und ich war gerade in deinem Zimmer. Ich habe mich auf dein leeres Bett gesetzt, habe die Dinge in die Hand genommen, die du auf dem Nachttisch zurückgelassen hast, habe die Fotos in ihren Rahmen betrachtet – da stehst du nackt und lachend in der Tür der Hütte am Wannsee, wo wir immer im Sommer waren: Du bist fünf oder sechs Jahre alt und ganz rot vor Kälte. Auf einem anderen Foto sitze ich ein paar Jahre später auf der Terrasse jenes Häuschens und lese. Da hattest du mich überrascht, und ich lächle nicht und weiß nicht mal, dass du mich fotografierst. Ich glaube, jetzt verstehe ich, weshalb du dieses Bild gemacht hast: Ich sitze hinter einem Buch. So hast du mich während deiner Kindheit und Jugend ja meistens gesehen und mir das auch vorgeworfen, bevor du nach Chile gingst: Ich war in deiner Nähe, doch wie in einer anderen Welt, war da, aber auch weit weg, las immer, dachte immer nach, versteckte mich hinter all den Büchern! Jetzt habe ich unter den Fotos eins gesucht, auf dem wir beide zusammen zu sehen sind, und konnte keins finden. Du und ich, wir waren ja allein, du hast mich fotografiert und ich dich, aber wir hatten niemand – ich wollte niemanden haben –, der uns zusammen fotografierte. Das ist jetzt nicht der richtige Moment, um mich zu entschuldigen, und ich weiß, dass du das auch nicht erwartest. Deshalb hast du mir ja nicht geschrieben. Du hast mir geschrieben, damit ich dir eine Frage beantworte, die alle anderen enthält, ihnen vorhergeht, wie Embryo und Fötus den Menschen enthalten, den wir lieben werden und der uns später Fragen stellt wie diese: „Wo warst du, Mamá, als all diese furchtbaren Dinge in deiner Stadt geschahen?“

„Wo warst du, Mamá …?“ Ich werde dir erzählen, wo ich war. Doch bevor ich das tue, muss ich eine Mauer einreißen oder darüber hinwegspringen, dem toten Pferd meiner Erinnerung die Sporen geben – diesem Vollblüter, den ich einmal geritten habe – und ihn zwingen, über den Abgrund auf die andere Seite zu springen … (wo unter dem Feigenbaum, durch den die Sterne leuchteten, der bleiche junge Mann auf mich wartet, der mich nach all diesen Jahren auch jetzt noch um Schutz, um Hilfe bittet).

Ich schließe die Augen und sehe die junge Frau vor mir, die ich vor zwei Jahrzehnten war. Ich sehe sie in dem Spiegelbild dieser Frau von vierundvierzig Jahren, die an ihrem Schreibtisch vor dem großen, dunklen Fenster sitzt, das auf den Savignyplatz hinausgeht, wo du als Kind gespielt hast. Über die Torbögen gleiten wie Gespenster die Schatten der Linden, die der Frühling gerade erst grün werden lässt. Das Bild von der Frau, die ich bin, und jener, die ich war, ringen miteinander, wechseln sich ab, und schließlich siegt die Vergangenheit – immer besiegt uns die Vergangenheit: Die blutjunge Richterin von Pampa Hundida, die ich einst war, erscheint im Fenster und schaut mir in die Augen: Wo warst du all die Jahre?, fragt sie mich vorwurfsvoll, genau wie du; warum hast du mich hier zurückgelassen, auf der leuchtenden Salzebene? Weshalb hast du mich in den Händen dessen gelassen, dessen Namen nicht genannt werden darf, weil er „der, der das Licht bringt“ bedeutet?

Die Soldaten kamen um die Mittagszeit eines Tages im Oktober 1973, einen Monat nach dem Putsch. Die Kolonne der Militärlastwagen wirbelte auf dem Weg zur Oase, der damals noch eine Sandpiste war, rötlichen Staub auf – jetzt schreibst du mir in deinem Brief, dass er zur modernen Straße geworden ist, im Zuge des allgemeinen Fortschritts asphaltiert wurde. Am Stadtrand teilte sich die Kolonne: Ein Teil umrundete die Oase und fuhr zur Wüste hinauf, dorthin, wo die Ruinen der alten Salpetermine liegen, während der andere Teil über die Hauptstraße in die Stadt hineinfuhr, wo er auf der Plaza vor dem Rathaus haltmachte.

Ich versuchte, zu widerstehen und – an den Mast meiner Pflicht gebunden – auf meinem Richterstuhl zu bleiben, doch es war umsonst. Eine Neugier oder eine Vorahnung, die mächtiger war als ich selbst – oder die Vorahnung der Macht selbst war –, zog mich zur Plaza hin, wo sich in der gnadenlosen Mittagssonne – nie war der Ausdruck „gnadenlos“ treffender – schon um die hundert Menschen eingefunden hatten.

Zwei mit Planen bedeckte Lastwagen hatten sich an den Zufahrten zum Platz postiert. Die Soldaten waren abgesprungen und in Stellung gegangen. Als ich beim Rathaus ankam, stand ein Jeep mit einem Pferdeanhänger am Fuß der Treppe, die zur wappengeschmückten Eingangstür unter den eisernen Balkongeländern hinaufführte. Ich erinnere mich, Claudia, dass ich stehen blieb und diesen Anhänger musterte. Anfangs ohne zu verstehen, was das war, und dann immer verblüffter stand ich da und ließ es geschehen, dass der Geruch nach Pferd, nach Dung mir in die Nase drang. Noch auf die zehn Meter, die ich davon entfernt stand, konnte man die scharfe Jauche riechen. Und dann hörte ich das unsichtbare Tier stampfen und schnauben, verzweifelt mit den Hufen gegen die Wände seines Gefängnisses schlagen, während durch die vergitterten Fenster der Schaum seiner Nüstern zu erkennen war. Ich erinnere mich, dass ich Angst verspürte, dass ich keine Luft mehr bekam. Vielleicht lag es an der heißen Mittagssonne und der Menschenmenge, die mich umgab, aber ich konnte nur dumpf an dieses Tier denken, das da in dem engen Metallgehäuse eingesperrt war, an die Hitze, die darin herrschen musste, das wütende Wiehern, das plötzlich die Willkommenszeremonie unterbrach, die die neue Stadtregierung anberaumt hatte.

Und dann sah ich den befehlshabenden Offizier: groß, muskulös, ungeduldig, mit der kurzen Uniformjacke der Kavallerie, der sich von der Zeremonie abwandte und zum Anhänger des Tiers – seines Tiers – schaute und beruhigend mit der Zunge schnalzte. Gleichzeitig drohte er ihm, indem er sich mit der Reitpeitsche in seiner behandschuhten Hand aufs Bein schlug und dabei die auf dem Platz versammelten Menschen anschaute – so als beruhige er auch uns und drohe uns mit dem Schnalzen seiner Zunge und seiner Peitsche.

Ich sagte, ich sah diesen Offizier, Claudia, aber das reicht nicht. Ich sollte besser sagen, dass mich sein Anblick bestätigte. Er bestätigte in mir ein niederträchtiges Gefühl, eine Vorahnung jener Niedertracht (Niedertracht hat mit Erniedrigung zu tun), die mich beschlichen hatte, seit ich einen Monat zuvor die Nachricht vom Militärputsch erhielt. Der Anblick des Offiziers bestätigte mir diese dunkle Vorahnung, und mir wurde nach und nach klar, dass ich mich vom Tag des Putsches an begonnen hatte, schuldig zu fühlen.

Schuldig woran, Mamá?, wirst du mich fragen, Claudia. Um dir das zu erklären – angenommen, man kann das Schicksal erklären –, müsste ich dir einiges aus meinem Leben davor erzählen, meiner Kindheit und Jugend, und das will ich ein bisschen später auch tun. Für den Moment soll es ausreichen, wenn ich dir sage, das mich die Nachricht vom Militärputsch gegen Allende völlig unvorbereitet und schutzlos traf. Meine erste Reaktion war Fassungslosigkeit. Keine Wut, sondern diese Art von Entsetzen, die man angesichts bestimmter Naturkatastrophen empfindet. Der Präsidentenpalast „La Moneda“, der alte Kolonialbau in Santiago, Sitz der Regierung von Chile, der seine lange Demokratie beherbergt hatte, war bombardiert und in Brand gesteckt worden. Von den Flammen bedroht, hatte sich der Präsident mit seiner eigenen Maschinenpistole selbst getötet. Das monumentale historische Werk, das unser Land von oben bis unten hätte verändern sollen, endete nach eintausend Tagen in einer Tragödie, die den griechischen Klassikern alle Ehre gemacht hätte: Der König war mit seinem Palast untergegangen, geopfert von den nicht zu bändigenden Mächten, die er selbst entfesselt hatte. Die Ruine rauchte noch tagelang. Für jeden, der es hören wollte, erklang zwischen den Trümmern der Bocksgesang (genau das bedeutet Tragödie nämlich: Bocksgesang).

Die ersten Tage, nachdem die Militärs und ihre Verbündeten die Macht übernommen hatten, verbrachte ich wie in Trance. Ich ging auf der Schattenseite der Straße zwischen unserer Wohnung und dem Gericht von Pampa Hundida hin und her und versuchte, vor meinen „Mitbürgern“ die äußeren Anzeichen meiner Benommenheit, meiner Verwirrung, meines unerklärlichen Schuldgefühls verborgen zu halten. Ich fürchtete mich davor, irgendeinen Bekannten zu treffen, eine zwanglose Unterhaltung beginnen zu müssen. Schließlich und endlich war ich immer noch die Richterin von Pampa Hundida. Was geschähe wohl jetzt, so fragte ich mich, wenn irgendjemand käme und von mir verlangte, Recht zu sprechen? Was sollte ich ihm antworten? Wie ihm erklären, dass auch ich keine Antworten hatte, dass keine meiner Rechtsnormen ausreichte, um das, was da geschah, zu korrigieren, ja, nicht einmal, alles zu verstehen? Obwohl ich, technisch gesehen, einer Gewalt angehörte, die unabhängig geblieben war, der Jurisdiktion: Was bedeuteten solche technischen Kleinigkeiten schon angesichts des Schwerts der Geschichte?! Im Gegenteil, verzweifelt spürte ich immer stärker, dass ich selbst, wenn ich nicht irgendetwas unternahm, bald unweigerlich auch die neue Ordnung repräsentieren würde. Doch was sollte ich tun? Mein Amt niederlegen? Dieser Gedanke ging mir immer wieder durch den Kopf. Doch wäre dies, so widersprach ich mir selbst, der schlimmste Verrat überhaupt: Gerade jetzt musste ich auf meinem Posten bleiben, auch wenn mein Instinkt mich zum Weglaufen drängte. Eine Vorahnung, diese Magnetkraft, mit der das Schicksal uns von weitem anzieht, wenn es etwas von uns will, hielt mich zurück. Ich fühlte mich nutzlos und gleichzeitig gebraucht. Wie naiv war doch diese andere noch, die ich gewesen war, und die wenig später sterben sollte!

Und so kam ich, äußerlich unversehrt, doch innerlich zerrissen, Morgen für Morgen ins Gericht, ging durch die Schranke, setzte mich kerzengerade auf meinen Richterstuhl und befragte die kleine Statue, die ich stolz neben die Gesetzbücher auf eine Seite meines Schreibtischs gestellt hatte. Die kleine Statue der Frau mit den verbundenen Augen, die Schwert und Waage in den Händen hielt und die man mir überreicht hatte, als ich nur ein paar Jahre zuvor, die mir jetzt schon wie eine Ewigkeit vorkamen, das beste Examen meiner Generation abgelegt hatte. Die Waage wog plötzlich mich selbst, legte meine akademischen Ideale in eine Schale und die Ahnung von Schuld in die andere. Das Schwert hingegen machte mir denselben stummen Vorwurf, den ich in den Gesichtern meiner Mitbürger zu sehen glaubte: Würde ich denn nichts damit machen? Würde ich es Rost ansetzen und stumpf werden lassen? Plötzlich war mir klar: Das Gesetz war verschwunden, die legitime Macht war hinweggefegt worden, und in den Trümmern blieb nur ich übrig auf meinem hohen Stuhl, hinter meiner Gerichtsschranke, völlig allein: die einzige verfassungsmäßige Macht, die scheinbar unangetastet geblieben war. Diese Richterin, nur bewaffnet mit einer Waage und einem Spielzeugschwert: Würde sie in der Lage sein, Recht zu schaffen in den Zeiten der Willkür, die jetzt anbrachen?

Ich ahnte die Antwort auf diesen Zweifel. Die junge Frau, die ich war, wusste insgeheim, dass man kommen und sie um Gerechtigkeit bitten würde, und dass sie schuldig werden, sie verweigern würde. Ach, wenn sie sich allein dessen schuldig gemacht hätte!

* * *

Es war ein Anhänger für Pferde, silberfarben, er blendete die Augen unter der unbarmherzigen Mittagssonne. Darin stampfte und schnaubte und wieherte das wütende, wahnsinnig gewordene Tier, schlug mit den Hufen gegen die Metallwände seiner stickigen Zelle, versuchte auszubrechen. Und sein Herr beruhigte das Tier und drohte ihm. Das ist entscheidend: Er beruhigte es und drohte ihm gleichzeitig.

Aus einem Grund, den ich nicht vollständig benennen kann, der aber mit dieser erniedrigenden Vorahnung von Schuld zu tun hat, konnte ich, während ich den Offizier mit seiner Peitsche in der Hand sah, nicht vermeiden, an meine Kindheit zu denken. Von dem Augenblick an, Claudia, und während der langen Zeremonie und den absurden Reden, die dann folgten, war ich nicht mehr dabei. Ich war sehr weit weg, ritt im Regen am Ufer eines Sees entlang, ohne Sattel, so wie ich es als Kind immer getan hatte. So als ob das Tier, das um sich trat, um aus jenem fahrenden Gefängnis zu entkommen, meine eigene Erinnerung war oder vielleicht etwas anderes, dieses abscheuliche Schuldgefühl, das mit Macht aus mir herausdrängte.

3

Mario schien die beiden letzten Jahrzehnte genau an diesem Platz verbracht zu haben: mit einem Aperitif an der Bar des „Círculo Español“, die Ellenbogen aufgestützt, so wartete er auf sie. Laura sah ihn schon, als sie hereinkam, im langen, schräg gestellten Spiegel über dem Wald aus Flaschen hinter der Bar. Und sie verglich ihn mit ihrer Erinnerung, prüfte, wie sehr er ihre Vorahnungen erfüllt hatte: seine hartnäckige Neigung zur Nachlässigkeit, seine Trägheit, die dicken, weichen, ein wenig weiblichen Lippen, die inzwischen das männliche Kinn dominierten und die Erwartung erfüllten, die ihr einst geholfen hatte, vor ihm zu fliehen: ein magerer Mann über fünfzig mit schlecht gefärbten Schläfen und einem Tweed-Jackett, das ihm um die Schultern schlotterte – dieses Tweed-Jackett mitten in der Wüste! –, so saß er da und spielte Würfel, unter den aufmerksamen Blicken von Rafael, dem Barkeeper. Der Lebemann, der aussah wie ein gealterter Bacchus und mit dem Geschick des Spielers den Knobelbecher schüttelte, den er dann lustlos fallen ließ, mit jener geübten Drehung des Handgelenks, die seine jahrzehntelange Bekanntschaft mit dem Pech verriet.

Plötzlich hob er den Blick und schaute sie im fleckigen Spiegel hinter der Bar ein paar Sekunden lang an, blinzelte und fuhr sich mit der Zunge über die dicken Lippen, und es war nicht klar, ob er sie erkannte oder ob diese Erscheinung hinter den Flaschen ihn erschreckte; ob er sich an die Verabredung erinnerte, die er ihr ein paar Stunden zuvor aufgezwungen hatte, oder ob er nichts mehr davon wusste – und das, was er da im Spiegel sah, wäre das furchterregende Gespenst der jungen Ehefrau, die ihn zwanzig Jahre zuvor verlassen hatte.

Mario hatte am Gericht auf Laura gewartet, als sie kurz nach Mittag in Pampa Hundida angekommen war. Mit einem Fuß an die Mauer gestützt, auf einem Zahnstocher kauend, so stand er auf der Schattenseite der Straße: die Verkörperung jenes Provinzreporters ohne Nachrichten, der er war. Und bevor sie entscheiden konnte, ob sie ihn nicht lieber übersehen wollte, hatte Mario ihr die Autotür geöffnet, seine Arme ausgebreitet und ein fröhliches Gesicht aufgesetzt, als hätten sie sich erst kürzlich gesehen. „Laura, die Jahre gehen spurlos an dir vorüber!“, hatte er ausgerufen, wie der Kavalier in einem schlechten Film.

Laura dachte, dass man sie ihm sehr wohl ansah, die Jahre, und zwar ganz genau. Noch bevor sie seine langen, gelben Zähne bemerkte, noch bevor sie sich mitten auf der Straße umarmen ließ und diesen Geruch von Feuchtigkeit roch, den die Kleider alleinstehender Männer ausdünsten, noch bevor ihr das schmuddelige Seidentuch um seinen Hals auffiel, das sie ihm einundzwanzig Jahre zuvor zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte und das er sicher ihr zu Ehren umgebunden hatte, tat Laura seine Stimme leid. Diese Stimme, die einmal männlich und melodiös geklungen hatte, die Stimme des Radiosprechers, der natürliche Bariton, in den sie sich als junge Frau verliebt hatte, klang jetzt brüchig, aufgeraut durch billigen Tabak und nächtliche Stunden vor dem Mikrophon, mit zerschlissenen Stimmbändern, manche von ihnen wahrscheinlich gerissen wie die Saiten eines alten Klaviers.

Während er ihr Gepäck in das obere Stockwerk des Gerichtsgebäudes trug, wo sie die Wohnung für die alleinstehenden Richter beziehen sollte, erzählte ihr Mario, dass Claudia ihn von Santiago aus angerufen und ihm von der unerwarteten Entscheidung ihrer Mutter erzählt hatte, unverzüglich in den Norden zu fliegen. Da hatte er seine Arbeit im Sender unterbrochen, um vor dem Gericht Stellung zu beziehen und dort ein paar Stunden auf sie zu warten, weil er der Erste sein wollte, der sie willkommen hieß und zum Abendessen einlud. „Damit mir ja niemand zuvorkommt“, sagte er. Und dabei lächelte er schief, wie jemand, dem ein Zahn fehlt oder der nicht die Wahrheit sagt.

Nach vielen Entschuldigungen hatte es Laura erreicht, dass er sie vor diesem „Willkommensessen“ ein paar Stunden schlafen ließ, „im Círculo Español, Laurita, dem besten Restaurant der Stadt“. Und obwohl sich ihr nach dem Übelkeitsanfall kurz vor der Ankunft beim Gedanken an Essen der Magen umdrehte, hatte sie eingewilligt, weniger, weil sie ihn sehen wollte, als um endlich diese kaputte Stimme loszuwerden, die ihr eine solche Wiedersehensfreude vorheuchelte.

Und jetzt saßen sie im Speisesaal des Círculo, wohin Mario noch seinen grünen Aperitif mitgenommen hatte. Laura musterte die Einrichtung im maurischen Stil, die Tapeten mit Marmordekor, den plätschernden Brunnen in der Mitte des Raums die Zimmerpalmen. Wie es in der Erinnerung oft geschieht, waren die Dinge während ihrer Abwesenheit kleiner geworden, oder sie selbst war in der Entfernung gewachsen. Der Saal hatte sich gut gefüllt mit den Wohlhabenderen unter den Pilgern, die das Tanzen auf der Plaza unterbrachen, um etwas zu essen. Manche trugen ihre Kostüme und hatten ihre Teufelsmasken wie große, abgeschlagene Köpfe an die Haken neben den Tischen gehängt. Mario saß ihr nervös gegenüber und redete mit seinem Pfefferminzatem sprunghaft über alles Mögliche, füllte jede Sekunde des Schweigens, bemühte sich, den geringsten Anlass zu vermeiden, zwischen ihnen die Vergangenheit wieder erstehen zu lassen. Damit das nicht geschah, überschüttete er sie mit billigen Komplimenten: „Du siehst ja frischer aus als die Blumen hier“, und mit Klatsch und Tratsch aus der Stadt: „Erinnerst du dich an Lucinda? Die ist ihrem Mann durchgebrannt, mit …“ Oder er brüstete sich mit seinen Erfolgen: Der Radiosender, bei dem er nicht nur Starreporter und erster Sprecher, sondern auch Direktor war, stand glänzend da. Natürlich würde er Laura in seine beliebte Samstagssendung einladen. Er wusste auch schon, wie er sie ankündigen wollte: „Die Gerechtigkeit ist zurück in Pampa Hundida …“

Er deutete den Titel mit einer übertriebenen Geste seiner großen, weichen Hände an. Laura stellte ihn sich vor, wie er mit seiner brüchigen Stimme vor dem Mikrophon saß, gegen die Müdigkeit ankämpfte, die Leere, den Brummschädel. Scherzhaft sagte sie: „Du hast mich also eingeladen, um das Interview vorzubereiten. Hast du etwa Angst, ich könnte etwas erwähnen, was nicht erwähnt werden sollte?“

Mario steckte die Hand in seine Jackentasche, klimperte mit ein paar Münzen und schaute dabei nervös über seine Schulter. Laura erinnerte sich an diese ausweichende Geste, diesen scheuen, ängstlichen Blick: Immer, wenn er sich in die Enge getrieben fühlte, suchte er nach einem Vorwand, um das Unvermeidliche hinauszuschieben.

Dabei war er nicht immer so gewesen. Plötzlich sah Laura den Dreißigjährigen vor sich, den sie zwei Jahrzehnte zuvor geheiratet hatte, in einer so weit entfernten Jugend, als läge diese unter einer dicken Gesteinsschicht wie das Fossil einer erloschenen Liebe. Bevor sie hierher in diese Pilgerstadt zogen, war Mario ein vielversprechender Journalist gewesen, der davon träumte, Schriftsteller zu werden. Er hatte Talent und Willen, vor allem den Willen, Talent zu haben; den Willen, sein Talent auf dem Papier denselben Reiz ausüben zu lassen wie seinen Bariton, mit dem er seine Zuhörerschaft begeistern konnte. Was ihm fehlte, waren Fleiß, Zähigkeit und viele Stunden des Schreibens; und viele tausend zerrissene Seiten. Er musste all diese Geschichten verbrennen und ganz neue beginnen, neu mit sich selbst beginnen. Er musste wenigstens einmal sterben, das sollte fast jeder Schriftsteller tun, bevor er zu schreiben begann; so sagte er selbst es immer. Ihm fehlte damals noch fast alles. Doch weder Laura noch ihn erschreckte dieses Wort: Wenn man noch jung ist, dann ist „alles“ das Mindeste, was man vom Leben erwartet.

Nein, Mario Fernández war nicht immer dieser jämmerliche, alternde Lebemann gewesen, der sich auf die fleischigen Lippen biss und dem eigentlichen Grund seiner Einladung beharrlich auswich.

„Okay, Mario, jetzt haben wir schon eine Stunde lang über alles Mögliche geredet, vielleicht ist es Zeit, dass du mir sagst, worüber wir nicht reden sollen.“

Mario warf wieder einen Blick über seine Schulter und sagte unvermittelt: „Sie kommt ganz nach dir.“

„Ich bin ihre Mutter.“

„Sie hat mich daran erinnert, wie du warst, wenn wir stritten. Du wolltest ja immer, dass wir Dinge beim Namen nannten, die besser keinen haben sollten …“

„Einverstanden, Mario“, gab Laura nach, ließ sich von seiner Nervosität erweichen und ging auf sein Ablenkungsmanöver ein. „Lass uns also über unsere Tochter reden. Über ihren Besuch bei dir.“

Claudia hatte sich vier Monate zuvor bei ihm angemeldet, nur ein paar Tage vor ihrem Besuch und ohne ihm eine Alternative zu lassen. Sie wollte ihn kennenlernen und dafür ein langes Wochenende an der Universität nutzen; Claudia hoffte, Mario könne sie beherbergen und etwas Zeit für sie aufbringen. Schließlich war dies das erste Mal in ihrem ganzen Leben, dass sie ihren Vater um etwas bat. Er hatte sich Hilfe geholt, um das Gästezimmer wieder herzurichten, hatte sich ein Hausmädchen zum Putzen schicken lassen und Bettwäsche geliehen. Dann empfing er seine Tochter, bereit, ihr die Stadt und die Wüste zu zeigen, sie der kleinstädtischen Gesellschaft vorzustellen, den Damen, die ganz versessen darauf waren, die sagenumwobene, im Ausland lebende Tochter kennenzulernen. All das interessierte sie jedoch nicht. Gleich nach ihrer Ankunft begann das Mädchen, ihn nächtelangen Verhören zu unterziehen; es hätte nur noch gefehlt, dass sie ihm eine Lampe ins Gesicht hielt. Sie hatte sich nicht bei trivialen Geschichten aufgehalten, sondern war gleich zum Kern ihrer Zweifel gekommen.

„Genauso, wie es ihre Mutter immer gemacht hat“, fügte Mario hinzu, mit einer Art von Zärtlichkeit, die vom mangelnden Gebrauch, von der Sentimentalität, vom süßen Likör weich geworden war.

Weshalb hatten ihre Eltern sich damals getrennt? Warum war Mario sie nie besuchen gekommen? Weshalb hatte er sie nie eingeladen, ihn zu besuchen? Wo war er in der Nacht gewesen, als sie einen Traum gehabt hatte und nach jemand rief, den sie nicht kannte? Oder an dem Nachmittag, als sie zur Frau wurde?

„Und schließlich fragte sie mich …“

Mario zögerte und schaute noch einmal über seine Schulter, doch diesmal nicht, als schaue er sich nach Hilfe um, sondern als wolle er sich vergewissern, dass ihn niemand hörte. Laura kam ihm zuvor:

„Sie fragte dich, wo du warst, als all diese schrecklichen Dinge in dieser Stadt geschahen, stimmt’s?“

„Ja, sie fragte mich, wo ich war und wo du warst. Und wo die ganze verdammte Stadt war!“

Claudia hatte ihn einer regelrechten Inquisition unterworfen, auf die er nicht vorbereitet war. Er verstand, dass man solche Fragen stellen konnte. Er verstand, dass sie eine politisierte junge Frau war, Jurastudentin, im Exil geboren und in Berlin aufgewachsen, einer Stadt, wo die Vergangenheit und die Geschichte offen zutage lagen, wo sie den Fall der Mauer erlebt hatte, die unter dem Gewicht des Versagens von Generationen zusammengebrochen war. Er erkannte, dass sie bei dieser Reise zu den Wurzeln ihrer Herkunft glaubte, sie käme in ein Land, wo gerade andere Mauern gefallen waren und eine unbekannte Landschaft freigelegt hatten, so unbekannt wie diese Wüste und die Schuld der Generation ihrer Eltern. Er ahnte, dass es hier wie in Berlin nicht die Alten, sondern die Jungen sein würden, die fordern würden, sich an die Vergangenheit zu erinnern, und zwar genau von denen, die sie lieber vergessen wollten. All dies konnte er nachvollziehen, doch was Mario nicht vorhergesehen hatte, war sein Gefühl, dass seine eigenen Antworten unecht klangen, dass er allzu lange, zögerliche, ausweichende Antworten gab, verdächtig schon durch ihre Kompliziertheit.

„Und du wusstest nicht, wie du ihr antworten solltest“, half ihm Laura.

„Nein, ich wusste nicht, wie, ohne zu erwähnen …“

„Das, was du zu hören nicht geboren warst.“

„Ich weiß gar nicht, weshalb sich eine junge Frau, die im Ausland geboren und aufgewachsen ist, für all dies interessiert … Wie kann sie denn überhaupt verstehen, was es bedeutete, unter der Zensur als Journalist zu arbeiten? Was es bedeutete, zu wissen, worüber man nicht berichten konnte?“

„Und worüber du immer noch nicht berichten kannst.“

Mario dachte einen Augenblick darüber nach, nahm einen Schluck seines Aperitifs, wartete, bis der Likör sein bitteres Lächeln süßer werden und ihn zu seinem Zynismus zurückkehren ließ.

„Eins musst du zugeben, Laura“, entgegnete er dann leicht verärgert. „Diesmal waren meine Ausflüchte doch zu etwas nütze. Wenn ich Claudia nicht die Antwort verweigert hätte, dann wäre sie mit ihren Fragen nicht durch die halbe Stadt gezogen. Und wenn die Leute ihr nicht so ausweichend geantwortet hätten, dann wäre sie nicht beim Anwalt Martínez Roth gelandet. Ohne ihn hätte sie nicht von den Anschuldigungen gegen den Major Cáceres erfahren, und dass du damals die Richterin hier gewesen bist. Und dann hätte Claudia dir nicht geschrieben und dich all das gefragt, was sie dich vermutlich gefragt hat, genauso wie mich. Und ohne diesen Brief wärst du vielleicht gar nicht hier …“ Mario machte eine Pause, bevor er schloss: „Also haben meine Ausflüchte dich hergebracht, Laura, das musst du zugeben.“

Ja, auch wenn ihm der Zynismus schlechter stand als die Bitterkeit, musste Laura zustimmen. Mario lag ziemlich richtig, oder der Likör sorgte dafür, dass er richtig riet: Ohne diese Kette von Ereignissen – das Wort „Kette“ war das angemessenste – hätte Claudia nicht ihrer Mutter diesen Brief mit dem violetten Poststempel aus Pampa Hundida geschrieben, den Laura drei Monate zuvor erhalten hatte.

In dem Brief erzählte ihr Claudia auch von den Strafverfahren gegen den Oberst a. D. Cáceres, den der junge Anwalt Martínez Roth angestrengt hatte – „es scheint fast so, als wären die Einzigen, die in diesem Land bereit sind, sich der Vergangenheit zu stellen, diejenigen, die sie nicht erlebt haben“ – und bei denen ein gewisser Fuenzalida, der korrupte Richter, den Laura jetzt ersetzen sollte, Cáceres sofort und von allen Anklagepunkten freigesprochen hatte. In dem Brief legte sie ihr auch dar – und mit welch juristischem Talent! –, was diesen gescheiterten Verfahren vorausgegangen war, welche Daten der junge Anwalt vergeblich zusammengetragen hatte. Worauf sie unvermeidlich bei den Fragen landete, die die beiden in der ganzen Stadt gestellt hatten und die anscheinend niemand beantworten wollte. Fragen, die sie nun ihrerseits, gezielt und persönlich, ihrer Mutter stellte: „Warum hast du mir nie erzählt, dass du einen Schlächter wie diesen Cáceres kanntest? Weißt du, dass er jetzt genau dort lebt, wo er seine Verbrechen begangen hat, sich so über die Justiz lustig macht? Warum hast du mir fast nichts über diese Pilgerstadt erzählt, die direkt neben einem Gefangenenlager blühte und gedieh? Weshalb musste ich erst hierherkommen, um zu erfahren, dass du die Richterin von Pampa Hundida warst, als hier einige der schlimmsten Verbrechen der Diktatur begangen wurden?“

Derweil entschuldigte sich Mario, verzieh sich selbst und empörte sich sogar: „Ich muss mich für gar nichts rechtfertigen, ich habe getan, was ich konnte …“

Plötzlich spürte Laura einen seltsamen Anfall von Wut, fühlte, wie das Gefühl von ihr Besitz ergreifen wollte; wie etwas, das nicht zu ihr gehörte und sie ein wenig ekelte. Es war, als habe der Kadaver der Liebe zwischen ihnen gezuckt, nicht, weil er lebte, sondern weil die Gase der Fäulnis ihr Werk verrichteten. Sie korrigierte ihn: „Du hast mehr getan, als du konntest. Vergiss deinen Lausbubenstreich nicht.“

Mario steckte den Schlag gut weg, er wurde nicht einmal rot. Aber vielleicht konnte diese Ohrfeige, die Zuckung einer Leiche, in seinem aufgedunsenen Trinkergesicht keine Spuren hinterlassen.

„Das hast du mir nie verziehen, nicht wahr? Genau da habe ich dich verloren.“

„Nein, Mario, erst ein bisschen später.“

Jetzt reagierte der Mann. Er beugte sich über den Tisch, versuchte sich zu rechtfertigen, log wie in jener Nacht vor zwanzig Jahren.

„Laurita“, flüsterte er, „das war doch nur ein schlechter Scherz von Saufkumpanen. Die haben mir den Schlüpfer in die Tasche gesteckt. Es war …“

Und vielleicht hätte er noch einmal das Wort gebraucht, mit dem er sich in jener Nacht zu rechtfertigen versuchte: Jener schwarze Schlüpfer aus Kunstseide mit Flecken, die von Lippenstift stammen mochten (oder nicht), war nur eine Calaverada, ein Lausbubenstreich von Freunden gewesen. Aber Laura erlaubte es ihm nicht: „Schschsch, bitte“, bat sie ihn und hob den Zeigefinger an die Lippen. „Hast du nicht selbst gesagt, es gibt Dinge, die man nicht beim Namen nennen soll?“

Sie schwiegen. Eine Handvoll Leute kam herein, und mit ihnen drang durch die Schwingtür das Dröhnen der Trommeln, die Gesänge der Büßer, die schrille Musik der Kapellen von der Plaza und dämpfte für einen Moment die Geräusche des Bestecks und der Gläser, das Gelächter im Lokal. Die vergangene und verdrängte Zeit schlüpfte ebenfalls herein und zwischen ihnen hindurch wie ein Fremder, den man auf der Straße trifft und von dem man nicht weiß, wo man ihn schon einmal gesehen hat. Vielleicht flüsterte sie im Vorbeigehen Mario etwas zu, denn er murmelte ein paar unverständliche Worte. Plötzlich hatte Laura eine Ahnung, wie ihm seine Stimme abhandengekommen war: weil er sie zu oft gesenkt hatte, weil er so viel flüsterte.

„Was hast du gesagt? Ich habe es nicht verstanden.“

„Ich sagte, als du mich verlassen hast, dachte ich, ich müsste sterben, Laura …“, wiederholte Mario und löste das Seidentuch um seinen Hals, das ihm die Luft nahm. Doch gleich darauf korrigierte er sich: „Ein Teil von mir wollte sterben. Und der andere Teil bewahrte den Schmerz, um sich nicht so allein zu fühlen …“

„Das sind hübsche Worte, Mario. Die hast du ja immer gemacht. Du solltest sie aufschreiben. Erinnerst du dich, dass du immer gesagt hast, ein Schriftsteller muss mindestens einmal sterben, damit er etwas hat, worüber er schreiben kann?“

Er antwortete nicht. Vielleicht hatte er seinen Wahlspruch vergessen. Auf jeden Fall verstand Laura in diesem Augenblick, wie endgültig, vollständig ihre Trennung war, dass sie nicht einmal mehr eine gemeinsame Vergangenheit besaßen. Sie waren ein einsamer Mann und eine einsame Frau im mittleren Alter, die jetzt ihre Jugend ein für alle Mal begruben. Denn die Laura jener Jahre war auch gestorben. Aus anderen Gründen und auf andere Weise. Aber sie hatte aufgehört zu existieren. Ihre Einsamkeit war die Leiche, die Reliquie, die brennende Kerze in der Grabnische jener Verstorbenen.

Mario schnipste mit den Fingern und bestellte einen Digestif. Man brachte ihm ein Glas, in dem der gleiche grünliche Likör schwappte wie vor dem Essen. Offenbar kannte man hier seinen Geschmack. Als er trank, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er kehrte zu seiner Fröhlichkeit eines Radiomoderators zurück. Diese Fähigkeit hatte er immer gehabt: Die schlechte Laune verschwand schnell mit einem Gläschen. Er versuchte zu lächeln: „Du kannst mir nichts vormachen. Diesen Streich hast du mir damals verziehen. Das war nicht der Grund, weshalb du weggegangen bist.“

„Vielleicht bin ich weggegangen, um mich nicht daran zu gewöhnen, dir dauernd zu verzeihen.“

Ja, vielleicht hätte sie sich tatsächlich daran gewöhnt und irgendwann vielleicht sogar eine ganze Sammlung von Schlüpfern mit Lippenstiftflecken hingenommen. Und wenn sie diesen Streich hinnahm, hätte sie sich vielleicht auch an die anderen Streiche gewöhnen können, die Calaveradas, die auf den Militärputsch folgten, die Ankunft von Cáceres und die Errichtung des Lagers. An den Angstgeruch des Journalisten, der noch schlimmer war als der Duft billigen Parfums, den seine Kleider verströmten, das dröhnende Schweigen des verstummten Radiosprechers, an die „Faszination“, die sie in jener Nacht bei Mario spürte, als er ihr erzählte, Cáceres spräche vom Tod „mit der Intimität eines Verliebten“ und sich dabei mit Dingen brüstete, die „zu hören er nicht geboren war“. Ja, vielleicht hatte sie wirklich Angst, sich an seine Faszination und heimliche Angst zu gewöhnen, die wie ein Spiegel ihrer Angst war. Schon möglich, dass sie sich davor fürchtete, sich an all diese Dinge zu gewöhnen. Obwohl es ganz sicher nicht allein all dies gewesen war, weshalb sie wegging. Und das wussten sie beide auch.

Eine Frage hatte Mario sich noch aufgehoben, von den vielen, die Claudia ihm gestellt hatte und die unbeantwortet geblieben waren: „Musstest du gehen, ohne mir zu sagen, dass du schwanger warst?“

Sie hielt seinem Blick stand: „Da war ja nichts mehr zwischen uns, und du wusstest es.“

„Nein“, widersprach Mario, doch er klang mutlos, als sei er sich bewusst, dass man dem Schicksal nicht widersprechen kann. „Mir war erst klar, dass da nichts mehr war, als ich durch Zufall erfuhr, dass du in Deutschland Claudia zur Welt gebracht hattest.“

Zum ersten Mal hörte Laura einen Anflug von Groll in Marios Stimme. Und sie fand das angenehmer als den heiseren Zynismus des alternden Lebemanns. Der Groll konnte der Beginn einer Geschichte sein, ein rostiger Draht, auf den die verstreuten Glasperlen seines Lebens aufgezogen werden konnten. Sie wollte schon fragen, ob Mario in all diesen Jahren endlich den Roman begonnen hatte, von dem er immer träumte. Doch fühlte sie sich nicht in der Lage, ihm auch noch diese Wunde zuzufügen, und so faltete sie ihre Serviette zusammen und schaute auf die Uhr als Zeichen, dass sie gehen musste.

Mario protestierte: „Geh noch nicht. Es gibt doch noch so viel zu erzählen.“

„Zu erzählen oder zu verschweigen, Mario?“