Das Vogelmädchen von London - Mat Osman - E-Book
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Das Vogelmädchen von London E-Book

Mat Osman

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Beschreibung

»Die Götter sind Vögel, und die Vögel sind Götter.« 

London, 1601. Shay ist Botenmädchen, Falknerin und Wahrsagerin, die in den Flügen der Vögel die Zukunft zu sehen vermag. Nonesuch ist der Star des sagenumwobenen Blackfriars-Theaters, wo eine Gruppe von Jungen für den Londoner Adel auftritt. Als sie über den Dächern Londons fliehen müssen, weil Shay gefangene Vögel befreit hat, lernen die beiden sich kennen – und verlieben sich. Dann gründen sie gemeinsam das Ghost Theatre, das in den versteckten Winkeln der Stadt phantastische Stücke aufführt. Doch bald verbreitet sich der Ruf Shays als Wahrsagerin – bis auch Königin Elizabeth sie aufsucht. Shay fällt wie üblich in Trance und weissagt der Königin – mit ungeahnten Folgen ...

Eine abenteuerliche Reise in das elisabethanischen London, wie man es noch nie gesehen hat – ein schillernder Roman über Theater, Magie und die Gefahren einer alles verzehrenden Liebe.

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Seitenzahl: 613

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Cover for EPUB

Über das Buch

Das Mädchen Shay wächst in Birdland auf, in einem fremden Winkel Londons, wo eine kleine Gruppe von Menschen lebt, die sich auf ihre Fahnen geschrieben haben, Vögel zu schützen. Doch Shay tut noch mehr: Wie ihre verstorbene Mutter vermag sie aus dem Flug von Vogelschwärmen die Zukunft vorherzusagen. Als sie über die Dächer von London fliehen muss, weil sie wieder einmal Vögel aus Käfigen befreit hat, lernt sie den jungen, gutaussehenden Nonesuch kennen – und einen weiteren magischen Ort in London. Denn Nonesuch ist Schauspieler im Blackfriars Theatre. Die beiden Außenseiter verlieben sich ineinander, und Shay tritt nicht nur als Schauspielerin auf, sie beginnt auch, öffentlich als Wahrsagerin zu wirken. Völlig in Trance verfallen, weissagt sie so vielen Menschen, dass sich ihr Ruf in ganz London verbreitet, bis in den Palast von Königin Elizabeth. Plötzlich erscheint die Queen im Theater. Shay soll auch ihr die Zukunft vorhersagen. Die Begegnung mit der Königin verändert nicht nur Shays Leben – sie droht auch das Land ins Chaos zu stürzen.

Über Mat Osman

Mat Osman ist Musiker, Songwriter, Bassist und Gründungsmitglied der britischen Band Suede sowie Komponist für Film und Fernsehen. Seine Artikel über Kunst und Reisen sind unter anderem im »Guardian«, »Independent« und »Observer« erschienen. Er lebt in Großbritannien. 

Ulrike Seeberger lebte zehn Jahre in Schottland, arbeitete dort unter anderem am Goethe-Institut. Seit 1987 arbeitet sie als freie Übersetzerin und Dolmetscherin in Nürnberg. Sie übertrug u. a. Autor:innen wie Lara Prescott, Philippa Gregory, Oscar Wilde, Charles Dickens, Jean G. Goodhind und Greg Iles ins Deutsche. 

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Mat Osman

Das Vogelmädchen von London

Historischer Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Seeberger

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Akt I — London, 1601

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Akt II

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Akt III

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Danksagungen

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für Anissa

Akt I

London, 1601

1

Hätten die Männer anstatt ihrer noblen dressierten Wölfe Hunde dabeigehabt, wäre Shay jetzt tot. Hunde hätte man von der Leine lassen können, und hier oben auf den Dächern hätten die kurzen Prozess mit ihr gemacht. Wölfe dagegen waren einen Sovereign wert, und für ein Göre wie sie wollte man einen so hohen Preis nicht riskieren. Gilmours Jagd auf sie hatte in Eastcheap begonnen, wo Shay mit Leichtigkeit von einem Dach zum anderen sprang. Dort waren die Straßen kaum so breit, dass ein Karren hindurchpasste, und die Häuser lehnten sich aufeinander zu wie Pflanzen, die sich nach der Sonne recken. Shay konnte hier die Lücken zwischen den Dächern so leicht überwinden, als schritte sie über einen Bach. Doch nun drängten die Männer sie nach Westen. Zunächst hatte sie das genossen, denn die Dächer in Westlondon waren mit Ziegeln gedeckt und nicht mit Flechtwerk und Lehm. Hier musste sie sich weniger sorgen, dass sie in eines der Zimmer durchkrachte. Doch als die Männer sie auf die prächtigeren Straßen zu scheuchten, die breit genug für Fuhrwerke waren, wurden die Sprünge echte Schwerarbeit. Shays Beine zitterten vor Anstrengung. Als sie sich waghalsig über St Peter’s Hill stürzte, schaffte sie es nur knapp auf die andere Seite. Ihr vorgestreckter Fuß verfing sich an der Ecke des Strohdachs, und nur der Schwung trug ihren Körper noch weiter, so dass sie bäuchlings auf der Dachschräge liegen blieb. Kleine Steine gruben sich ihr in Hände und Knie. Sie kroch um die Ecke des Gebäudes, lehnte sich fest an die Schräge und verfluchte sich, weil sie den Rhythmus verloren hatte. Drei Stockwerke weiter unten rasten die noch übrig gebliebenen Gilmour-Leute die Straße entlang. Shay sprang über einen kleinen Spalt zwischen zwei Kuppeldächern und rannte über eines der seltenen gläsernen Oberlichter. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf nach oben gereckte Gesichter, die ihren Füßen hinterherschauten. Dann glitt sie über eine Böschung aus bemoosten Dachziegeln auf die flache Dachkante des Hauses hinunter. Vor ihr tat sich eine zehn Fuß breite Schlucht auf. Sie hielt auf dem Dach Ausschau nach einer Leiter, mit der sie den Abstand überbrücken könnte: nichts. Jetzt war Gilmour ganz nah. Die Pfiffe ertönten öfter, und wenn Shay sich umwandte, konnte sie sehen, wie die Wölfe an ihren Leinen zerrten und die Schnauzen witternd vorreckten.

Shay drehte sich wieder zur Dachrinne hin, suchte einen anderen Ausweg. Unten an der Themse standen die Häuser wieder dichter, also schob sie sich vorsichtig am Dachfirst entlang und katapultierte sich dann über eine schmale Gasse. Sie landete auf einer Reihe älterer Häuser, die mit Brettern gedeckt waren. Das Holz bog sich unter ihrem Gewicht. Wenn es einkrachte, drohte ein Beinbruch oder Schlimmeres. Hier waren die Sprünge gut zu schaffen, doch nun rannte sie nicht mehr parallel zu Gilmour, und er kam ihr immer näher. Zum ersten Mal konnte sie das Hecheln der Wölfe und das Dröhnen seiner Füße auf den Brettern hören. Wenn es so weiterging, konnte er es sich leisten, zu warten, bis sie am Flussufer nicht mehr weiterkam.

Mit ächzenden Beinen sprang Shay von den Bretterhäusern auf ein festeres Dach. Ihre krachende Landung scheuchte eine Schar Tauben auf, eine sanfte Explosion von Federn, die himmelwärts aufflog und zerstob wie Wasser in einer Fontäne. Lautlos wiederholte Shay ihren Katechismus: Die Götter sind Vögel, und die Vögel sind Götter. Sie ließ ihre Füße von diesem Rhythmus leiten. Die Götter – Schritt – sind Vögel – Schritt – und die Vögel – Schritt – sind Götter – Sprung.

Gilmour zu ihrer Rechten, der Fluss zu ihrer Linken und das Ende der Stadt vor ihr. Sie schaute zurück: ein Kirchturm, ein Fleckchen Gras, die Türmchen auf einem Tor. Nach Osten abgebogen, hielt sie auf eine Fläche strohgedeckter Häuser zu, rannte schneller. Gilmour war nun so nah, dass sie die Befehle hörte, die er den Wölfen zurief: »Bei Fuß, bei Fuß. Braves Mädchen.« Er stieß einen langen Pfiff aus, und sofort schallte von den Straßen das Echo herauf.

Jeder Schritt riss Shay den Atem in breiten Streifen aus dem Körper. Die Strohdächer waren uneben, und zweimal verfing sie sich mit dem Fuß an einer losen Stelle. Die Enden der Halme brannten ihr an den Händen. Sie hielt Ausschau nach Orientierungspunkten. Aus dem Teppich der Stadt ragte die Kirche von St Paul’s auf, dahinter, von Rauch verhüllt, der alte Glockenturm. Beide nutzten ihr jetzt nichts. Ein Blick nach rechts: Auf einem flachen Dach hockte eine reglose Gestalt, die sich mit der Hand die Augen beschattete. Einen Moment lang beobachtete die Gestalt sie, hob dann eine Hand, stand auf und begann, parallel zu ihr zu laufen.

Die Vögel sind – Sprung – GÖTTER. Das waren beinahe acht Fuß gewesen, mit in die Höhe geschleuderten Armen, um den First des Strohdachs zu packen und sich hinauf- und hinüberzuziehen. An der anderen Seite rutschte Shay hinunter und wäre um ein Haar über die Kante gestürzt. Kleine Steine fielen auf die Straße. Wenn sie so weiterlief, würde diese rennende Gestalt ihr den Weg abschneiden. War es Freund oder Feind? Sie konnte es nicht wissen. Dann ertönte die Stimme eines Jungen über die Dächer hinweg. »Drei Häuser nach rechts und dann auf den Kirchturm zuhalten.« Shay rappelte sich auf und tat einen Schritt über die schmalste Gasse. Dreißig Fuß unter ihr toste ein Strom aus Krach und Lärm. Sie rannte los, wagte keinen Blick zurück und hielt auf das Langhaus mit dem steilen Dach zu, das sicher für die Wölfe zu steil sein würde. So gewann sie kostbare Augenblicke. Sie flitzte über die Schräge, immer ein Auge auf ihre Füße und eines auf den Jungen gerichtet. Er war zwanzig Fuß von ihr entfernt, kam aber immer näher. Ein Junge mit schulterlangem Haar, in Scharlachrot und Schwarz gekleidet. Als er auf gleicher Höhe mit ihr war, hielt er weiter eine Straßenbreite Abstand zu ihr. »Noch drei Sprünge vorwärts, dann ist da ein Dach mit einem rauchenden Schornstein. Da bleib stehen und mach mir alles nach!« Shay versuchte zu nicken, doch der Schmerz in ihren Lungen hatte ihr alle Kraft weggewischt.

Drei Sprünge – Götter, Vögel, Götter –, und sie landeten auf einem Dachquadrat, das kaum genug Platz für sie beide hatte. Aus einem morschen Kamin quoll weißer Rauch: ein süßer, beinahe widerlich süßer Geruch. Der Junge legte sich auf den Bauch und langte über die Kante. Shay hörte ein Klicken und das Knarzen von Holz.

»Schau genau hin, was ich mache.« Es schwang keinerlei Dringlichkeit in seiner Stimme mit. Shay legte sich ebenfalls hin und schaute über die Kante. Sie waren weiter oben, als sie erwartet hatte, und die Straße unten war zu fern, um irgendein Geräusch von dort zu hören. Eine Schweißperle löste sich von ihrer Augenbraue und floss träge abwärts.

»Schau hin.« Der Junge ging in die Hocke, hielt sich an der Dachkante fest und rollte sich dann darüber, während er den Rand weiter mit festem Griff umklammert hielt. Er vollführte einen Salto, und dann war er verschwunden. Shay hielt die Luft an, wartete auf das Krachen eines Aufpralls.

»Jetzt du.« Seine Stimme erklang ganz aus der Nähe. Shay schob sich weiter vor. Unter der Dachkante stand ein Fenster offen. Mit einer einzigen Bewegung hatte er sich über die Kante und in den Turm gerollt. Sein Gesicht blickte zu ihr auf. »Schnell, nicht nachdenken.«

Hinter ihr waren aufgeregtes Pfeifen und das erwartungsvolle Jaulen der Wölfe zu hören.

Shay packte die Kante und warf sich nach vorn. Die Welt geriet ins Trudeln, als ihr volles Gewicht an den schmerzenden Schultern zerrte. Sie begann, rückwärts in das Fenster hineinzufallen, doch dann stieß ihr linkes Bein krachend gegen den Rahmen, und eine Hand rutschte ab. Eine Sekunde lang hing sie an einem Arm da und ruderte mit den Beinen, um irgendwo einen Halt zu finden, ehe der Junge sie bei der Taille packte und hereinzog. Rücken und Arm schrammten hart am Fensterrahmen entlang, und dann fiel sie rückwärts in das Gebäude hinein.

Gern wäre Shay einen Augenblick dort liegen geblieben, doch der Junge war bereits über eine Wendeltreppe auf dem Weg nach unten, die so schmal war, dass die Tritte kaum größer als Dachziegel waren. Er stützte die Hände rechts und links an den Wänden ab. Halb rutschte, halb fiel er die Treppe hinunter. Shay folgte ihm so schnell, wie sie nur wagte, atemlos und schwindlig, weil ihr alles vor Augen verschwamm. Die Wendel schien ewig so weiterzugehen, doch gerade als die Übelkeit Shay schon ins Stolpern brachte, stoppten seine Schritte vor ihr. Sie sackte auf die Knie, befand sich nun in einem größeren Raum mit zwei Türen und einer halb geöffneten Durchreiche in der Wand. Eine Frau von riesigen Ausmaßen saß in einen Stuhl gepresst da und streichelte etwas, das sie auf dem Schoß hielt. Der Junge kniete sich neben sie hin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Beide blickten zu Shay, und sie wollte sich gerade bei ihnen bedanken, als sie über sich Holz splittern hörte. Kurz sagte der Junge noch etwas zu der Riesin und zog dann die Türen der Durchreiche ganz auf. Es war ein Speiseaufzug, kaum größer als eine kleine Kommode. »Da rein«, sagte er.

Shay legte die Hände auf den Rahmen. »Schaffe ich nicht. Das ist zu klein.«

Die dicke Frau lachte. »Für so ein winziges Ding wie dich? Du kannst es dir aussuchen. Vielleicht versuchst du es stattdessen mit denen da oben, wer immer die sind.« Das Splittern hörte auf. Die Stille war noch furchteinflößender, als das Geräusch gewesen war. Shay hob ein Knie in den Aufzug, zog dann eine Schulter und den Kopf nach. Sie roch Braten und den gleichen widerlich süßen Geruch wie aus dem Kamin. Der Aufzug knarzte unter ihrem Gewicht, und wieder packten Hände sie bei der Taille. Der Junge hob den Rest ihres Körpers hoch und schob ihn hinein, bis ihr Kopf gegen die Wand krachte. Sie schaute seitwärts auf seine Hände und ins trübe Dämmerlicht des Zimmers. Erst jetzt bemerkte sie die lange silbrige Machete, die auf dem Schoß der Frau lag.

»Keine Bewegung, und fass bloß nichts an, wenn du da unten ankommst.«

Auf der Fahrt nach unten schrammte der trudelnde Kasten an der Wand entlang. Shay war eng in diesen kleinen Raum gepresst. Als der Aufzug ruckelnd anhielt, musste sie sich mit den Beinen abstoßen, um hinauszugelangen, und fiel ungeschickt auf den Boden. Ein kurzer Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen. Der neue Raum war noch schattendunkler als der oben, dazu ölig vor Rauch. Mit einem Ruck verschwand der Speiseaufzug wieder nach oben. Hier hallte leises Stimmengemurmel im Raum, das auch durch Shays Ankunft nicht unterbrochen wurde. Als sie sich hochzog, merkte sie, dass ein Mann über ihr stand; er war älter und trug Kleidung, die früher einmal teuer gewesen war. Er beugte sich nach unten, fasste sie am Kinn und drehte ihren Kopf zum Kerzenlicht. Kurz trafen sich ihre Blicke, dann ließ er los und lächelte. »Na, das habe ich ganz bestimmt nicht bestellt.« Hinter seiner Schulter erschallte Gelächter, während er in den Raum zurückging. Erneut kam der Speiseaufzug angerumpelt, der Junge ließ sich elegant herausgleiten und landete auf den Füßen. Er schnalzte missbilligend mit der Zunge, bürstete sich die Kleider ab, nahm dann Shay bei der Hand und führte sie in den Schatten.

Der Raum war in kleine Alkoven unterteilt, die jeweils von einer einzigen Kerze erhellt wurden. Hier rauchten und schliefen Männer, immer einer pro Abteil, und dicker Qualm lag in der Luft. Der Junge fand einen leeren Alkoven. Er zog ein paar Kissen her und schaute Shay interessiert an. Sie war es nicht gewöhnt, so genau gemustert zu werden. Sie gab sich größte Mühe, so unauffällig wie möglich zu bleiben: mit ihren Kleidern, ihrem Verhalten, ihrer Stimme. Sie hatte gelernt, wie man von der Oberfläche der Menschen zurückprallt, zwischen die rauen Kanten des Lebens gleitet. Doch dieser Junge wandte den Blick nicht ab.

Sie wusste, was er nun dachte: »Was ist das denn?« Irgendwo hatte sie ihre Kappe verloren, so dass neben ihrer Tätowierung ihre zwei Haarbüschel wie Flügel hochstanden, und sie hatte Schürfwunden am Hals und an den Schultern. Ihre Brüste hatte sie flachgewickelt, und sie trug Matrosenhosen und Schnallenschuhe. All diese Fragen hatte sie schon einmal gehört: »Was bist du, ein Junge oder ein Mädchen?« – »Was ist denn mit deinen Haaren passiert?« – »Warum bist du angezogen wie jemand aus dem Armenhaus?« Also verhärtete sie ihr Gesicht, so gut sie konnte, während ihr Herz noch raste und sie mit dem Zittern ihrer Beine zu kämpfen hatte.

Der Junge musterte sie weiter, schüttelte schließlich den Kopf, als wolle er einen Gedanken verscheuchen.

»Wie unhöflich von mir.« Er streckte ihr eine Hand hin wie ein Erwachsener.

»Shay.« Sie hielt ihre Stimme so ausdruckslos wie möglich, sprach ein wenig tiefer. Das machte sie beinahe schon unbewusst.

Er umfasste ihre Hand mit seiner anderen. »Nun, hallo, Shay. Ich bin Lucifer, der leibhaftige Teufel auf Erden.«

2

Eine ganze Stunde verging, ehe sie sich wieder nach oben ans Tageslicht wagten. Draußen blinzelten sie in einen Herbsthimmel, der so durchsichtig blau war, dass man meinte, ihn mit einem Steinwurf zerschmettern zu können. Es war Markttag, und da bedeutete ein klarer Himmel große Menschenmengen. Die Stadt würde voller Torgaffer sein, die für einen Tag hergekommen waren und glotzten und trödelten und jeden am Newgate aufgespießten Kopf begafften. Shay waren die trüben Tage lieber, wenn nur die Londoner unterwegs waren und die Menschenmengen dahinströmten wie Vogelschwärme.

Zusammen gingen die beiden nun unter den Markisen des Westcheap Market entlang, hielten sich stets am Rand, falls noch ein paar von Gilmours Leuten in der Nähe sein sollten. Der Junge versuchte mit einem seltsamen Schlurfschritt sein Tempo an Shays mühsamen Weg durch die Menschenmenge anzupassen. Er war so groß, dass er das Kinn problemlos auf Shays stoppeligen Schädel hätte stützen können, und diese wenigen Zoll mehr waren so viel wert wie das zweite Gesicht, wenn in Cheapside ein solcher Rummel war. Er wich mit Schritten zur Seite aus, bewegte sich wie der Springer auf dem Schachbrett, duckte sich unter Dachrinnen, stieg über Fässer und zerrte Shay schräg über vier Fahrbahnen hinweg.

Auf Shays Augenhöhe prasselte London in einem Kaleidoskop von Empfindungen auf sie ein: das Rempeln der knochigen Schultern von Lehrlingen, ein rascher Blick auf aufgehäufte Kirschen auf einem Karren, das Pferdeschnauben im Nacken. Natürlich bemerkte sie auch Hände. Die meisten schoben sie aus dem Weg der eiligeren Passanten, doch einmal spürte sie auch, wie jemand ganz kurz ihre Pobacke grapschte, so kurz, dass sie nicht ausmachen konnte, wer es gewesen war, und einmal war es die sanfte, aber unmissverständliche Berührung einer geübten Hand, die ihren Hosenbund nach einer Börse abtastete. Mit einem Klicken zog sie ihr Messer aus dem Futteral, und die Hand verschwand rasch. St Nicholas Shambles wimmelte so vor Menschen, dass Shay im Gedränge vom Boden hochgehoben wurde und erst nach beinahe zehn Fuß wieder die Erde berührte. Das war ihr sehr recht, denn in der Straßenmitte floss ein stetiger, säuerlich stinkender Strom von Tierpisse, ergosss sich eilig in Richtung Themse. Als Shay den Kopf in den Nacken legte, um ein wenig frischere Luft zu atmen, erhaschte sie zwischen Schultern und Verkaufsständen hindurch einen Blick auf Ausschnitte des Himmels. Inmitten von all dem Dung, den schlammbespritzten Ärmeln, dem faulenden Obst, dem Schweiß und den Schreien wirkte der Himmel wunderbar leer und freundlich. Zusammen schlängelten sie und der Junge sich durch eine Taverne am Old Change, die so schmal war, dass Shay beide Seiten mit ausgestreckten Fingerspitzen berühren konnte, und dann schlüpften sie wieder geduckt nach draußen auf eine Gasse.

In der ersten Viertelstunde konnte Shay nur kurze Blicke auf den Jungen erhaschen: auf sein prägnantes Kinn, das sich durch die Menge schob, auf die Tanzschritte seiner überkandidelten schwarzen Samtschuhe. Erst als er ihr mit ausgestrecktem Arm den Weg versperrte, damit jemand von oben seinen Nachttopf ausleeren konnte, betrachtete sie ihn richtig. Er war groß, zumindest aus Shays Sicht, und er war schlank. Schräge Schultern und eine schmale Taille, ein Nest aus Locken auf dem Kopf, am Haaransatz sirupgolden und an den Spitzen strohblond. Ein Gesicht und ein Körper, wo alles spitz zulief. Die Nase ein Pfeil, der in die Richtung seiner Aufmerksamkeit wies. Dünne Augenbrauen, Ellbogen wie Scheren. Es waren nicht die edlen Züge eines Aristokraten, aber die Haut war blass und makellos: ein Junge aus der Stadt. Seine Kleidung verwirrte sie jedoch. Offenbar absichtlich war seine Halskrause nicht gestärkt, hing schlaff herunter, als sei er auf dem Weg zu seiner Waschfrau. Ein Lederwams, gut genäht, aber an den Ellbogen und Säumen abgeschabt und mit hundert winzigen, rautenförmigen Schlitzen verziert, durch die man das Hemd darunter herausziehen konnte. Diesen Stil hatte Shay schon bei den federgeschmückten und parfümierten Italienern gesehen, die sonntags am St Paul’s Walk herumstolzierten, doch noch nie zuvor in derart extremer Form: Der Rücken dieses Jungen sah aus wie eine Flottille von Segelbooten auf einer schwarzen See. Seine Strümpfe und das Messerfutteral waren vom gleichen matten Scharlachrot, und das Heft der Klinge war silbern. Die Strümpfe wirkten an ihm übertrieben feminin, besonders über den Samtschuhen mit den Knopfreihen. Wer mochte er sein? Der Sohn eines Gentleman, der eine Pechsträhne gehabt hatte und gezwungen war, anderer Leute abgelegte Kleidung zu tragen? Der Anführer einer Bande, der mehr Geld als Geschmack hatte? Sie konnte ihn nicht richtig einordnen, und das fand sie gleichermaßen ärgerlich und aufregend.

Von oben ergoss sich ein letzter Schwall, und als der Junge den Arm senkte, sagte Shay: »Dein Wams gefällt mir.«

Er schaute darauf herunter, als sähe er es zum ersten Mal, und Shay mochte ihn gleich ein bisschen weniger – allein auf diese Hemdbäusche musste er ja mindestens eine Viertelstunde verwendet haben. Er zupfte ein dreieckiges Stück schneeweißes Leinen zu einem Zipfel und sagte: »Kennst du den Earl of Anglesey? Der ist darin gestorben.« Er steckte einen Finger durch einen Schlitz an der Seite heraus und wedelte in Richtung Shay. »Einfach abgestochen mit einer Lanze, wie ein Schwein am Spieß. Hinten ist noch ein anderes Loch.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte Shay. »War es ein Verwandter von dir?«

Der Junge schnaubte vergnügt. »Ha, großer Gott, nein. Der Earl hat dem Theater drei Ausstattungen vererbt.« Seine Stimme wurde tiefer. »Die nur getragen werden sollen, wenn Personen aus dem Königshaus gespielt werden.« Er schnaubte wieder. »Davon hat er nur geträumt. Das hier würde bestenfalls für einen kleinen Adeligen reichen. Wir sollen die Sachen eigentlich nur auf der Bühne tragen, aber ich finde, ich sollte Werbung für das Theater machen.«

Also Theater. Shay hätte es sich denken können. Jung, gut angezogen und treibt sich an einem Arbeitstag herum; ein Blackfriars Boy. Sogar zu Hause in der Marsch, wo London kaum mehr als ein Gerücht war, hatte Shay von denen gehört, denn ein paar Schulkameradinnen verfolgten diese jungen Schauspieler mit schwärmerischer Besessenheit. Der Gedanke, dass Jungen, die kaum älter als sie selbst waren, schon in aller Munde waren, ehe sie sich rasieren konnten, dass sie vor den Höchsten der Gesellschaft auftraten, war ein herrlicher und befreiender Ausnahmezustand. Es tat nichts zu Sache, dass die begeisterten Mädchen zu jung und zu arm waren, um je eine Vorstellung dieser Jungen anzusehen. Die Kühnsten von ihnen sparten für die Fähre nach London, hielten sich beim Bühneneingang auf und setzten den Theaterzuschauern mit Fragen zu. Sie lernten die Namen des gesamten Ensembles auswendig, wussten, was die Schauspieler mochten und was nicht, verschlangen ihre Lebensgeschichten. Erst als Shay begann, in London zu arbeiten, hörte sie andere, geflüsterte Geschichten über das Ensemble: über Stücke, die so beißend satirisch waren, dass sie nur vor geladenem Publikum aufgeführt wurden, über geheime Affären mit adeligen Damen und Herren.

Der Junge verlangsamte das Tempo. »Warum waren die dahinten eigentlich hinter dir her?«

Shay war überrascht, dass dies nicht seine erste Frage gewesen war. »Du kennst doch den Vogelladen auf der St Laurence Lane? Der gehört dem Mann mit den Wölfen, Gilmour. Und ich hatte gerade alle seine Vögel freigelassen.« Sie stockte kurz. »Wieder einmal.«

Sie sah die Szene erneut vor sich. Wie der Eimer in den Brunnen bewegte sich ihr Angelhaken durch das Loch nach unten, das sie in die Decke gebohrt hatte. Dreimal ließ sie ihn herunter, kam jedes Mal ein wenig näher an den Verschlussgriff des Vogelkäfigs. Das Ping des Hakens gegen das Metall verlor sich unter den heiseren Schreien von dreißig Vögeln. Die Ladenburschen hatten ihre Aufmerksamkeit gerade auf eine Kundin gerichtet, deren Zobel allein schon verkündete, dass sie mit dem Inhalt ihrer Börse den ganzen Laden aufkaufen könnte. Shays Ziel war die Klappe oben am größten Käfig. Noch einmal legte sich der Haken um den Griff, und diesmal blieb er hängen. Shay holte die Angelschnur ein und beobachtete die Klappe. Sie hob sich und fiel wieder, landete mit einem Geräusch wie dem Klirren von fallendem Besteck auf dem Käfig. Die Ladenburschen schauten sich um. Die Frau schaute sich um. Doch die Vögel regten sich erst, als Shay so stark an der Leine zog, dass sie sich ihr schon in die Finger grub. Der Haken verbog sich unter dem Gewicht des Käfigs, und während er hin und her schwankte, gerieten die Vögel in Panik. Scharlachrote Flügel blitzten auf, beinahe zu schnell für menschliche Augen, und aus den Liedern der Singvögel wurden Angstschreie. Der Käfig schwang zurück und prallte bebend gegen den Tisch. Als Erstes entkam eine Turteltaube, flaumig und sonnenuntergangsrot. Durch die Klappe und durch die Ladentür, als würde sie von einer Strömung herausgesogen. Dann stand es einen Augenblick lang auf Messers Schneide: Der Käfig war zum Stillstand gekommen, und die Ladenburschen drehten sich weiterhin um. Dann strömten mit einem Geräusch, als mischte jemand Spielkarten, die restlichen Vögel aus dem Käfig. Im Nu war Shay wieder draußen auf dem Dach. Die Vögel, die ihre sich plötzlich unendlich weit auftuende Freiheit völlig aus der Ruhe gebracht hatte, erhoben sich in einem einzigen Schwall aus Lärm und Farben. Wenig später schwärmten sie wie auf ein unmerkliches Zeichen hin aus, schleuderten Fetzen strahlend bunter, lebendiger Seide in den Himmel.

Der Junge stampfte auf den Boden und grinste, als wäre er es gewesen, der das alles vollbracht hatte. Er verrenkte den Kopf und schaute in den Himmel. »Wie oft hast du das schon gemacht?«

»Viermal. Die ersten beiden Male waren ein Kinderspiel.« Damals war sie einfach in den Laden spaziert, hatte den vordersten Käfig geöffnet und war wieder hinausspaziert.

»Dann brauchst du eine Verkleidung. Lass mich etwas aus dem Theater für dich holen.«

Er musste etwas auf ihrem Gesicht gesehen haben, denn nun lachte er. »So schlimm, wie man uns darstellt, sind wir nicht. Der Besitzer ist heute nicht da, also wirst du nicht in die Truppe gezwungen.«

Shay versuchte zu lachen. »Ich dachte immer, wenn der Teufel dir ein Geschenk anbietet, solltest du es ablehnen.« Er zog eine Augenbraue in die Höhe, und sie sagte: »Ich weiß immer noch nicht, wie du heißt, Lucifer.«

»Ah, natürlich. Ich bin Nonesuch.« Er schüttelte ihr noch einmal die Hand, und dann war er wieder fort, ohne abzuwarten, ob sie ihm folgte, ging seitlich eine kaum menschenbreite Gasse zwischen Häusern durch, dann in einen Laden, der Kerzenenden verkaufte, und durch die Hintertür wieder hinaus auf einen Hof, der voller Pferde war, die noch von der morgendlichen Arbeit dampften. Irgendwie waren sie nach Cheapside zurückgelangt.

Shay liebte Cheapside, liebte es mehr als jede andere Gegend in London. Hier lag die Welt vor ihr ausgebreitet wie eine lebendige Landkarte. Seidenballen aus Indien waren zu wilden Pyramiden aufgetürmt, und ihre fransigen Kanten ließen den Dschungel drinnen ahnen. Holländische Händler trugen schwere Hüte mit Schnallen, schauten besorgt und hockten hinter einem wahren Wald aus Tulpen. Orangen aus Sevilla wurden hoffnungsfroh als Morisqo angepriesen, damit kein Zweifel auf den Patriotismus der Käufer fallen konnte. Reynolds’ Gewürzladen wärmte eine ganze Straßenseite mit seinen rauchigen, halskratzenden Aromen, und Shay packte Nonesuch beim Arm, um ihn zu bremsen. Sie reckte die Nase in die Luft, die Augen für einen Moment geschlossen. Zimt, Cayennepfeffer, Nelken und Pfeffer. »Schmeckst du das? Indien. Panama, Madeira. Kostenlos auf der Zunge.«

Er lachte bellend, stand aber doch mit weit aufgerissenem Mund da.

»Schinken aus Wiltshire, Wolle aus East Anglia, Zinn aus Cornwall.«

Sie waren zehn Minuten gegangen und hatten fünf Sprachen und zwanzig Dialekte gehört. Selbst die Schwalben über ihren Köpfen waren Tausende von Meilen gereist, um hierherzugelangen. So wie Shay die Welt sah, war London der Mittelpunkt einer Zielscheibe beim Bogenschießen, und Cheapside war ein wundersamer, einmaliger Treffer mitten ins Zentrum.

Eine Weile gingen sie durch Seitengässchen. Nonesuch wand Girlanden aus Geschichten um den Weg. Er erzählte unentwegt, jede Geschichte immer noch reißerischer als die vorherige. Er breitete die Arme weit aus, buckelte sich zusammen wie ein Kobold, wenn er einen Bösen verkörperte. Vor einem Puppentheater imitierte er die Marionetten und brachte Shay mit seinem ruckenden Tanz zum Lachen. Aber er war auch ein guter Zuhörer. Er lauschte mit dem ganzen Körper, blieb oft stehen und blockierte den Weg, um ihr Gesicht ganz dringlich zu mustern oder ihr die Hände auf die Schultern zu legen. Das trieb ihr die Hitze ins Gesicht. Sie schätzte ihre Anonymität über alles, und gewöhnlich wäre ihr eine derartige Aufmerksamkeit zudringlich vorgekommen, doch die Offenheit dieses Jungen war ansteckend. Er erzählte ihr, soweit Shay es beurteilen konnte, völlig ungefragt von der Tochter einer Gräfin, die ihm einen Shilling in der Stunde bezahlte, damit er ihr die Gossensprache beibrachte. Wie er auf einem Baumstamm die Stromschnellen zwischen den Bögen der London Bridge durchquert hatte und sich vorher und nachher übergeben musste. Shays Geschichten waren nicht so großartig, doch er beobachtete ihr Gesicht aufmerksam, wenn sie jede interessante Einzelheit über sich preisgab, wenn sie von ihrem Vater und seinem schneeweißen Schwanenboot, von ihren Botengängen über die Dächer und ihrem Falkenzähmen, vom Wahrsagen und Kartenlesen berichtete.

»Das war also nicht dein erstes Mal auf den Dächern?«, fragte er.

»Großer Gott, nein. Ich lebe beinahe da oben. Ich kann London schneller durchqueren als jeder andere Bote in der Stadt. Aber ich liebe die Dächer sowieso. Mein Vater hat früher hoch oben gearbeitet. In Taubenschlägen und dergleichen, also habe ich früh Geschmack daran gefunden.« Erinnerungsfetzen schwebten herab. Der Handschuh ihres Vaters, so groß, dass sie in jedes Loch zwei Finger stecken konnte, wie ihn die knorrigen Klauen des Falken packten. Wie er mit halb offenem Mund in den Wind schaute, den Wind schmeckte, und wie sich jedes Mal ein Lächeln auf sein Gesicht stahl. Ihr liebster Augenblick war, wenn dem Falken die Haube abgenommen wurde und die Augen des Vogels sofort und ohne Blinzeln quicklebendig wurden; wie wenn man ein Messer aus der Scheide zog. Der Augenblick, wenn der Falke losflog, deine Hand ihm, von seinem Gewicht befreit, ein wenig folgte. Die Hand sprang hinter dem Vogel in die Höhe, als könnte der Sog seiner Flügel einen mit in den Himmel hinaufziehen. Shay stand dann auf Zehenspitzen da, versuchte, die Verbindung zwischen sich und dem Falken so lange wie möglich zu halten.

Nonesuch nickte. »An den meisten Tagen sitze ich draußen auf dem Dach des Theaters. Mit einer Pfeife und einem Buch. Dann steigen all die geheimen Gespräche der Straßen zu dir auf.« Er machte eine Bewegung, als pflückte er einen Apfel.

Sie gingen nach Süden auf den Geruch des Flusses zu. Nun waren die Straßen wieder belebter. Torgaffer überall: Sie kamen aus diesem wild wachsenden zweiten London, das rings um die Stadtmauern aus dem Boden gewuchert war, schlecht und recht gebaute Dörfer, die sich an die Stadt anschmiegten, als könnte der kalte Stein ihnen Wärme abgeben.

Die Glocke schlug die Viertelstunde. »Verdammt«, sagte Nonesuch, »ich habe noch einiges zu erledigen.«

Er zerrte sie quer durch einen wilden Strom von Bauernkarren in eine schattige Seitenstraße hinein, wo er an eine hohe Tür klopfte. Nach einer winzigen Pause wurde geöffnet, und ein Mann in einer Schürze, die so blutgetränkt war, dass Shay ihr Geruch – süß und verwest – in die Nase drang, grinste auf sie herab. »Wenn das mal nicht Beelzebub höchstpersönlich ist. Wartet.«

Er schloss die Tür sorgfältig wieder, und drinnen hörte man Schreien, dann ein dumpferes, unheilvolles Hackgeräusch. Der Mann tauchte mit einem Eimer und einem Sack wieder auf, der unten fleckig und feucht war. Nonesuch nahm den Sack entgegen und hielt ihn sorgfältig von sich weg. »Ist es auch ganz bestimmt Lamm? Das von der Kuh war zu zäh.«

Der Mann lachte. »Hab ihm selbst die Kehle durchgeschnitten.« Er reichte Shay den Eimer. Ein Stock ragte aus einigen Zoll dickflüssigem Blut hervor.

Nonesuch sagte: »Rühre ständig, während wir gehen, denn wenn das hart wird, gibt’s teuflischen Ärger.« Shay musste wohl erschrocken geschaut haben, denn er fügte noch hinzu: »Für mich, nicht für dich.«

Sie wirbelte den Stock im Rhythmus ihrer Schritte herum. Der Eimer war schwerer, als er aussah, und schon jetzt näherten sich Fliegen im Sturzflug der Flüssigkeit. »Was ist in dem Sack?«

»Ich hoffe, dass es Schafsdärme sind.« Er wechselte den Sack in die andere Hand und bewegte die Finger der anderen, die ihn vorher gehalten hatte. »Für eine Kampfszene heute Abend. Der Seidenhändler trägt sie in seinem Wams, ich greife an …« Er sprang vorwärts und stieß ein imaginäres Schwert. »Ich schlitze ihn auf, und die Gedärme quellen heraus. Außer dass sie letzte Woche nur Kuhdärme hatten. Die sind zu groß. Das verdammte Ding ist geplatzt, ehe ich auch nur den Schwertarm gehoben hatte. Es sah eher wie eine Entbindung aus.«

»Und das Blut?«

»Für später. Das füllt man in eine Schweineblase und näht die oben zu. Klemmt es hier drunter.« Er deutete auf seine Achselhöhle. »Und wenn du getroffen wirst, drückst du fest zu.« Er setzte ein reumütiges Grinsen auf.

»Wir sind immer noch spät dran«, sagte er. »Ich schwöre, hier sind jeden Tag mehr Bauerntrampel unterwegs. Was hältst du von einem kleinen Notfall, zumindest bis Blackfriars?« Als Shay ihn fragend anschaute, griff er in den Eimer und schmierte sich einen dicken Streifen von dem Blut quer über den Hals. Shay roch Eisen und Kot.

Nonesuch drängte sich auf die Straße hinaus und kreischte: »O Gott! Diese verdammten Halsabschneider!« Und er wankte rückwärts in Shays Arme. So umgekehrt sah sein Gesicht noch jünger aus, als er Shay zuzwinkerte. Auf seine Schreie hin teilte sich die Menge, und ein aufgeregtes Schaudern eilte ihnen voraus. Nonesuch keuchte und röchelte in ihren Armen, schien schwer an ihr zu hängen, doch irgendwie halfen ihr seine Beine dabei, mit ihm voranzukommen. Nun hatte die Geschichte auch von ihr Besitz ergriffen. »Aus dem Weg, verdammt nochmal«, brüllte sie, und ihre Stimme klang alt und hart. »Lasst uns durch!«

Die Leute pressten sich an Mauern und unter Markisen. Sie schauten erwartungsvoll gespannt, und ihre Mienen sagten: Gott sei Dank, das bin nicht ich, sondern ein anderes armes Schwein. Shay wurde von ihrer Erleichterung vorangetrieben. »Hier nach links«, flüsterte Nonesuch zwischen Todesröcheln. Als sie in einer ruhigeren Gasse waren, richtete er sich auf und wischte sich das Gesicht sauber. Er zog Shay nah an sich heran; sie konnte sich nicht vorstellen, wozu. Ihre Gesichter waren nur noch wenige Zoll voneinander entfernt.

»Sehe ich ordentlich aus? Mein Publikum erwartet mich.« Seine Stimme hatte wieder den schleppenden Ton. Shay wischte ihm einen blutigen Fingerabdruck von der Schläfe und nickte. Kurz huschten seine Augen über ihr Gesicht. »Und du? Stelle ich dich als Jungen oder als Mädchen vor?« Diese Frage wurde beiläufiger gestellt, als das je jemand anders fertiggebracht hatte.

»Hier in London als Jungen. Für die Arbeit. Es ist Mädchen verboten, Botengänge zu machen.« Sie sah keinerlei Anlass, das näher auszuführen.

Er lachte. »Schön. Mir brauchst du nichts darüber zu erzählen, welche Rollen wir spielen.«

3

Man hatte die Pflastersteine draußen vor dem Theater mit Wasser abgespült, so dass sie sich als schimmernder Halbkreis vom Dreck der Straße abhoben. In kleinen Gruppen standen Zuschauer beieinander und ignorierten einander betont: hauptsächlich Dienstmägde und ein paar verfrüht aufgetauchte Huren. Etwas seitlich hatte sich sogar ein sittsames Trio eingefunden: adelige Damen, deren adrette Füßchen auf makellosen Stofftaschentüchern standen. Nonesuch schob den Hut tiefer ins Gesicht, doch das zog womöglich noch mehr Aufmerksamkeit auf ihn. Eine Welle von Fragen erreichte ihn: »Nonesuch, Nonesuch, was spielst du heute? Gibt es noch Karten? Nicht mal hinter der Bühne?« Alle redeten über Shays Kopf hinweg, als wäre sie gar nicht da.

Nonesuch hob die Hand und sagte: »Jetzt nicht, tut mir leid. Ich bin spät dran für die Probe.« Die Enttäuschung draußen war noch zu hören, als er und Shay sich bereits in die Dunkelheit des Theaters drückten. »Entschuldigung, das ist eben Berufsrisiko. Völlig verrückt, dass sie so früh herkommen.«

Sonderlich erbost schien er darüber nicht zu sein, und Shay fragte: »Warum hat das Theater denn keinen Hintereingang?«

Zum ersten Mal nahm sie bei ihm so etwas wie Verlegenheit wahr. Er antwortete: »Nun ja, ich glaube, es gibt wohl tatsächlich einen.« Die zweiflügelige Tür des Theaters schirmte den Lärm der Straße so vollständig ab, dass das Innere wie ein Kirchenraum wirkte. Shay schloss, dass diese Ankunft im Theater lediglich das Ziel gehabt hatte, sie zu beeindrucken.

Der Duft von Sandelholz und Weihrauch würzte die Luft. An der Decke hingen hoch über ihnen rußgeschwärzte Kandelaber, die aber so spärlich mit Kerzen bestückt waren, dass der Raum dämmrig wie ein Beichtstuhl wirkte. Nonesuch führte sie tiefer in den Zuschauerraum hinein, und allmählich nahm das Theater Gestalt an: zwei Galerien mit Logen rings um einen Raum, der so schräg angelegt war, dass man von jedem Platz aus gute Sicht hatte. Von hinten drang ein Lichtstrahl durch einen Spalt und erleuchtete eine hohe Bühne, wo ein Gedrängel von Jungen zu sehen war, die Texte rezitierten, sich gegenseitig übertönten. Im Mittelgang wurde gerade ein halbherziger Schwertkampf ausgefochten, und die Waffen klangen wie Glocken. Echte Schwerter, bemerkte Shay.

Nonesuch zog sie mit vor den Mund gehaltenem Finger in das Dämmerlicht, und die Schwertkämpfer unterbrachen ihr Gefecht. Er winkte einen zu sich herüber. »Wo ist Evans?«, fragte er.

»Draußen. Zählt sein Geld. Der braucht noch eine Weile.«

Der Junge, der die Antwort gegeben hatte, war unscheinbar und hatte ein schmales Gesicht. Seine Rüstung bestand aus dickem Papier, und aus der Nähe konnte Shay an den enger anliegenden Teilen Risse erkennen. Der Junge stellte die Spitze seines Schwertes auf seinem Schuh ab und drehte es, während er Shay musterte.

Nonesuch sagte: »Ruf mich, wenn er kommt«, und führte Shay auf die Bühne.

Der Junge rief ihm hinterher: »Oh, Mr Luzifer?« Nonesuch drehte sich grinsend um, und der Junge sagte: »Leider gibt’s heute Abend keine Teufeleien. Sonderwunsch von irgendeinem von Evans Kumpeln. Du gibst heute Abend deine Cleopatra, Darling.«

Nonesuch blieb abrupt stehen. »Cleopatra? Wirklich? In zwei Stunden treten wir auf, und ich habe die Rolle seit dem Frühjahr nicht mehr gespielt. Da wäre ein bisschen Vorwarnung hilfreich gewesen.«

»Gib die Schuld nicht dem Überbringer der Nachricht. Die anderen lernen jetzt gerade ihren Text.«

Nonesuch schnappte sich einen der anderen Jungen und lud den Sack und den Eimer bei ihm ab. Sie gingen über die Bühne, und hinten öffnete Nonesuch eine schulterhohe Tür, durch die er Shay nach draußen schob. Sie hatten eine winzige Garderobe erreicht, höher als breit und im satten Braun von Bierresten gebeizt. Hier war es noch dunkler als im Zuschauerraum. In einer Ecke saßen zwei Jungen einander gegenüber und hörten sich Texte ab. Nonesuch zündete zu beiden Seiten eines silbern hinterlegten Spiegels Kerzen in den Wandleuchtern an und murmelte vor sich hin: »Cleopatra. Ich wette, das Kostüm stinkt wie die Pest. Und erst die Schminke! Du bleibst doch, oder?«

Die letzte Bemerkung war an Shay gerichtet, und sie stellte fest, dass sie nickte, ohne recht zu wissen, warum. Sie setzte sich neben einen zweiten Spiegel und beobachtete, wie Nonesuch sich bereit machte. Mit zwei Fingern schöpfte er eine dicke pflaumenfarbene Paste aus einem Tiegel und verschmierte sie über sein Gesicht. Nun folgten weitere: ein strahlendes Rot für Mund und Augen, das er so schlampig auftrug, dass seine Gesichtszüge entgleist zu sein schienen, und ein kränkliches Gelb für die Wangenknochen und Brauen. Währenddessen rezitierte er Text, allerdings so leise, dass Shay seine Lippen lesen musste, um die Wörter zu verstehen.

»Nie werden diese Augen mehr geschlossen, bis das Schwert des Zaubrers Herz durchstoßen.« Im Kerzenschein spannte sich Nonesuchs Gesicht an. Selbst vor dem Schminken waren seine Züge eine Augenweide: elegant geschwungen die Brauen und der Amorbogen, scharf gezeichnet die Wangenknochen und die Nase. Seine Haut hatte das cremige Weiß frischer Champignons, es war die Haut eines Gentleman. Shay wusste, dass einige der Blackfriars Boys die Söhne von Adeligen waren, die man dazu gepresst, bestochen oder schlicht entführt hatte. In gewissen wohlhabenden Straßen erregte der Anblick der mit schwarzen Federn geschmückten Pferde des Theaterbesitzers den gleichen Schrecken wie Gerichtsvollzieher an dem Ort, wo Shay aufgewachsen war. Nonesuch sprach gewählt, er zog sich noch gewählter an, und seine Hände sahen aus, als wäre ihnen harte Arbeit fremd. Doch Shay konnte ihn sich nicht als Sohn eines Gentleman vorstellen. Es war um ihn eine Bereitschaft zur Gefahr, die sie bei jemandem von wohlhabendem Stand noch nie gesehen hatte.

Weil der Raum so klein war und zudem überall Spiegel hingen, konnte Shay nicht umhin, auf den unbekleideten Nonesuch zu schauen. Ihre Gegenwart schien ihn ohnehin nicht zu stören. Sein Körper wirkte straff: weiße Haut und Muskeln wie Baumwurzeln. Schmal. Flacher Bauch. Er kleidete sich in Schwarz und Gold: schwarze Strümpfe, ein schwarzes Gewand und goldene Spangen an den Schläfen, Handgelenken und Fesseln. Im Spiegelbild verschwand sein Körper im Dämmerschein, während sein Gesicht leuchtete. Er hatte eine neue Geschmeidigkeit bekommen. Die Jungen in der Ecke fielen auf die Knie und beteten, hatten einander die Hände auf die Schultern gelegt. Nonesuch zog einem der Jungen mit der Spitze seines Schwertes die Kappe vom Kopf und senkte sie wortlos auf Shays Kopf. Jemand brachte schweigend Blumen, die von allen ignoriert wurden. Shay sah im Spiegel, wie ein Mohr eine Trompete polierte, sie hierhin und dorthin wendete, so dass sich das Licht darin spiegelte. Nonesuch verneigte sich still vor ihm. Der Mohr war, wie Shay mit prickelndem Vergnügen feststellte, der einzige Erwachsene hinter der Bühne. Als sich die Bühnentür wieder öffnete, spülte ein Schwall von Lärm einen der schwertkämpfenden Jungen von vorhin herein. Er sagte: »Nonesuch, es ist beinahe Zeit. Ich glaube, wir sind wieder ausverkauft. Westland und Rodrigo kommen gleich hinter die Bühne, um euch zu begrüßen.«

Nonesuch warf einen langen Blick auf sein Ebenbild im Spiegel und seufzte. »Diese verdammten Aasgeier. Warum können die nicht bis hinterher warten wie all die anderen Blutsauger?«

»Beschwer dich nicht, sie haben reiche Freunde mitgebracht. Jedenfalls: scharfe Augen, stumpfe Messer.«

Nonesuch wiederholte den Ausdruck und sagte: »Warte! Trussell, das hier ist mein Freund Shay. Von wo kann er zuschauen?«

Shay hatte nicht darum gebeten, zur Vorstellung bleiben zu dürfen. Trussell musterte sie mit dem fragenden Blick, mit dem alle sie Hunderte Male am Tag anschauten. Mit dem Blick, der die Frage stellte: »Wo kommst du her? Und wo darfst du hingehen?« Der Junge war schmal und knochig und hatte fischige Augen und störrisches Haar. »Alle guten Plätze sind leider vergeben, sogar die auf der Bühne. Es kann sein, dass du von hier aus zuhören musst.« Er war schon fast wieder weg, als er noch sagte: »Lesen kannst du wahrscheinlich nicht?«

Nun rang Shays Stolz mit dem Wunsch, unerkannt zu bleiben. »Doch, ich kann lesen.«

Sein Interesse war geweckt. »Du kannst richtig lesen? Du könntest das hier lesen?« Er reichte ihr einen Packen lose gebundener Blätter. Shay blättert sie durch. Mit Tinte handgeschriebene Zeilen und Regieanweisungen, überall Anmerkungen mit Bleistift. Sie zog willkürlich eine Seite heraus. »Die Sterne laufen fort auf exaltierten Kreisen und zerren unser Schicksal wie von trunk’nen Pferdekarren.«

Trussell lachte. »Nun, das klingt jedenfalls genau wie der Mist, den ich hier jeden Abend zu hören bekomme. Meine Damen und Herren, mir scheint, wir haben ab jetzt einen Souffleur, genau wie ein richtiges Theater.«

Eine Glocke erklang, und Trussell drängte Shay eilends die Stufen hinunter und zwischen den Vorhängen hindurch, ehe sie noch Zeit gehabt hätte, Nein zu sagen. Als sie über die Bühne schritt, hatte sie bereits das Gefühl, ungeheuer aufzufallen. Vor ihnen glitzerte der Raum, und es lag ein unverkennbarer Hauch von Reichtum in der Luft: glitzernde Ringe und aufleuchtende kostbare Spitze. Die Zuschauer schienen von innen heraus zu leuchten. Eine Dame saß von zwei Dienern flankiert da, von denen einer Walnüsse für sie knackte. Eine weiß geschminkte Hure schimmerte einfach überall: Perlen im Haar, Perlen an den Ohren. Shay versuchte, den Anblick von Federn an den Hüten zu verdrängen, aber sie waren allgegenwärtig. Es war alles viel zu viel, als sei man betrunken. Sie konzentrierte sich beim Gehen auf ihre Füße, und ihr Schatten huschte über die Bühne. Im Theaterrund mussten wohl tausend Kerzen brennen, und jede einzelne spiegelte sich noch im Glanz von Gold und Leder und Diamanten und Spiegeln. Selbst entlang der Decke waren Kerzen in komplizierten Mustern an Drähten befestigt. Shay erkannte einen Teil der Formen: den Großen Wagen, den Gürtel des Orion.

Vorn an der Bühne war in der Mitte ein langer offener Kasten, aus dem ein Gesicht hochschaute. Trussell wies Shay an: »Da runter mit dir«, und sie schob ihre Beine durch die Öffnung. Hände packten sie von unten und drehten sie herum. Dort in der Tiefe fiel helles Licht auf eine niedrige Bank, Regale mit Requisiten und Bühneneffekten und eine blasse junge Frau mit einem langen Gesicht. Sie trug einen schwarzen, hochgeschlossenen Ganzkörperanzug und erschien Shay wie eine Gemme in einem Medaillon. »Was bist du denn für einer? Doch nicht etwa ein Souffleur?«

Shay versuchte, es sich bequem zu machen. »Ja, nun, sieht ganz so aus. Ich bin Shay. Sie haben mich rangekriegt. Aber ich hab das noch nie gemacht.«

»Na klar. Typisch. Egal, besser als gar nichts.« Ihr Stirnrunzeln ließ vermuten, dass sie das nicht ganz ernst meinte. »Ich hab jetzt zwei Wochen lang beide Posten gehabt. Ich bin Alouette: Licht und Requisite. Tut mir leid, dass ich keine Zeit habe, dir zu zeigen, wie’s geht, aber es ist eigentlich ziemlich einfach. Du liest im Textbuch mit, was sie sagen. Wenn die da oben ihren Text vergessen haben, sollen sie ›Text‹ flüstern, doch meistens glotzen sie dich einfach nur wie Mondkälber an. Wenn sie ein, zwei Seiten überspringen, mach dir nichts draus, aber sag’s ihnen hinterher.« Sie deutete mit ihrer Laterne. »Trussell musst du immer im Auge behalten, das ist der Junge, der dich hergebracht hat. Er spielt den Julius, und ich habe mit Lord Nonesuch gewettet, dass er dieses Jahr keinen einzigen Akt durchsteht, ohne einen Fehler zu machen. Leicht verdientes Geld.«

»Und was ist mit Nonesuch?«

Alouette schniefte begeistert. »Der? Weicht garantiert vom Textbuch ab, ich glaube, aus Prinzip. Aber das bedeutet nicht, dass man ihm soufflieren muss. Dieser Junge hat nicht das Problem, dass ihm die Worte ausgehen.«

Alouette machte es sich bequem. »Wir haben einen Souffleur, und der Vorhang geht nur mit einer Viertelstunde Verspätung auf. Heute muss mein Glückstag sein.« Sie schaute Shay fest an und sagte: »Scharfe Augen, stumpfe Messer.« Shay wiederholte es ein wenig verlegen.

Als die Kerzen gelöscht wurden, verstummten auch die Gespräche. Die Dunkelheit schien auf einmal schwer zu wiegen, als hätte sich der Raum mit Öl gefüllt. Eine Kulissenwand wurde auf die Bühne gefahren, ehe sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ein letzter, köstlicher Augenblick der Stille, ehe Alouette die Lampe vor ihnen anzündete.

Und da war es: der Bug eines Schiffes, der die Wellen durchpflügte. Aquamarinblaue Seide schlug Wellen über die Bretter. Es war gleichzeitig zutiefst unwirklich und völlig betörend. Alouette betätigte einen seitlich liegenden Blasebalg, dessen Düse auf den Bug gerichtet war, und schickte einen schimmernden Wasserstrahl hinauf. Shay hatte das Aroma der Tiefsee in der Nase, kein Land in Sicht. Das Schiff neigte sich den Wellen entgegen, und als es sich wieder erhob, stand Nonesuch an Deck und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Er war Cleopatra. Mit Vogelaugen und einer Pferdemähne. In schwarzer Seide, die das gekräuselte Licht des Meeres einfing, mit Gold an den Fuß- und Handgelenken. Gold, das zu schlicht für Schmuck, aber zu prächtig für Fesseln war. Er drehte sich ein wenig, so dass das Licht sein Gesicht in zwei Hälften teilte. Seine erste Textzeile war laut Shays Textbuch: »Die Wellen wissen um mein Schicksal und um Caesars Schicksal auch.« Doch er starrte nur schweigend ins Dunkel hinaus. Es hatte etwas Träumerisches: das Knarzen des Holzes, der Salzgeruch, der Kerzenschein und das gedämpfte Atmen. Shay zupfte Alouette am Saum. »Sollte ich?« Doch Alouette schüttelte den Kopf.

»Unsere Herzen gleichen Schiffen.«

Er sagte das nicht in der Manier, die sie von anderen Schauspielern gewöhnt war. Vielmehr warf er die Zeile der ersten Reihe des Zuschauerraums hin, so leise, dass sie sich ein wenig näher beugen mussten.

»Unsere Herzen gleichen Schiffen«, wiederholte er, »und ist des Lebens Wetter gut, so bilden wir uns ein, des Herzens Kapitän zu sein. Wir sind es, die den Kurs des Herzens steuern. Wir setzen Segel, auf zu neuen Landen. Wir erkunden.«

Er breitete die Arme weit aus und drehte sich, bis er beinahe völlig in der Dunkelheit verschwunden war. Ein winziges Glitzern leuchtete aus seinen Augen. Alouette blendete die Laterne ab, bis er kaum mehr als eine Stimme und ein goldener Schimmer war.

»Doch das ist Täuschung. Denn wenn echte Stürme aufzieh’n, so packen sie die Schiffe uns’rer Herzen und schleudern sie nach hier, nach da. Wir sind nicht Kapitäne mehr. Stattdessen hängen wir am lieben Leben, umklammern wir den Mast, wenn Winde um uns tosen.«

Er blies die Wangen auf gegen die Gischt. Sein Haar war feucht und wirr.

»Unsere Herzen gleichen Schiffen«, sagte er nun lauter, während Alouette den Blasebalg pumpte. »Und heute ist der Sturm gekommen. Der Sturm hat uns erreicht, und mein Herz, es ist verloren auf der mörderischen See.«

Shay blickte vergebens auf ihr Textbuch; kein einziges Wort dieses Monologs stand dort. Nonesuch richtete sich höher auf, streckte eine Hand aus und blies. Winzige Papierboote, so zart wie Distelwolle, strömten aus seiner Hand, und überall im Theater reckten sich Hände ins Licht hinauf. Dann löschte Alouette das Licht, und gleichzeitig fiel der Vorhang.

»Nun, ich denke mal, das war Szene eins«, sagte sie.

Das Theaterstück verlief mit traumgleicher Ungenauigkeit, und bei jeder Szene stand Nonesuch im Mittelpunkt. Cleopatra kam nach Rom, um für ihr Land zu bitten, spürte die Macht auf. Im einen Augenblick rollte Nonesuch, ohne dass ihn jemand berührt hätte, aus einem Teppich und landete, auf einen Ellbogen gestützt, im nächsten umschmeichelte er Rom wie ein Höfling. Caesars Rolle wurde von einem Bullen von einem Jungen gespielt, der sechs Fuß groß und so breit wie eine Tür war und dem die Toga nach oben rutschte, während sein Lorbeerkranz an den Schläfen abstand. Das machte nichts; denn er war ohnehin nur Hintergrund. Nonesuch bewegte sich in seinen Schatten und wieder heraus, sprach halb für sich und halb für die Zuschauer. Er wechselte zwischen den Geschlechtern hin und her, manchmal innerhalb eines einzigen Satzes. Sein Körper log und bettelte, schmeichelte und zappelte, und Shay stellte fest, dass er sie völlig umgarnt hatte. Wenn seine Worte sich wie Sturzbäche überschlugen, beschleunigte sich ihr Puls im Takt. Wenn er auf die Knie fiel, verkrampften sich auch Shays Eingeweide.

Sie verpasste ihre erste Soufflierstelle. Mitten in einer langen Rede hörte Trussell einfach zu reden auf. Shay hatte gerade vier Herren beobachtet, die am Bühnenrand auf Stühlen saßen, der Handlung so nah, dass sie die Hände hätten ausstrecken und die Schauspieler berühren können. Tatsächlich hatte einer mitten in einem Messerkampf sein Rapier herausgezogen und Trussell seine Mithilfe angeboten, was ihm ein paar halbherzige Lacher aus dem Parkett einbrachte. Zwei der Herren waren in ein Würfelspiel vertieft, und Shay war abgelenkt, bis ihr Alouette den Ellbogen in die Rippen stieß.

Bis sie die Stelle gefunden hatte, war bereits ein anderer Schauspieler eingesprungen und hatte die Rede übernommen. Sie überflog das Textbuch und stellte fest, dass das Ensemble ein ganze Passage ausgelassen hatte. Sie verfluchte sich. Alouettes Miene war im Dunklen nicht auszumachen, aber Shay war sicher, dass sie ein wenig von ihr abgerückt war. Sie hatte jedoch noch andere Gelegenheiten zum Soufflieren. In einem langen Monolog kam ein Soldat einen Augenblick ins Stocken und biss sich auf die Lippen. Sie flüsterte ihm seine Zeile zu, und er nahm ohne Pause den Rest seines Monologs wieder auf. In der nächsten Szene wimmelte es im Text vor Korrekturen, und die Schauspieler vergaloppierten sich dreimal. Jedes Mal stupste Shay sie wieder auf den rechten Weg zurück.

Gegen Ende des Akts ging Nonesuch von der Bühne und mischte sich ins Publikum. Im Vorübergehen ließ er seine Finger über nackte Schultern gleiten. Er flüsterte einem Gentleman etwas ins Ohr, was ihm ein Erröten einbrachte, und er setzte sich Zuschauern auf den Schoß. Er wirkte ungeheuer verletzlich inmitten all der Gewichtigkeit und des Luxus der Gentlemen, und als die Pause kam, merkte Shay, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie war schweißnass.

Rasch schlüpften nun die schwarz gekleideten Jungen des Chors auf die Bühne, und die Musikanten über ihren Köpfen setzten ein. Fidel, Laute und Handtrommel wanden ihre Ornamente umeinander, bis endlich eine lässige Folge von Trompetentönen erschallte und wie auf Zehenspitzen über diese klingende Brücke getrippelt kam. Der Mohr stand hinter der Bühne aufrecht zwischen seinen sitzenden Kollegen und sprudelte verschlungene Wellen aus duftig perlenden Noten hervor.

Shay fragte: »Ist Nonesuch wirklich von adeliger Geburt? Ich kann überhaupt nicht ausmachen, woher er kommen könnte.«

Alouette richtete die Laterne auf sie. Das Licht war blendend hell. Sie schaute finster und entspannte sich dann. »So sagt man. Träge wie ein Gentleman ist er jedenfalls. Und er hat Geschmack an den feineren Dingen. Aber ich habe ihn noch nie über seine Vergangenheit reden hören.« Sie überdachte die Frage erneut. »Man munkelt, dass er aus einer sehr reichen Familie entführt wurde.«

In Ewell gab es einen Nonesuch Palace. Eine Nonesuch Hall. Es war ein Name aus Stein und Glas. »Aber eine vermögende Familie hätte doch sicher die Macht, ihn zurückzuholen. Der Besitzer, dieser Evans, kann nicht unantastbar sein.«

Alouette arbeitete, während sie sprach. »Evans hat bei der Königin Gehör gefunden. Wichtiger noch, er hat das Königliche Privileg. Wer weiß, was da geschehen ist. Vielleicht ist Nonesuchs Familie in Ungnade gefallen, vielleicht war dies eine ersten Warnung. Aber mit Verwandten habe ich Nonesuch nie gesehen, also könnte alles purer Unsinn sein. Frag ihn lieber nicht.«

Shay nickte und spürte dann die Hitze, als Alouette die Laterne auf sie richtete. »Im Ernst, frag ihn nicht. Sie haben so wenig, diese Jungen.« Nun kletterte die Trompete des Mohren eine Tonleiter hinunter, um atemlos in der Stille zu landen, und Alouette ließ die Laterne langsam verlöschen. »Dies hier ist jetzt seine Familie.«

Der zweite Akt begann mit einem langen Monolog von Nonesuch. Nun lag ein Gewicht in seinen Worten, das Shay vorhin nicht bemerkt hatte. Seine Stimme war wie eine Klinge, die jemand wieder in die Scheide zurückgesteckt hat, eine Taube, die zum Taubenschlag zurückkehrte. Und Alouettes Beleuchtung verdoppelte, verdreifachte seine Stimmgewalt noch. Ihre Lampen waren verspiegelt und gerichtet, und ihre Lichtstrahlen trafen immer auf das Gesicht von Nonesuch. Sie konnte die Helligkeit verringern oder strahlender machen, seine Züge flach erscheinen lassen oder ihn in den Schatten verbannen. Sie spielte mit dem Licht wie Nonesuch mit den Worten. Die beiden zwangen der Luft selbst ihren Willen auf. Einmal stand Cleopatra allein auf einem sturmumtosten Berg, und Alouette schob ein rissiges Zinnblech vor eine Lampe, warf irgendeinen gräulichen Brocken dahinter und zündete ihn an, als die Szene ihrem Höhepunkt entgegenstrebte. Ein greller Blitz flammte auf, und im Souffleurkasten wallte eine beißende Rauchwolke auf, doch auf der Bühne war die Wirkung unverwechselbar: Ein Blitz zerriss die Kulisse von der Decke bis zu den Bühnenbrettern und fixierte Cleopatras Qual einen Augenblick lang in gleißend weißem Licht. Alouettes Gesicht war angespannt, bis man einen Chor von staunendem Keuchen vernahm, dem ein so donnernden Applaus folgte, dass Nonesuch seinen Monolog unterbrechen musste. Shay war so in das Spiel hineingezogen worden, dass sie erst, als sie eine Seite umblätterte und sah, dass die nächste Seite leer war, begriff, dass das Theaterstück zu Ende war.

Selbst wenn sie oben auf der Bühne gestanden hätte, glaubte Shay nicht, dass sie erschöpfter hätte sein können. Atemlos saß sie da, während Alouette ihre Sachen aufräumte und das Plaudern der Menge hinter ihnen verebbte. Alouette packte allerlei in eine schlau ausgedachte Holzkiste mit Schubladen, die sich auffächerten und vielerlei Dochte enthielten, manche fingerdick, andere fadenzart. Eine mit Blei ausgekleidete Lade war mit Papierbriefchen vollgepackt, die nach Schießpulver rochen. Die Zinnschablonen, die vor die Lampen gesteckt wurden, passten in eine Reihe von Führungsschlitzen, und Alouette las die Namen vor, während sie sie zurückschob. »Morgendämmerung, Sturm, Abenddämmerung, Schlacht, Hölle.« Sobald die letzte Schablone wieder im Kasten war, wandte sich Alouette zu Shay. »Also? Wie war’s?«

»Ich fand es wunderbar.« Das stimmte. Shay fühlte sich ganz schwer vom Gewicht des Dramas, war noch trunken davon. »Es tut mir so leid, dass ich meine erste Stelle verpasst habe.«

Alouette nickte. »Du musst sie mindestens einmal hängen lassen, sonst machen sie sich überhaupt nicht die Mühe, ihren Text zu lernen.«

Alouette hatte einen Akzent, der Shay nicht bekannt war. Rund, aber hart, wie Steine in einem Fluss. »Wo kommst du her?«

Alouette sagte etwas in einer Sprache, die Shay nicht verstand, und antwortete dann: »Aus Flandern, aus der Nähe von Gent.«

Shay wusste nicht viel über Flandern, nur ein bisschen was über Anna von Kleve und etwas über flämische Sumpfrohrsänger, beides keine gängigen Gesprächsthemen. Sie versuchte es anders. »Was hat dich nach London gebracht?«

»Was bringt alle hierher? Arbeit. Ganz bestimmt nicht das Essen.«

Shay spürte, dass Alouette hin und her gerissen war, ob sie reden und übereifrig erscheinen oder schweigen sollte. Sie wünschte sich, dieses Mädchen würde sie gernhaben, sie wollte wieder hierher eingeladen werden. »Die Laterne und die … Tricks, hast du das alles selbst ausgedacht?«

»Ja, das sind alles meine Tricks. Ich stamme aus einer Familie von Uhrmachern, das liegt mir im Blut. Und das sollte nur der Anfang sein. Wenn Evans auch nur ein bisschen vorausschauend wäre, würde ich dieses Theater in einen Palast der Wunder verwandeln.« Der Zuschauerraum war beinahe leer – hier und da waren noch Gesprächsfetzen zu hören und dahinter irgendwo das Wischen eines Besens.

Shay fragte: »Was für Wunder?«

Alouette zögerte keine Sekunde. »Ein hell loderndes Feuer, das nicht verkohlt, ein Meer, das sich über Meilen erstreckt. Wälder aus Kristall. Atlantis, das aus den Wogen auftaucht.«

Jeder Satz jagte neue Bilder durch Shays Gedanken, und sie ließ allen ihren Raum, während Alouette weiter aufräumte. Sie arbeitete schweigend, aber als sie fertig war, fragte sie: »Möchtest du nach unten in den Schlafsaal gehen und dich verabschieden? Die Jungen sollten sich zumindest bei dir bedanken.«

In dem Raum roch es nach Moschus, Schweiß und billigem Parfüm. Shay setzte sich auf eine Bettkante und staunte, dass man eine solche Vorstellung einfach so ablegen konnte. Jungen, die noch Minuten zuvor schmollmündige ägyptische Mägde gewesen waren, rauften nun um Spielzeug und spielten Karten. Jungen machten Jungensachen in Jungenmanier: grob und sorglos. Alles war hier zu klein für sie, sie waren wie Pflanzen, die aus ihren Töpfen herauswuchsen. Die meisten lagen auf schmuddeligen Betten, unter denen sich Staub angesammelt hatte, und ein Junge las theatralisch laut vor. Bei einigen Worten kam er ins Stolpern, und jemand warf eine zusammengeknüllte Strumpfhose nach ihm. In den Ecken hatte sich aller mögliche Trödel angesammelt: eine Trommel mit geplatztem Fell, Berge von Kleidungsstücken, ein Holzschwert. Am anderen Ende führte eine Leiter zu einem mit einem Vorhang abgetrennten Hochbett. Alouette rief hinauf: »Nonesuch, kommst du mal von deinem Kreuz heruntergestiegen?« Eine Hand schlüpfte zwischen den Vorhangbahnen heraus und zeigte zwei Finger. Alouette war ungerührt. »Dann komme ich mit meinem Lappen und dem Essig hoch.«

Nonesuch steckte den Kopf heraus, und gleichzeitig wallte eine Rauchwolke heraus. Er erhob eine Hand. Warte.

Nonesuch schlängelte sich auf die Leiter hinaus. Er trug noch das Kostüm aus der Vorstellung, sein Haar war dunkel vom Puder. Den größten Teil der Schminke hatte er sich bereits abgewischt, doch ein paar violette und rote Krusten klebten noch im Gesicht: hinter dem Ohr, an den Augenbrauen, in der Falte zwischen Nasenflügeln und Wangen. »Wie war ich?«

Alouette lachte. »Ich hab schon Besseres gesehen. Bei der Meeresszene musst du weiter nach vorn kommen. Sonst wirkt der Regen zu mächtig.«

Nonesuch tat die Kritik mit einer Handbewegung ab und richtete ein fragendes Lächeln an Shay.

»Es war … zauberhaft.« Sie war noch wie vom Schlag getroffen.

»Danke. Du warst auch ziemlich gut. Könnten wir dich dazu überreden, uns noch einmal zu besuchen? Vielleicht sogar morgen? Ich glaube, ich kann Evans als Bezahlung für dich einen Tuppence pro Vorstellung aus den Rippen leiern.«

Ein Tuppence. Das war mehr, als sie für einen ganzen Nachmittag Botengänge bekam. Sie gab vor, darüber nachzudenken, obwohl sie auch ohne Bezahlung zurückgekommen wäre.

Nonesuch trat gegen ein Tischbein. »Jedenfalls ist hier der Bursche, der dir danken sollte, weil du ihm schließlich den Arsch gerettet hast.«