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Ein Dorf in Nordschweden. Vorurteile über Waldarbeiter Egon Emanuel Eriksson machen die Runde. Klar, dass das 'so einer' ist. Mit dem stimmt doch was nicht! Eines Tages brennt das Haus von Eriksson ab, er selbst wird eine Meter von seinem Haus tot aufgefunden. Doch was ist passiert? War es ein Unfall oder gar Mord? Ein Journalist versucht die Hintergründe des Falls aufzuklären und beginnt zu ermitteln. Aus den Erzählungen der Dorfbewohner formt sich allmählich ein Bild von den Ereignissen. Immer tiefer taucht er in die Geschichte von Egon Emanuel Eriksson ein – eine Geschichte, die eng mit der Geschichte des Dorfes verbunden ist.
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Roman
Verlag Volk und Welt Berlin
Saga
Wer ihn zuerst den Scheuen genannt hat, weiß ich nicht. Doch wenn von ihm die Rede war, wurde eigentlich nie ein anderer Name benutzt. Ich kann mir gut vorstellen, daß viele im Dorf nicht auf Anhieb gewußt hätten, daß er Egon hieß, Egon Emanuel Eriksson.
In der Zeit, die ihr hier oben auf Urlaub seid, wirst du viel über ihn hören. Nur schade, daß du nicht ein paar Wochen früher gekommen bist. Du hättest bei der ganzen Geschichte dabeisein sollen, das wäre bestimmt nützlich für dich gewesen. Du hättest dann so manches über das Leben erfahren können, auch daß nicht immer alles so einfach ist wie in der Sonntagsschule.
Sieh verdammt noch mal zu, daß du im nächsten Jahr zur Elchjagd herkommst. Bestimmt nimmt dich der Henning ohne weiteres im Auto mit. Der wohnt schließlich auch in Stockholm und verzichtet trotzdem nicht auf die Elchjagd. Es dürfte auch nicht weiter schwierig sein, einen Platz in der großen Jagdgruppe zu bekommen. Darum werde ich mich kümmern. Übrigens haben schon einige ihre Schwiegersöhne aufgenommen. Hier oben gibt es ja immer weniger junge Leute, und da können wir es mit den Regeln nicht mehr so genau nehmen.
Das war eine in vieler Hinsicht merkwürdige Geschichte. Wäre ich an dem Abend nicht selbst dabeigewesen, ich hätte es einfach nicht geglaubt. Oder findest du es etwa nicht seltsam, daß einer, den man so viele Jahre gekannt hat und mit dem man sein Leben lang so gut wie Haus an Haus gewohnt hat, plötzlich völlig verrückt wird und solche Dinge tut? Nach dieser Geschichte kann ich mir lebhaft vorstellen, wie dem zumute sein muß, dessen Bruder oder Sohn sich eines Tages als Mörder entpuppt. Zuweilen liest man ja solche Dinge in der Zeitung. Da wird einer von der Polizei gefaßt, einige Zeit später gibt er eine Menge entsetzlicher Gewalttaten zu, und keiner hat auch nur die geringste Ahnung davon gehabt.
Ist es nicht traurig, daß so etwas Vorkommen kann? Ich meine, daß da einer einfach so herumlaufen und sein wahres Ich verbergen kann? Lebt da unter ganz normalen, ehrlichen Menschen und läßt es sich nicht anmerken, daß er ein Mörder, ein Lustmolch oder sonst irgend so ein Bandit ist. Es ist doch zum Kotzen, daß so etwas möglich ist.
Wenn Mörder frei herumlaufen können, ohne entdeckt zu werden, kann ja jeder x-beliebige ein Mörder sein, das steht doch keinem im Gesicht geschrieben. Es wäre also möglich, daß ich, genauso wie ich abends in den Holzfällerhütten neben dem Scheuen gesessen habe, irgendwo mit irgendeinem Totschläger zusammen gewesen bin, der von Rechts wegen nach Långholmen gehört.
Das finde ich absurd und ungerecht. Was hat es dann noch für einen Sinn, ehrlich, ordentlich und anständig zu sein, wenn solche Schurken frei herumlaufen dürfen?
Im Fall des Scheuen meine ich jedoch, daß wir, wenn wir ganz ehrlich sind, einen Teil der Schuld für das Geschehene auf uns nehmen müssen. Jetzt, hinterher, ist es ja so einfach, sich an all die Einzelheiten zu erinnern, die einen eigentlich hätten mißtrauisch machen müssen. Doch damals, ehe das passierte, haben wir kaum darüber nachgedacht. Es lag wohl daran, daß er letzten Endes doch einer von hier war. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, daß er ein so gemeiner Halunke sein sollte. Wir fanden wohl, das lasse sich irgendwie nicht vereinbaren.
Du weißt doch, wo das Vereinshaus liegt? Ja, direkt unterhalb der Schule am See. Da spielte sich der größte Teil ab.
Ich war zwar nicht von Anfang an dabei, doch im großen und ganzen weiß ich darüber Bescheid. Später wurde ja so viel davon geredet, und außerdem kennt man ähnliches ja schon vom Fernsehen her und weiß also, wie es dabei zuzugehen pflegt.
Er muß plötzlich nicht mehr richtig im Kopf gewesen sein, das ist sicher, sonst hätte er sich nie so aufgeführt. Sonderbar war er allerdings schon immer, doch ist er nie gewalttätig geworden, ich meine, bevor das hier passierte.
An dem Abend soll er ja total verrückt gewesen sein. Die ihn aus der Nähe gesehen haben, sagen, sein Blick sei ganz verschleiert und seine Augen blutunterlaufen und trübe gewesen. Einige wollen das schon im Laufe des Tages an ihm bemerkt haben. Die ihn da getroffen hatten, spürten, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte, er war noch sonderbarer als sonst. Sie haben irgendwie geahnt, daß sich da etwas zusammenbraute.
Und daß es wirklich an dem war, zeigte sich ja dann im Laufe des Abends, als er plötzlich überschnappte und mit dem Messer auf mehrere Männer losging. Er soll völlig außer sich gewesen sein. Drinnen hatte er ja die Hosen aufgeknöpft, und als er sich dann davonmachen wollte, müssen sie ihm über die Knie heruntergerutscht sein. Doch solche Kleinigkeiten störten ihn überhaupt nicht, er bewegte sich geschmeidig, gewissermaßen mit federnden Schritten, und es machte ihm absolut nichts aus, sich mit mehreren zugleich herumzuprügeln. Einige der Männer hat er mit kräftigen Schwingern niedergeschlagen, und den Lars-Erik soll er ja mit bloßen Händen fast erwürgt haben.
Wenn man sich das alles vor Augen hält, scheint es einem nicht verwunderlich, daß die Geschichte so und nicht anders endete.
Ich verstehe durchaus, daß du neugierig bist. Du hast wohl schon gehört, was im Dorf so getratscht wird. Die verdammten Weiber haben ja in der letzten Zeit von nichts anderem geredet. In der ersten Woche war es bald nicht mehr auszuhalten, kaum daß man die Wahldebatten im Fernsehen verfolgt hat.
Eigentlich gibt es nur wenig dazu zu sagen. Daß die Geschichte ein schlimmes Ende gefunden hat, weißt du ja schon, wir haben euch ja die Zeitungsausschnitte runtergeschickt, und außerdem hat ja die Ingrid ein paarmal zu Hause angerufen und Mutter ausgehorcht. Doch wenn das Fest auch ein wenig unglücklich ausgegangen ist, zu Anfang jedenfalls war es eine außerordentlich gelungene Sache, darin sind sich wohl alle einig. Soweit ich zurückdenken kann, hat es hier im Dorf solche Feste gegeben. Wenn die Elchjagd vorbei ist, haben wir vom Herbst nicht mehr viel zu erwarten, ja, eigentlich ist er damit zu Ende. Deshalb halten wir es für angebracht, ihn mit einem ordentlichen Vergnügen im Vereinshaus zu beschließen – einer Art Herbstfest –, bevor die Winterhölle hier wieder losgeht. Ich nehme an, daß auch ein wenig Rücksicht auf die Frauen dabei mitspielt, sozusagen eine kleine Entschädigung dafür, daß sie die Arbeit allein bewältigen müssen, während wir Männer uns im Wald amüsieren. Für die meisten hier oben war ja die Jagd schon immer der einzige Urlaub, die einzige Chance, für ein paar Tage von den Weibern und dem Stallausmisten loszukommen.
Wie dem auch sei, an dem Freitagabend jedenfalls feierte fast das ganze Dorf. Wir schlugen uns den Bauch mit Elchfleisch voll, stolzierten ein wenig im Saal umher und waren überhaupt in sehr guter Stimmung. Wir bemühen uns ja immer, einen Harmonikaspieler für diese Feste zu bekommen, und wenn uns das einmal nicht gelungen ist, haben wir uns auch zu helfen gewußt. Sixten und Kuno besitzen ja eine Ziehharmonika, und wenn sie erst einmal mit dem „Avestafors“ loslegen, klingt es ganz manierlich. Doch dieses Mal blieb ihnen das erspart. Wir hatten den Alvar Blomgren aus Holmträsk engagieren können, einen der besten Spielleute unserer Gegend, sogar unten in Stockholm soll er schon gewesen und mit den Östarna in Skansen aufgetreten sein.
Man sollte aber vielleicht doch erwähnen, daß es gegen Ende etwas zu feucht und zu laut geworden war. Weitaus mehr als sonst hatten sich eine Flasche von zu Hause mitgebracht, und außerdem war zu Beginn des Festes so ein komischer Feine-Leute-Schnaps aufgetischt worden. Die Frau des Volksschullehrers hatte irgendeinen Cocktail zusammengemixt und ihn uns gleich beim Eintreten kredenzt. Ich kann nicht behaupten, daß er besonders gut schmeckte, und ich hatte mächtig zu tun, daß ich die verflixte Beere heimlich ausspucken konnte; und trotzdem – es war irgendwie feierlich mit diesen feinen Gläsern, beinahe wie im Fernsehen.
Und aufregend wurde es dann ja auch noch, als der Egon ein wenig später ganz unverhofft auftauchte und sich alles vermasselte. Uns übrigens auch.
Er hatte wirklich so seine Schrullen, die ihn von allen Normalen hier im Dorf unterschieden. Wir begriffen wohl nicht richtig, was es mit seinen abendlichen Spaziergängen auf sich hatte, doch jetzt wissen wir ja, weshalb er sie unternahm, und da versteht man auch besser, warum er sich zuweilen nächtelang draußen herumtrieb.
Du mußt wissen, daß ihn viele nach solchen langen Streifzügen frühmorgens nach Hause kommen sahen. Dann vermied er es stets, den Hauptweg entlangzugehen. Aus Furcht, jemand könne ihn sehen, schlich er über die Äcker heimwärts. Sein schlechtes Gewissen war sogar seinem Gang anzumerken, schließlich schleicht kein normaler Mensch auf diese Art und Weise heimlich nach Hause.
Dann und wann, im Laden und beim Nähkränzchen, sprachen wir über ihn, die meisten achteten jedoch sorgfältig darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen. Wir spürten ja alle das Ungesunde an ihm. Es lief einem richtig kalt über den Rücken, wenn er einen ansah, er glotzte so, als hätte er noch nie eine Frau gesehen, und Augen hatte er, daß man ihm sonstwas Zutrauen konnte.
Wie alle anderen Hilmers glaubte er, etwas Besseres zu sein, und hielt sich für zu gut, mit uns zu verkehren. Doch Hochmut kommt vor dem Fall, den Beweis dafür haben wir ja erlebt. Und zwar sehr deutlich.
Ich möchte ungern mehr sagen, als ich verantworten kann, doch du sollst wissen, daß ich das hier schon lange geahnt habe. Solange mein Alter noch lebte, pflegte ich zu ihm zu sagen: „Warte nur ab, eines Tages wird er uns noch allesamt ins Unglück stürzen. Man sieht es ihm doch an, daß er etwas Gräßliches plant.“ Doch der Herrman wollte mir nie glauben, er arbeitete ja schon eine Ewigkeit mit dem Scheuen im Wald, und deshalb versuchte er immer wieder, ihn zu verteidigen und ihn besser zu machen, als er in Wirklichkeit war. Er lachte mich einfach aus, wenn ich ihn vor dem Scheuen warnen und ihn von der Wahrheit überzeugen wollte. Wenn er jetzt noch lebte, hätte er gesehen, daß ich die ganze Zeit über recht gehabt habe.
Du sollst wissen, daß ich oft nächtelang nicht einschlafen konnte, weil mich der Scheue in schrecklichen Wachträumen verfolgte. Sein Häuschen stand ja nur einen Katzensprung von hier entfernt. Quer übers Feld sind es wohl nicht mal zweihundert Meter, und abends konnte ich ihn vom Kammerfenster aus beobachten. Wenn alle normalen Menschen längst schlafen gegangen waren und das ganze Dorf im Dunkeln lag, brannte in seiner Küche noch Licht.
Er hatte nicht einmal Jalousien vor den Fenstern, so daß ich ihn sehen konnte, wenn er da drinnen unablässig herumschlurrte. Irgendwann stürzte er dann plötzlich auf die Treppe hinaus, wo er eine Ewigkeit stehenblieb und in das Dunkel starrte, als warte er auf jemanden.
Oft ließ er das Licht die ganze Nacht hindurch brennen, und wer das macht, mit dem kann ja nicht alles in Ordnung sein. Außerdem tat er ständig so geheimnisvoll – man konnte sich also an fünf Fingern abzählen, daß er sich mit irgendwelchen dunklen Geschichten abgab, die kein Tageslicht vertrugen.
Nein, ich will nicht schlecht von ihm reden, doch deshalb braucht man ja nicht zu verschweigen, daß er etwas Sonderbares und Krankhaftes an sich hatte. Daher war ich über das, was dann kam, auch gar nicht verwundert. Ich hatte schon lange begriffen, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte, schon als Kind war ihm das anzumerken, und du sollst wissen, daß ich aus Angst vor ihm es oft kaum wagte, mich hinzulegen. Wenn ich zuweilen spätnachts noch aufsaß und mir an der Ofentür die Füße wärmte, hatte ich den Feuerhaken in Reichweite neben mir, damit ich mich verteidigen konnte, falls er ins Haus eindringen und mich belästigen sollte. Er war ja wie toll hinter alleinstehenden Frauen her.
Wohnt man mit so einem Haus an Haus, muß man wahrhaftig auf alles gefaßt sein. Deshalb ist es fast schön, daß nun alles vorüber ist. Natürlich tut mir die Sigrid leid, doch für sie ist es wohl auch das beste, daß sie diese Unsicherheit endlich los ist.
Stell dir einmal selbst vor, wie schrecklich es sein muß, Tag für Tag – fast dreißig Jahre lang – ständig in Angst leben zu müssen.
Es war so schön vorher, so gemütlich und stimmungsvoll. Wir hatten die langen Tafeln mit Geflecht aus Preiselbeerkraut geschmückt und Herbstlaub in die Vasen gestellt, und sogar die Bühne hatten wir ein wenig mit Elchgeweihen und Birkenreisern ausstaffiert. Die Lampen hatten wir mit Kreppapier verkleidet, so daß im Saal gleichsam Dämmerlicht herrschte, und auch beim Decken der Tische war wirklich viel Mühe aufgewendet worden. Wir wissen zwar, daß die Männer so etwas nicht bemerken, vor allem nicht an so einem Abend, wo es ziemlich hoch hergeht, doch wir haben trotzdem unser Bestes getan. Frau Wellander und ich haben fast den ganzen Nachmittag im Vereinshaus zugebracht und alles vorbereitet. Übrigens servierte sie gleich zu Beginn einen Dry Martini.
Alles war so gemütlich. Anfangs, als die Kinder noch mitfeiern durften, waren mindestens 60 bis 70 Personen im Saal. Es fehlten bis auf wenige Ausnahmen nur die Allerältesten, unter anderem die Sigrid, die ja schon so schwach ist, daß sie nur noch selten aus dem Haus geht. Und dann natürlich die Elna von der Post, aber die ist ja gelähmt und kann außerdem schlecht von der Zentrale weg.
Vor dem Essen trug Hulda Sandberg ein Gedicht von einer Elchjagd vor, das sie ganz allein verfaßt hatte, und dann spielten ein paar Schulkinder ein Stück, das der Volksschullehrer mit ihnen eingeübt hatte. Es war eine Art Jagdgeschichte über ein paar Wilddiebe und einen dummen Gemeindepolizisten. Wir haben vielleicht gelacht! Die Kinder sahen so herrlich aus mit ihren buntbemalten Gesichtern. Das mit dem Theater hat der Wellander fein raus, aber er soll sich ja auch viel damit beschäftigt haben, als er noch unten in der Gemeinde Lehrer war.
Ja, und dann aßen wir natürlich, und die Kinder durften an einem Extratisch sitzen, ehe wir sie so gegen acht nach Hause fuhren. Was für ein Glück, daß sie nicht länger dageblieben sind, so brauchten zumindest sie diese peinliche Geschichte nicht mit anzusehen.
Ein Cousin von mir, der Alvar Blomgren, machte die Musik. Zuerst spielte er ein paar alte jämtländische Märsche, das ist ja sein Spezialgebiet, und dann tanzten wir. Natürlich dauerte es wie immer seine Zeit, bis die Männer in Gang kamen, nur wenige wagen es ja, die Frauen sofort aufzufordern, doch allmählich tauten sie dann auf und wurden ein wenig kühner.
Selbstverständlich habe ich gemerkt, daß so mancher alle paar Minuten in den Flur ging und sich einen Schluck genehmigte, doch um so etwas kümmert man sich an solch einem Abend ja nicht. Da darf es in jeder Beziehung gern ein wenig mehr sein. Ich selbst habe allerdings nichts getrunken. Oder so gut wie nichts. Für diese starken Sachen bin ich nicht sehr zu haben.
Kurz und gut, es war ein außerordentlich gelungenes Fest, bis dann das mit dem Egon passierte. Ich glaube, daß auch nicht einer es für möglich gehalten hat, daß so etwas hier bei uns geschehen könnte. Das Ganze war wie ein Schock, und du kannst dir wohl vorstellen, daß wir alle ziemlich aufgeregt waren. Solche Dinge liest man sonst ja nur in den Zeitungen, oder man sieht sie im Fernsehen. Da unten in Stockholm passieren sie ja am laufenden Band, doch hier bei uns hat es so etwas zuvor noch nie gegeben.
Ich erinnere mich, daß man uns schon als Kind mit ihm gedroht hat. „Wenn du jetzt nicht ins Bett gehst, kommt der Scheue und holt dich! – Soll ich vielleicht erst den Scheuen rufen?“ So ungefähr pflegten uns die Erwachsenen angst zu machen, und zumindest mir fiel es manchmal recht schwer, ihn vom schwarzen Mann zu unterscheiden. Sie schienen beide gleich mystisch und gefährlich zu sein.
Weshalb der Scheue so gefährlich sein sollte, haben wir nie so richtig begriffen. Keiner sagte jemals genau, was er eigentlich getan hatte. Vielleicht waren wir gerade deshalb der Meinung, daß es etwas Schändliches sein mußte, und so haben wir ihm nachspioniert. Wir haben ihn oben an seiner Hütte beobachtet und sind über die Äcker geschlichen oder in den Gräben entlanggekrochen, wenn er seine Spaziergänge machte. Dabei haben wir dann gesehen, daß er sich wirklich äußerst merkwürdig aufführte, und so dumm waren wir ja nun auch wieder nicht, daß wir daraus nicht unsere Schlußfolgerungen gezogen hätten. Du darfst eins nicht vergessen: Mit seinen trüben, schmutziggrauen Augen und den buschigen Brauen darüber sah er wirklich eigenartig, eben zum Fürchten aus. Und dann hatte er ja auch noch einen Stock. Ich habe ihn zwar nie zu spüren bekommen, doch man hat mir oft erzählt, wozu er ihn benutzte. Das ganze Dorf weiß doch, daß er ein paar Jungen damit verprügelt hat, die vor seinem Kammerfenster eine Teufelsgeige spielten, und ein paar andere, die ihm den Schornstein mit Heubündeln zugestopft hatten.
Und ich erinnere mich noch, daß einige Kinder erzählten, er sei abends immer um ihre Häuser geschlichen und habe mit dem Stock in der Luft herumgefuchtelt, als sei er außer sich vor Wut und drohe mit Prügel. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Doch unwahrscheinlich klingt es nicht, vor allem jetzt nicht, wo man weiß, was für einer er in Wahrheit gewesen ist. Bei solchen Menschen, die plötzlich nicht mehr richtig im Kopf sind, muß man auf alles mögliche gefaßt sein.
Ich finde, es war eigentlich anständig von uns, daß wir ihn so lange frei herumlaufen ließen. Vor allem, wenn man an die Kleinen denkt. Man will ja nicht, daß die eigenen Kinder einem Schurken in die Hände fallen. Deshalb kann einem bei dem Gedanken, daß er all die Jahre einfach so herumtrotten konnte, ganz unheimlich werden.
Man kann sagen, daß wir uns für ihn aufgeopfert haben, er durfte so sein, wie er nun einmal war, obwohl das auf Kosten unserer Sicherheit ging. Wir hätten ihn schon früher fassen können, doch wir ließen ihn in Ruhe, obwohl er eigentlich gar nicht von hier war, sondern aus einer zugezogenen Familie stammt.
Wenn man es genau bedenkt, war es großes Glück, daß die Geschichte nicht noch viel schlimmer ausgegangen ist.
Sicher ist es tragisch, daß alles so endete, vor allem aber, daß es ausgerechnet uns treffen mußte. Ich bin wirklich der erste, wenn es darum geht, das Geschehene zu bedauern. Mir hat er nichts getan, und ich hatte auch sonst kein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Im Gegenteil, ich gehörte zu denen, die ihm immer das Recht zugestanden, so zu sein, wie er sein wollte. Wenn sich einer abseits halten will, muß er es auch dürfen. Man hat seinen freien Willen, und der Mensch soll sich nie zu etwas zwingen lassen, was er selbst nicht will.
Der Egon fand, er sei zu gut für uns. Man kann wohl annehmen, daß er dafür seine guten Gründe hatte. Doch wenn einer sich so entscheidet, dann hat er sich auch alles weitere selbst zuzuschreiben. Wer so von sich eingenommen ist und sich für besser als die anderen hält, der muß sich auch damit abfinden, daß er es im Leben nicht leicht hat. Wenn der Egon also nicht zurechtkam, dann war es seine eigene Schuld, man kann unmöglich uns dafür verantwortlich machen. Wir taten alles für ihn, was in unseren Kräften stand, wir halfen ihm und kümmerten uns um ihn auf jede erdenkliche Weise. Wir tolerierten seine Eigenheiten. Was hätten wir deiner Meinung nach sonst noch tun sollen?
Wir hätten ihn natürlich zwingen können, so zu werden wie alle anderen, doch so etwas tun wir nicht. Es ist ja gerade das Schöne auf dem Dorf, daß man der sein darf, der man nun einmal ist. Der Egon war ein Sonderling, und das durfte er auch bleiben. Meinst du, daß man uns daraus einen Vorwurf machen kann?
Früher war dieses Dorf hier groß und schön, ja, es wurde sogar als recht wohlhabend angesehen. Doch heute hat sich das. Nur noch wenige sind in der Lage, den Hof weiterzuführen. Du hast bestimmt gesehen, daß die Äcker Zuwachsen, daß Gestrüpp auf den ehemaligen Feldern wuchert. Im ganzen Dorf gibt es nur noch sieben, acht Ställe, in denen noch Kühe zu finden sind. Es lohnt sich kaum, daß das Milchauto hier überhaupt hält. Und du hast bestimmt auch bemerkt, daß seit eurem letzten Urlaub im vergangenen Sommer wieder ein paar Höfe mehr leerstehen. Es ist mittlerweile auch eine Frage, wie lange meine Alte und ich noch durchhalten. In Kürze werden wohl auch wir den Kuhstall zumachen und uns mit der Rente bescheiden müssen. Die meisten tun das ja schon. Bald ist das ganze Dorf nur noch ein einziges Altersheim, in dem alle auf den Fünfzehnten warten. Wenn es ganz schlimm kommt, können wir ja immer noch ein Stück Wald an den Sixten Persson abtreten. Der hat in den letzten Jahren ja schon eine Menge aufgekauft, und da er ein verdammt rühriger Kerl ist, hat er auch gleich tüchtig mit dem Abholzen angefangen. Du mußt wissen, daß viele Männer hier im Dorf nur dank seiner Geschäftstüchtigkeit Arbeit gefunden haben.
Der Scheue war übrigens einer von denen, die in den letzten Jahren bei ihm angestellt waren. Er war zwar kein besonders guter Arbeiter, doch der Sixten ließ ihn in seinem eigenen Tempo wirtschaften und gab ihm Arbeit, die er bewältigen konnte, wie Bäume entästen und ähnliches.
Man kann es merkwürdig finden, daß die beiden allem Anschein nach so gut miteinander auskamen, denn schließlich ist Sixten der geborene Gesellschaftsmensch. Bei dem steht der Mund nie still, während der Egon die Klappe ja einfach nicht aufkriegte. Unter uns gesagt: Wahrscheinlich hat der Sixten doch ganz gut an ihm verdient. Ich glaube kaum, daß er ihm einen fürstlichen Lohn hat zukommen lassen. Und doch, meine ich, muß man es ihm hoch anrechnen, daß er dem Egon behilflich war, sich allein durchzuschlagen. Bei Gott, nicht alle großen Leute haben ein Herz in der Brust.
Es ist doch wirklich traurig, daß die Dörfer ein solches Schicksal erleiden müssen, eins nach dem anderen stirbt ja einfach aus. Wie allen Stockholmern fällt es dir sicherlich auch schwer, das richtig zu begreifen, doch du mußt dir merken, daß es mit den Dörfern etwas Besonderes auf sich hat. Da gibt es etwas, was die Leute harmonisch leben läßt. Sicher, es kommt vor, daß wir ein bißchen herumzanken und -streiten, doch wir gehören trotz alledem zusammen, wir wissen, daß wir im selben Boot sitzen, jeder ist mit jedem zweiten verschwägert, wir sind sozusagen alle aus demselben Holz geschnitzt. In einem so kleinen Dorf wie diesem hier kann keiner außerhalb stehen, hier braucht sich niemand einsam zu fühlen. Sicher sieht es mit uneren Finanzen zuweilen ziemlich mies aus, ebenso mit all dem Drum und Dran, das uns die verdammten Sozis jetzt auch noch wegnehmen wollen, doch so mühselig es auch sein mag, das alles wird mehr als genug durch unseren verflixt guten Zusammenhalt aufgewogen.
Daran sollte dieser verdammte Rotzjunge Palme denken, bevor er sich grinsend im Fernsehen produziert.
Eigentlich weiß ich nicht so ganz genau, was dort draußen in der Küche und dann vor dem Vereinshaus passiert ist, du solltest lieber diejenigen fragen, die dabeigewesen sind. Das meiste von dem, was ich erzählen kann, habe ich hinterher erfahren.
Ich erinnere mich aber, daß ich ein bißchen erstaunt aufhorchte, als der Spektakel da draußen losging. Den ganzen Abend über hatte es eigentlich keinerlei Anzeichen dafür gegeben. Im Gegenteil, es herrschte eine ungewöhnlich gute Stimmung, es war richtig gemütlich und schön, so wie nur ein Dorffest sein kann, wo einer den anderen kennt und alle mitfeiern. Jedenfalls kümmerte ich mich nicht weiter um das Geschrei da draußen. Ich saß mit ein paar anderen Frauen, der Hulda übrigens und der Linnea – du weißt ja, unsere alte Dorflehrerin –, in aller Ruhe vorn an der Bühne, und wir plauderten über vergangene Zeiten.
Nach einer ganzen Weile, als wir merkten, daß es doch recht wild zuzugehen schien, standen wir schließlich doch auf, um nachzusehen, was da draußen eigentlich los sei. Erst gingen wir jedoch mal in die Küche, wo sich die Maj-Lis ja aufhalten mußte, weil das Kaffeekochen für den Abend ihre Aufgabe war. Als wir eintraten, stand sie an der Außentür und schrie den Männern etwas zu. „Nein, nein!“ rief sie. „Laßt das sein. Seid vorsichtig!“ Wir merkten sofort, daß sie völlig außer sich war, und ich packte sie am Arm und zog sie zurück in die Küche. Wir versuchten herauszubekommen, was eigentlich passiert war, doch sie heulte und schluchzte so erbärmlich, daß man kaum verstehen konnte, was sie sagte. Und sie schien auch nicht erzählen zu wollen, was ihr zugestoßen war.
Ihr Kleid war irgendwie unordentlich, und sie hatte Kratzer auf den Armen. Es sah aus, als hätte jemand versucht, sie mit Gewalt auf den Rücken zu legen. Als sie dann etwas davon sagte, daß der Scheue sich in der Speisekammer an sie herangeschlichen und sie, wie sie sagte, fürchterlich erschreckt habe, wußten wir sofort, was passiert war. Ich erinnere mich, daß mir vor Empörung ganz heiß wurde und daß ich hinausrannte, um diesem Banditen eine Ohrfeige zu verpassen, einen ordentlichen Denkzettel, damit er es ja nicht wagte, diesen Versuch zu wiederholen. So etwas hatte ich, unter uns gesagt, schon lange erwartet, eigentlich schon seit dem Tag, an dem er ins Dorf zurückkehrte. Ich hatte es von jeher im Gefühl, daß er so einer war.
Als ich nach draußen kam, war der Vorplatz leer. Ich sah mehrere Männer oben im Wald verschwinden und begriff, daß er hatte freikommen können. Aber sie sind ja so viele, sie holen ihn bestimmt ein, dachte ich und war nicht sonderlich beunruhigt. Sie werden ihn erwischen und ihm schon zeigen, was sich gehört, dachte ich und ging ins Haus zurück, um die arme Maj-Lis zu trösten. Sie war natürlich völlig kopflos und zitterte am ganzen Leibe.
Einem Lustmolch in die Hände zu fallen muß ja auch eines der schlimmsten Dinge sein, die einem überhaupt zustoßen können.
Natürlich ist es traurig, daß es so tragisch für ihn ausgehen mußte, gewissermaßen ist diese Sache ja ein Schandfleck für das ganze Dorf. Zugleich kann man aber nicht umhin, diese Lösung als die in jeder Hinsicht beste anzusehen. Nun gibt es hier keinen mehr, vor dem man Angst haben muß, keinen, der nicht völlig normal ist.
Eigentlich war ich nicht ein bißchen überrascht. So etwas hatte ich im Grunde genommen schon lange erwartet. Soweit ich zurückdenken kann, habe ich gespürt, daß etwas Unangenehmes von ihm ausging, gewissermaßen ein gefährlicher Geruch, irgend etwas Bedrohliches, das einen, sobald er in der Nähe war, vorsichtig werden ließ. Es fiel mir jedesmal von neuem schwer, ihn zu bedienen. Übrigens kam er fast immer am Donnerstagabend kurz vor Ladenschluß, und fast immer kaufte er die gleichen Dinge ein. Ein richtiger Gewohnheitsmensch. Ich beschummelte ihn häufig ein bißchen, und schon ehe er da war, legte ich unter dem Ladentisch seine Waren zurecht, damit ich ihn so schnell wie möglich wieder los wurde. Ich weiß, der Halvar meinte, sich so zu betragen sei lächerlich und kindisch, doch mir wurde ganz einfach übel, wenn ich den Scheuen so dicht vor mir hatte. Es war ja auch wirklich kein appetitlicher Anblick, wenn er so unrasiert und schmutzig vor einem stand. Und dann noch dieser Gestank nach altem Bier und Schnaps! Es ist anzunehmen, daß er in der letzten Zeit ziemlich viel getrunken hat.
Man kann auch nicht gerade behaupten, er sei ein guter Kunde gewesen. Er zahlte nie bar, sondern ließ immer anschreiben. Du kannst mir glauben, daß wir im Laufe der Jahre eine Menge Geld zugesetzt haben. Doch wir konnten ihn ja nicht wegschicken, obwohl wir wußten, daß er es mit der Bezahlung nicht so genau nahm. Wo hätte er sonst sein Essen holen sollen? Er konnte schließlich nicht jedesmal, wenn er ein Stück Wurst kaufen wollte, runter in die Gemeinde fahren, bis dorthin sind es ja über achtzig Kilometer, und ein Auto hat er ja nie besessen. Außerdem sind wir auf jeden Kunden angewiesen, der zu uns kommt. In einem Dorf wie diesem, wo einer nach dem anderen wegzieht, lohnt es sich nicht für fünf Öre, einen Laden zu haben. Von den vorbeifahrenden Touristen hat man auch nicht viel zu erwarten. Die haben sich ja das Auto vollgestopft mit Konserven aus den Kaufhallen in Stockholm.
Sei dem, wie es sei, für mich jedenfalls war er ein fürchterlicher Mensch, und ich scheue mich überhaupt nicht, das auch auszusprechen. Ich habe immer vor ihm gewarnt, das kann niemand bestreiten. Die ganze Zeit über habe ich gewußt, was er für einer war, man sah es ihm ja an, und wenn man wie ich stets mit Kunden zu tun hat, wird man allmählich Menschenkenner. War von ihm die Rede, pflegte ich immer zu sagen: „Wartet nur ab, er wird bald etwas Schreckliches tun, das sieht man an seinen Augen. Er ist so einer, bei dem man auf der Hut sein muß.“
Und ich hatte recht. Das hat sich ja zum Schluß erwiesen. Wie es ausgegangen ist, haben wir ja gesehen, und etwas anderes war von einem mit so krankhaften Anlagen auch nicht zu erwarten. Man weiß doch, wie sich solche Kerle aufführen.
Soweit ich weiß, ist er nie besonders aufgefallen, bis auf dieses letzte Unglück natürlich. Er machte einen netten und bescheidenen Eindruck und tat keinem Menschen etwas zuleide. Aber er hatte natürlich so seine Einfälle, er war wohl, wie man so sagt, etwas eigen. Ich denke da beispielsweise an seine Art zu gehen, steifbeinig wie eine alte Mähre. Es war, als ziere er sich ständig, als versuche er dauernd, anders und bedeutender auszusehen, als er war. Man kann wohl behaupten, daß er ein recht überhebliches Getue an sich hatte.
Jeden Abend pflegte er durch das Dorf zu spazieren, und jedesmal nahm er den gleichen Weg. Punkt halb acht ging er von zu Hause los, und der ganze Spaziergang dauerte genau vierzig Minuten. Ich weiß es bestimmt, denn ich habe mehrere Male auf die Uhr gesehen.
Eigentlich ging er nicht spazieren, er marschierte vielmehr, als sei er früher einmal Offizier gewesen. Mit seinem Stock, den er immer bei sich hatte, markierte er die Kehrtwendungen. Er führte ihn vorwärts aufwärts bis genau über den Kopf, und dann drehte er sich auf dem Absatz herum.
Ich kann mir nicht erklären, wo er diese Geste herhatte, denn soviel ich weiß, war er nie bei den Soldaten. Und bei der Heimwehr hat er auch nicht mitgemacht, ja, er schnaubte nur verächtlich, wenn die Rede darauf kam. Aber vielleicht glaubte er, es sehe flott aus. Denn flott und etwas Besonderes wollte er ja immer sein.
Darin glich er unbedingt seinem Vater.
Es klingt scheußlich, wenn ich das so sage, doch ich glaube wirklich, daß im Grunde der Hilmer an allem schuld war. Hätte er nicht so entsetzlich mit seinem Jüngsten angegeben, wäre wohl alles ganz anders gekommen. Er aber konnte ja nicht genug damit prahlen, wie gut, wie begabt, wie unvorstellbar tüchtig und was für ein unerhört kluger Kopf der Egon sei. Ganz bestimmt war dieses Gerede die Ursache für alles, was dann kam.
Übrigens sind die Hilmers schon immer eine Sorte für sich gewesen. Eigentlich stammen sie ja auch nicht von hier, sondern von irgendwo unten an der Küste. Sie sind damals mit den Siedlern hergekommen, die sich im Wald rundum niederließen und wie die Tiere schufteten. Dem Hilmer hatte man oben am Holmträsk ein Stück unbebautes Land zugewiesen, doch er gab es nach einigen Jahren auf und übernahm einen Hof hier im Dorf, übrigens den meines Cousins, der nach Amerika gegangen war.
Es war mehr als deutlich zu merken, daß der Hilmer und die Sigrid nicht von hier waren, sie wollten immer was Besseres sein als wir, und viele von uns waren wohl der Ansicht, sie seien ganz schön größenwahnsinnig. Trotzdem verhielten sich die Leute hier nur in der ersten Zeit ein wenig abweisend zu ihnen. Dann waren alle froh, daß man sie hier hatte. Der Hilmer konnte schuften wie ein Pferd und war auch nie ungefällig, wenn man ihn um einen Handgriff bat. Es ging ihnen wohl genauso schlecht wie allen anderen hier in diesen Jahren, viele Kinder und wenig Platz in der Hütte. Und die Sigrid war ja schon damals kränklich und hatte wohl auch noch eine Menge Fehlgeburten.
Wir wußten alle, daß sie es nicht gerade üppig hatten, und waren deshalb wirklich überrascht, als der Hilmer anfing, sich lang und breit darüber auszulassen, daß der Egon studieren solle. Zuerst glaubten wir wohl, das Ganze sei eine der typischen Angebereien des Hilmer. Wie alle aus dem Süden schnitt er ja gern auf, doch richtig los ging es erst, als es dann endgültig beschlossen war. Da lief er nämlich im ganzen Dorf herum und erzählte, daß die Lehrerin und der Pfarrer gesagt hätten, es wäre schade, wenn eine solche Begabung nicht studieren könne, wenn der Junge nicht die Chance hätte, seine bemerkenswerten Fähigkeiten zu nutzen. Wir waren – glaub ich – alle ziemlich beeindruckt. Es war ja noch nie vorgekommen, daß einer von hier ein studierter Herr werden sollte. Selbst die Lehrerin, die wir damals hatten, übrigens die Linnea, du kennst sie ja sicher, hatte nur die übliche Volksschule besucht und dann ein paar Fernkurse gemacht.