Das weite Herz des Landes - Richard Wagamese - E-Book
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Das weite Herz des Landes E-Book

Richard Wagamese

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Beschreibung

Als der sechzehnjährige Franklin Starlight herbeigerufen wird, um seinen Vater Eldon, den er kaum kennt, zu besuchen, trifft er auf einen vom Alkohol gezeichneten, dem Tode geweihten Mann. Die beiden machen sich auf den Weg durch das raue Herzland British Columbias und auf die Suche nach einer letzten Ruhestätte, wo Eldon nach Art der indianischen Krieger beerdigt werden will.

Auf der Reise erzählt der Vater dem Sohn seine Lebensgeschichte, die Momente der Verzweiflung genauso wie die Tage der Hoffnung und des Glücks - und so entdeckt Franklin eine Welt, die er nicht kannte, eine Geschichte, die ihm fremd war, und ein Erbe, das er hüten kann.

Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky, Professorin für Amerikanistik an der Universität Augsburg.

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Seitenzahl: 384

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Das Buch:

Frank Starlight wächst bei einem Ziehvater auf einer Farm in British Columbias auf. Seine Mutter kennt er nicht, seinen leiblichen Vater Eldon hat er nur einige wenige Male gesehen. Als Eldon, der in einer nahen Fabrikstadt lebt, ihn zu sich ruft, trifft Frank auf einen vom Alkohol gezeichneten, dem Tod geweihten Mann. Eldon bittet seinen Sohn, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen: Er will auf einem fernen Bergkamm nach der Art seiner Vorfahren, der indianischen Krieger, bestattet werden und Frank soll ihn dorthin bringen.

Zu Fuß und zu Pferd machen sich die beiden auf eine abenteuerliche Reise, die für Eldon zum letzten Gang und für Frank zum Initiationsritus wird. Die Wildnis stellt ihn vor ungeahnte Aufgaben, und sein Vater führt ihn zurück an den Ursprung der gemeinsamen Familiengeschichte. Frank entdeckt eine Welt, die er nicht kannte, einen Mann, der ihm fremd war, und ein Erbe, das er hüten kann.

»Das weite Herz des Landes« ist eine berührende Vater-Sohn-Geschichte von einem der großen Autoren der kanadischen Literatur – ein Roman über Verlust und Trauer, Einsicht und Mitgefühl und über die heilende Kraft der Natur und des Geschichtenerzählens.

Der Autor:

Richard Wagamese, geboren 1955 im Nordwesten Ontarios, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern und indigenen Stimmen Kanadas. Er veröffentlichte fünfzehn Bücher, für die er vielfach ausgezeichnet wurde. Die Verfilmung seines Romans »Der gefrorene Himmel« war ein großer Publikumserfolg. Aufgewachsen in Heimen und bei Pfl egefamilien, die ihm eine Beziehung zu seinen indigenen Wurzeln verboten, wurde Wagamese erst im Alter von dreiundzwanzig Jahren wieder mit seiner Familie vereint. 2010 wurde dem Autor von der Thompson Rivers University die Ehrendoktorwürde verliehen. Richard Wagamese starb im Jahr 2017.

Der Übersetzer:

Ingo Herzke, geboren 1966, hat Klassische Philologie, Anglistik und Geschichte studiert. Seit 1999 lebt er mit seiner Familie in Hamburg und übersetzt unter anderem A. L. Kennedy, Alan Bennett, Gary Shteyngart und Nick Hornby.

RICHARD WAGAMESE

DAS WEITE HERZ

DES LANDES

Roman

Aus dem kanadischen Englisch

von Ingo Herzke

Mit einem Nachwort

von Katja Sarkowsky

Blessing

Das Buch erscheint unter dem Titel

MEDICINEWALK

bei McClelland & Stewart in TorontoMit freundlicher Unterstützung des Canada Council of the Arts

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2014 by Richard Wagamese

Copyright © 2020 des Nachworts by Katja Sarkowsky

Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring Grafikdesign GbR

Umschlagabbildung: plainpicture

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-26288-4V003

www.blessing-verlag.de

Für meine Söhne

Joshua Richard Wagamese

und Jason Shaffer

Laß die Schlange warten

unter ihrem Kraut

und schreib mit Worten

ruhig, schnell, hart

im Schlagen, still im Warten,

schlaflos.

– Menschen und Steine versöhnt

allein die Metapher.

William Carlos Williams: Eine Art Lied

(übertragen von Hans Magnus Enzensberger)

1

Er führte die alte Stute aus dem Pferch und zu einem Tor, das sich hinaus auf die Weide öffnete. Letzte Nacht hatte es gefroren, und sie hinterließen Spuren im Raureif. Er schlang die Leine um die mittlere Zaunlatte, machte kehrt und ging zum Stall, um Decke und Sattel zu holen. Die Spuren sahen im feucht schmelzenden Frost wie Tintenkleckse aus, und einen Augenblick blieb er stehen und versuchte, darin Szenen zu entdecken. Er war eigentlich kein Träumer, ab und zu jedoch tat er so, als wäre er einer. Jetzt aber sah er bloß das welke Gras und den Matsch der Weide, schüttelte den Kopf über diese Spinnerei, durchquerte den Pferch und trat durch das schwarz gähnende Stalltor.

Der Alte melkte die Kuh, wandte sich um, als er ihn kommen hörte, und spritzte einen Strahl Milch in seine Richtung.

»Dein Frühstück«, sagte er.

»Hab schon gegessen«, sagte der Junge.

»Ist besser, direkt aus der Zitze.«

»Gibt bessere Zitzen.«

Der Alte lachte meckernd und melkte weiter. Der Junge blieb eine Weile stehen und sah zu, doch als der Alte zu pfeifen anfing, wusste er, das Gespräch war zu Ende, und so ging er in die Sattelkammer. Es roch nach Leder, Pferdesalbe, staubtrockenem Futter, darunter lag ein schwacher Gestank von Schimmel und Mist. Er atmete die Luft tief ein, zerrte den Sattel vom Halter, warf ihn sich über die Schulter und zog die Decke vom Haken neben der Tür. Er trat in den Flur, wo ihm der Alte mit dem Milcheimer entgegenkam.

»Hast du genug Mäuse?«

»Ein paar«, sagte der Junge. »Reicht.«

»Reicht nie«, sagte der Alte und stellte den Eimer ins Stroh.

Der Junge schaute über die Schulter des Alten zur Stute, die am frostigen Gras beim Zaunpfahl knabberte. Der Alte nestelte sein Geldbündel aus der Tasche und kniff im Halbdunkel die Augen zusammen. Er zählte raschelnd ein paar Banknoten ab und hielt sie dem Jungen hin, der mit den Füßen im Stroh scharrte. Der Alte wedelte mit den Scheinen, und schließlich griff der Junge danach.

»Danke«, sagte er.

»Kannst mal was im Diner essen, wenn du in die Stadt kommst. Besser als der Fraß, den ich koche.«

»Ist aber auch gut, dein Fraß«, sagte der Junge.

»Ist ganz in Ordnung. Ich bin mit Hafergrütze und Schmalzbrot groß geworden. Wir haben immerhin Schinkenspeck, und mein Fladenbrot ist auch nicht schlecht.«

»Das Karnickel gestern Abend war auch richtig gut«, sagte der Junge und steckte das Geld in die Brusttasche seiner Flanelljacke.

»Das wird dich eine Weile auf den Beinen halten. Er ist krank. Das weißt du, oder?« Der Alte sah ihn streng an und schob das Geldbündel wieder in die Brusttasche seiner Latzhose.

»Hab ihn schon krank gesehen.«

»Aber nicht so.«

»Ich komm damit klar.«

»Musst du auch. Wird kein schöner Anblick sein.«

»Sicher nicht. Aber er ist mein Vater.«

Der Alte schüttelte den Kopf und bückte sich nach dem Milcheimer. Als er sich wieder aufrichtete, schaute er dem Jungen direkt in die Augen. »Nenn ihn, wie du willst. Aber sei auf der Hut. Wenn er krank ist, lügt er.«

»Lügt auch, wenn er nicht krank ist.«

Der Alte nickte. »Ich an deiner Stelle, ich würd nicht hingehen. Würd mich an das halten, was ich hab, ob er mich nun zu sich ruft oder nicht.«

»Was hab ich denn schon.«

Der Alte sah sich in der muffigen Scheune um, schürzte die Lippen und blinzelte. »Sie ist eine modrige Bruchbude, aber sie gehört uns. Wenn’s mit mir vorbei ist, gehört sie dir. Mehr, als er dir je wird geben können.«

»Er ist mein Vater.«

Der Alte nickte, drehte sich um und stapfte den Gang entlang davon. Alle paar Schritte musste er die Hand mit dem Eimer wechseln, und als er zur Schiebetür am Ende des Ganges kam, setzte er ihn ab und zog mit beiden Händen an den schweren Bohlen. Das Licht traf den Jungen hart, und er hielt sich schützend die Hand vor die Augen. Der Alte stand umrahmt vom Morgenstrahlen in der Tür. »Diese Stute mag die Kälte nicht besonders. Musst sie erst mal leicht reiten. Dann kannst du sie antreiben. Sie wird rennen«, sagte er.

»Wird er sterben?«

»Kann man nicht wissen«, sagte der Alte. »Klang jedenfalls nicht gut. Aber wenn du mich fragst, ist er schon eine ganze Weile dabei zu sterben.«

Er drehte sich im hellgelben Licht um und ging. Der Junge blieb noch einen Augenblick stehen und sah ihm nach, drehte sich dann auch um, ging zurück durch den Pferch und wieherte leise. Die Stute hob den Kopf und erschauerte, der Junge sattelte sie rasch, stieg auf, und die beiden trabten langsam über die Weide davon.

Zunächst war das Buschwerk dünn, wo das Gras am Ende der Weide aufhörte. Küstenkiefern und Fichten wuchsen, wo es noch flacher war, doch als das Land sich zu Hügeln wölbte und zu einem Berg anwuchs, kamen Gelbkiefern, Birken, Espen und Lärchen dazu. Der Junge saß entspannt im Sattel, rauchte und lenkte das Pferd mit den Knien. Sie wichen Brombeerbüschen aus, stiegen vorsichtig über Stumpf und Stein und das entzündete rote Holz gestürzter Kiefern. Es war Spätherbst. Das Dunkelgrün der Fichten wandelte sich in grämliches Grau, und die plötzlichen Farbausbrüche der letzten sich festklammernden Blätter stachen ihm ins Auge wie aufflammende Glühwürmchen auf einem dunklen Feld. Das Pferd wieherte leise, genoss den lockeren Gang, und eine Weile hielt der Junge die Augen geschlossen, um auf die Bewegungen von Tieren weiter hinten im Dickicht zu lauschen.

Er war groß für sein Alter, grobknochig und kantig, sein ernster Blick hatte etwas Missmutiges, und er war still, weshalb manche ihn für mürrisch, grüblerisch und tiefsinnig hielten. Nichts davon stimmte. Er hatte sich nur daran gewöhnt, allein zu sein, und ging so sparsam mit Worten um, dass er unverblümt und direkt klang, eher wie ein Mann redete, nicht wie ein Jugendlicher. Sodass die Menschen seine Schweigsamkeit seltsam fanden und ihm aus dem Weg gingen, denn sein störrischer Indianerblick verstörte, auch wenn er erst sechzehn war. Der Alte hatte ihn früh den Wert der Arbeit gelehrt, und er arbeitete gern, die Landwirtschaft machte ihn zufrieden, Pferde und die schrankenlose Weite des Hochlandes machten ihn froh. Er verließ die Schule, sobald er konnte. Er hatte keinen Sinn für Bücher, und hier draußen, wo er den Großteil seiner Freizeit verbrachte, war kein Bedarf an großen Ideen oder Theorien oder Gesprächen, und er war es zufrieden zu schweigen, hörte Symphonien im Pfeifen des Windes, wenn er über einen Bergkamm strich, Arien in den Schreien der Adler und Falken, dem Schnauben der Grizzlys und dem durchdringenden Ruf eines Wolfes vor dem ungerührten Blick des Mondes. Er war Indianer. Der Alte sagte, das sei seine Art, und er hatte es immer als die Realität hingenommen. Er lebte ganz für sich auf dem Rücken eines Pferdes, in Unterständen aus Kiefernästen, an nächtlichen Lagerfeuern, in der Bergluft, die süß und rein wie Quellwasser schmeckte, und auf kaum zu entdeckenden Pfaden, denen er hinauf in Höhen folgte, die nur Pumas, Murmeltiere und Adler kannten. Der Alte hatte ihn das meiste gelehrt, was er wusste, doch er war inzwischen zu alt und krumm für den Sattel, und so erkundete der Junge seit fast vier Jahren den größten Teil des Landes allein. Tage-, manchmal wochenlang. Allein. Einsam hatte er sich nie gefühlt. Wenn er überhaupt mal drüber nachdachte, er hätte dieses Wort nicht definieren können. Es schlummerte unerklärt und unnötig in ihm wie Algebra; Land und Mond und Wasser summierten sich zu der einzigen Gleichung, die seiner Welt Gültigkeit verlieh; und er ritt hindurch, umhüllt von der Geborgenheit der Landschaft wie vom Refrain eines alten Kirchenliedes. Das war es, was er kannte. Das war es, was er brauchte.

Die Stute wurde schneller, er ließ sie gewähren und durch die Bäume in Richtung Creek traben, der in südwestlicher Richtung durch die Schlucht schnitt. Darum hatte er sie unter den drei Pferden ausgesucht, die sie besaßen. Trittsicher, verlässlich, scheute nicht leicht. Als sie zum Creek kamen, schritt sie ins Wasser, neigte den Kopf und trank, während er sitzen blieb, sich eine Zigarette drehte und nach Anzeichen für Hirsche Ausschau hielt. Die Sonne kroch über den Bergkamm, bald würde der Morgen auch über den Talkessel hereinbrechen. Es war ein Tagesritt bis in die Fabrikstadt am Parson’s Gap, und er hatte Zeit sparen wollen, indem er direkt über den nächsten Kamm ritt. Ein Wildwechsel schlängelte sich hinauf, dem würde er folgen und der Stute das Tempo überlassen. Er war schon ein Dutzend Mal mit ihr heraufgekommen, sie kannte den Geruch von Puma und Bär, also würde er sie im Schritt gehen lassen, rauchen und die Landschaft betrachten.

Als sie genug getrunken hatte, lenkte er sie aus dem Bach und nach Norden, zum Beginn des Pfades. Sie folgte ihm problemlos, und die Erinnerung an warme Ställe, Hafer und frisches Stroh sowie an die sauren Äpfel, die der Junge ihr brachte, ehe er sich neben ihr zum Schlafen legte, trieben sie voran. Der Junge saß auf ihrem wogenden, wankenden, wippenden Rücken, rauchte und sang mit rauer, leiser Stimme, dachte über seinen Vater nach und darüber, warum der ihn zu sich kommen ließ.

2

Die Stadt lag in einem v-förmigen Flusstal. Zu beiden Seiten des dahinrauschenden Wassers stieg eine steile Bergflanke auf, und die Sägemühle lag knapp zwei Kilometer flussabwärts und nahm die Kraft der Strömung auf. Er sah die grauweiße Dampfwolke aus den Schornsteinen schon bevor er den letzten Kamm erreichte, und von oben sah es aus, als breitete sich die Stadt an den Flussrändern aus wie ein Bluterguss. Das Pferd schnaubte und schüttelte wegen des Schwefelgeruchs den Kopf. Der Junge blinzelte und trieb die Stute mit dem Druck seiner Schenkel auf den absteigenden Pfad. Die Bäume waren verkümmert, und keine Schädlinge oder Aasfresser zeigten sich – abgesehen von Raben und Krähen, die sie ankrächzten, als sie vorbeiritten. Es war eine traurige Gegend, und der Junge war nie gern hergekommen. Die Stadtkinder waren grob, lachten ihn aus und beschimpften ihn, wenn er auf seinem alten Pferd daherkam. Manchmal warfen sie mit Steinen nach ihm. Er aber zog sich bloß die Hutkrempe in die Augen und nahm die Schultern hoch, um sich gegen das Klacken der Steine und das kehlige Gewirr ihrer Stimmen zu schützen. Den letzten Kilometer musste er auf dem Highway zurücklegen, und die Stute wurde nervös von den vorbeirauschenden Fahrzeugen, deren Fahrer nicht so vernünftig waren, abzubremsen oder einen Bogen um sie zu machen. Manche hupten sogar. Pferde sah man hier selten auf der Straße, sie waren eine Kuriosität. Die Leute standen auf den Treppen vor ihren Haustüren und starrten ihn an, und ihm wurde bewusst, wie er aussah: die abgetragene Latzhose, die ausgelatschten Stiefel, die ausgebleichte Holzfällerjacke, der breitkrempige Hut und der alte, wettergegerbte Sattel, die rissige Sattelschürze, zerkratzt und vernarbt wie ein Insektenpanzer. Er setzte eine neutrale Miene auf. Er wiegte sich im Rhythmus des Pferdes und rollte die Schultern, beide Hände auf dem Sattelknauf, beruhigte die Stute mit dem Druck seiner Schenkel, wenn sie wegen der Autos oder der metallisch kreischenden Stadtgeräusche zu galoppieren anfing.

Der Highway wölbte sich in der Ferne zu einer breiten Avenue, der Hauptstraße, und ein paar Kreuzungen davor bog der Junge in eine Seitenstraße. Die Häuser waren klein, mit Teerpappe oder bröselnden Holzlatten verkleidet, und meistens waren Fensterscheiben durch Plastikfolie ersetzt, und Autowracks rosteten im hohen Gras der Vorgärten. Es roch nach verbranntem Holz und heißem Fett. Große Kettenhunde rannten auf ihn zu, bellten und knurrten, und er musste das Pferd Stück für Stück die Straße entlangführen. Am Ende der Straße lag die Farm, wo er das Pferd unterstellte. Sie war nichts Besonderes. Fünf Morgen Land, auf einer Seite an die sich ausbreitende Stadt gedrängt, auf der anderen an die zerklüftete Bergwand. Sie hatten zwei Ponys, einen Esel, eine Ziege und ein paar Hühner, die alle unter dem eingesunkenen Dach desselben verfallenen Stalles untergebracht waren. Aber der Hafer war gut, das Stroh wurde regelmäßig gewechselt, und die Besitzer waren Halbindianer, die den Alten seit Jahrzehnten kannten. Sie gaben dem Jungen zu essen, schienen seine stille Art zu verstehen und ließen ihn in Ruhe, wenn er kam. Diesmal war niemand da, also sattelte er das Pferd ab, striegelte es, versorgte es mit Heu und Hafer und machte sich auf den Weg ins Stadtzentrum.

Es war Abend. Dunkelrot. Herbstkälte lag in der Luft, er spürte den anziehenden Frost und den Regen, der ihm folgen würde. Er hörte das Geklapper und Geklirre von Familien, die sich zum Abendessen an den Tisch setzten, hinter den meisten Häusern spielten Kinder, neben den Haustüren hockten Hunde, die das Nackenfell sträubten und ihn anknurrten, wenn er vorbeiging. Seine Stiefel knirschten auf dem losen Rollsplitt. Er drehte sich im Gehen eine Zigarette und nickte den Männern ernst zu, die in den Vorgärten standen, rauchten und Flaschenbier tranken. Sie sahen verhärtet aus, ölfleckig und schwielig, zugleich mager und hungrig wie streunende Hunde, doch seine Größe und seine abgerissene Erscheinung machten ihn zu einem von ihnen, und so ließen sie ihn ohne ein Wort vorbeiziehen. Er rauchte und betrachtete aus zusammengekniffenen Augen die spitzen Winkel der Stadt. Als er wieder zum Highway kam, schritt er schneller und entschlossener in Richtung Zentrum, wo die Lichter in der Abenddämmerung glitzerten. Er ging vorbei an Läden und Kaufhäusern, hinab in die grauere, heruntergekommenere Gegend am Fluss, wo aus schummrigen Spelunken und Honky-Tonks Gläserklirren, Geschrei, Gelächter, Flüche und ein Geruch von Sägespänen und Rauch drangen, der sich über das die Gassen und Parkplätze beherrschende Aroma von Blut, Pisse und Sperma legte. Er rümpfte die Nase und ging noch schneller, schaute niemanden an und ließ keinerlei Unentschlossenheit erkennen. Noch weiter unten lag eine Reihe von Wohnheimen mit dem Rücken zum Flussufer, wo Fabrikarbeiter, umherziehende Trinker und flüchtige Gesetzesbrecher unterkamen und wo er, wie er wusste, seinen Vater finden würde. Die Gebäude standen düster und abweisend in der zunehmenden Dunkelheit, und als ihm eine liederliche Frau betrunken auf dem Bürgersteig entgegenschwankte, wich er zur Seite aus, um sie vorbeizulassen.

»Eldon Starlight? Kennen Sie den?«, fragte er sie.

»Hast du Kippen?«, fragte sie zurück.

»Nur Selbstgedrehte.«

»Kippe ist Kippe.«

Er zog seinen Tabak aus der Tasche und drehte eine Zigarette, wobei sie ihm zuschaute und sich die Mundwinkel leckte. Als er sie ihr reichte, stützte sie sich schwer auf seine Schulter, und ihre scharfen, säuerlichen Ausdünstungen schlugen ihm entgegen. Mit einer Geste bat sie um Feuer, er riss ein Streichholz an und hielt es ihr hin. Züchtig legte sie die Hand auf seine und zwinkerte ihm zu, als sie den ersten Zug nahm. Sie ließ die Hand liegen, bis er seine wegzog. Rauchend warf sie ihm einen Schlafzimmerblick zu, und er wurde verlegen.

»Du bist aber ein Großer, hm?«, sagte sie.

»Eldon Starlight?«, fragte er noch einmal.

Sie lachte. »Twinkles? Was willst du denn von dem geilen alten Sack?«

»Ich muss ihn finden.«

»Ihn zu finden ist nicht schwer, Schätzchen. Ihn länger als eine Stunde aushalten, das ist das Problem.«

»Wissen Sie, wo er ist?«

»Wenn er nicht sturzbesoffen hinter Charlie’s Bar liegt, dann im zweiten Zimmer rechts, dritter Stock, drittes Haus von hier. Aber ich bin viel angenehmere Gesellschaft als der alte Twinkles, und ich mag junge, kräftige Kerle wie dich. Komm, lass dir von der alten Shirl zeigen, wie man Spaß hat.«

»Vielen Dank«, sagte er, trat wieder auf den Bürgersteig und wandte sich zum Gehen.

»Wie du meinst«, sagte sie. »Indianer.«

3

Das Haus neigte sich in Richtung Ufer und wirkte in der zunehmenden Dunkelheit, als überlegte es, ob es sich weiter ans Land klammern oder sich einfach achselzuckend dem stahlgrauen Muskel des Flusses überlassen solle. Es war dreistöckig und mit Holzschindeln verkleidet, von denen einige über den Vorgarten verstreut lagen, zwischen zerborstenen Fensterscheiben und Stiefeln und einzelnen Kleidungsstücken und vergilbten Zeitungen, die der Wind an den Maschendraht rundherum presste. Männer standen auf der Vorderveranda, und als der Junge die Stufen hinaufstieg, unterbrachen sie ihr Gespräch und beobachteten ihn. Er fasste an den Türknauf, doch die Tür war verschlossen, und als er sich umdrehte, standen drei von ihnen auf und wandten sich ihm zu.

»Eldon Starlight«, sagte er ruhig.

»Wer zum Teufel bist du?«, fragte der Größte und spuckte dem Jungen Tabaksaft vor die Füße.

»Franklin«, sagte er. »Starlight.«

»Bist du sein Junge?«, fragte der Mann neben dem Langen. Er schielte, weshalb der Junge sich zuerst umblickte.

»Ja«, sagte der Junge.

»Wusste gar nicht, dass Twinkles ein Kind hat«, sagte der Lange.

»Twinkles auch nicht«, sagte ein Dicker hinter ihnen, und alle lachten.

»Scheiß drauf, Junge, nimm einen Schluck«, sagte der Lange und bot ihm einen Platz am Verandageländer an.

»Nein«, sagte der Junge. »Danke, aber nein.«

»Verdammt. Höflich und trinkt nicht. Kann nicht Twinkles’ Junge sein«, sagte der Dicke, und wieder lachten alle.

Der Junge sah ihnen zu, wie sie einen Weinkanister herumreichten, und als alle einen Schluck genommen hatten, beugte sich der Dicke auf seinem Gartenstuhl nach vorn und zog an seiner Zigarette. Er blies eine lange Rauchfahne aus und kratzte sich mit der grobknochigen Hand am Kinn.

»Was bringt dich her, Junge?«, fragte er.

»Ich will ihn sehen.«

»Geht ihm nicht gut.«

»Hab ich gehört.«

»Sicher nicht alles.«

»Schätze, ich werd’s dann schon sehen.«

»Schätz ich auch. Nur, dass du Bescheid weißt.«

»Alles klar«, sagte der Junge.

Der Dicke stand auf und watschelte zur Tür. Er war groß, aber fast genauso breit, und die Verandadielen knarrten und bogen sich unter seinem Gewicht. Als der Junge beiseitetrat, um ihn vorbeizulassen, blockierte er die Sicht auf die Straße vollständig. Er roch säuerlich nach altem Tabakrauch, abgestandenem Whisky und ungewaschenen Füßen. Der Junge machte noch einen Schritt zurück, und der Mann grinste.

»Wirst dich dran gewöhnen«, sagte er.

»Hab ich nicht vor.«

»Dein Papa riecht auch nicht besser.«

Der Dicke schloss die Tür auf, drückte sie mit einem Arm nach innen und hielt sie dem Jungen auf, der ihn anschaute und nickte. Der Mann erwiderte das Nicken, und als er die Tür wieder hinter ihm zuzog, furzte er laut und feucht, die Männer auf der Veranda lachten wieder, und der Junge schritt schnell durch die kleine Lobby auf die schäbige Treppe zu. Dort blieb er einen Augenblick stehen und schaute sich um. Es war trostlos. In der Decke funzelten trübe Lampen, die im Grunde bloß Schatten auf die düstere Ausstattung warfen. Die Wände waren mit billigem braunem Laminat verkleidet, die fadenscheinigen Teppiche waren von kräftigem Kürbisgelb zu einem traurigen, schimmligen Orangebraun verblasst, der Treppenpfosten war rissig und gesprungen. Es roch nach Küche, er hörte Fett in einer Pfanne brutzeln. Spinnweben. Staub. Eine alte Katze schlich aus einer Ecke und beobachtete ihn wachsam, und als er sich zur Treppe wandte, fauchte sie und machte einen Buckel. Der Junge schüttelte den Kopf und stieg die Stufen hinauf.

Aus allen Zimmern drangen Männergeräusche. Rülpsen, Fluchen. Hellblaues Fernseherlicht sickerte durch spaltbreit geöffnete Türen, weshalb seine Bewegungen gespenstisch und abgehackt wirkten. Er hörte die laute Stimme eines Mannes. Er sagte etwas, das sich an eine Frau zu richten schien, und es war dem Jungen peinlich, es zu hören. Als er um die Ecke bog, versuchte er, an der Tür vorbeizuschleichen, aber sie stand offen, und der Mann, dessen Stimme er gehört hatte, drehte sich um und sah ihn an. Er faselte lauthals weiter. Er starrte dem Jungen direkt ins Gesicht, sein Blick war irre, sein buschiger Vollbart tabakfleckig, und er hatte keine Zähne, weshalb seine Rede unverständlich und wahnsinnig klang. Im Vorbeigehen schaute der Junge ins Zimmer, in dem sonst niemand war. Plötzlich lachte der Mann, kurz und scharf wie ein Bellen, stand auf und schüttelte die Faust in Richtung des Jungen, trat vor und schlug die Tür zu.

Er kam zum Zimmer seines Vaters. Die Tür war geschlossen. Im Zimmer gegenüber stand ein großer, hagerer Mann an einer Kochplatte und wendete Fleischwurst in einer Bratpfanne. Er schaute den Jungen ausdruckslos an, hob ein Bein und trat die Tür zu. Der Junge drückte das Ohr an die Tür zum Zimmer seines Vaters. Er hörte Gemurmel und glaubte einen Moment, es sei ein Fernseher oder ein Radio, aber dann vernahm er ein kehliges Lachen, die Stimme einer Frau, das gläserne Klacken einer Flasche, die unsanft auf den Boden gestellt wird, das Ächzen der Bettfedern. Er klopfte an. Stille. Er hörte Flüstern und hastige Bewegungen.

»Komm rein, verdammt.«

Der Junge drehte den Knauf und drückte die Tür langsam auf. Das Zimmer war nur mit einer Kommode, einem Holzstuhl und dem Bett möbliert, auf dem sein Vater mit einer Frau lag, die den Kopf an seine Brust lehnte. Leere Flaschen standen vor dem Kommodenspiegel aufgereiht. Kleidung lag überall verstreut, dazwischen Fast-Food-Verpackungen und alte Zeitungen. Im ganzen Raum war kaum ein Quadratzentimeter Boden frei. Die Wandschranktür hing schräg in den Angeln, darin hingen Werkzeuge an eingeschlagenen Nägeln oder stapelten sich in den Fächern. Sägen, Hämmer, Schraubenschlüssel, eine Kettensäge, eine Harke und eine Schaufel, dazu meterweise aufgerolltes Stromkabel. Ein altes Fahrrad lehnte an der hinteren Wand, teilweise auseinandergeschraubt, Bowdenzüge und Zahnräder lagen ums Hinterrad, daneben eine rostige Sense, deren Blatt zur Decke gebogen war. Die Kochplatte war verkrustet von Fett und Essensresten, eine Kaffeedose quoll von Asche und Kippen über, ein paar Marmeladengläser waren gleichermaßen befüllt. Der Bildschirm des Schwarz-Weiß-Fernsehers zeigte Schnee. Der Mann im Bett starrte ihn an, die Frau schob ihr Kinn nach unten, blickte zu dem Jungen auf und klimperte mit den Wimpern.

»Und?«, fragte der Mann und hob eine Flasche an die Lippen.

»Ich bin Franklin«, sagte der Junge.

»Herrgott«, war sein einziger Kommentar, dann nahm er noch einen Schluck. »Bist aber groß geworden.«

Das Gesicht seines Vaters wirkte schlaff, die Haut hing wie ein loses Zelt über den Knochen, verschattet von tiefen Falten. Am Kinn wuchsen Bartstoppeln. Sein Haar war verfilzt, grau meliert, wellte sich am Hals, und der Pony hing über ein Auge. Er grinste und zeigte die Zähne, die er noch hatte, schief und fleckig. Der Arm, mit dem er den Jungen hereinwinkte, war spindeldürr, die Knochen stachen unschön hervor, die Hand war groß, die Finger waren lang und gespreizt, zeugten von seiner einstigen Kraft und Größe, die jetzt zu knochiger Hagerkeit verdorrt war. Doch in seinen Augen war noch Feuer. Hell und hart leuchteten sie hinter den hohen Wangenknochen hervor, und dem Jungen fiel die Bernsteinfarbe auf, wie die eines Kojoten, etwas dunkler Richtung Haselnuss, aber wild, entschlossen, misstrauisch. Er trat ins Zimmer, schob mit dem Fuß einen Pullover zur Seite und schloss die Tür hinter sich.

»Der Alte meinte, ich soll kommen«, sagte er.

»Nimm dir einen Stuhl«, sagte sein Vater und zeigte darauf.

Der Junge zog den Stuhl von der Wand, drehte ihn um, setzte sich und legte die Arme auf die Lehne, schaute seinen Vater und die Frau an.

»Was trinken?«

»Brauch ich nicht.«

»Rauchen?«

»Hab Selbstgedrehte.«

»Das hier sind fertige.«

»Selbstgedrehte rauchen sich besser.«

Sein Vater lachte. Es klang kratzig und heiser, er hustete ein paarmal, und die Frau legte ihm besorgt und beschützend die Hand auf die Brust. Der Husten ließ nach, sein Vater stützte sich auf den Ellbogen, schob sich höher ans Kopfteil und sah den Jungen an.

»Das hier ist Deirdre«, sagte er und deutete mit dem Daumen auf die Frau. »Sie ist eine Hure.«

Die Frau gab ihm einen Klaps, zwinkerte dem Jungen mädchenhaft zu, und in seinem Magen begann es ein wenig zu rumoren. Sie schob sich ebenfalls hoch und setzte sich neben seinen Vater, strich sich die strähnigen Haare glatt und hob die Flasche an den Mund. Die Bettdecke fiel herunter, sodass ihre wippenden Brüste zum Vorschein kamen, und der Junge wurde steif und rot.

»Darfst auch mal ran. Hat sie nichts dagegen.«

»Danke, nein«, sagte der Junge.

»Na los. Ist umsonst.«

»Nicht zahlen zu müssen heißt nicht, dass es umsonst ist.«

»Wenn du meinst.«

»Allerdings.«

Sie schauten einander an, und die Frau schob die Decke wieder hoch. Sie hörten den faselnden Verrückten ein Stück den Flur hinunter, und ein Radio, das einen alten Countrywalzer spielte. Das Zimmer lag direkt über der Veranda, und er hörte die Männer nach jemandem auf der Straße rufen, dann eine Reihe Flüche von einer Frauenstimme, dann das Gelächter und Gejohle der Männer.

»Also, hier bin ich«, sagte der Junge.

»Seh ich.«

»Und? Was hast du mir zu sagen?«

»Brauch ich eine, wie heißt das noch … Tagesordnung?«

Er schüttelte eine Zigarette aus der Schachtel hinter seinem Bett, zündete sie an, stieß eine Reihe Rauchringe aus, hob wieder die Flasche und trank. Der Junge wartete.

»Kannst mich wohl nicht recht leiden«, sagte er und stellte die Flasche auf den Boden.

»Kenn dich kaum, das ist alles«, sagte der Junge.

»Ich bin dein Vater.«

Der Junge schaute ihn reglos an. Er zog seinen Tabak aus der Tasche und drehte sich unter den Blicken seines Vaters und der Frau eine Zigarette. Er steckte sie mit einem Streichholz an, und als er es ausgepustet hatte, steckte er es in eins der Marmeladengläser voller Kippen und Asche. »Ein Wort, nichts weiter«, sagte er.

»Wir müssen reden, und ich hab nicht vor, das hier zu tun.«

»Wo dann?«

»Hast du Hunger?«

»Könnte was zu essen vertragen.«

Sein Vater stieß die Frau mit dem Ellbogen in die Seite, sie zuckte die Achseln, schob die Bettdecke wieder weg und schwang die Beine aus dem Bett. Sie war dünn, ihre Brüste aber waren voll, sie wippten bei jeder Bewegung, und der Junge ließ sie nicht aus den Augen. Sie bemerkte seinen Blick und zwinkerte. Dann stand sie auf, drehte sich zu ihm und streckte sich. Er nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. Sie bückte sich nach ihren Kleidern und zog sich an. Sein Vater schob sich ebenfalls aus dem Bett, und der Junge sah, wie ausgemergelt er war, die Hinterbacken wie zwei kleine Teigklumpen, der Rest nichts als Ecken und Kanten und Knochenfugen unter fahler Haut. Er schaute ihm beim Anziehen zu und rauchte seine Zigarette zu Ende. Die Frau nahm noch einen Hieb aus der Flasche und ging zur Tür.

»Bis später?«, fragte sie.

»Eher nicht«, sagte sein Vater.

Sie sah ihn an, und der Junge dachte, sie würde noch etwas sagen, aber sie nickte nur, öffnete die Tür, ging hinaus und machte sie leise hinter sich zu. Er hörte sie den Flur hinuntergehen. Der Faselnde war plötzlich still, brabbelte aber weiter, sobald sie vorbei war, und dann hörte er ihre Schritte auf der klapprigen Treppe.

»Ist das deine Freundin?«, fragte der Junge.

»Hab ich doch gesagt«, sagte sein Vater und stocherte mit einem Kamm in seinen Haaren herum. »Das ist eine Hure.«

Sein Vater setzte sich auf die Bettkante, zog Arbeitsschuhe an, die er nur halb zuschnürte, sodass die Laschen herauslappten. Dann griff er nach einer zerschlissenen alten Jeansjacke und warf sie sich über, stand auf, rollte mit den Schultern und sah den Jungen an.

»Ich geh mit dir essen«, sagte er. »Ich lad dich ein.«

»Jetzt willst du wohl die Vaternummer abziehen.«

»Nicht unbedingt. Mehr so die Magennummer.«

Er klopfte noch eine Zigarette aus der Packung auf dem Nachttisch und steckte sie hinters Ohr, dann ging er an dem Jungen vorbei hinaus auf den Flur. Der Junge sah ihm hinterher. Er drehte sich noch einmal ins Zimmer, schüttelte traurig den Kopf, trat ebenfalls in den Korridor und zog die Tür hinter sich zu. Sein Vater war nur noch ein undeutlicher Schatten auf der Treppe. Der Junge folgte ihm auf die Straße.

4

Der Laden war ein feuchtes Loch. Er sah aus wie eine alte Autowerkstatt oder ein Lagerhaus, ein flacher, einstöckiger Bau, der seit Jahren keine neue Farbe mehr gesehen hatte. Unter einem einsamen Scheinwerfer hing ein handgemaltes Schild an einem wackligen Pfosten, der durch Spanndrähte zum Dach aufrecht gehalten wurde. Auf dem Schild stand Charlie’s. Die Fenster schwangen nach außen auf, und eines wurde von einem Besenstiel aufgehalten. Musik aus einer Jukebox und Stimmengewirr und Gläserklirren drangen heraus, und als sie eintraten, sah der Junge ein Sperrholzbrett, das auf alte Fässer gelegt war und als Theke diente, und unterschiedliche Tische und Stühle im Raum verteilt. Das Licht war schummrig, weshalb die Gesichter, die sich ihnen zuwandten, wie verschattet aussahen. Die Gespräche wurden leiser. Der Junge folgte seinem Vater durch den Raum, und ihre Blicke lasteten auf ihm, als würde er auf einem Bergpfad von etwas Unsichtbarem beobachtet. Sein Vater schritt zügig durch den Raum, hob nur gelegentlich kurz die Hand, um Bekannte zu grüßen, die ihn ansprachen, öffnete an der Rückwand eine Tür und trat hinaus auf eine Terrasse. Sie hing über dem dunklen Strom, und der Junge hörte ihn unter den Dielen zischen und gurgeln. Rundum standen Gasheizer, an den Tischen ballten sich hier und dort Männergruppen. Sein Vater ging zu einem leeren Tisch nah am Geländer, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich so, dass er übers Wasser schauen konnte. Der Junge schüttelte den Kopf, und als sein Vater immer noch nichts sagte, nahm er seinen Tabak aus der Tasche und drehte sich eine. Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Nach kurzem Zögern steckte er sich die Zigarette an, inhalierte und schaute hinaus auf den Fluss, der vorbeirauschte wie ein langer schwarzer Zug. Dann drehte er sich um und sah einen großen, schlaksigen Mann aus der Tür treten, der mit einer Flasche auf dem Tablett rasch auf ihren Tisch zuschritt. Er stellte die Flasche hin, blieb stehen und sah seinen Vater an, der weiter auf den Fluss starrte.

»Twinkles«, sagte der Mann schließlich.

»Hier bin ich.«

»Du hast noch was offen.«

»Ich weiß. Zahl ich.«

»Du arbeitest nicht mehr.«

»Ich zahl trotzdem.«

Der Lange sah ihn an, kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn einen Moment.

Der Junge rauchte und schaute weg. »Wie viel?«, fragte er.

»Dreißig ist er schuldig«, sagte der Mann.

Der Junge legte seine Zigarette in den Aschenbecher und griff in die Hosentasche, nach dem Geld, das ihm der Alte gegeben hatte. Er zählte vierzig Dollar ab und reichte sie dem Mann, der die Scheine wie etwas Fremdartiges musterte.

»Willst du was zurück?«, fragte er.

»Was kostet der Fusel hier?«

»Den könnt ihr für die zehn kriegen.«

»Er will was essen«, sagte sein Vater.

»Wir haben bloß noch das Hühnchen und ein paar Bohnen.«

»Schreib es auf meinen Deckel.«

»Ich weiß nicht, Eldon.«

»Hey, ich hab doch gerade meine Schulden bezahlt.«

»Stimmt.«

»Also?«

Der Mann stellte das Tablett ab, faltete die Banknoten und steckte sie in die Tasche. Er sah den Jungen an, der einen letzten Zug von seiner Zigarette nahm, sie auf der Terrassendiele ausdrückte und die Kippe in seine Brusttasche steckte. »Was zu trinken dazu?«

»Kaffee«, sagte der Junge.

»Und du?«

»Hab schon gegessen«, sagte sein Vater.

Der Mann nickte, ging zurück in den Gastraum, und der Junge sah wieder seinen Vater an, der das Kinn in die Hand stützte. »Du gibst einen aus, ja?«

Der Junge grinste und legte die Füße auf den Stuhl gegenüber. Sein Vater machte die Flasche auf, hob sie an die Lippen, nahm ein paar kräftige Schlucke, stellte sie wieder hin und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Die Dampfwolke des Schornsteins weiter unten am Fluss sah aus wie ein geisterhafter Geysir, und die orangeroten Lichter der Sägemühle verschwammen wie Jahrmarktsbeleuchtung. Am anderen Ufer verschwand die Stadt in den Schatten jenseits der schwachen Lichterreihen entlang der schmalen Straßen. Darüber lag der schwarze Saum der Bergkette.

Der Mann kam mit seinem Kaffee zurück. Der Junge trank und wartete, wütend und ungeduldig. Sein Vater schwieg. Eine Weile war nur das Gerede der Männer an den anderen Tischen zu hören, die hohen Töne der Geige aus der Jukebox und das Rauschen des Flusses unter ihnen. Der Kaffee war heiß und bitter, er hielt den Becher mit beiden Händen umfasst und beobachtete seinen Vater.

»Und wieso nennt man dich Twinkles?«, fragte er.

»Bloß ein alberner Witz.«

»Was für einer?«

»Wegen Starlight. Das Lied. Twinkle, twinkle, little star. Klar?«

»Klar, aber du bist ja nicht gerade der funkelnde Typ.«

»Sondern?«

»Woher soll ich das wissen? Eher düster, schätze ich.«

Sein Vater schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck, einen kleineren, bewussteren. »So fühl ich mich auch.«

»Hast du vor zu sterben?«

»Meine Güte. Wie bist du denn so hart geworden?«

»Ich stelle bloß eine Frage.«

Der Mann brachte das Hühnchen mit Bohnen und einer Tortilla, und der Junge fing hungrig an zu essen, während sein Vater zusah und ab und zu einen Schluck aus der Flasche nahm. Das Hühnchen war gut, er stippte die Bohnen mit der Tortilla auf und spülte sie mit dem Kaffee hinunter. Er lehnte sich zurück. Sein Vater starrte ihn ausdruckslos an, und einen Augenblick dachte der Junge, er sei sturzbetrunken. Sie saßen sich wortlos gegenüber und schauten auf den Fluss.

»Er fließt geradeaus weiter an der Fabrik vorbei. Wird immer schneller, und dann breitet er sich aus ins Tal, fünfzig Kilometer von hier. Du kennst es. Ist das gleiche Tal, das zum Alten führt. Bist du den Weg gekommen?«, fragte sein Vater und zeigte auf die Bergkette.

»Kenn ich. Ich hab da überall gejagt«, sagte der Junge.

»Ist ein guter Fluss. Habe irgendwie die meiste Zeit meines Lebens darauf verbracht. Früher haben wir Holzflöße von den Fällen hier runtergetrieben. Manche waren zwei Kilometer lang. Ich mit dem Floßhaken obendrauf, von einem Ende zum anderen, hab bis hier unten alles in Bewegung gehalten. Nach ein paar Tagen sind wir dann wieder rauf und haben die nächste Ladung geholt. Bis zum Zufrieren. Aber das ist Jahre her.«

»Hast du auch gefällt?«

»Bisschen. Auf dem Wasser hab ich mich wohler gefühlt, aber um dahin zu kommen, musste man vorher sägen und fällen. Wenn man gut genug arbeitete, wurde man Flößer.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Heutzutage nehmen sie Lastwagen. Ist einfach nicht das Gleiche.«

»Wann war das?«

»Mann, ich war jung. In deinem Alter. Ich hab mit vierzehn zu arbeiten angefangen.«

»Und um mir das zu sagen, hast du mich herkommen lassen?«

Sein Vater nahm einen Schluck aus der Flasche. »Du kommst direkt zur Sache, was?«

»Muss ich. Der Winter kommt. Gibt Sachen zu erledigen.«

»Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

»Ich hab eher das Gefühl, du schuldest mir was.«

»Stimmt. Weiß ich. Aber manchmal muss man zuerst was geben, um was zu kriegen.«

»Ich hab dir schon vierzig gegeben.«

»Ich rede nicht von Geld. Geld nützt bei dieser Sache gar nichts.«

»Was dann?«

»Ich möchte, dass du mit mir ins Hinterland gehst.«

»Du bist anscheinend betrunkener, als ich dachte.«

»Ich möchte, dass du mich in das Gebiet bringst, durch das du gekommen bist. Wo du dein Leben lang gejagt hast. Dahinten gibt es einen Bergkamm, sechzig Kilometer von hier. Über einem engen Tal, dahinter eine hohe Bergkette, die nach Osten blickt.«

»Kenn ich.«

»Ich möchte, dass du mich dahin bringst.«

»Warum willst du denn in deinem Zustand dahin?«

»Weil ich will, dass du mich dort begräbst.«

Der Junge hatte den Kaffeebecher halb an den Mund gehoben und verspürte den Drang, zu lachen, aufzustehen, rauszugehen und zurück zur alten Farm zu reiten. Aber sein Vater schaute ihn ernst an, er sah den Schmerz in seinen Augen und noch etwas Schmales, Mageres, Kummer vielleicht, Reue oder ein zerlumptes Leiden, von den Jahren zerschlissen. Sein Vater drehte die Flasche langsam zwischen Daumen und zwei Fingern hin und her.

»Du schaffst keine sechzig Kilometer«, sagte der Junge.

»Du bist doch nicht zu Fuß gekommen, oder?«

»Und?«

»Ich reite dein Pferd.«

»Und ich soll laufen?«

»Herrgott, Junge. Hast du kein Herz?«

Er wandte sich von seinem Vater ab und sah hinaus auf die glatte Schwärze des Wassers.

»Alles klar«, sagte sein Vater. »Du machst es also nicht.«

Der Junge schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er stand auf, und hinter ihm wurde es still, denn alle hörten auf zu reden und sahen zu. Er schüttelte den Kopf und rieb sich das Kinn.

Sein Vater beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien, und steckte sich noch eine Zigarette an. »Es gibt noch ein paar Sachen zu sagen.« Das sagte er ausdrucklos, den Blick auf seine Schuhe gerichtet.

»Wieso? Damit du dich besser fühlst?«

»Mir geht es dabei mehr um dich.«

»Dir ist es noch nie um mich gegangen.«

»Oh doch.«

»Ja sicher.« Er nahm die Flasche vom Tisch, hielt sie hoch und prüfte den Pegelstand, roch dann an der Öffnung, ehe er sie wieder auf den Tisch stellte und gegen den Stuhl seines Vaters trat. Der Vater hob langsam den Kopf und linste ihn schräg von der Seite an. Der Junge setzte sich wieder.

»Du sollst mich mit dem Gesicht nach Osten begraben«, sagte der Vater. »Im Sitzen, wie einen Krieger.«

»Du bist kein Krieger.«

Sein Vater saugte an der Zigarette, die zwischen seinen Fingerspitzen klemmte, und warf sie dann über das Geländer. Er stand auf, griff nach der Flasche, nahm zwei kräftige Schlucke und schleuderte dann auch die Flasche über das Geländer. Er wandte sich dem Jungen zu, schwankte ziemlich, stützte sich haltsuchend auf die Tischplatte und sah seinen Sohn aus halb geschlossenen Lidern an. »Früher schon«, sagte er. »Davon muss ich dir erzählen. Muss dir vieles erzählen.«

»Du willst also mit mir wandern gehen und von den guten alten Zeiten reden?«

»Waren keine guten alten Zeiten. Aber hören musst du es trotzdem. Mehr habe ich dir nicht zu geben.«

»Das wird nicht reichen.«

Er schaute den Jungen an, und mehr hatte er nicht zu sagen, also drehte er sich um, ging langsam über die Terrasse und durch die Tür in den Schankraum. Die Männer an den anderen Tischen sahen ihm hinterher. Dann sahen sie den Jungen an. Der hatte die Füße auf den Stuhl gelegt, auf dem sein Vater gerade noch gesessen hatte, und drehte sich eine Zigarette. Als er fertig war, klemmte er sie sich zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden, wollte einfach nur übers Wasser auf die schwarze Masse des Berges starren. Nach ein paar Minuten stand er langsam auf, ging zur Tür, schritt durch die Bar, ohne jemanden anzusehen, und hinaus ins flache Dunkel der Straße. Er suchte nach der Gestalt seines Vaters auf dem Weg zu seinem Wohnheim, aber der war nirgends zu sehen. Nur wenige Menschen waren auf der Straße. Der Junge betrachtete die Umrisse seines Schattens, der sich über die Straße ergoss. Er roch Schwefel aus der Papierfabrik, dazu das muffige Aroma billigen Bieres, und schließlich folgte er den Sternen in nördlicher Richtung durch die Stadt, kaufte unterwegs ein paar saure Äpfel, die er an die Stute verfütterte, bevor er sich neben ihr in die vertraute, schäbige Wärme des Stalles bettete.

5

Als er aufwachte, sah er durch die Ritzen der Stallwand den Mond. Es war früh am Morgen, er war schon am Untergehen, doch noch hing er am Himmel wie ein Gletscher und goss Licht aus, das wie schmelzendes Eis glänzte. Überall waren Schatten. Es war hell genug, dass er den Weg zur Hintertür des alten Stalles sehen konnte, also stand er auf und ging hinaus, um zu rauchen. Auf der Weide waren Kojoten unterwegs. Er sah ihre schlanken Gestalten, wie sie den Zaun entlangtrabten und herumsprangen. Sechs Stück. Sie tollten herum. Feierten das Mondlicht. Er lehnte sich auf die untere Türhälfte und konnte ihren Atem sehen. Wolken davon waberten durch die Luft des frühen Morgens und lösten sich wieder auf, während die Tiere einander jagten, und der Junge musste an Nebel denken, wie er das Land verschleierte, im feuchten Frost des Frühlings und Herbstes, und dahinter ein Bergkamm, eine Felswand, ein Höhenzug, so unvermittelt da wie ein Bär. Sie umkreisten einander und rasten los, ab und zu jaulten sie kurz auf, dann erstarrten sie plötzlich und sahen ihn an. Er barg die Zigarette in der hohlen Hand und drehte die Glut nach hinten. Sie warteten. Stumm. So still wie die Luft um sie herum. Im fluoreszierenden Leuchten des Mondes glaubte er, ihre Augen erkennen zu können, die vergrößerten Pupillen, die das uralte Licht der Wildnis bargen und nach ihm spähten, ihn in der undeutlichen Ferne musterten und beurteilten. Sie senkten die Köpfe, die Schnauzen dicht am Boden, und beobachteten ihn. Und dann fingen sie an zu tanzen, jedenfalls kam es ihm so vor. Einer nach dem anderen wand sich an den übrigen vorbei, Schnauze an Schwanz, erst im Schritt, dann im langsamen Trab, bis einer nach dem Schwanz eines anderen schnappte und sie in eine verspielte, ungehemmte Raserei ausbrachen, eine so reine, unvermittelte Freude, dass der Junge lächelte und sich weiter hinauslehnte, um alles zu sehen. Dann unterbrach das größte Tier das Toben, stand still, reckte die Nase in den Wind, fuhr herum und lief Richtung Wald. Die anderen folgten in einer dunklen Reihe. Sie verschwanden zwischen den Bäumen, waren mit einem Blinzeln außer Sicht, als hätte der Wald sie umhüllt, sie eingesponnen, undurchdringlich verpuppt, ganz mit den Fasern der Zeit umwickelt, und der Junge fragte sich, in welcher Gestalt sie wohl auf mondbeschienene Lichtungen hinaustreten würden.

Es war kalt, er schauderte. Neben der nächsten Box hing Sackleinen, das er sich um die Schultern warf. Es roch nach Getreide. Das Pferd hinter ihm wieherte leise. Er drückte die Tür auf und trat hinaus in den Hof. Auf dem zerfurchten Matsch lag eine Glasur aus Frost, und seine Schritte knirschten ein wenig. Als er zum Lattenzaun am anderen Ende kam, setzte er sich rittlings darauf und ließ die Stiefel rechts und links herunterbaumeln. Er sah sich um: die Stadt und die Fabrik und die Berge dahinter, die zu dem Tal oberhalb des Flusses führten, wo sein Vater hinwollte.

Sein Vater. Der Junge sah ihn vor sich, mit der Hure in dem traurigen kleinen Zimmer im Wohnheim, das sich zum Wasser neigte. Ein kaputtes Leben. Er konnte sich kaum etwas Kummervolleres vorstellen, als in diesem Raum zu sterben. Wenn er ihn einfach hier sterben ließ, könnte er zurück auf die Farm und arbeiten und das Beste hoffen. Nichts würde sich ändern. Für ihn gab es nicht anderes. In Wahrheit wollte er auch gar nichts anderes, denn er kannte nichts außer diesem Leben, und Landarbeit hatte etwas Tröstliches. Er war mit ihren Rhythmen vertraut, er spürte, was als Nächstes kommen würde, lange bevor es kam, er kannte das Maß der Zeit auf diesen achtzig Morgen, so wie er Hunger, Durst und die Anzeichen eines bevorstehenden Wetterwechsels auf seiner Haut kannte. Seine ersten Erinnerungen waren Stallgeruch und wie ihm der Alte Melken und Pflügen und Säen beibrachte und wie man ein Huhn rupft. Sein Vater war eher zufällig mal in dieses Leben hereingeschneit und wieder verschwunden, das erste Gefühl, das er mit ihm verband, war das feine Stechen an der Schulter, wenn er im ungehobelten Türrahmen lehnte und zusah, wie sein Vater mit dem Alten rauchte und trank und redete. Er wechselte scheue Blicke mit ihm und starrte dann wieder schüchtern auf die Schuhspitzen. Seine Stimme war barsch und undeutlich vom Trinken. Wenn er wieder verschwand, ließ er immer Geld da, in einem Marmeladenglas hinter der Spüle. »Dein Papa«, pflegte der Alte zu sagen, wenn er Geld aus dem Glas nahm, und sehr lange dachte der Junge, er meinte das Glas.