Das wilde Mäh und die Irgendwo-Insel (Band 3) - Vanessa Walder - E-Book

Das wilde Mäh und die Irgendwo-Insel (Band 3) E-Book

Vanessa Walder

0,0

Beschreibung

Ham hätte eigentlich gerne mal seine Ruhe, aber daraus wird nichts. "Du bist ein unsterblicher Held", sagt Grazia. Flöckchen meint, er solle sich doch sein eigenes Revier suchen. Und Tupfer sagt: "Du sollst Flöckchen helfen, seine Eltern zu finden!" Als wäre das noch nicht alles, soll er auch noch Papa Kip auf der Irgendwo-Insel suchen. Aber das sagt Ham selbst. Das ist alles ganz schön stressig. Doch es geht um seine Familie und so beginnt eine neue aufregende Reise für Ham und seine Freunde.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 164

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



In liebendem Gedenken an Gerhard F.Walder, meinen Papa 1943–

WER ist WER?

Ham, der Wolf, gebürtiger Widder

Flöckchen, der … äh … Rehbock, Hams bester Freund

Tupfer, das Reh, Flöckchens Freundin

Grazia, die Gämse, früher Berg-Banditin

Rhea, die Wölfin, Mama von Ham, Feder, Brise und Wolke, Gefährtin von Papa Kip, früher Rudelführerin

Feder, die Wölfin, Rudelführerin des Rudels am Hohen Felsen im Wilden Wald, Hams Schwester

Onkel Bär, Hams Freund

Das Eichhörnchen, so wie es ist

Sir Lancelot, die Ratte, ehemaliges Mitglied der Abortigen

Josefine „Joey“, das Känguru, einziger Bewohner des Verfluchten Waldes

Larry, der … äh … Otter, Vorsitzender der Otter

Eden, die Wildkatze auf der Insel im Weiten Wasser

Papa Kip, der Wolf, Rheas Gefährte, Vater von Feder, Brise und Wolke

NIRGENDWO

Auf Beeren ausruhen

„Und was machst du jetzt, kleiner Wolf?“, fragte Grazia und sah Ham dabei aus großen braunen Augen unentwegt an. Ham bemühte sich, deshalb nicht nervös zu werden.

„Ich würde sehr gerne schlafen, verehrte Gämse“, sagte er und war stolz, dass er immer noch höflich klang. „Es ist nämlich Nacht. Das habe ich dir schon gesagt.“ Darauf hatte Ham sogar mehrfach hingewiesen. Seit einer ganzen Weile, um genau zu sein. „Ich bin nicht nachtaktiv. Deshalb wäre es schön, wenn du dich jetzt in deine eigene Höhle zurückziehen könntest. Danke.“

„Pah!“, machte Grazia. „So leicht wirst du mich nicht los, Wölfchen.“

Grazia hatte es sich vor Hams Höhle gemütlich gemacht, obwohl sie selbst eine sehr viel bessere gefunden hatte, in die es noch nicht mal hineinregnete. Sie hatte Ham sogar angeboten, bei ihr einzuziehen. Das war ihm aber doch komisch vorgekommen. Sein bester Freund Flöckchen ging so weit zu behaupten, Grazia wolle Ham einfangen.

Das wiederum hielt Ham für übertrieben. Grazia konnte Zäune nicht ausstehen und hätte einem anderen Tier niemals die Freiheit geraubt. Trotzdem lehnte er ihr Angebot höflich ab, indem er behauptete, die frische Luft seiner eigenen Erdhöhle wäre ihm viel lieber als ein Felsdach über dem Kopf.

Außerdem war er gar nicht sicher, ob seine Mama es erlaubt hätte. Er war aus der Wolfshöhle nur deshalb ausgezogen, weil sie für einen ausgewachsenen Wolf und vier halb ausgewachsene Welpen zu eng geworden war. Wie sollte er seiner Schwester beibringen, dass er stattdessen mit einem Gämsenmädchen in einer Höhle wohnte? Feder war immerhin Rudelführerin des Wolfsrudels am Hohen Felsen im Wilden Wald. Hätte Ham ihr von Grazias Einladung erzählt, hätte Feder es ihm garantiert verboten. Und dann hätte Ham es selbstverständlich tun müssen. Zu Grazia ziehen. Schließlich war er ein Männchen. So aber hielt er Feder aus der Sache raus und traf seine eigene Entscheidung.

Inzwischen war Ham heilfroh über diese Entscheidung. Grazia war anders als die Tiere im Wald, die Ham kannte, seit er klein war. Vielleicht lag es daran, dass sie aus den Bergen kam? Oder daran, dass sie zu den Berg-Banditen gehört und mit ihnen gekämpft hatte? Vielleicht hatte sie noch nicht ganz verstanden, dass sie im Wald gegen niemanden kämpfen musste? Offenbar hatte ihr keiner beigebracht, dass man andere Tiere nicht ständig verfolgte und triezte. Das waren nicht die guten Manieren, die Ham von seiner Wolfsmama gelernt hatte.

Ständig war Grazia auf der Jagd nach neuen Abenteuern. Dabei vermutete sie wohl, dass sich die Abenteuer wie Zecken oder Flöhe in Hams Fell festgesetzt hatten. Sie suchte nämlich immer dort nach ihnen, wo Ham sich gerade aufhielt.

„Nichts?“, rief Grazia. „Dir fällt wirklich nichts ein, was wir als Nächstes tun könnten? Den Rand der Welt finden, schwimmen oder fliegen lernen, ein eigenes Revier erobern, irgendetwas?“

Ham antwortete nicht. Grazias Vorschläge waren natürlich allesamt lächerlich. Und über seine letzten zwanzig Antworten hatte Grazia entweder gelacht oder geschnaubt. Dabei hatte Ham sich wirklich Mühe gegeben, sich etwas einfallen zu lassen. Das Gämsenmädchen war neu im Wald und kannte kaum andere Tiere. Deshalb hatte Ham vorgeschlagen, sie könnten mit seinen besten Freunden Flöckchen und Tupfer Verstecken spielen. Er wusste, dass Grazia die beiden Rehe gernhatte. Trotzdem brachte ihm die Idee gerade mal ein Schnauben ein.

Er hatte vorgeschlagen, Onkel Bär zu besuchen. Oder dem Eichhörnchen zu helfen, seine Nüsse so zu verstecken, dass es sie auch wiederfand. Ham hatte sogar angeboten, Grazia beizubringen, wie man zur Weisen Wölfin sang. Obwohl das doch eindeutig eine Wolfsangelegenheit war und Grazia ein Beutetier. Nicht dass Ham sie daran erinnert hätte. Er wollte schließlich nicht unhöflich sein. Grazia hatte damit umgekehrt nicht die geringsten Probleme.

„Du kannst doch unmöglich so langweilig sein!“, stöhnte sie.

„Ruhuuuhe“, rief der Uhu in einem Baumwipfel über ihren Köpfen. „Nicht so lahuuut, wenn ich bitten darf! Huuuh, meine Beute macht einen Bogen uuuhuum euch.“

Jetzt wurden sie sogar schon vom Uhu zur Ordnung gerufen! Ham kniff die Augen fest zu und drehte sich weg. Er wollte nicht mehr mit Grazia reden. Es war dunkel und am Himmel leuchtete silbern das Auge der Weisen Wölfin. Mittlerweile war Hams Geduld – im Gegensatz zum Rest von ihm – tief und fest eingeschlafen. Wäre Ham kein Vegetarier gewesen, er hätte ernsthaft darüber nachgedacht, Grazia zu fressen. Seine Schwester Feder hatte ihm bereits ein paarmal angeboten, dabei zu helfen.

„Du musst doch irgendeinen Plan haben“, sagte Grazia wieder. „Irgendeine Vorstellung, wie deine Zukunft aussehen soll.“

Ham versuchte, seine Pfoten auf die Ohren zu legen, aber das gelang ihm nicht. Er war dem Gämsenmädchen hilflos ausgeliefert. Und das bloß, weil er falsch gewachsen war. In seinem Rudel konnten alle Wölfe die Pfoten über die Ohren legen. Früher hatte Ham seine Geschwister beneidet, weil sie besser jaulen und jagen konnten als er. Seit Grazia in den Wald gezogen war, wünschte sich Ham nichts weiter, als hin und wieder ein bisschen Ruhe.

Die Sache war die: Ham war ein Held. Daran gab’s gar nichts zu rütteln. Er war vielleicht klein und wollig, aber er hatte den Kampf gegen eine ganze Horde von Monstern aufgenommen und sie in die Flucht geschlagen. Nur waren da die Blätter noch grün und die Blumen bunt gewesen. Inzwischen hatte der Wald längst herbstliche Farben angelegt. Es regnete oft, die Luft war kühler, der Kuckuck bereitete seine Reise in sonnige Länder vor und der Bär behauptete, er könne bereits den Schnee riechen. Deshalb fand Grazia, es wäre höchste Zeit, die nächste große Heldentat zu vollbringen.

„Guck mal, die Geschichte hat doch so schön angefangen“, sagte Grazia. „Tiefste Nacht, ein Mensch schleicht durch den Wald“ – Grazias Stimme verursachte bei Ham eine Gänsehaut – „und setzt ein kleines schwarzwolliges Wesen in einem hohlen Baumstamm aus. Keiner weiß, was es ist, aber es macht laut Määäh und der Fuchs will es fressen. Er beißt zu, als –“

„Er hat mich nicht gebissen“, unterbrach Ham.

„Was?“

„Der Fuchs“, sagte Ham. „Er hat mich nicht gebissen. Meine Mama ist vorher –“

„Du verstehst überhaupt nichts davon, wie man Geschichten erzählt“, sagte Grazia. „Also: Der Fuchs beißt zu, da springt die Rudelführerin der Wölfe dazwischen und rettet das Kleine. Ein erbitterter Kampf entbrennt –“

„Sie hat ihn nur mal kurz am Hals gepackt.“

„Ein erbitterter Kampf“, wiederholte Grazia ungerührt. „Die Wölfin gewinnt und nimmt das kleine Määäh in ihr Rudel und in ihre Familie auf. Sie nennt es Ham – wahrscheinlich von Hammel –“

„Nicht deshalb!“, schrie Ham.

Grazia zuckte mit keiner Wimper. „Gleich im ersten Winter bricht der ungeschickte Kerl durchs Eis und sinkt auf den Grund des –“

„Ich bin nicht ungeschickt!“, protestierte Ham. „Und ich bin auch nicht untergegangen. Ich bin bloß –“

„… sinkt auf den Grund des Flusses, weil er nicht schwimmen kann. Todesmutig springt sein bester Freund Flöckchen hinterher und zieht ihn mit Zähnen und Klauen aus dem Wasser.“

„Rehe haben gar keine Klauen“, maulte Ham leise.

„Vor lauter Freude singt der Kuckuck ein Lied und verrät dem kleinen Ham, dass er kein Wolf ist, sondern ein Lamm.“

„Das hat er überhaupt nicht verraten!“, rief Ham. „Er hat nur gesagt, dass ich kein Wolf bin, den Rest musste ich selbst rausfinden. Und deshalb hab ich nach meiner anderen Mama gesucht!“

„Und hast sie gefunden!“, sagte Grazia selbstzufrieden. Sie schmiegte den schwarz-weißen Kopf mit den kleinen Hörnern an einen Ast und blinzelte Ham an. „Mithilfe von Feder und Flöckchen. Und unterwegs habt ihr einen Stier befreit und seid von Bluthunden gehetzt worden und in Seen gesprungen und habt es mit einer Katze aufgenommen.“

„Madame Nobia ist eine Freundin. Man sollte keine Vorurteile haben. Besonders nicht Katzen gegenüber. Die können nämlich sehr schnell gemein werden, wenn sie’s rausfinden.“

Grazia hörte ihn gar nicht. Sie war so aufgeregt, dass sie aufsprang und hin und her lief. „Ein tragischer Held, wahre Freundschaft, tödliche Gefahren! Und dann kommt das nächste große Abenteuer: Monster am Waldrand, die alle Bäume fressen! Und du machst dich auf den Weg in die Berge zum legendären Wilden Widder und seinen Banditen und lernst auf dem Weg, was es heißt, ein echter Anführer zu sein. Und stellst auch noch fest, dass der Wilde Widder dein Vater ist. Klassisch! Alle Voraussetzungen für ewigen Ruhm und Unsterblichkeit!“ Sie fuhr herum und sah Ham mit zusammengekniffenen Augen an. „Und was machst du? Ruhst dich auf deinen Lorbeeren aus und willst den Rest deines Lebens mit Nichtstun im Nirgendwo verbringen!“

Ham sprang auf. Als er noch ganz klein war, hatte er gesehen, wie ein Blitz in einen Baum einschlug und der zu brennen anfing. Grazias Worte schlugen bei Ham genauso ein wie dieser Blitz und lösten in seinem Inneren ein Feuer aus.

„Der Wald ist mein Zuhause, kein Nirgendwo!“, rief er.

Grazia blieb gelassen. „Er scheint aber ganz in der Nähe zu liegen. Und du willst den Rest deines Lebens hier verbringen!“

Ham war nie gut im Jagen gewesen. Der Gedanke, einem anderen Tier Schmerzen zuzufügen, tat ihm selber weh. In diesem Moment musste er feststellen, dass es ihm mit Worten genauso ging. Er war nicht imstande, sich etwas einfallen zu lassen, was Grazia verletzen würde. Das machte ihn wütend. Seine Mama hatte ihn total falsch erzogen. Sie hatte nicht bedacht, dass eine wilde Gämse im Wald auftauchen könnte und Ham wenigstens Grundkenntnisse der Selbstverteidigung brauchen würde.

So blieb ihm nichts anderes übrig, als zornig davonzulaufen.

„Huuuhuuu!“, rief der Uhu ihm nach. „Guhuute Idee, kleiner Wolf.“

„Ach, halt doch den Schnabel!“, rief Grazia.

„Huuu“, machte der Uhu beleidigt und flog davon.

Eine Weile konnte Ham ihn noch über seinem Kopf fliegen hören, während er selbst durch den dunklen Wald lief. Dann rauschten nur noch die Blätter im sanften Nachtwind. Hier und da knackten Äste im Unterholz, wo nachtaktive Jäger umherschlichen. Ham versuchte, nicht an scharfe Reißzähne und spitze Krallen zu denken. Das hätte ihm gerade noch gefehlt: dass er auf der Flucht vor Grazia gefressen wurde!

Vor sich hörte Ham den Fluss gurgeln und glucksen. Das Ufer war immer Hams Lieblingsplatz gewesen. Die Bäume standen dort nicht so dicht, deshalb gab es sonnige Plätzchen, an denen es sogar an Wintertagen ein bisschen warm war. Nichts fand Ham schöner, als morgens von der Sonne geweckt zu werden.

Ham beschloss, hier zu übernachten. Er zwängte sich zwischen Büschen hindurch und fühlte, wie seine Hufe in weiche Moospolster einsanken. Genießerisch schnupperte er an den Farnen, die seine Nase kitzelten. Den Schnee konnte er zwar nicht riechen, aber es roch eindeutig nach Herbst: nach feuchten Blättern, nasser Rinde, Pilzen und morschem Holz.

Gerade hatte Ham es sich bequem gemacht und die Augen geschlossen, als ihm ein Geräusch auffiel. Es musste schon vorher da gewesen sein, aber so leise, dass es vom Lied des Flusses verschluckt worden war. Ham brauchte einen Moment, bis er erkannte, was es war, weil er diesen Laut nie zuvor gehört hatte. Es war ein Laut, wie kein Junges ihn jemals hören will. Ein Laut, der Ham ins Herz schnitt und dort eine Wunde hinterließ: das verzweifelte, schmerzliche, einsame Winseln seiner Wolfsmama:

„Wuuuuuuuuuuuh … uuuuuuuh.“

Familienwache

Ham zögerte keinen Augenblick. Einen Kampfschrei auf den Lippen sprang er aus dem Gebüsch und war mit drei großen Sätzen an Rheas Seite. Zähne gebleckt, Kopf gesenkt und die Hörner in Angriffsstellung sah er sich nach den Angreifern um.

„Wo?“, keuchte Ham, während er knurrend einen Verteidigungskreis um Rhea zog. „Wo sind die feigen Fieslinge? Die mach ich fertig!“

„Ham?“ Rhea schnaubte verblüfft. „Was machst du denn, mein Kleiner? Hier ist niemand außer mir!“

Ham wandte sich überrascht zu ihr um. „Hast du sie in die Flucht geschlagen, Mama? War es ein anderes Rudel? Hast du sie ganz allein vertrieben? Wo bist du denn verletzt?“

Sofort fing Ham an, das Fell seiner Mama abzulecken. Er bemühte sich, dabei besonders viel Spucke zu verteilen. Rhea hatte ihn gelehrt, dass Spucke das allerbeste Heilmittel für jede Wunde war.

„Ach, mein Kleiner“, gurrte Rhea liebevoll und leckte Ham über die Nase. „Mein kleiner Held. Ich bin nicht verletzt. Ich habe keine Wunde, niemand hat mich angegriffen.“

Ham hielt inne und sah Rhea verwirrt an. „Aber … ich hab’s doch gehört! Du hast ganz arg gewinselt, Mama! So winselt man nur, wenn man verletzt ist.“

Rhea seufzte und blickte zum Auge der Weisen Wölfin hoch. Ham spürte, dass sie überlegte, was sie sagen sollte. Das gefiel ihm nicht. War sie am Ende krank? Flöckchen hatte Ham erzählt, dass sein Onkel giftige Beeren geschluckt hatte. Danach war er nie wieder ganz gesund geworden. Hatte Rhea etwas Schlechtes gefressen? Ham dachte daran, dass er eben noch Furcht vor den Reißzähnen nachtaktiver Jäger gehabt hatte. Wie unglaublich dumm, Angst vor möglichen Zähnen im Dunkeln zu haben, wo es echte Bedrohungen gab! Jetzt verstand er zum ersten Mal in seinem Leben, was es bedeutete, sich zu Tode zu fürchten.

„Mama!“, jaulte er panisch. „Bist du krank? Hast du giftige Beeren gefressen?“

Rhea stupste ihn, bis Ham sich neben ihr auf den Boden fallen ließ und seinen Kopf in ihrem Fell vergrub. Es würde also eine längere Unterhaltung werden.

„Ich bin nicht krank, mein Kleiner“, sagte sie. „Ich bin nur ein bisschen einsam. Und traurig.“

Im ersten Moment war Ham erleichtert. Doch dann fiel ihm ein, dass er gegen Traurigkeit im Herzen seiner Mama genauso wenig unternehmen konnte wie gegen giftige Beeren in ihrem Magen. Traurigkeit ließ sich auch nicht durch Knurren und Zähnefletschen vertreiben.

„Aber … kannst du nicht damit aufhören?“, fragte er.

Wieder ließ sich Rhea Zeit mit der Antwort.

„Nein“, sagte Rhea. „Nicht ganz.“

„Warum bist du denn traurig, Mama?“

Rhea holte tief Luft und wählte ihre Worte mit größerer Sorgfalt als ihre Schritte bei der Jagd. „Weißt du noch, als Feder mich gefragt hat, warum sie keinen Papa hat wie alle anderen hier im Wald?“ Ham nickte. „Du hast deinen Vater gefunden, mein Kleiner. Feder, Wolke und Brise hatten auch einen Papa: Kip.“

Ham erinnerte sich. Er wusste noch, wie seine Schwester nach ihrem Papa gefragt hatte und was Rhea geantwortet hatte. Sie hatte lange von Kip erzählt. Dass er der beste Jäger war und groß und stark und klug. Dass sein Gehör und sein Geruchssinn unübertroffen waren und seine Augen schärfer als die eines Adlers. Dass allein die Hitze seines Körpers im Winter die ganze Höhle warm hielt und jedes Tier im Wald ihm mit Respekt begegnete. Kip war so schnell, dass er sogar Fische aus dem Fluss fangen konnte und Vögel aus der Luft. Manchmal sprang er einfach so in den Fluss und schwamm bis ans andere Ufer und zurück, erzählte Rhea. Und dass sie sich dabei oft gefragt hätte, was die Fische unter Wasser wohl von Kip hielten. Ob sie ihn für einen komischen haarigen Fisch hielten, dessen Flossen Krallen hatten?

„Er ist von einer Jagd nicht mehr zurückgekommen. Da waren Feder und Brise und Wolke noch ganz klein“, erinnerte sich Ham langsam. „Sie waren so klein, dass sie noch gar nicht die Augen aufgemacht hatten und noch keine Namen hatten. Sie haben ihren Papa nie gesehen …“ Ham unterbrach sich. „Feder sagt, das ist ihr auch lieber so, weil –“

Rhea zuckte und drehte den Kopf, bis sie Ham in die Augen sehen konnte. „Weil?“, fragte sie angespannt.

„Weil …“ Er wand sich ein bisschen. „Na ja, sie sagt, wenn ein Papa nicht zurückkommt zu seiner Familie, weil es ihm zu viel Mühe ist, sie zu füttern, dann ist er ein ganz fieser Feigling und dann ist es besser, wenn man keinen Papa hat als so einen.“

Rhea winselte wieder leise. „Das denkt sie? Kein Wunder, dass sie nie über ihren Vater reden will. Er ist nicht mit Absicht nicht zurückgekommen, mein Kleiner … Kip konnte nicht. Er ist … wahrscheinlich ist er auf der Insel der Sonne.“

„Ah“, sagte Ham. Er hatte schon öfter gehört, dass Tiere aus dem Wilden Wald dorthin aufgebrochen waren. Meistens verschwanden sie einfach über Nacht, ohne von ihren Plänen zu erzählen. „Aber dann hätte er trotzdem zurückkommen können“, entschied Ham. „Oder er hätte sich wenigstens vorher verabschieden können. Ich finde, wenn man Welpen hat, dann hat man auf der Insel der Sonne überhaupt nichts verloren.“

Rhea schnaubte belustigt. „Manche Abenteuer können wir uns nicht aussuchen, Ham. Manche Abenteuer suchen sich uns aus. Und wir können nicht bestimmen, wie und wann sie enden.“

„Es muss aber schön dort sein“, überlegte Ham. „Onkel Bär hat gesagt, dass noch nie einer von da zurückgekommen ist und dass die Sonne jeden Abend dorthin fliegt, weil es der beste Ort der Welt ist. Er sagt, dass es allen dort so gut gefällt, dass sie sogar vergessen, wo sie hergekommen sind. Dort ist niemand einsam oder traurig.“

„Vielleicht“, sagte Rhea leise.

„Ich würde aber nie vergessen, wo ich hergekommen bin!“, jaulte Ham. „Ich würde immer an dich denken. Und an meine andere Mama und an den Wilden Widder. Und an Feder und Brise und Wolke und Flöckchen und Grazia und Tupfer und Quentin und Madame Nobia und Onkel Bär und sogar an das Eichhörnchen …“

Rhea leckte ihm beruhigend übers Fell.

„Aber …“ Ham kam ein anderer Gedanke. „Hast du ihn denn gar nicht gesucht? Papa Kip? Wolltest du nie zur Insel der Sonne und ihn ausschimpfen, weil er weggegangen ist?“

Im Dunkeln um sie herum quakten die Frösche und unkten die Unken und einen Augenblick lang lauschten sie ihren Liedern. „Doch“, gab Rhea zu. „Oft. Aber die Reise ist weit und ich hatte vier hungrige Mäuler zu füttern. Außerdem bin ich nicht sicher, ob er wirklich dort ist. Alles, was ich weiß, ist, dass er am Wilden Fluss gejagt hat. Bis dahin konnte ich seiner Fährte durch den Lieblichen Wald folgen. Dort ist er auf einen Baumstamm gesprungen, der im Wasser trieb … Weiß die Wölfin, was er sich dabei gedacht hat!“

„Hast du’s gesehen?“, fragte Ham atemlos.

„Ein Fischotter hat es mir erzählt. Ich glaube, er hieß Ottokar. Der Baumstamm ist davongetrieben, hinaus ins Weite Wasser, hat er gesagt.“

„Und auf die Insel der Sonne zu?“

„Dort draußen liegt nichts anderes“, sagte Rhea leise.

„Aber dann weißt du gar nicht sicher, ob er dort ist“, rief Ham. „Möglicherweise ist er ganz woanders und hat sich verlaufen.“

„Wölfe verlaufen sich nicht“, sagte Rhea. „Aber du hast recht: Ich bin nicht ganz sicher.“

„Das ist ja doof“, meinte Ham. „Wie soll man ihn da finden?“

„Ja“, sagte seine Mama nachdenklich. „Es wäre besser, wenn ich wüsste, wo er ist. Ich hoffe, er ist irgendwo, wo es warm und sicher ist, wo es gemütliche Höhlen gibt und genug zu fressen. Wenn er schon nicht bei uns sein kann, dann ist er hoffentlich irgendwo, wo es schön ist. Und nicht sonst wo, verloren und verlaufen.“

„Papa Kip ist also entweder irgendwo oder sonst wo“, überlegte Ham laut, während er in seinem Kopf eine Landkarte malte.