Das Wirtshaus in der Vorstadt - Hans Fürhacker - E-Book

Das Wirtshaus in der Vorstadt E-Book

Hans Fürhacker

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Beschreibung

Der Krieg war seit einigen Jahren vorbei, der wachsende wirtschaftliche Aufschwung zeigte seine ersten Erfolge. Die Zeit schien in dem alten Wirtshaus in der historischen Kleinstadt jedoch stehen geblieben zu sein. Die Gedankensplitter des Erzählers erinnern an die Zeit des Aufschwungs von 1955 bis 1970. Ein origineller Wirt, der in der Vergangenheit haften blieb. Verlierer der neuen Zeit fanden Trost im Alkohol, Familientragödien wurden ins Wirtshaus getragen, Kriegsflüchtlinge und von der Gesellschaft Zurückgelassene erfuhren im Wirtshaus Wärme, Verständnis und Hilfe.

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Das ganze Leben ist ein ewiges Wiederanfangen.

(Hugo von Hofmannsthal)

Inhaltsverzeichnis

Die Vorstadt

Das Wirtshaus

Wolfgang Kucera

Der Lehenhof

Blick in die Vergangenheit

Georg Krumbichler

Wolfgang und Helene

Franz Kreuzinger

Heinrich und Karoline Rechberger

Der Keller

Die Schankhilfe

Der Wochenmarkt

Der Strassendienst

Der Altbauer

Susi und Maria

Eine Liaison

Wolfgang Kucera

Die Sonntagsmesse

Die Badehütten

Vor dem Ruhetag

Am Freitag

Das Telefon

Der Sparverein

Wohnen im Lehenhof

Der Schweinestall

Das Brennholz

Die Flüchtlinge

Das Fassbier

Der Fernsehapparat

Die Arbeitszeit

Die Fortschrittsverweigerung

Die Waschküche

Die Fussballmannschaft

Soziales Engagement

Das erste Auto

Veronika Friedrich

Der Ruhetag

Der Urlaub

Ekatharina und Tatjana

Weihnachten

Silvester

Harald Brettschneider

Adolf Kirchbauer

Der Sportverein

Der Vorarbeiter

Das Preisschnapsen

Cornelia Reinbrecht

Maria und Peter

Die neue Zeit

DIE VORSTADT

Ein müde und abgespannt wirkender Fahrer steuerte die letzte Straßenbahn in die alte Remise. Der rote Ziegelbau stand verlassen am östlichen Ende der historisch bedeutsamen Stadt, wie ein Grenzstein zwischen der Stadt und den kahlen, weit ausgebreiteten Feldern der winterlichen Ebene. Mit beschaulicher Geschwindigkeit rollte die Straßenbahn auf den alten Stahlschienen, die mühsam in die mit groben Pflastersteinen befestigte Hauptstraße eingepresst waren, zu ihrer Ruhestätte für die Nacht. In ruhigen Winternächten durchdrang das laute Quietschen der Räder des alten offenen Triebwagens unüberhörbar den schlafenden Ort. Die Bewohner der flachen Häuser an der Hauptstraße hörten den nächtlichen Lärm der Straßenbahn schon lange nicht mehr. Wie das Läuten der Kirchenglocken war er in ihren Alltag eingebettet und lag schon weit außerhalb ihrer Wahrnehmung. Erst wenn diese vertrauten Geräusche fehlten und die Straßenbahn nicht mehr fahren würde, wäre die Normalität ihres Lebens unterbrochen. Seit vielen Jahrzehnten gab es diese wichtige Verkehrsverbindung von der Hauptstadt über die Hauptstadtgrenze hinaus in die kleine Stadt Großmannsdorf. In der Zeit des Nationalsozialismus hatte Großmannsdorf seine Selbstständigkeit verloren, es wurde in die Verwaltung und in das Verkehrskonzept der Hauptstadt eingegliedert und die Straßenbahn bis in die Vorstadt verlängert. Wenige Jahre nach Ende dieser schrecklichen Zeit wurden die Grenzen der Hauptstadt neu gezogen, Großmannsdorf aus ihrer Verwaltung wieder herausgelöst und als selbstständige Verwaltungseinheit dem angrenzenden Bundesland angeschlossen. Die beliebte Bahn blieb zur Freude der Bewohner erhalten und fuhr weiterhin über die neue Grenze der Hauptstadt hinaus bis zur Remise am Ortsende von Großmannsdorf.

Der rot lackierte Triebwagen hatte am Stadtplatz, seiner letzten Station vor der Remise, nicht mehr gehalten. Nur selten wartete zu dieser späten Stunde noch ein Fahrgast an dieser einsam wirkenden Station, die in der Dunkelheit ebenso verlassen und unheimlich wirkte wie die Remise am Stadtrand. Bei der letzten Fahrt dieses Tages war die Straßenbahn leer, kein Fahrgast saß im Waggon, niemand wollte in dieser kalten, windigen Freitagnacht noch in die bereits schlafende Stadt fahren. Nur der Schaffner lehnte gelangweilt an einer der wenigen Haltestangen und zog genussvoll den Rauch der Zigarette in seine Lunge. Wie ein Warnsignal leuchtete die rote Glut bei jedem Zug, als wollte sie den Schaffner auf die schädliche Wirkung des Nikotins hinweisen. Eine ruhige, friedliche Stimmung lag über der schlafenden Kleinstadt, wenn das quietschende Geräusch der Räder der letzten Straßenbahn verklungen war.

Das kleine Wartehäuschen schien wie unglücklich hingefallen zu sein, wie eine weggeworfene Zigarettenschachtel lag dieses schmucklose Rechteck mit dem flachen Dach auf dem großen Stadtplatz. Jahrelang litt es unter den Einflüssen der Witterung, die gelbe Farbe des Verputzes war kaum mehr zu erkennen und wirkte, als wäre sie mit einem Grauschleier überzogen. An vielen Stellen löste sich der grobe Verputz von den Mauern und im Inneren roch es unerträglich nach Urin. Nur am Haltestellenschild der Verkehrsbetriebe, einem rot umrandeten Blechoval, das deutlich sichtbar am Dach des Häuschens befestigt war und im Wind ein seltsames Heulen verursachte, war dieses schmucklose Gebäude als Straßenbahnstation zu erkennen. Wenn kräftiger Wind über die Ebene blies und starker Regen die unzähligen Pfützen auf dem großen Stadtplatz zu einem See zusammenwachsen ließ, suchten die Fahrgäste Schutz vor den Wetterkapriolen und drängten unwillig in dieses schmutzige, stinkende Stationshäuschen und warteten ungeduldig auf die rettende Straßenbahn. An hellen, wolkenlosen Sommertagen, wenn die warmen Sonnenstrahlen mit ihrem Licht den Stadtplatz zum Strahlen brachten, stand das kleine Häuschen wie ein zerfallenes Bauwerk auf dem großen leeren Stadtplatz, als wollte es der alten romanisch-gotischen Wallfahrtskirche am nahen Kirchenplatz das Privileg als Mittelpunkt des Ortes strittig machen.

Die holprige Hauptstraße war mit groben Granitsteinen gepflastert und trennte den großen Platz von einer kleinen bescheidenen Parkanlage, die etwas Gemütlichkeit in die triste Ortsmitte brachte. In der Mitte des Parks sprudelte lebhaft ein kleiner Springbrunnen. Eingebettet in einem ovalen, mit Natursteinen umrandeten Wasserbecken, brachte er etwas fröhliche Stimmung in den trostlos wirkenden Platz. Am Abend färbten bunte Lichtstrahlen die Wasserfontänen und ließen den Brunnen wie ein großes Bild erscheinen, dessen Farben wild ineinander geronnen waren. Grün gestrichene niedere Eisengitter schützten die üppig mit Blumen bepflanzte Parkanlage, sie gaben zwei Eingänge frei, die den Besuchern andeuten wollten, nur die schmalen, quer über den Park verlaufenden Schotterwege zu benutzen, um die Blumenbeete und Rasenflächen zu schonen.

Großmannsdorf war ein ruhiger, unauffälliger Ort, eine Kleinstadt am Rande der pulsierenden Hauptstadt. Kleine Handwerksbetriebe und Handelsfirmen trugen die bescheidene Wirtschaft, schufen viele Arbeitsplätze und versorgten die Bewohner mit allerlei Lebensnotwendigem. Zwei konkurrierende Bäckereien warben mit ihren köstlichen Backwaren, ein Fleischereibetrieb, eine Autowerkstätte, ein Schreibwarengeschäft und eine Trafik bemühten sich täglich, die Kunden mit ihren Angeboten zufriedenzustellen. Zu dieser Stunde hatten die Geschäfte längst geschlossen und die Rollbalken über ihre Auslagenfenster heruntergezogen. Wie die Ruhe vor dem Sturm lag die kalte Freitagnacht über den leeren Straßen mit den unbeleuchteten Häusern. Sanft fallende Schneeflocken glänzten im Schein der düsteren Straßenbeleuchtung und bedeckten die roten Dächer der Häuser und die Straßen des Ortes gleichmäßig mit einem dünnen weißen Schleier. Der gelbliche schwache Schein setzte die Stadt in ein diffuses Licht, wie auf einer alten vergilbten Fotografie warfen die Häuser ihre Schatten in den glänzenden Schnee.

Die Aufeldstraße führte vom Stadtplatz in östlicher Richtung bis zu einer dicht bewaldeten Au einer Flusslandschaft, die den breiten Strom, der die Hauptstadt durchfloss, mit Großmannsdorf verband. Wie eine mit dem Lineal gerade gezogene Linie lag die breite Straße in der ebenen Landschaft. Flache Häuserzeilen hinter grasbewachsenen Grünstreifen säumten die Straße auf beiden Seiten und gleichmäßig wachsende junge Kastanienbäume reihten sich zu einer eindrucksvollen Allee. Im Frühling, wenn die Bäume ihre weißen und rosafarbigen Blüten zeigten, fühlte man sich auf einen mondänen Boulevard versetzt, auf eine sublime Prachtstraße, die auch zu einem Königspalast führen könnte. Inmitten dieser bemerkenswerten Straße schien das mächtige Backsteingebäude, das sich hinter den Kastanienbäumen der Allee zu verstecken versuchte, aus der Zeit gefallen zu sein. Das Haupthaus der alten Kavalleriekaserne war Teil einer Ansammlung von Militärgebäuden, die in den letzten Jahren des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts auf dem weitläufigen Gelände errichtet wurden und an die letzten Tage der untergehenden Monarchie erinnerten.

DAS WIRTSHAUS

Kein Licht drang mehr aus den Fenstern der Häuser in der Aufeldstraße. Nur ein rundes Reklameschild leuchtete grell und warf seinen Schein bis zum Stadtplatz und überstrahlte das fahle Licht der Straßenlaternen. Erst aus der Nähe betrachtet war auf dem runden Schild, das über der schmalen Eingangstür eines Wirtshauses hing, der Schriftzug der Brauerei Dreher zu erkennen. Unter der grünen Werbegrafik konnte man in dicken schwarzen Lettern den Namen der Gastwirtschaft lesen: Gasthaus zum Lehenhof.

Das helle Licht des Reklameschilds überstrahlte auch den schwachen Lichtschein, der durch die weißen Vorhänge der beiden Fenster der Gaststube fast schüchtern auf das Trottoir geworfen wurde und setzte ein deutliches Zeichen, dass der Tag noch nicht zu Ende war. Fünf Tage in der Woche war Heinrich Rechbergers Gasthaus zum Lehenhof geöffnet. Bis zur Sperrstunde um Mitternacht kamen die Nachtschwärmer in das gemütliche Lokal, um noch ein letztes Bier zu trinken und mit kleinen Speisen ihren hungrigen Magen zu beruhigen. In belanglose Gespräche verwickelt standen sie mit ihren halbvollen Gläsern an der Theke, ohne einen Gedanken an die Sperrstunde zu verschwenden, denn sie wussten, dass der Wirt auf die genaue Einhaltung der gesetzlichen Sperrstunde wenig Wert legte und sie ihre Getränke in Ruhe genießen konnten, ohne zum Verlassen des Lokals gedrängt zu werden. Wenn die letzten Gläser gewaschen, die Theke gereinigt und der Fußboden der Gaststube sauber gekehrt war, verabschiedete Rechberger die letzten noch anwesenden Gäste, schloss das Wirtshaus und beendete seinen langen Arbeitstag.

Ein neuer Tag im Wirtshaus. Die Gaststube war wie an jedem anderen Tag gut besucht. Der lange Stammtisch, der größte Tisch im Lokal, bot zwölf Gästen ausreichend Platz und war am Vormittag schon bis auf den letzten Sessel besetzt. An seinem Ende saßen drei Männer unterschiedlichen Alters und spielten Karten. Seit den frühen Morgenstunden waren sie in ihr Spiel vertieft und gerieten immer wieder in einen bedeutungslosen Streit über die faire Einhaltung der vereinbarten Regeln. Schnapsen war das beliebteste Spiel im Wirtshaus, ein einfaches Spiel, aber doch so spannend, dass es einige neugierige Zuschauer anlockte, die es aufmerksam verfolgten. Nur ein leises „hmh“ war von den Kiebitzen zu hören, wenn einer der Spieler einen überraschend gut gelungenen Stich auf den Tisch legte. Wer eine Spielrunde verloren – das Bummerl – hatte, bezahlte die bis dahin konsumierten Getränke und hoffte auf mehr Glück bei der nächsten Runde. Die Schnapser freuten sich über die interessierten Zuschauer, sie waren stolz auf ihre Kartenspielkunst und ließen die Kiebitze, wenn sie das Spiel nicht mit besserwisserischen Kommentaren übermäßig störten, am Gewinn teilhaben.

Zwei betrunkene alte Stammgäste saßen am anderen Ende des langen Stammtisches und sangen laut und falsch alte Wienerlieder, die sie immer wieder mit Textstellen bereits unpopulär und peinlich gewordener Militärlieder vermischten. Eine erzwungene Fröhlichkeit möchte man denken, die sie die grausamen Erlebnisse einer noch nicht sehr lang zurückliegenden Zeit für einen Augenblick vergessen ließen. Der wirtschaftliche Aufschwung hatte sie zurückgelassen und in eine prekäre Lebenssituation gezwungen. In ein geordnetes Berufsleben konnten sie nicht mehr zurückfinden und ihr fortgeschrittenes Alter und ihre mangelnde berufliche Qualifikation erschwerte die Suche nach Arbeit sehr – machte sie nahezu unmöglich. Im Alkohol fanden sie die Hilfe, die ihr verlorenes Leben erträglich machte, im Wirtshaus erlebten sie die wenigen zweifelhaften Glücksmomente, die ihnen Hoffnung gaben.

Das laute Ticken der großen weißen Uhr auf der durch den Zigarettenrauch schon vergilbten Wand hinter dem Stammtisch war deutlich zu hören, aber niemand in der Gaststube hatte bemerkt, dass die zwei schwarzen Zeiger schon die Sperrstunde und den Beginn des neuen Tages anzeigten. Niemand wollte das Lokal verlassen, auch Heinrich Rechberger saß noch kartenspielend am Stammtisch und dachte nicht an die bereits großzügig überzogene Sperrstunde. Erst ein kurzer Blick auf die Uhr ließ ihn erschrecken, rasch kündigte er noch das letzte Spiel dieser Partie an, verteilte die Spielkarten und rief, bevor er die erste Karte ausspielte, für alle Gäste deutlich hörbar: „Sperrstunde meine Herren!“

Das Lokal leerte sich langsam, die letzten Gäste, die üblichen Hockenbleiber, verließen unter leisem Protest die Gaststube und spürten die eisige Luft der kalten Winternacht in ihren Gesichtern. Unschlüssig und rauchend standen sie unter dem blattlosen Kastanienbaum und warteten, bis Rechberger mit den roten, brüchigen Holzläden den Eingang zur Gaststube verschloss und das Licht der Reklamebeleuchtung erloschen war.

WOLFGANG KUCERA

Wolfgang Kucera saß noch immer wie gelähmt auf einem der harten, polsterlosen Sessel am Stammtisch. Wie an den meisten Tagen war er der letzte Gast und nur schwer zu bewegen, die warme, gemütliche Gaststube zu verlassen und in der eisigen Kälte die lange Aufeldstraße bis zu seiner Wohnung zu torkeln. Den ganzen Tag verbrachte er im Wirtshaus und trank mehr alkoholische Getränke, als sein Körper aufzunehmen bereit war. Durch den übermäßigen Alkoholkonsum wurde seine lallende Aussprache sehr undeutlich und schwer verständlich. Widerwillig und kraftlos erhob er sich nach mehreren strengen Überzeugungsversuchen des Wirts von seinem Sessel und schwankte, sich immer wieder auf Sessellehnen abstützend, mühevoll zum Ausgang. Laut gestikulierend verließ er das Wirtshaus, stolperte noch über der niedrigen Türstaffel auf das schneebedeckte Trottoir und versuchte mit seiner schwer gewordenen Zunge dem Wirt unverständliche Gemeinheiten entgegenzuschreien und Ungerechtigkeit vorzuwerfen.

Rechberger kannte dieses Verabschiedungseremoniell seines treuen Stammgastes seit vielen Jahren, unbeeindruckt und lächelnd wünschte er ihm einen unfallfreien Heimweg und eine gute Nacht. Die Müdigkeit und Mühe des langen Arbeitstages waren dem Wirt jetzt deutlich anzusehen. Routiniert erledigte er die notwendigen Aufräumungsarbeiten, löschte die letzten noch brennenden Lichter und vergaß während der wenigen Stunden Schlaf, die ihm bis zur Öffnung des Lokals am folgenden Tag noch blieben, das körperlich anstrengende und auch psychisch belastende Leben als Gastwirt.

Wolfgang Kucera war kein schlechter Mensch. Wenn er getrunken hatte und in Streit geriet, wurde er schnell aggressiv, aber nie gewalttätig. Er war ein Schlitzohr, wussten viele seiner Freunde über ihn zu sagen, schlau, arbeitsscheu, aber nicht arbeitslos. In Sebastian Kronbauers kleiner Eisenhandlung hatte er eine Anstellung als Hilfsarbeiter im Warenlager gefunden. Er fühlte sich wohl und sehr gut aufgehoben im Metall- und Haushaltswarenladen Eisenwert. Heimwerker, Häuslbauer und Landwirte schätzten dieses gut sortierte Geschäft mit dem freundlichen und hilfsbereiten Lagerarbeiter. Kucera kennzeichnete eine notorische Unverlässlichkeit, im Berufsleben wie auch im Privatleben, doch von Kronberger wurde diese unangenehme Eigenschaft verständnisvoll toleriert, denn Kuceras überaus freundliches Auftreten und seine ehrliche Hilfsbereitschaft hatten einen wesentlichen Anteil an der Zufriedenheit seiner Kunden. Selbst über Kuceras kleine Diebstähle im Warenlager sah Kronberger großzügig hinweg.

Unverständliches murmelnd taumelte Kucera die gerade, von keiner Kurve gestörte Aufeldstraße entlang, bis er endlich die alte Kavalleriekaserne erreicht hatte. Lange schon wurde dieser gewaltige Gebäudekomplex nicht mehr militärisch genutzt. Die ehemaligen Soldatenunterkünfte waren nach dem Zerfall der Monarchie zu kostengünstigen und sozial verträglichen Mietwohnungen umgestaltet worden, die Wirtschaftsgebäude und die großen Stallungen teilten sich ein Landwirtschaftsbetrieb und ein Pferdestall mit angeschlossener Reitschule. Die Wohnungen im Haupthaus waren seit mehreren Jahren an bedürftige und sozial benachteiligte Familien vermietet, auch Wolfgang Kucera war mit seiner Frau und seinen Kindern in eine dieser kleinen bescheidenen Wohnungen im Erdgeschoß eingezogen.

Kuceras Heimweg vom Wirtshaus wirkte schwerfällig, sein vom Alkohol beeinträchtigter Gleichgewichtssinn ließ ihn immer wieder gegen eine der Mauern der flachen Häuserreihe oder einen der jungen Kastanienbäume taumeln. Als wäre er in einem unendlichen Tunnel, erschien ihm sein Weg in der Dunkelheit. Das ersehnte Licht am Ende, das Hauptgebäude der Kavalleriekaserne, sah er noch lange nicht.

Kleine Werkzeuge, Maßbänder, Schraubenschlüssel und Zangen unterschiedlicher Größe wogen schwer in den ausgebeulten Seitentaschen seiner übergroßen blaugrauen Hose, die mit bunten Hosenträgern an seinem schlanken Körper festgehalten wurde. Die bequeme Arbeitshose und eines seiner bunt karierten Flanellhemden waren Kuceras liebste Kleidung, sie war Arbeitskleidung und Freizeitkleidung gleichermaßen, er trug sie im Wirtshaus und in der Eisenhandlung, auch wenn er schlafend auf einer Parkbank den Sonntag verbrachte. Eine grüne Schirmkappe aus dem Raiffeisen Lagerhaus saß wie festgewachsen auf seinem Kopf und verdeckte sein schütteres blondes Haar. Die Raiffeisen-Kappe war sein persönliches Markenzeichen.

Endlich hatte Wolfgang den anstrengenden Heimweg überstanden und stand unbeweglich wie ein Baum vor dem Haupthaus der Kavalleriekaserne und starrte auf das breite Gittertor. Die böse Vorahnung, mit welch furchterregender Wut ihn seine Frau Helene empfangen wird, ließ ihn lange zögern, die letzten Schritte bis zu seiner Wohnung zu wagen. Mutig wechselte er die Straßenseite, um das Hauptgebäude der Kaserne noch einmal in seiner ganzen Breite zu betrachten und noch einige Minuten Zeit zu gewinnen, bevor er sich seinem Schicksal hingab. „Ich muss in die Höhle des Löwen“, sagte er erschrocken, als er sah, dass noch Licht in seiner Wohnung brannte und wich einen großen Schritt zurück. Es war der Schritt zu viel, der ihn fallen und den kurzen Abhang zum Ufer des Flussarmes hinunterrollen ließ. Wolfgang Kucera hatte Glück. Vielleicht liebt mich das Schicksal doch, dachte er erleichtert, als er merkte, dass eine dünne Eisdecke, die das kalte Wetter der letzten Tage sanft über das Wasser gezogen hatte, ihn vor einem unangenehmen kalt-nassen Bad rettete. Mit dem Oberkörper lag er auf der glatten Eisfläche und hatte Mühe, sich auf die gefrorene Wiese zu bewegen, seinen Körper aufzurichten und den kurzen steilen Abhang wieder hinaufzukriechen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen erreichte er endlich den Straßenrand und blickte verzweifelt auf die zwei so spät noch beleuchteten Fenster seiner Wohnung.

Am Rande der dicht bewaldeten Auen, gegenüber der alten Kaserne, lag einer der letzten lange schon stillgelegten Wasserarme, die bis zur Regulierung des Flusses die Aulandschaft mehrmals im Jahr überschwemmten. Während der Zeit, in der die Kavalleriekaserne militärisch genutzt wurde, war der schmale Seitenarm als Schwemme für die Armeepferde unverzichtbar, danach war er zum ruhigen Badeteich und zum Revier für viele Hobbyfischer geworden. Rossschwemm nannten die Einheimischen dieses stille Gewässer, es erinnerte an seine ursprüngliche militärische Verwendung.

Kucera fand nicht immer den direkten Weg vom Wirtshaus zu seiner Wohnung und kannte das erfrischende Wasser der Pferdeschwemme gut. Bei manchen seiner mitternächtlichen Abweichungen vom geraden Heimweg machte sein schlanker Körper unangenehme Bekanntschaft mit dem kühlen Nass. Es kam einem Wunder gleich, dass der Nichtschwimmer Kucera seine unzähligen Stürze in das tiefe Wasser überlebt hatte.

DER LEHENHOF

Das Zentrum der Stadt war von einer alten Stadtmauer umschlossen. Dicht aneinandergereihte Häuser mit schmucklosen Fassaden säumten die Aufeldstraße vom Stadtplatz bis zur Stadtmauer. Kleine Gewerbebetriebe, eine Schusterwerkstatt, eine Schneiderei und ein Friseursalon für Damen und Herren unterbrachen die grauen Häuser und verliehen der Straße etwas Lebendigkeit. Besonders auffällige Bauwerke waren das Rathaus und der Lehenhof, ein lang gestrecktes Wohngebäude mit zwei gleichmäßig übereinanderliegenden Fensterreihen und einem Wirtshaus im Erdgeschoß.

Das Rathaus verzierte eine schöne und bunt verschnörkelte Fassade, am abgerundeten Giebel hing das alte Stadtwappen mit dem Mohrenkopf, der wie ein wachender Engel auf die kleine Stadt hinunterblickte. Zwei große rote Holztore, verteilt über die gesamte Breite des Hauses, vermittelten den Eindruck einer Festung, einer Burg, einer unüberwindbaren Barriere zum Schutz vor unerwünschten Eindringlingen in die Amtsstuben der Stadtverwaltung. Welche Schätze hinter den gewaltigen Toren verborgen waren, wussten die Bewohner der Stadt. Wenn die Sirene am Dach des Rathauses ihren lauten und unangenehmen Ton über die Kleinstadt schrie, liefen die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr von ihren Arbeitsplätzen und Wohnungen zum Rathaus, die beiden roten Tore wurden geöffnet und die Feuerwehrautos fuhren aus ihren Garagen und rasten laut tutend zum Einsatzort. Eine kleine grüne Tür, von den roten Toren fast erdrückt und kaum wahrnehmbar, war der Eingang zu den Verwaltungsräumen des Stadtamtes.

Die breite Fassade des Lehenhofs wirkte hingegen unspektakulär. Eine großzügige Einfahrt durchbrach das Haus in dessen Mitte und störte die Symmetrie der gleichmäßig angeordneten Fensterreihen. Ein in Granitstein gemeißelter Lindwurm, ein Relikt aus vergangener Zeit, war in die graue Fassade gepresst und sollte einen Hinweis auf die historische Bedeutung dieses alten Gebäudes geben. Zwei Torflügel aus schwerem Eichenholz drückten sich an beiden Seiten der Einfahrt an die Mauer. Während der Nachtstunden war die Einfahrt in den Lehenhof geschlossen, nur eine schmale Tür, die in den rechten Torflügel eingepasst war, ermöglichte den Mietern den Zugang zu ihren Wohnungen.

Waren beide Torflügel geöffnet, gaben sie den Blick auf den großen Innenhof frei. Die grobe Holzwand einer überdachten Rampe in der Mitte des Hofs störte den Blick zu den alten Kastanienbäumen und der historischen Stadtmauer. Sie verdeckte auch das gut erhaltene Haus mit der gleichmäßig gelb gestrichenen Fassade, ein Blickfang im trostlosen Hof, nur die grüne Werbung der Brauerei Dreher störte die Harmonie dieses Gebäudes.

Mehrmals am Tag überquerten mit Planen bedeckte Lastkraftwagen der Brauerei den Hof und hielten auf dem schmalen Schotterstreifen zwischen der Rampe und dem gelben Haus, dem Auslieferungslager der Brauerei. Die Brauereiarbeiter beluden dort ihre Autos mit Bierfässern und Bierkisten und lieferten sie an die Wirtshäuser der umliegenden Orte. Eine wuchtige Holztür verschloss den Eingang zum großen Kühlraum, in dem Bier und andere Getränke für die Auslieferung gelagert wurden. „Bitte die Tür immer geschlossen halten“, stand auf einem rot umrandeten Schild, das deutlich sichtbar an die Kühlhaustür genagelt war und die Brauereiarbeiter daran erinnern sollte, dass die Kühlung dieses großen Raums viel Energie und Geld kostete und die Tür nur für kurze Zeit offenstehen sollte. Ein kleines bescheidenes Büro für den Leiter des Auslieferungslagers und ein Umkleideraum für die Chauffeure und Lagerarbeiter hatten sich an zwei Ecken des Hauses hineingezwängt. Das Büro war einfach, aber funktionell eingerichtet, eine mechanische Olivetti Schreibmaschine und ein schwarzer Telefonapparat mit Nummernwahlscheibe standen auf einem kleinen Schreibtisch vor dem Fenster und ein offener Aktenschrank, gefüllt mit schwarzgrauen Leitz-Ordnern, an der Wand, sie vermittelten eine bescheidene Geschäftigkeit an diesem ruhigen Ort. An der Rückseite des Depotgebäudes verbarg sich der schmale Eingang zum Aufenthalts- und Umkleideraum der Brauereiarbeiter. Die Gestaltung dieses Raumes überraschte zufällige Besucher und konnte sie in begeistertes Staunen versetzen. Die Wände dieses winzigen Zimmers waren fast vollflächig mit Bierdeckeln von hunderten inländischen und ausländischen Brauereien tapeziert und repräsentierten die uneingeschränkte Sammelleidenschaft der Arbeiter. Über viele Jahre hatten sie diese kleinen quadratischen Kartons mit ihren tiefsinnigen, witzigen, oft auch dummen Aufschriften gesammelt und in ihrem kleinen privaten Museum der weltweiten Bierkultur ausgestellt. Es sei wahrscheinlich die umfangreichste Sammlung dieser kleinen Glasuntersetzer in Österreich, versicherte der Direktor der Brauerei bei seinem letzten Besuch des Auslieferungslagers den stolzen Sammlern.

BLICK IN DIE VERGANGENHEIT

Der Eintritt in Rechbergers Wirtshaus zum Lehenhof war ein kleiner Schritt in die Vergangenheit, zurück in die Zeit der Jahrhundertwende und die Zeit, die zwischen den beiden großen Kriegen lag. Ein beeindruckendes Deckengewölbe spannte sich über die freundliche Gaststube und ein rustikaler, dunkel geölter grober Bretterboden überraschte die Gäste bei ihrem ersten Besuch. Zwei Fenster, die zur breiten Aufeldstraße zeigten, brachten etwas Tageslicht in die gemütliche, elektrisch beleuchtete Gaststube. Majestätisch hingen die beiden schweren eisernen Luster von der Decke, unzählige Glühbirnen beleuchteten die dunkle Gaststube von früh bis spät. Alle Tische standen wie versteckt in Nischen aus polsterlosen harten Holzbänken, nur der lange Stammtisch stand frei und dominierend an der langen weißen Wand mit der großen Uhr, als wolle er sich über die anderen Tische hinwegsetzen. Einige der schadhaften alten Holztische waren mit Kunstharzplatten beklebt, die anderen Tischplatten mit grünem mattem Lack gestrichen. Bierdeckel der Brauerei Dreher lagen willkürlich verstreut auf den Tischen, die ovalen, mit Salz, Pfeffer und Zahnstochern gefüllten Glasgefäße in der Mitte ersetzten den Tischschmuck. Ein schwarzer Kanonenofen stand in der Mitte der Gaststube und spendete im Winter wohlige Wärme. Sein langes schwarzes Ofenrohr spannte sich quer durch die Gaststube bis zum Kamin und störte den Blick auf das schöne Deckengewölbe. Das Schankpult bestand aus zwei im rechten Winkel angeordneten Tischen mit bis zum Boden reichender Verkleidung an den Vorderseiten und stand etwas abseits in einer großen Nische. Nur ein schmaler Gang, der zum Kücheneingang und zum Hintereingang des Lokals führte, wurde dem Schankpult abgerungen. Eine braune Wand mit zwei Kühlschranktüren und einer Zapfanlage für das Bier trennte das Schankpult von dem kleinen Kühlhaus, das bis in den Vorraum des Lokals hineinreichte. Ein Holzvorbau mit Regalen und Laden bot ausreichend Platz für Gläser, Süßigkeiten, Zigaretten und anderes für den Wirtshausbetrieb Notwendigem. Die Oberflächen der alten Theke waren zum Schutz vor Nässe mit dunkelgrauem Zinnblech überzogen, auch das kleine ausgebeulte Becken zum Waschen der Gläser war damit ausgeschlagen. Die vielen Lötstellen am Beckenboden ließen vermuten, dass schon einige Reparaturen notwendig waren, um es dichtzuhalten. Die alte Theke in Rechbergers Wirtshaus war die letzte dieser Art, in keinem anderen Lokal konnte ein so einfaches und den Ansprüchen eines Wirtshausbetriebes nicht mehr entsprechendes Schankpult gefunden werden, es war ein Relikt aus einer lang vergangenen Zeit. Schon Walter Ehrenfreund, Heinrich Rechbergers Vorgänger als Pächter des Wirtshauses zum Lehenhof, reichte seinen Gästen die Getränke über dieses alte Schankpult.

Über der Theke hing an einer dünnen Gasleitung ein alter Glühstrumpf, ein Erinnerungsstück aus der Zeit vor der allgemeinen Elektrifizierung könnte man glauben, wenn man diesen mit Gas zu betreibenden Leuchtkörper sah; und doch erfüllte diese technische Rarität ihren praktischen Zweck. Sollte ein überraschender Stromausfall die Gaststube in völlige Dunkelheit versetzen, öffnete der Wirt die Gaszufuhr, entzündete mit einem Streichholz diese unscheinbare Gaslampe und ließ den Raum in einem romantischen Licht erscheinen. Im Wirtshaus zum Lehenhof machte der Fortschritt eine Pause, hier schien die Zeit wirklich stehen geblieben zu sein.

Wie die Gaststube war auch das kleine Extrazimmer mit einem schönen Deckengewölbe beschenkt. Die Erweiterung dieses lieblichen Raums, ein lieblos und geschmacklos gestalteter Zubau, beraubte ihn allerdings seiner Gemütlichkeit. Der starke Kontrast zwischen dem alten Gebäudeteil und dem modernen Zubau war erschreckend, die hässliche Erweiterung wurde mit der anhaltend steigenden Gästezahl verteidigt und unter Aufwendung geringer finanzieller Mittel errichtet. Drei Fenster durchbrachen die dünne Außenwand zur Hofeinfahrt, sie änderten nichts an der ungemütlichen Atmosphäre, die dieser Zubau ausstrahlte. Ein nichtssagender Raum, ein Zeichen, dass die Zeit, wo Schönheit und Symmetrie als Maß der Architektur galten, zu Ende gegangen war.

Der weitläufige Lehenhof war von Gebäuden unterschiedlicher Größe umbaut, sie bildeten die Grenze zu den Nachbargrundstücken. Vom Hauptgebäude bis an die äußerste Grundstücksgrenze stand ein lang gestreckter Wohntrakt mit vier Wohnungen im Erdgeschoß. Ein schmaler, mit Eisengitterstäben gesicherter Balkon war über die gesamte Länge des Gebäudes gezogen und ermöglichte den Mietern den Zugang zu ihren Wohnungen im Obergeschoß. An der Westseite des Hofs bestimmten Wirtschaftslager, alte Schuppen und ein großes Magazin die Außenlinien des Grundstücks. Der Wäscheplatz, eine kleine, spärlich mit Gras bewachsene Fläche, schob sich zwischen das Magazin und einem fensterlosen Stallgebäude. Bei gutem Wetter hingen bunte Wäschestücke zum Trocknen auf den quer über den Platz gespannten Stricken, für die Kinder war er ein beliebter Spielplatz. Im Stallgebäude fütterte Rechberger drei Schweine, auch seine Hühner suchten in diesem finsteren Gebäude Schutz vor ihren Feinden während der Nacht. Um die Bildung großer Pfützen bei starkem Regen zu vermeiden, war der Lehenhof mit feinem Schotter befestigt, in der Mitte, einige Meter vor der Rampe des Auslieferungslagers, überdeckte eine runde Betonplatte einen tiefen Brunnen, der die Mieter der Wohnungen ausreichend mit Trinkwasser versorgte. Es kostete sie viel Mühe, mit der alten Schwengelpumpe einen Kübel Wasser zu füllen, der lange Schöpfarm war schwer zu bewegen und verlangte Ausdauer und körperliche Kraft. Kinder, die von ihren Müttern zum Brunnen geschickt wurden, waren auf eine kräftige Hilfe angewiesen, um ihre Wasserkannen füllen zu können. Besonders ärgerlich war es, wenn die Wassersäule im Brunnenrohr unterbrochen war und trotz kräftiger Schöpfbemühungen kein Wasser nach oben gefördert werden konnte. Die Lösung dieses Problems schien paradox zu sein, denn anstatt Wasser nach oben fördern