Das Wunder küsst uns bei Nacht - Gabriella Engelmann - E-Book

Das Wunder küsst uns bei Nacht E-Book

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

Wenn die Liebe Wunder wirkt: »Das Wunder küsst uns bei Nacht« ist der dritte Teil der gefühlvollen Wohlfühlroman-Serie »Zauberhaftes Lütteby« von Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann. Große Geheimnisse erschüttern Lütteby, die zauberhafte Kleinstadt an der Nordsee: Lina Hansen erfährt Dinge über ihre Mutter und ihre geliebte Oma Henrijke, die sie mitten ins Herz treffen. Währenddessen findet Linas beste Freundin, Pastorin Sinje, zwar endlich heraus, wer der geheimnisvolle L ist, dessen Liebesbriefe sie so sehr berührt haben, doch es scheint zu spät zu sein. Als wäre das nicht genug, hat es Linas große Liebe Jonas beruflich nach London verschlagen, und der Bürgermeister der verfeindeten Nachbarstadt Grotersum spinnt weiterhin seine bösen Intrigen. Können die Freundinnen Lüttebys Zauber bewahren und gleichzeitig ihr Glück finden? Mit unvergleichlichem Charme und Herzenswärme entführt Gabriella Engelmann in eine märchenhafte Kleinstadt an der Nordsee voller liebenswert-eigenwilliger Bewohner. Die Wohlfühlromane der Serie »Zauberhaftes Lütteby« sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Liebe tanzt barfuß am Strand - Das Glück kommt in Wellen - Das Wunder küsst uns bei Nacht

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Seitenzahl: 382

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Gabriella Engelmann

Das Wunder küsst uns bei Nacht

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Wie gern würde ich mit dir in den Wellen tanzen, den weiten Himmel über uns, das Rauschen des Meeres in den Ohren und die Ewigkeit im Herzen.«

 

Lina Hansen ist verliebt wie noch nie zuvor. Doch ihr Glück mit Jonas wird von den familiären Schatten der Vergangenheit, die unzählige Fragen aufwerfen, getrübt. Dass ihre Mutter Florence den Deckmantel des Schweigens über die Identität von Linas Vater breitet, erschwert die Versöhnung, genau wie die Erkenntnis, dass auch Großmutter Henrikje jahrzehntelang ein Geheimnis mit sich herumgetragen hat.

Als Jonas ein Unglück ereilt, gerät Linas Welt endgültig ins Wanken, und sie stellt sich die bange Frage, ob auf den Hansen-Frauen tatsächlich ein Fluch lastet und es ihnen nicht vergönnt ist zu lieben ...

 

Band 3 der Serie Zauberhaftes Lütteby von Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann

Inhaltsübersicht

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Herbst vor sechzig Jahren

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Herbst vor sechzig Jahren

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Herbst vor sechzig Jahren

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Michaelistag vor sechzig Jahren

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Herbst vor fünfunddreißig Jahren

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Herbst vor fünfunddreißig Jahren

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Epilog

Nachwort

Es war einmal eine kleine Stadt am Meer,

wunderschön und zauberhaft. Doch das Leben dort wurde

erschwert durch eine jahrhundertealte Fehde nach der

schweren Sturmflut, die als »Grote Mandränke« in die Geschichtsbücher einging.

Der Friedhof der Heimatlosen in den Salzwiesen des

Vorlands galt als letzte Ruhestätte derer, die den Tod in

den Wellen der Nordsee gefunden hatten, doch

eine von ihnen wartete noch auf Erlösung.

Denn erst wenn sie ihren Seelenfrieden findet und die Schmetterlinge wieder über den

Blüten des Strandflieders tanzen, wird endlich Frieden zwischen Lütteby und Grotersum sein.

1

Sonntag

Der Regen lässt allmählich nach, die Sonne blitzt immer wieder zwischen den Wolkenschleiern hervor, doch tief in mir ist es kalt und dunkelgrau.

Es fühlt sich an, als hätte das unerwartete Auftauchen meiner Mutter bei der Trauerfeier für Ankas verstorbenen Mann Helmut sämtliche Seelenfarben aus mir herausgewaschen und meine Gefühle eingefroren. Oder zumindest auf Eis gelegt, bis sie irgendwann mit geballter Wucht aus mir herausbrechen …

»Bleibt es dabei, dass du heute Nacht wieder bei mir im Pastorat schläfst?«, fragt Sinje, die sich bei mir einhakt und deren bloße Nähe wohltuende Wärme verströmt. Nach dem Schock, den mir der Auftritt von Florence versetzt hat, sind wir beide zum Naturstrand gegangen, damit ich ein wenig durchatmen und mich beruhigen kann. Sinjes Anwesenheit und ihr Vorschlag, ans Meer zu gehen, tun mir unendlich gut, und ich kann mir mal wieder kein Leben ohne sie vorstellen.

»Ich nehme dein Übernachtungsangebot sehr gern an, denn ich verbringe keine Minute mit meiner Mutter unter einem Dach«, erwidere ich. »Die ist doch nicht ganz dicht, nach fünfunddreißig Jahren hier aufzutauchen und so zu tun, als sei nie etwas passiert.«

»Das ist allerdings wahr«, stimmt Sinje mir seufzend zu, bückt sich und ditscht einen flachen Stein übers Wasser. Er setzt fünfmal auf, bevor er in der Nordsee versinkt. Als Kinder haben wir Wettbewerbe im Steineflitschen veranstaltet und machen das auch heute noch manchmal.

Wer wütender ist, gewinnt in der Regel, denn mit Wut im Bauch ist beim Werfen einfach mehr Kawumm drin.

»Ich versuche, mir auszumalen, wie sich Henrikje jetzt fühlt, und frage mich, was sie und meine Mutter gerade machen. Ich habe nicht den leisesten Schimmer einer Ahnung, wie sie es schafft, Florence zu verzeihen, dass sie sich zuletzt vor drei Jahren gemeldet hat«, sage ich und hebe ebenfalls einen Stein auf. »Immerhin glaubte sie genau wie ich, meiner Mutter sei etwas zugestoßen, und das muss Florence doch klar gewesen sein, oder etwa nicht? Momentan finde ich kaum Worte für das, was gerade in meinem Kopf vor sich geht. Müsste ich nicht glücklich sein statt wütend? Ist das alles eben wirklich passiert, oder habe ich das nur geträumt? Werde ich allmählich verrückt?«

»Nein, das wirst du nicht, du hast nur zurzeit viel zu viel zu verdauen und kommst nicht mehr zur Ruhe.« Sinje streicht bedächtig über die Schale einer rötlich schimmernden Muschel, als sei ihr das Fundstück besonders ans Herz gewachsen. »Aber vergiss bitte nicht, dass Henrikje trotz allen Unheils, das Florence gestiftet hat, heilfroh war, nach so langer Zeit der quälenden Ungewissheit ihre vermisste Tochter endlich wieder in die Arme zu schließen. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass sie neben der Freude und Erleichterung mit ähnlich zwiespältigen Gefühlen zu kämpfen hat wie du. Doch Henrikje ist natürlich Mutter und reagiert genau so wie jede andere liebende Mutter auch. Das hat rein gar nichts mit dir zu tun, aber das weißt du sicher selbst.«

»Im Gegensatz zu Henrikje bin ich aber nicht ambivalent, sondern völlig klar«, widerspreche ich heftiger als beabsichtigt. Es fällt mir schwer, das unbändige Gefühl schäumender Wut zu kontrollieren, das sich schon viel zu lange in mir aufgestaut hat. »Es ist unfassbar selbstsüchtig, ausgerechnet dann in Lütteby aufzukreuzen, wenn Anka Aufmerksamkeit und Zuwendung von Henrikje braucht und keine Ego-Show meiner Mutter«, bricht es voller Zorn aus mir heraus.

Ich werfe den graublau glänzenden Stein flach über das gekräuselte Wasser, er versinkt nach dem achten Sprung.

»Deshalb hat Henrikje auch geistesgegenwärtig reagiert und Florence direkt zu euch nach Hause geschickt, damit sie aus der Schusslinie ist und daheim auf sie wartet. Sie wollte wie geplant für Anka da sein, Florence vor einer Belagerung durch die Lüttebyer bewahren und natürlich vor allem dich vor diesem – ja, nennen wir ruhig das Kind beim Namen – Überfall schützen«, entgegnet Sinje und steckt die Muschel in die Tasche ihres Strickmantels. »Komm, lass uns noch ein Stück gehen, ich denke, das tut uns beiden jetzt gut.«

Unsere Fußspuren verlaufen parallel zu denen eines Vogels mit Schwimmhäuten und bilden zusammen mit den Kreisen, welche die grünen Halme der Binsenquecken in den Sand malen, ein schönes Muster. Am Himmel fliegt ein Schwarm Seeschwalben, ihre Piu-piu-Laute klingen fröhlich und wie ein Gruß an die Austernfischer, die sich gerade auf einer Sandbank im Wattenmeer versammeln. Es ist immer wieder beeindruckend zu sehen, wie sich diese Kolonien formieren. Mal fliegen weitere Vögel von rechts heran, dann wieder welche von links. Wir gehen und gehen, mit jedem Schritt gewinne ich an Stärke zurück und kann gut verstehen, wieso das Meer für viele Menschen ein Kraftquell ist. Zu sehen, wie Horizont und Nordsee eins werden, lässt alles ein Stück weit weniger schwer und bedeutsam erscheinen. Dieser Blickwinkel relativiert vieles; das Stapfen durch den Sand, das Ausbalancieren der kleinen Höhenunterschiede am Strand erdet und gibt zugleich ein ganz besonderes Gefühl von Leichtigkeit.

»Ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll, weil der Zeitpunkt mehr als unpassend ist, also falle ich am besten direkt mit der Tür ins Haus«, sagt Sinje, nachdem sie einen Blick auf das Handy geworfen hat. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich muss unseren Spaziergang abbrechen und wieder zurück, denn ich habe noch einen Termin. Komm, wann immer du willst, ins Pastorat und plündere gern auch den Kühlschrank. Ich werde allerdings erst sehr spät auftauchen … es sei denn, du brauchst mich, dann verschiebe ich mein Date natürlich.«

»Du hast eine Verabredung mit Sven?«, frage ich verblüfft. Ursprünglich wollte Sinje sich heute Abend mit ihrem Verlobten Gunnar treffen und mit ihm über die Beziehungsprobleme sprechen, die ihre Hochzeit im kommenden Jahr bedrohen, doch er hat die geplante Aussprache unter einem fadenscheinigen Vorwand abgelehnt.

»Steht mir der Name Sven auf der Stirn geschrieben, oder hast du seit Neuestem hellseherische Fähigkeiten?«, fragt Sinje und lächelt ein wenig verlegen.

»Weder noch, ich habe bloß geraten«, erwidere ich und schaue aufs Meer. Algen und Treibholz werden auf die Wellenkämme gespült und verschwinden dann wieder in den Fluten.

Die Farbe der Nordsee changiert zwischen Grün und Grau und ähnelt in ihrem Wechselspiel Sinjes emotionalem Zwiespalt in Liebesfragen, seit der sympathische Restaurator Sven Kroogmann in ihr Leben getreten ist. »Keine Sorge, ich komme schon allein klar, du weißt, dass ich mich nach einem Schock immer erst mal allein sortieren muss, bis ich das Bedürfnis habe, ausführlich über das zu sprechen, was mich belastet. Außerdem werde ich gleich mal Jonas anrufen. Mach du einfach, wonach dir der Sinn steht, aber lass dich bitte nicht erwischen. Es wäre unfair, wenn Gunnar durch Tratsch von deinem Flirt erfahren würde statt direkt von dir. Ich bleibe noch ein wenig am Strand und versuche, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass meine Mutter urplötzlich vom Himmel gefallen ist.« Ich hätte auch sagen können wie eine Riesenwelle über Henrikje und mich hinweggerollt ist. »Danke, dass ich wieder bei dir wohnen kann, auch wenn das nicht zur Gewohnheit werden sollte. Immerhin nimmst du mich bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen bei dir auf, weil ich nicht bei Henrikje sein möchte.«

»Dazu kann ich nur Folgendes sagen: Erstens bin ich deine beste Freundin, zweitens ist es meine Aufgabe als Pastorin, verirrten Schäflein Zuflucht zu gewähren, und drittens brauchst du, wie du selbst richtig erkannt hast, schnellstmöglich eine eigene Wohnung. So schön und gemütlich es bei deiner Großmutter ist, du bist nicht so frei in deinen Entscheidungen, wie du es sein solltest. Kopf hoch, das wird schon alles wieder, versprochen. Ich freue mich sehr, dass du wieder bei mir unterschlüpfst, denn unsere WG ist einfach großartig, und ich fühle mich nicht so allein, wenn du bei mir bist. Bis später, meine Süße.«

Gedankenverloren schaue ich Sinje hinterher, bis sie hinter der Biegung verschwindet. Dann lasse ich meinen Blick wieder zum Wasser schweifen und weiß plötzlich, wie ich den Abend dieses bewegenden und verrückten Tages verbringen möchte. Ich muss etwas tun, das mich von meinen unguten Gedanken und Gefühlen ablenkt, mich bewegen und auspowern.

»Du willst bei diesem Wetter aufs Meer?« Jonas wirkt entsetzt, als ich ihn anrufe und erzähle, dass ich vorhabe, mit der Florence in die Abenddämmerung hinauszufahren. »Ich wusste gar nicht, dass du segeln kannst.«

»Die Florence ist kein Segelboot«, erkläre ich. »Henrikje hat sie mir geschenkt, als sie feststellte, dass sie nicht mehr genug Kraft zum Rudern hat. Der Regen ist fast vorbei, und ich bin seefest, also spricht nichts gegen eine kleine Tour. Keine Sorge, ich weiß schon, was ich tue.«

Dass meine Mutter aufgetaucht ist, ich ab heute wieder im Pastorat wohnen werde und dringend mit Jonas über unsere Zukunft sprechen muss, möchte ich ihm lieber persönlich sagen. »Die Florence ist im Übrigen breiter und stabiler als ein gewöhnliches Ruderboot«, versuche ich, ihn zu beruhigen, obwohl ich gerade selbst Trost und Zuwendung gebrauchen könnte. Doch ich muss jetzt einen Schritt nach dem anderen machen und sachlich bleiben, deshalb überspiele ich durch Small Talk, wie aufgewühlt ich bin. »Thorsten hat das Boot vor langer Zeit nach einem Vorbild aus Amerika gebaut, wo das Rudern in rauen Gewässern schon ewig Tradition hat. Es ist wunderschön und würde dir auch gefallen.«

»Du bist also nicht nur eine echte Wassernixe, sondern übst zudem die Trendsportart Coastal Rowing aus? Lina, du überraschst mich immer wieder.«

Der Klang von Jonas’ Stimme lässt es tief in meinem Bauch kribbeln. Ich würde mich jetzt am liebsten an ihn kuscheln und ihm erzählen, dass der heutige Tag einer der wichtigsten in meinem Leben war. Der Moment, in dem Florence vor mir stand, war zugleich der schönste und schrecklichste, den ich je erlebt habe. Jonas würde von der ersten Silbe an verstehen, wie ich mich fühle und dass es gerade nichts Dringenderes für mich gibt als den Versuch, zu verarbeiten, zu begreifen und zu verzeihen.

Es ist schwer zu akzeptieren, dass der Mensch, den ich all die Jahre über so schmerzlich vermisst und um dessen Leben ich in bangen Nächten gefürchtet habe, auf einmal ohne Vorwarnung aufgetaucht ist, als trennten uns kein halbes Leben und so viele Geheimnisse.

Wie kann Florence nur so etwas tun?

Hat sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, welchen Gefühlsorkan ihr unangekündigtes Erscheinen bei Henrikje und mir auslöst? Oder hat sie das alles bewusst in Kauf genommen?

Wieder einmal wird mir klar, dass ich nichts darüber weiß, wie meine Mutter denkt und fühlt …

Doch Jonas ahnt nichts von alledem und ist gedanklich immer noch mit meiner Bootstour beschäftigt. »Versprich mir, dass du dich trotz der Wetterberuhigung vorsiehst. Ich weiß, du bist eine Küstendeern, aber pass bitte auf dich auf. Ich möchte dich, sobald es geht, wiedersehen und die schöne Nacht im Leuchtturm wiederholen«, sagt er so zärtlich, dass mein Entschluss, jetzt erst mal eine Weile allein zu bleiben, kurzfristig ins Wanken gerät. Kann ich nicht gleichzeitig eine Beziehung mit ihm aufbauen und versuchen, eine Haltung zu meiner Mutter zu finden, mit der ich leben kann? Vielleicht könnte mir Jonas sogar dabei helfen und mich emotional stabilisieren? Er ist so feinfühlig und warmherzig und zudem ein guter Zuhörer.

Aber darf ich ihm zumuten, sich mit meiner Situation auseinanderzusetzen, wo wir beide uns doch gerade selbst erst näher kennenlernen? Ich weiß, wie ich bin. Dieses Thema wird viel, viel Raum in meinen Gedanken einnehmen, und ich möchte unsere junge Liebe nicht mit meinen familiären Problemen belasten.

Und da ist zudem noch sein Traumjob in London, den er unbedingt annehmen sollte, weil ich weiß, wie glücklich ihn das macht. Wenn unsere Liebesgeschichte eine Zukunft haben soll, muss sie die ersten Klippen und Stürme überstehen, die das Leben gerade für uns bereithält. Denn Klippen wird es immer wieder geben, und es ist wichtig, herauszufinden, ob wir den Stürmen gemeinsam trotzen und aufeinander vertrauen können.

2

Nachdem Jonas und ich uns voneinander verabschiedet und uns gegenseitig einen schönen Abend gewünscht haben, gehe ich in Richtung des kleinen Hafens von Lütteby, wo der Leuchtturm steht. Hier hatten Jonas und ich ein traumhaft romantisches Rendezvous, bei dem wir uns so nahegekommen sind, wie Liebende es tun. Ich spüre immer noch seine sanften, zärtlichen Hände auf meiner Haut, seine Küsse an meinem Hals, meinen nackten Schultern, meinem Dekolleté. Seine sinnlichen Lippen, die mit meinen verschmelzen …

Der Gedanke an Jonas macht mich zugleich glücklich und tieftraurig, also kehre ich dem Leuchtturm den Rücken zu und biege zum Hafenbecken ab.

Wäre ich in der Lage, eine Fernbeziehung zu führen?, frage ich mich. Was würde die Liebe auf Distanz mit uns machen?

Würde sie sich eher festigen, weil die Sehnsucht nach dem anderen die Gefühle anheizt? Oder würden sie irgendwann weniger werden und schließlich ganz verschwinden, weil Liebe gemeinsame Zeit und Erlebnisse braucht?

Dies sind allerdings Fragen, auf die ich jetzt keine Antwort finde, daher ist es sicher besser, wenn ich durch das Rudern und körperliche Anstrengung die Rotation des Kopfkarussells verlangsame.

Es ist schon eine Weile her, dass ich mit der Florence auf dem Wasser war, doch Thorsten schaut regelmäßig nach dem Boot und vergewissert sich, dass es seetüchtig ist. Der letzte Check liegt noch nicht lange zurück, also spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, ein wenig an der Küste entlangzuschippern.

Kann dieses ewige Sinnieren und Mir-Sorgen-Machen endlich mal aufhören?, denke ich ärgerlich, als ich mit nackten Füßen vom Steg in den Rumpf des hellblau gestrichenen Boots mit dem weißen Namensschriftzug steige. Dann löse ich das Tau vom Poller und greife nach dem Ruder, um die Florence aus dem Hafen herauszumanövrieren. Es tut gut, die Holzplanken unter meinen bloßen Füßen zu spüren – sie geben mir Halt und das Gefühl von Normalität. Im ersten Moment ist es ein wenig ungewohnt, mich in die Riemen zu legen, und ich brauche eine Weile, bis ich die richtige Sitzposition gefunden habe, doch dann geht alles wie von allein. Zurzeit sind noch nicht so viele Schiffe im Hafen festgemacht wie in der Hochsaison, sodass es deutlich einfacher ist, den Weg zur offenen See zu erreichen. Der Wind zerzaust mir die Haare und streift mein Gesicht, doch das fühlt sich nicht unangenehm an, sondern hat etwas Beruhigendes. Es scheint, als wolle die Küstenbrise mir zuraunen, dass die Dinge nicht so dramatisch sind, wie sie im ersten Moment erscheinen, und dass es gut ist, dem ewigen Auf und Ab des Lebens zu vertrauen und gelassen auf seinen Wellen zu schaukeln.

»Moin, Lina, lange nicht mehr gesehen.«

Ich schaue mich verwundert um und erblicke einen Mann auf dem Segelboot schräg gegenüber, der gerade dabei ist, die Bootsplanken zu streichen. Er ist groß, Ende fünfzig, hat breite Schultern und war mein Lieblingslehrer.

»Malte, was machst du denn hier? Ist deine Auszeit etwa schon vorbei?«, frage ich und rudere dicht an sein Boot heran.

Malte Andersen hat Sinje und mich am Grotersumer Gymnasium in Politik, Gemeinschafts- und Sozialkunde unterrichtet sowie eine Philosophie-AG geleitet, an der viele Schülerinnen und Schüler mit Begeisterung teilgenommen haben. Alle waren ein bisschen verschossen in ihn, auch Sinje und ich. Er war jung, progressiv, ein wenig verrückt, und wir durften ihn duzen.

Malte legt den Pinsel hin und lächelt sein warmes, leicht spöttisches Malte-Lächeln, das genauso typisch für ihn ist wie die rötlichen Haare mit den Wellen, die winzigen Sommersprossen auf den Armen und der Nase und der blasse Teint, obwohl kaum ein Mensch sich so viel an der frischen Luft aufhält wie Malte.

»Seit zwei Tagen«, erwidert er. »Mein Sabbatical endet zwar offiziell erst in einem Monat, aber ich hatte Sehnsucht nach der Heimat. Wie geht’s dir und deiner Großmutter, alles gut bei euch?«

Beinahe sage ich: »Komm doch bald bei uns vorbei«, doch das ist derzeit wegen Florence keine Option, und ich weiß nicht, wie lange sie bei Henrikje bleiben wird.

Ihr Auftauchen hat so viel durcheinandergebracht, dass selbst die einfachsten Dinge, wie eine Verabredung mit einem netten Freund, unnötig erschwert werden. Also erwidere ich: »So weit ganz gut, ist einiges passiert. Henrikje wird sich freuen zu hören, dass du wieder im Lande bist. Schau doch mal bei ihr vorbei, wenn du Zeit hast«, statt eine Essenseinladung auszusprechen. Über Maltes Gesicht huscht ein unübersehbares Fragezeichen, er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich ihm gegenüber für gewöhnlich nicht so kurz angebunden bin, doch ich kann mich jetzt nicht länger mit ihm unterhalten, ich muss los.

Ich muss aufs Meer. Ich muss allein sein.

»Das mache ich, Lina, das mache ich. Und du pass auf dich auf, ja? Also, bis ganz bald, bin gespannt zu hören, was du und Sinje im letzten Jahr so getrieben habt. Und ich kann es kaum erwarten, wieder zu segeln, sobald ich die Schönheit hier wieder hübsch gemacht habe.«

Die Schönheit heißt Windsbraut und ist Maltes ganzer Stolz.

Ich erinnere mich an tolle Touren mit dem Segelboot, zu denen er uns nach dem Abi immer mal wieder mitgenommen hat.

Malte, der Mann, der den Wind, das Meer und die Freiheit braucht wie kaum ein Zweiter. Das musste schon so manche Frau akzeptieren, die sich heftig in den Lehrer verliebt hatte und dann daran gescheitert war, dass Malte sich nicht binden wollte. Er war ein erklärter Freigeist und tat ausschließlich das, wonach ihm der Sinn stand, nämlich nächtelang mit Schülern philosophieren, Umweltprojekte unterstützen, reisen, sich fortbilden, seinen Horizont erweitern und das Leben genießen – in jeglicher Beziehung.

»Tschüss, Malte, ich muss dann mal«, sage ich und nehme Kurs auf die Hafenausfahrt. Malte verübelt es mir sicher nicht, dass ich so unkommunikativ bin, schließlich war er derjenige, der uns immer dazu ermutigt hat, authentisch zu sein und uns nicht für andere zu verbiegen. Nachdem der Hafen hinter mir liegt, werden die Böen stärker, doch das stört mich nicht, denn ich habe Rückenwind, den ich fürs Rudern nutzen kann. Da ich schon länger nicht mehr mit der Florence hinausgefahren bin, paddle ich aus Sicherheitsgründen parallel zum Ufer.

Ich genieße die frische, salzhaltige Luft, die Schreie der Silbermöwen und den hohen Himmel über mir, der sich allerdings verdunkelt und nach und nach die Sonnenstrahlen verschluckt. Ich freue mich, dass Malte wieder da ist, und weiß, dass Henrikje es genießen wird, zu erfahren, was er in diesem knappen Jahr, seit er Grotersum verlassen hat, erlebt hat.

Was sie und Florence wohl gerade machen?, frage ich mich erneut. Essen sie gemeinsam zu Abend?

Unterhalten sie sich miteinander, oder schweigen sie sich an?

Es war merkwürdig, die Stimme meiner Mutter zu hören, denn sie klang zugleich fremd und vertraut, als sie sagte: »Mein Kind, nun habe ich dich endlich wieder.«

Danach nahm sie mich so fest in den Arm, dass ich mich nur mühevoll aus ihrer Liebkosung winden konnte. Ich erkannte die Fassungslosigkeit, die Trauer und die Ungläubigkeit darüber, dass ich nicht so reagierte, wie sie es sich erhofft hatte, doch ihre sichtliche Verstörung ließ mich seltsam unberührt. Diese Umarmung fühlte sich nun mal nicht warm und tröstlich an, sondern eher bedrohlich, beinahe wie ein Klammergriff.

Florence’ Augen, den meinen so ähnlich, verschatteten sich, und ihre Lippen formten leise die Worte: »Bitte entschuldige, das war alles sehr unüberlegt«, als sie mich schließlich losließ. Michaela hatte neben ihr gestanden, bereit, ihrer ehemals besten Freundin eine Stütze zu sein, obgleich Florence sie durch ihr spurloses Verschwinden mindestens genauso sehr verletzt hatte wie Henrikje und mich.

Doch würde ich Sinje nicht auch zur Seite stehen, egal, was sie getan hat?, frage ich mich. Obwohl ich vorhin gefroren habe, wird mir wärmer und wärmer. Die körperliche Anstrengung und die Anspannung treiben mir einen Schweißfilm auf Stirn und Nase, genau wie ich es vorhin bei Florence gesehen habe. Jonas sagte, dass wir uns ähneln, als er eines ihrer Fotos bei mir in der Wohnung betrachtet hatte, und ich kann tatsächlich nicht leugnen, dass ich für einen Augenblick glaubte, in mein älteres Spiegelbild zu schauen.

Was meine Mutter wohl vorhat? Wie lange wird sie bei Henrikje bleiben? Natürlich kann ich mich nicht ewig vor ihr verstecken und der Auseinandersetzung mit ihr aus dem Weg gehen, doch ich brauche jetzt Zeit für mich und einen Ort, an dem ich mich sicher vor ihrem emotionalen Überfall fühle. Deshalb fände ich es besser, wenn Florence erst mal wieder abreisen würde. Mir gegenüber hatte sie einen Vorsprung: Sie wusste, dass sie mich bei der Trauerfeier treffen würde, ich nicht. Michaelas überraschter Gesichtsausdruck wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben, ebenso wie der Jubelschrei meiner Großmutter, als sie ihre verloren geglaubte Tochter sah. Nur ich war nicht in der Lage gewesen, mich zu freuen, obwohl ich seit meiner Kindheit von diesem Augenblick geträumt habe.

Doch in meinen Fantasiebildern war es anders zugegangen: Ich hatte einen wunderschönen, handgeschriebenen Brief von meiner Mutter erhalten, in dem sie mich fragte, ob ich sie kennenlernen möchte. Ich hatte Bedenkzeit gehabt, die Möglichkeit, mich mit Henrikje zu beraten, die Chance, mich innerlich zu wappnen. Die Chance, eine Wahl zu haben. »Man sollte immer eine Wahl haben«, murmle ich, und der Wind trägt meine Worte hinaus aufs offene Meer zu den Wassergeistern und Meernixen. Erst jetzt bemerke ich die große, graue Wolke, die sich dem Boot mit rasender Geschwindigkeit von der Wasserseite nähert. Binnen Sekunden hüllt sie die Nordsee ein, ich fühle mich schon bald wie in Watte gepackt, abgeschnitten von der Außenwelt, denn ich kann nur noch wenige Meter weit sehen. Seenebel, denke ich mit einer Mischung aus Faszination und Furcht, dann habe ich mit einem Schlag keine Sicht mehr und verliere das Gefühl dafür, wo sich die Küste befindet und wo das offene Meer – wo der Anfang ist und wo das Ende.

Ruhig, Lina, ruhig, spreche ich mir laut Mut zu, als die Furcht Oberhand gewinnt, doch meine Stimme wird ebenso vom Nebel verschluckt wie der Strand und die Nordsee.

Denk daran, was Thorsten und Helmut dich gelehrt haben: Ruhe bewahren, tief durchatmen und den Kompass benutzen.

»Du bist nahe an der Küste«, sage ich mir mantraartig vor, als mir einfällt, dass ich gar keinen Kompass dabeihabe. Mittlerweile hüllt der Nebel mich so stark ein, dass ich kaum noch meine Hände erkennen kann. »Orientier dich nach links, um irgendwo anzulegen, den Hafen kannst du auch später ansteuern. Bewahr die Nerven, dir kann nichts passieren, Lina.«

Und plötzlich ist es totenstill um mich herum.

Das Kreischen der Möwen ist verstummt, das Raunen des Windes ebenfalls, die Welt scheint den Atem anzuhalten.

Wieso habe ich nicht auf Jonas gehört?, frage ich mich, während stumme Verzweiflung mich erfasst. Mein Herz rast, mir wird übel und schwarz vor Augen. Als sich messerscharfe Stiche in meine Brust bohren und mein linker Arm schmerzt, befürchte ich das Allerschlimmste.

Ist das jetzt etwa das Ende?

In Sekundenschnelle ziehen all die Geschichten an mir vorbei, die sich um den gefährlichen und äußerst heimtückischen Seenebel ranken: Wattwanderer, die in den tiefen Prielen den Tod fanden, in Seenot geratene Schiffe, deren Wracks erst Jahre später entdeckt wurden. Die Nordsee fordert trotz all ihrer Schönheit immer wieder Opfer, und nun scheint auch meine Zeit gekommen zu sein. Mir schwinden die Sinne, und plötzlich ist da … gar nichts mehr …

3

Ich spüre etwas an meinen Lippen, das nach Glas schmeckt, als Nächstes etwas Feuchtes. Es könnte Wasser sein, das zuerst meinen trockenen Gaumen befeuchtet und dann meine Kehle hinabrinnt. Ertrinke ich gerade?

»Hilfe ist schon unterwegs, Lina«, höre ich eine Stimme sagen und versuche, die Augen zu öffnen. Die Flüssigkeit ist nicht salzig, vielleicht habe ich ja Glück gehabt und bin noch am Leben. Doch ich weiß es nicht genau, denn alles fühlt sich fremd und unwirklich an, als wäre ich meilenweit entfernt von der freundlichen Stimme.

»Können Sie mich hören?«, fragt diese Stimme, die einem Jungen oder Mann gehört, weiter. »Wenn ja, geben Sie mir bitte ein Zeichen. Ein einfaches ›Daumen hoch‹ würde mir für den Moment schon genügen.« Mein Körper gehorcht mir nicht, sosehr ich auch versuche, ihn unter Kontrolle zu bringen. Ich fühle mich so machtlos wie noch nie zuvor – gefangen in einem Albtraum, aus dem ich sofort erwachen möchte.

Oder sollte ich mich einfach ergeben und schlafen …?

Als Nächstes höre ich zwei weitere Stimmen, beide weiblich. »Danke, dass Sie so schnell reagiert und Lina aus dem Wasser gezogen haben«, sagt die eine.

Die andere: »Kannst du mich hören, Lina? Ich bin’s, Stephanie Gerbers, deine Hausärztin. Der junge Mann hat dich aus dem Seenebel gerettet, aber bitte rede mit uns, damit wir wissen, dass du uns hörst.«

Die Stimme von Frau Doktor Gerbers wirkt Wunder und bringt mich in die Wirklichkeit zurück – vorausgesetzt, das ist die Wirklichkeit. Unsere Hausärztin kennt mich von klein auf, und ich vertraue ihr. Ich würde wirklich gern mit ihr sprechen und fragen, was mit mir los ist, doch es fällt mir so schwer …

Unter großer Kraftanstrengung gelingt es mir irgendwann, die Augen zu öffnen, aber ich sehe alles um mich herum verschwommen, es fühlt sich an, als hätte ich einen endlosen Marathonlauf hinter mir.

»Moin, Lina«, sagt Frau Doktor Gerbers und beugt sich lächelnd über mich. Dann untersucht sie mich behutsam, nach und nach lösen sich die Nebelbilder auf, und ich kann meine drei Helfer erkennen: die Ärztin, eine junge Sanitäterin und einen Mann, der mir vage bekannt vorkommt.

Doch woher?

Obwohl ich mit jeder Minute mehr zur Besinnung komme, hat die Situation etwas völlig Abstraktes, Abstruses.

Nachdem Frau Doktor Gerbers mir einige Fragen gestellt, mich abgehört und abgetastet sowie die Sauerstoffsättigung gemessen hat, fragt sie: »Kann es sein, dass du in letzter Zeit sehr viel Stress und Sorgen hattest, Lina? Momentan spricht nämlich alles dafür, dass du aufgrund eines Kreislaufzusammenbruchs Panik bekommen und das Bewusstsein verloren hast und aus dem Boot gekippt bist, als eine höhere Welle es erfasst und zum Kippeln gebracht hat. Du kannst von Glück sagen, dass Lars Baumann dich gesehen hat, bevor der Seenebel auf die Küste zugekrochen ist, als er zum Stand-up-Paddeln aufs Wasser wollte.«

Kreislaufzusammenbruch? Ohnmacht? Lars Baumann?

Die Worte und der Name Lars wirbeln fremd und unwirklich in meinem Kopf umher – es dauert eine Weile, bis ich ihre Bedeutung erfasst habe: Das, was sich für mich wie ein Herzinfarkt angefühlt hat, war in Wirklichkeit offenbar ein Schwächeanfall. Kein Wunder, nach allem, was ich in den letzten Wochen erfahren habe und womit ich mich auseinandersetzen musste. Das unerwartete Auftauchen meiner Mutter war wohl der Auslöser, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Danke … Lars«, sage ich zu dem jungen Mann, der mich besorgt anschaut und genauso tropfnass ist wie ich. Zum Glück sind wir beide in Decken gehüllt, mir ist mit einem Schlag so kalt, dass meine Zähne klappern, was das Reden erschwert. Doch genau dieser Kälte habe ich es zu verdanken, dass ich nach und nach zu mir komme und begreife, was passiert ist.

»Sie wissen doch hoffentlich, wer ich bin«, erwidert Lars, in dessen Blick Besorgnis liegt. »Wir haben uns beim …«

»… Vorstellungsgespräch kennengelernt«, erwidere ich, weil meine Erinnerung allmählich zurückkehrt. »Sie sind der neue Kollege in der Touristeninformation und nun auch mein Lebensretter. Danke, dass Sie so schnell reagiert haben.«

»Aber das war doch selbstverständlich«, erwidert Lars. »Das hätte jeder getan, wenn er gesehen hätte, was passiert ist.«

»Trotzdem haben Sie sich selbst in Gefahr gebracht«, erwidere ich, auch wenn mir das Sprechen schwerfällt.

»Genug geschnackt, wir bringen dich jetzt heim, Lina«, sagt meine Hausärztin energisch. »Du brauchst Ruhe und die Fürsorge von Henrikje. In fünf Minuten kommt der Krankenwagen mit den starken Jungs, die helfen dir dann hinauf in den zweiten Stock.«

Oh, nein, ich will doch gar nicht nach Hause. Denn da ist Florence! Ich möchte zu Sinje. Doch wie es scheint, bleibt mir gerade keine andere Wahl.

Nur wenig später klingeln die Sanitäter bei Henrikje. Der Rettungswagen durfte auf den Marktplatz fahren und direkt vor dem Haus parken. Die Ärztin hat meine Großmutter vorgewarnt und ihr erzählt, was passiert ist, denn ich selbst war dazu außerstande. Abgesehen davon, dass ich noch unter Schock stehe, ist mein Handy natürlich nass geworden. Gut, dass es wasserdicht ist und ein Outdoor-Smartphone, das ich stets in einer speziellen Hülle trage, da ich schon einmal ein Telefon ins Wasser habe fallen lassen. Hätte ich es nicht an der Kette um den Hals getragen, läge es jetzt auf dem Grund der Nordsee, genau wie meine Schuhe, die ebenfalls über Bord gegangen sind. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, was aus der Florence geworden ist und wohin die Nordseewellen sie getragen haben …

»Kind, was machst du nur für Sachen?«, fragt Henrikje, als sie die Tür zum Flur unseres Giebelhäuschens öffnet. Die starken Jungs haben mich links und rechts untergehakt, damit ich nicht stürze. Ich luge ihr über die Schulter, besorgt, Florence könnte dort stehen, doch sie ist nicht zu sehen. »Bringt Lina bitte nach oben, da warten schon eine Wärmflasche und eine große Kanne Tee.« Nachdem wir oben angekommen sind, drückt meine Großmutter beiden Helfern dankbar die Hand, während ich mich erschöpft auf das Bett sinken lasse. »Wie fühlst du dich, meine Kleine?«, fragt Henrikje und schenkt Tee aus der hübschen Porzellankanne in meinen Lieblingsbecher. Dann breitet sie zwei Wolldecken über mir aus. »Das war alles ein bisschen viel auf einmal, nicht wahr?«

»Das kann man wohl sagen«, murmle ich und stopfe mir ein Kissen in den Rücken. Es ist warm und tröstlich, den Becher zu umklammern. »Zum Glück war Lars Baumann so geistesgegenwärtig, mich nicht aus dem Blick zu lassen, als die Seenebelbank auf die Küste zukam. Ich war so in Gedanken, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie sich die Nebelsuppe zusammengebraut hat.«

»Kein Wunder, bei allem, was du in letzter Zeit erlebt hast. Du solltest endlich zur Ruhe kommen und wieder ins Gleichgewicht finden. Was auch immer ich dazu beitragen kann, dir zu helfen, werde ich tun. Versprochen.«

»Ist …?« Etwas in mir weigert sich, das Wort Mutter auszusprechen, also ersetze ich den Begriff durch ihren Namen. »Ist Florence noch da?«

»Ja, sie ist unten in der Stuv, aber keine Sorge, du wirst sie nur sehen, wenn du das möchtest. Es war nicht richtig, ohne Vorwarnung in dein Leben zu platzen, das habe ich ihr auch sehr deutlich gesagt.« Die grünen Augen meiner Großmutter sprühen Funken wie die einer Löwin, die ihr Junges verteidigt. Dabei ist das Junge in Wahrheit ihre eigene Tochter, nämlich Florence.

»Bleibt sie, oder was habt ihr beide besprochen?«, frage ich, auch wenn ich am liebsten gar nicht über die Frau reden möchte, die mich als Baby im Stich gelassen hat.

»Das kommt darauf an, ob du sie sehen möchtest. Tatsächlich lebt sie nicht weit von hier, in einem kleinen Häuschen nahe Garding. Sie hat sich gerade eine Woche Urlaub genommen, kann also in Lütteby bleiben, aber auch wieder zurückfahren, sie überlässt diese Entscheidung uns.«

»Wie lange schon?« Kaum ausgesprochen, bereue ich meine Frage. Sollte sich nämlich herausstellen, dass Florence seit Längerem in der Nähe wohnt und Henrikje, Michaela und mir dadurch, dass sie uns keine Postkarten mehr geschickt hat, das Gefühl vermittelt hat, ihr sei etwas zugestoßen, könnte ich ihr das nie verzeihen.

»Offenbar eine ganze Weile«, erwidert Henrikje und senkt den Blick. Für sie muss die Situation noch schwieriger sein als für mich, schließlich steht sie zwischen Florence und mir und ist zugleich unser Bindeglied. »Aber lass uns diese Details erst besprechen, wenn du dich besser fühlst. Du musst nicht im Bett bleiben, solltest aber auf dein Seelenheil achten und dir Zeit nehmen, alles zu verarbeiten, was in den vergangenen Wochen geschehen und auf dich eingestürzt ist. Deshalb bitte ich Florence, morgen wieder heimzufahren, dann bleibt uns der heutige Abend, um miteinander zu sprechen. Ich habe jetzt ihre Telefonnummer und ihre Adresse, kann sie also künftig jederzeit anrufen oder besuchen. Für mich hat dein Wohlbefinden absoluten Vorrang, und dazu gehört, dass du dich in diesem Haus sicher und geborgen fühlst. Oder wie siehst du das? Ich richte mich in allem ganz nach deinen Wünschen.«

»Das ist wirklich lieb von dir«, murmle ich und muss mit einem Mal so sehr gähnen, dass mir Tränen in die Augen schießen.

Mein Körper und meine Gliedmaßen sind bleischwer, ich bin todmüde und habe keine Kraft mehr zu reden.

Momentan ist mir alles egal.

Ich möchte nur noch schlafen und vergessen …

Herbstvor sechzig Jahren

»Willst du dich vergiften oder eine wilde Party mit bewusstseinserweiternden Drogen schmeißen?«, fragte das Mädchen. Sie hatte den Jungen schon eine ganze Weile beobachtet, ohne dass er es merkte, denn sie war flink wie ein Wiesel und kannte sich im Wald aus wie keine Zweite. Deshalb wusste sie auch, an welchen Stellen der Boden so moosig und laubbedeckt war, dass das verräterische Knacken, ausgelöst durch die Bewegung ihrer Füße, verschluckt wurde.

»Was ist das denn für eine Frage, und wer will das wissen? Ich rede nur mit denjenigen, die sich zeigen.« Der Junge drehte sich in die Richtung, aus der er ihre Stimme vernommen hatte, und nun sah sie sein Gesicht zum ersten Mal von vorn.

Es war offen und freundlich, in seinen dunkelblauen Augen blitzte der Schalk auf, was ihr sofort gefiel.

Sie löste sich aus der Deckung, welche die riesige, über tausend Jahre alte Steineiche mit dem dicken Stamm ihr geboten hatte. »Ich«, sagte sie und lächelte den Jungen offen an. Er war ungefähr so alt wie sie selbst, sechzehn, allerhöchstens siebzehn Jahre.

»Und wieso?«

»Weil du gerade mindestens zwei äußerst unverträgliche Pilzarten in deine Taschen gesteckt hast.«

»Unsinn«, erwiderte der Junge und reckte trotzig das Kinn, wobei ihm eine dunkelblonde Strähne ins Gesicht fiel. »Was soll denn an Pfifferlingen und Röhrlingen gefährlich sein?«

»Ihre giftigen Doppelgänger«, erwiderte das Mädchen knapp und näherte sich dem Jungen. »Zeig doch mal her, ich habe bestimmt recht.«

»Worum wetten wir?«

Sie überlegte. Welcher Wetteinsatz war hoch genug für den Preis einer verhinderten Lebensmittelvergiftung, die vielleicht sogar tödlich endete?

»Ich wette nicht um das Leben«, erwiderte sie schließlich. »Wenn du mir nicht glaubst, dann lass es, obwohl du Satansröhrlinge und spitzbuckelige Rauköpfe gesammelt hast. Der eine führt zu schmerzhaftem Bauchweh, der andere tötet dich langsam, aber sicher. Das sollte dir klar sein.«

»Bist du öfter hier?«, fragte der Junge und betrachtete das Mädchen eingehend. An seiner Miene war nicht abzulesen, ob ihm gefiel, was er sah, aber das machte nichts. Wenn das Mädchen durch den Gespensterwald auf der Anhöhe streifte, unter dessen Boden die Pesttoten aus dem 14. Jahrhundert begraben waren, dann scherte es sich nicht darum, ob es wegen der zerzausten, wirren Haare und verschmutzten Kleider aussah wie eine wilde Hexe.

»Ich lebe praktisch hier«, erwiderte sie, obgleich das nicht ganz stimmte. Doch sie nutzte jede freie Minute, um hier zu sein, den Stimmen der Waldvögel zu lauschen, von denen einige den Gesang schon vor Beginn der von ihr so geliebten Dämmerung anstimmten. Sie mochte das emsige Summen der Waldbienen, erfreute sich an den Erdhügeln, welche die Maulwürfe auf der Suche nach Raupen und Regenwürmern auftürmten, und an der bunten Färbung der Laubbäume im Herbst. Der Anblick von rotem Schlehdorn, den Beeren der Eiben und den kleinen Zieräpfeln, aus denen man, zusammen mit Hagebutten, hübsche Kränze flechten konnte, ließ ihr Herz höherschlagen, und sie kannte kaum einen anderen Ort, an dem sie sich so lebendig fühlte wie hier.

»Gruselst du dich gern oder spielst Verstecken?« Der Junge nestelte an den Taschen seines braunen Samtsakkos, das für einen Ausflug in den Wald viel zu edel war, holte drei Pilze hervor und zeigte sie ihr.

»Vielleicht beides«, erwiderte sie kokett und betrachtete seine Handflächen. Die Nägel waren kurz geschnitten, doch verriet eine dunkle Spur, dass er bis eben in der Erde gewühlt hatte. »Im Übrigen haben wir beide recht. Zwei von diesen Pilzen sind giftig, der dritte ist ein echter Pfifferling. Sammelst du die Pilze für deine Mutter oder zu deinem eigenen Vergnügen?«

»Für meinen Vater, denn der ist bei uns daheim fürs Kochen zuständig. Heute Abend soll es Pilzpfanne mit Kartoffeln geben, die essen wir alle gern.«

»Klingt, als ginge es bei euch nicht ganz so konventionell zu«, erwiderte sie und bemerkte, dass der Junge sie von Minute zu Minute mehr interessierte. »In Lütteby herrscht leider immer noch weitgehend die klassische Rollenverteilung.«

»Meine Mutter hat keine Lust, sich nur um den Haushalt zu kümmern, sie näht, baut Gemüse im Garten an, arbeitet stundenweise in der Bibliothek in Grotersum und liest selbst sehr gern. Wenn sie in ihren Bücherwelten versunken ist, kann nichts und niemand sie dort herausholen, es sei denn, er ist bereit, sich gewaltigen Ärger einzuhandeln.«

Nun war die Neugier des Mädchens erst recht entflammt: eine Mutter, die den Haushalt zugunsten von Büchern hintanstellte?

Wie sehr wünschte sie sich, dass ihre eigene Mutter sich ein Scheibchen von so einer Haltung abschnitt. Doch sie war konservativ und wich keinen Millimeter von ihrem Weltbild ab, obwohl die Welt sich gerade dramatisch schnell veränderte, Frauen endlich selbstbewusster wurden und immer häufiger lautstark ihre Rechte einforderten. Das Wesen ihrer Mutter war nach außen hin still, sanft und angepasst, doch es gab immer wieder Momente, in denen das Mädchen das Gefühl hatte, dass sich hinter dieser Fassade eine andere Frau verbarg, die jedoch nie zum Vorschein kam.

»Wieso hast du eigentlich keinen Korb dabei, wenn du Pilze sammeln gehst?«, fragte sie in der Hoffnung, sich noch ein Weilchen mit dem Jungen unterhalten zu können, den sie noch nie zuvor gesehen oder bewusst wahrgenommen hatte. Stammte er auch aus Lütteby? Und wenn ja: Wieso nur waren sie einander noch nie begegnet, auch nicht in der Schule?

»Weil ich ihn daheim vergessen habe.«

»Wie unaufmerksam von dir. Oder findest du es einfach nicht lässig, einen Korb zu tragen?«, mutmaßte sie.

»Wer weiß?«, erwiderte der Junge schulterzuckend und grinste so frech, dass dem Mädchen schwindelig wurde. Ihre Beine schienen plötzlich nicht mehr zu ihrem Körper zu gehören.

Die Liebe, so sagte man, konnte einem die Knie weich werden lassen. Und nun erfuhr das Mädchen am eigenen Leib, was das bedeutete, wovon es schon so viel gehört, es aber nie geglaubt hatte.

4

Nach einer unruhigen Nacht mit wilden Träumen, aus denen ich immer wieder schweißgebadet erwacht bin, halte ich es im Bett nicht mehr aus und stehe auf.

Die Ärztin und Henrikje haben mir geraten, zur Ruhe zu kommen, doch genau diese Ruhe schwächt mich, so gern ich für gewöhnlich allein mit mir und meinen Gedanken bin.

Immer wieder stürmen Bilder meines gestrigen Kenterns auf mich ein, wirken geradezu ekelhaft symbolisch und vermischen sich mit denen von meiner Begegnung mit Florence. Ich wünschte, ich könnte irgendwohin flüchten, wo diese Bilder und meine Gefühle mich nicht einholen.

»Ich muss dringend arbeiten, sonst werde ich noch verrückt«, murmle ich, während ich unter der Dusche stehe, versuche, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und die Ereignisse von Sonntag so rational wie möglich zu betrachten.

Was genau ist passiert?

Meine Mutter ist aufgetaucht – im Prinzip eine gute und erleichternde Neuigkeit – und hat mit ihrem Erscheinen alles auf den Kopf gestellt. Das war natürlich unerwartet und ein absoluter Schock, doch nun ist es meine Aufgabe, nicht in diesem emotionalen Chaos unterzugehen, sondern es zu bewältigen. Sei die Kapitänin auf dem Schiff deines Lebens, habe ich mal in einem Roman gelesen, und ich finde diesen Leitsatz grandios. Doch manchmal ist es gar nicht so einfach, selbst das Ruder in der Hand zu haben, besonders wenn hohe Wellen über einem zusammenschlagen und man kurz davor ist, jegliche Hoffnung und den Überblick zu verlieren …

Was die reale Havarie mit dem Boot betrifft, so hatte ich Gott sei Dank einen Schutzengel in Gestalt unseres neuen Mitarbeiters Lars Baumann und bin körperlich unversehrt geblieben. An diesem Unfall bin ich eindeutig selbst schuld, denn ich hätte wissen müssen, dass es nicht ratsam ist, aufs Wasser zu gehen, wenn ich gedanklich nicht hundertprozentig beim Rudern bin. Thorsten hat mir von klein auf eingeschärft, an der Küste wachsam zu sein und nichts zu riskieren, weil die Nordsee gefährlich und rau ist, wie jedes kleine Kind weiß.

Die Dinge sind also, wie sie sind, und jetzt gilt es zu überlegen, wie ich mit der augenblicklichen Situation umgehe. Ich muss unbedingt alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass sich so etwas wiederholt.

Alltag, Normalität, Selbstfürsorge, Ablenkung …

Ich zähle alle Begriffe auf, die mir gerade in den Sinn kommen, um die Nerven zu beruhigen, atme tief durch, stelle das Wasser aus und greife nach dem flauschigen Handtuch, das auf dem kleinen Hocker vor der Dusche bereitliegt.

Anziehen, Haare kämmen, frühstücken, Zähne putzen und rausgehen …

Vor allem aber: Mit Jonas sprechen, nach dem ich mich so sehr sehne, dass es in jeder Faser meines Körpers und in jedem Winkel meines Herzens wehtut. Hat er versucht, mich anzurufen? Hat er sich Sorgen gemacht, weil er mich nicht erreichen konnte? Als ich mein Smartphone von der Kommode im Flur zur Hand nehme, sehe ich, dass es dringend geladen werden muss, falls es überhaupt noch funktioniert. Also schließe ich es ans Ladekabel und warte darauf, dass die ersten ungelesenen Nachrichten aufploppen. Und tatsächlich hat das wasserdichte Telefon gehalten, was der Hersteller verspricht. Wie gut, denn ich muss mich unbedingt bei Jonas melden.

Sinje fragt, wieso ich nicht im Pastorat übernachtet habe, Malte macht sich Sorgen, ob mich der Seenebel erwischt hat, und Jonas schickt mir einen Gutenmorgengruß mit den Worten: »Habe Sehnsucht nach dir.« Ich beantworte in Windeseile alle Fragen und überlege dann, was ich Jonas schreiben soll. Ich möchte nicht, dass er von jemand anders von meinem Unfall erfährt, sondern will es ihm von Angesicht zu Angesicht erzählen. So toll ich es finde, Text- oder Sprachnachrichten schicken zu können – sie ersetzen keine persönliche Begegnung. Deshalb antworte ich mit einem schlichten »Vermisse dich auch« und verlasse dann die Wohnung. Ich hoffe, wir haben bald die Gelegenheit, uns zu treffen, damit ich ihm in die Augen sehen kann, wenn ich ihm erzähle, was sich ereignet hat.

»Moin, Lina, alles klar bei dir?«, fragt Ahmet freundlich lächelnd, als ich, immer noch ein wenig benommen, in die Morgensonne blinzle. Kaum habe ich meinen Fuß vom Eingang unseres schönen Giebelhäuschens auf den Marktplatz gesetzt, umfängt mich auch schon das geschäftige Treiben eines gewöhnlichen Wochenanfangs in Lütteby. Meine Freundin Amelie ist auf dem Weg zu ihrem Café, der Postbote dreht gerade seine Runde, Handwerker renovieren lautstark das Restaurant nebenan. Die Musik aus ihrem Radio beschallt den ganzen Platz.

Es läuft alles wie gewohnt, und auch ich werde wieder zur Normalität zurückfinden, ich muss einfach! Also sage ich: »Ja, alles klar, danke dir. Ich komme gleich vorbei und hole die Zeitung.«

Nachdem Ahmet im Kiosk verschwunden ist, spüre ich ganz bewusst die wohltuende Wärme der Sonne auf der Haut, die sich in den vergangenen Tagen ziemlich rargemacht hat. Es tut gut zu sehen, wie ihre Strahlen den zarten Grauschleier durchdringen, der nun schon eine ganze Weile über unserem kleinen Städtchen gelegen hat. Henrikje ist gerade dabei, einen der Postkartenständer auf das Kopfsteinpflaster vor dem Lädchen zu rollen, und mustert mich erstaunt, als ich ihr wortlos dabei zur Hand gehe, so, wie ich es immer tue, auch wenn ich morgens Dienst in der Touristeninformation habe.

»Danke für deine Hilfe, Linchen«, sagt sie schließlich. »Geht’s dir denn gut, mien Seuten? Möchtest du heute wirklich wieder arbeiten?«

Wir haben uns seit gestern Abend nicht mehr gesehen, da ich sofort eingeschlafen bin und heute bei mir gefrühstückt habe, aus Sorge, Florence in die Arme zu laufen. »Alles bestens, mach dir keine Gedanken«, versuche ich, Henrikje zu beschwichtigen. »Für mich ist die Arbeit ein wichtiger und schöner Bestandteil meines Alltags, also werde ich heute das tun, was ich auch sonst getan hätte.«

»Das ist sicher eine gute Idee«, stimmt Henrikje mir zu, nachdem sie mir nochmals tief in die Augen geschaut und dabei ein bisschen geseufzt hat. Wenn es nach ihr ginge, bliebe ich noch ein Weilchen im Bett oder ginge im Wald spazieren – doch das ist für mich gerade keine Option. »Deine Mutter ist nach dem Frühstück zurück nach Garding gefahren. Wir haben die ganze Nacht lang geredet, und es bedrückt sie, was ihr Auftauchen bei dir angerichtet hat. Sie weiß, dass sie viele Fehler gemacht hat, und es tut ihr sehr, sehr leid. Ich soll dir liebe Grüße bestellen, sie hofft, dass du ihre Entschuldigung annimmst und irgendwann Lust hast, dich bei ihr zu melden.«