Das Ziada Projekt - Enza Renkal - E-Book

Das Ziada Projekt E-Book

Enza Renkal

0,0

Beschreibung

»Es stand mir nicht zu, etwas infrage zu stellen. Ich war nur eine kleine ausführende Kraft in einem großen Zahnrad, von dem ich kaum etwas wusste. Mein Chef nannte uns deswegen mit seinem italienischen Humor Vite. Er bezeichnete uns als Schraube, denn mehr waren wir nicht wert. Ersetzbar. Wir waren alle nur Objekte. Objekte, die andere Zielobjekte einsammelten und dafür königlich entlohnt wurden.« Das ist das Leben der 25-jährigen Lilly Anders, die seit mehreren Jahren für eine Untergrundorganisation arbeitet. Aber als eines Tages ein Ziel ihre ursprüngliche Identität kennt, beginnt sie dieses Leben zu hinterfragen. Denn welche Identität hat man mit manipulierten Erinnerungen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Das Ziada Projekt – Enza Renkal

Impressum

Enza Renkal

c/o autorenglück.de

Franz-Mehring-Str. 15

01237 Dresden

Für Pakete bitte gesondert via E-Mail anfragen:

[email protected]

Texte: © Copyright 2022 by Enza RenkalUmschlag:© Copyright 2022 by EnzaRenkal

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

1.

Der Brief war schon so oft gelesen und wieder zusammengefaltet worden, dass die Buchstaben direkt auf der Linie der Falz zur Hälfte verschwunden waren. Das Stück Papier lag sicher verstaut in seiner Umhängetasche, die er mit beiden Händen auf seinem Schoß festhielt. Er wollte nicht unhöflich sein und die Tasche auf den Nachbarsitz stellen. Genauso wenig wollte er seine Reisetasche in den Gepäckfächern des Zuges ablegen, wie es die meisten Mitreisenden mit ihren Koffern und Taschen taten.

Der Inhalt war für ihn zu kostbar, als dass er die Tasche für einen kleinen Moment aus den Augen lassen würde. Und dabei ging es ihm nicht im Geringsten um seine Kleidung oder das andere Reisezubehör, dass er vorsorglich für einen Aufenthalt von zwei Wochen mitgenommen hatte. Es war der Inhalt des Briefes gewesen, der vor vier Tagen in seinem Briefkasten gelandet war, für den er kurzfristig den halben Jahresurlaub bei seiner Chefin erbettelt hatte, um mit dem nächstmöglichen Zug von Göteborg nach Deutschland zu fahren.

Sein Ziel war Linberg, eine Kleinstadt in Deutschland von der er bisher noch nie etwas gehört hatte. Aber das spielte keine Rolle. Genauso wenig, wie es eine Rolle spielte, dass er nur ein kleines Zimmer in einer kleinen Pension buchen konnte, obwohl er sich für gewöhnlich mit nichts unter vier Sternen abgab. Für das Versprechen in dem Brief würde er um die halbe Welt reisen und dort campen. Der Inhalt des Briefes hätte auf eine Postkarte gepasst. Vielleicht sollte der anonyme Brief durch das Format eines am Computer geschriebenen Briefpapiers seriöser wirken als eine handschriftliche Postkarte mit Tiermotiv. Aber auch das wäre ihm egal gewesen.

Er musste nicht auf seinem Handykalender nachsehen, um zu wissen, dass sich der Tag des Verschwindens seiner besten Freundin aus Kindheitstagen vor wenigen Monaten zum neunten Mal gejährt hatte. In den ersten Monaten ihres Verschwindens hatte er noch intensiv nach ihr gesucht, doch mit jedem Tag ohne den kleinsten Hinweis, gab er mehr und mehr seine Hoffnung auf. Je länger er suchte, desto mehr hatte er das Gefühl, dass er nach jemandem suchte, den es nicht mehr gab. Denn als auch die offizielle Vermisstenanzeige bei der Polizei keinen Erfolg erzielen konnte, musste er sich an den Gedanken gewöhnen, dass seine Freundin einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war und er sie nie wieder sehen würde.

Der Brief begann mit der Frage, ob Interesse bestehe, seine alte Freundin Exxxxx Lxxxxx Fxxx, geboren am 05. Mai 1996, wiederzusehen. Es war irritierend, dass alles bis auf die Anfangsbuchstaben unkenntlich gemacht worden war, aber die Buchstabenanzahl ihrer drei Namen in Verbindung mit dem Geburtsdatum ließen kaum Zweifel übrig. Seit er denken konnte, hatten sie jeden 5. Mai miteinander gefeiert.

Aus einem inneren Drang heraus, hatte er zu einem Stift gegriffen und die fehlenden Buchstaben ergänzt; nur um sich selbst zu bestätigen, dass dort der Name seiner Freundin stehen sollte. Die nächsten Sätze gaben an, wann er sich wo einfinden solle, wenn er weitere Informationen und Beweise haben wolle.

In den vergangenen drei Nächten hatte er nicht viel geschlafen und auch diese Nacht war schon zur Hälfte vorbei, ohne dass er auch nur eine Minute Schlaf gefunden hatte. Nachdem er bereits siebenmal umgestiegen war, saß er nun im letzten Zug und würde in wenigen Stunden am Ziel ankommen. Die schwarze vorbeiziehende Leere hinter der Fensterscheibe wirkte beruhigend. Doch hartnäckige Gedanken hinderten ihn, tatsächlich Ruhe zu finden. Lebte sie doch noch oder erlaubte sich jemand einen makaberen Scherz mit ihm? In einem Moment war er vollkommen hoffnungsvoll, doch im nächsten holte er den Brief hervor, um zu sehen, ob es ihn tatsächlich gab.

Er blickte in die schlafenden Gesichter der anderen Passagiere. Würde er sie überhaupt wiedererkennen, wenn sie in diesem Augenblick vor ihm sitzen würde? Seine Erinnerung an ihre Gesichtszüge verblasste mit jedem Jahr mehr. Er widerstand kurz dem Drang, den Brief aus seiner Tasche zu holen und starrte stattdessen wieder aus dem Fenster in das tiefe Schwarz. Doch nach wenigen Minuten holte er das gefaltete Papier hervor und steckte es in seine Brusttasche. Auf diese Art fühlte er sich ihr näher. Als er an das letzte gemeinsame Treffen an ihrem Lieblingssee dachte, dauerte es keine fünf Minuten, bis er eingeschlafen war.

2.

Mechanisch rührte meine rechte Hand in meinem Kaffee, obwohl es nichts zum Umrühren gab. Ich trank Kaffee schwarz, kein Zucker, keine Milch. Ich starrte aus dem Fenster des Cafés, dessen Koordinaten ich vor 63 Minuten erhalten hatte. Nur eine kurze Weile fokussierte ich mein eigenes Spiegelbild, meine kastanienbraunen Locken hatten wirklich lange keinen Friseur mehr gesehen, dann richtete ich den Blick wieder nach draußen. Der Platz direkt am Fenster war Absicht, denn von hier hatte ich den besten Überblick über den Marktplatz von Linberg und alle abzweigenden Seitengassen.

63 Minuten. Es wurde langsam Zeit. Meine rechte Hand fuhr in die Jackentasche, zog einen Fünfeuroschein heraus und legte ihn neben die Tasse. Ein Mann, der sich vor einer halben Stunde zwei Sitzplätze neben mich gesetzt hatte, drückte nervös seine Brille zurück auf die Nase. Als er mit zitternder Hand eine Zeitschrift in meine Richtung legte, musste ich die Augen verdrehen. Die hatten tatsächlich einen Neuen angeheuert! Missmutig, dass es bereits der zweite Neue in diesem Monat war, zog ich die Zeitschrift zu mir. Ich musste dringend ein Wort mit Riccardo wechseln, so konnte es beim besten Willen nicht weitergehen. Ich schlug die Zeitschrift auf der vorletzten Seite auf und nahm das eingelegte kleine rechteckige Porträt in die Hand.

Das war also mein Ziel. Ein junger Mann, Mitte oder Ende 20, eine leichte Bräune, als wäre er gerade aus einem Urlaub zurückgekehrt. Schwarze kurze Haare. Mehr als durchschnittlich. Zu viele sahen so aus. Ich verdrehte erneut die Augen, faltete das Bild einmal in der Mitte und verstaute es in meiner Jackentasche, ohne den Blick vom Platz abzuwenden. Mit einem kurzen Griff versicherte ich mich, dass mein Rucksack sicher geschultert war.

Die meisten Menschen hatten es eilig, es war noch so früh am Morgen, dass es die Mehrzahl in ihre Arbeit trieb. Ein paar vereinzelte Touristen waren langsamer unterwegs. Ein paar Jogger. Ich ließ den Blick von links nach rechts wandern. Vor dem Brunnen, der die Mitte des Platzes zierte, stand ein junger Mann, die Hände in den Hosentaschen. Das Foto passte auf ihn. Sein Körper war still, doch seine Augen suchten unsicher die Umgebung ab. Ich hatte mein Ziel.

Den Reißverschluss meiner Jacke zuziehend verließ ich das Café und hielt auf ein Geschäft links neben dem Brunnen zu. Es wäre zu verdächtig, direkt auf ihn zuzuhalten. Ich passte mich der Geschwindigkeit der Menschen um mich herum an, denn Auffallen war jetzt nicht erwünscht. Aus den Augenwinkeln spürte ich, wie sein Blick mich streifte. Doch als ich weder schneller noch langsamer wurde, wanderte sein Blick weiter. Wieso stand er da einfach so herum? Wartete er auf jemand? Wusste er das jemand wegen ihm hier war? Dass derjenige ich war?

Ich blieb vor einem Blumenladen stehen und beobachtete ihn in der Spiegelung. Hier, mitten auf dem belebten Platz, war es schwierig meinen Job zu machen. Und so vehement wie er dort stand, wusste er es auch. Als ob er wusste, dass wir in einer solchen Öffentlichkeit nicht operieren würden. Ich musste ihn in Bewegung bringen. Ein älterer Herr, der den Platz querte, bot die perfekte Möglichkeit. Als er auf meiner Höhe war, packte ich ihn mit der einen Hand am Oberarm, während meine andere Hand spielerisch sein Portemonnaie aus der Tasche stahl.

»Entschuldigen Sie bitte. Ist alles okay bei Ihnen? Haben Sie alles bei sich? Es hatte den Anschein, als hätten Sie dort beim Brunnen etwas verloren.«

Erstaunt hob er seine Augenbrauen. »Ich denke, ich habe alles bei mir.« Doch mit seinen Händen tastete er nun seine Taschen ab. »Mein Geldbeutel. Er ist weg!«

»Soll ich Ihnen suchen helfen?«

»Nein, junge Dame, danke. Herzlichen Dank.«

Nachdem er sich abgewandt hatte, warf ich das Portemonnaie in den Briefkasten des Blumenladens. Ich beobachtete, wie der ältere Mann die Umgebung des Brunnens absuchte. Seine aufgeregte Art tat, was ich mir versprach. Meinem Ziel wurde die Position zu unangenehm und er hielt zügig auf eine der Seitengassen zu, die ich vorab bereits vom Café aus einsehen konnte. Bis zur Hauptstraße gab es keine abzweigenden Wege, aber die Möglichkeit, dass er in einem der Häuser verschwand, war zu groß. Ich konnte ihm also nicht den Weg abschneiden und musste ihm folgen.

Erst nach seinem ersten Schulterblick machte ich mich daran, ihm so unauffällig wie möglich zu folgen. Da er sich kein weiteres Mal umdrehte, schien er sich sehr sicher zu sein, dass nichts mehr passieren würde. Im Kopf ging ich meine Möglichkeiten durch. Das dritte Haus auf der rechten Seite hatte einen zugänglichen Keller, das Schuhgeschäft zwei Häuser weiter einen Hinterhof und als letzte Möglichkeit gab es kurz vor der Hauptstraße auf der linken Seite noch eine Pension, in der ich schön öfters meine Zielzugriffe hatte. Ric würde die zweite Möglichkeit dennoch am besten gefallen, das wusste ich. Der Hinterhof hatte eine Liefereinfahrt, daher war es der perfekte Ort für die Übergabe.

Ich wurde minimal schneller, nicht so sehr, dass ich auffallen würde, aber doch so, dass ich zeitgleich mit ihm beim Geschäft ankommen würde. Meine Uhr vibrierte, doch ich hielt weiter auf mein Ziel zu. Ich riss meinen linken Arm nach oben, um sowohl die Uhr als auch mein Ziel sehen zu können.

Abholung in 20. R.M

Ich stockte kurz, dann ging ich entschlossen und zügig weiter. Das war keine gewöhnliche Zeitangabe. Schon die zweite Unregelmäßigkeit an diesem Montagmorgen. Für gewöhnlich hatte ich nicht länger als fünf Minuten Zeit zu warten, bis die Transporter kamen. Aber es stand mir nicht zu, dies infrage zu stellen. Ich war nur eine kleine ausführende Kraft in einem großen Zahnrad, von dem ich kaum etwas wusste, da ich nur Kontakt zu meinem direkten Chef, Riccardo Moretti, hatte. Er selbst war weiteren, unbekannten Chefs unterstellt. Ric nannte uns mit seinem italienischen Humor Vite. Uns alle. Er machte bei uns Sammlern keine Unterschiede, egal welches Alter und welches Geschlecht. Er bezeichnete uns alle als ‚Schraube‘, mehr waren wir nicht wert. Ersetzbar. Wir waren alle nur Objekte. Objekte, die andere Zielobjekte einsammelten und dafür königlich entlohnt wurden.

Mit zwei schnellen Schritten hatte ich mein Ziel erreicht, passgenau auf der Höhe des Schuhgeschäfts. Ich formte meine rechte Hand zu einer Faust, tippte dem Mann auf die rechte Schulter und setzte mein freundlichstes Lächeln auf. Mein kurzer schneller Schlag auf den Solarplexus ließ dem Fremden die Augen nach innen verdrehen. Bevor er, bewusstlos wie er war, zusammensacken konnte, packte ich ihn in eine feste Umarmung und schob ihn in den Eingangsbereich. Die linke Türe führte ins Geschäft, die rechte Türe in den Gang zum Hinterhof. Mein Schlag war gut dosiert. Er war zwar ohne Bewusstsein, doch in weniger als zwei Minuten würde er wieder wach sein. Genug Zeit, um dafür zu sorgen, dass er still bleiben würde. Und das für verdammte 19 Minuten.

Ich schloss die Türe hinter mir zu und ließ ihn im dämmrigen Flur auf den Boden gleiten. Dabei fiel ein Stück Papier aus der Jackentasche des Ziels. Instinktiv griff ich danach und stopfte es in meine Jackentasche. Spuren sollten schließlich nicht zurückbleiben.

Ein leises Murren aus seiner Kehle, schärfte meine Sinne und ich konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit. Er musste körperlich fit sein, um jetzt schon wieder aufzuwachen. Ich riss meinen Rucksack auf und nahm ein Taschentuch als Knebel und fixierte es mit Klebeband. Nun würde er wenigstens still sein. Ich fesselte mit dem gleichen Tape zuerst die Füße und als ich seine Hände fassen wollte, starrten mich hellblaue Augen an.

Bevor er auch nur eine Hand gegen mich bewegen konnte, hatte ich ihn mit dem Bauch nach unten auf den Boden gestoßen und fixierte ihn mit meinem Knie auf dem Rücken. Ich zurrte seine Hände fest zusammen. Fester als notwendig, aber er sollte wissen, er sollte spüren, wie machtlos und ausgeliefert er war. Das war hier gerade die perfekte Vorbereitung für Haarwaxing. Er murrte weiter durch den Knebel, aber das interessierte mich genauso wenig, wie seine schwachen Versuche sich zu befreien. Ich ließ seine Oberarme los und nutzte nur mein Knie zwischen seinen Schulterblättern, um ihn unten zu halten und entriegelte meine Uhr mit dem Fingerabdruck meines rechten Daumens. Mit dem Symbol für den erfolgreichen Zugriff gab ich der Zentrale, genannt Nabel, gleichzeitig auch meinen Standort weiter.

Der Kerl unter mir gab nicht auf. Ich spielte mit dem Gedanken ihm einfach ein weiteres Mal das Bewusstsein zu rauben, aber so wehrlos wie er war, hatte das ganze keinen Reiz mehr. Gespräche mit den Zielen sollten nicht stattfinden. Im Grunde war es nicht verboten, aber allein wegen der meist knapp bemessenen Zeit zwischen Zugriff und Abholung hatte es schlicht und einfach keinen Zweck und das Ziel sollte nicht durch psychologische Tricks bereits Informationen erhalten. Ich sollte die Kommunikation also knapphalten und meine Zunge hüten. Imperativ statt Konjunktiv. Kein Spielraum für Interpretation. Klare, zielgerichtete Anweisungen.

»Seien Sie still, dann können Sie im Sitzen warten.«

Der Körper unter mir verstummte. Ich half ihm, sich mit dem Oberkörper gegen die Wand zu lehnen und suchte den Augenkontakt. Wegschauen wäre ein Zeichen von Unterordnung, von Schwäche. Mein Ziel schien das auch zu wissen, denn er starrte entschlossen zurück. Es war eine Mischung aus Ärger, Trotz und etwas anderem, dass ich zuvor bei keinem der anderen Ziele gesehen hatte. Mitleid? Warum zum Teufel sollte der Typ Mitleid mit mir haben? Ich bereute jetzt schon, dass er nicht mehr bäuchlings vor mir lag und ich in seine blauen Augen schauen musste. Ich sah an mir herunter, ich trug ein Halstuch. Das könnte man wunderbar als Augenbinde verwenden, dann würde er mich nicht mehr anstarren. Ich hatte bis zum Eintreffen des Transporters noch eine ganze Weile zu warten und das wollte ich ohne diese Augen. Auch wenn ich den Grund dafür nicht benennen konnte, die Augen machten mich nervös. Das Ziel schüttelte mit dem Kopf und murmelte etwas unverständliches in das Taschentuch.

»Still sein, habe ich gesagt!«

Ich unterstrich meine Wortwahl mit einem festen Griff an seine Kehle. Er riss seine Augen auf. Aber darin konnte ich nicht die erwartete Reaktion von Angst sehen, sondern viel mehr Überraschung und Erstaunen darüber, was ich tat. Er sollte verdammt nochmal Angst haben. Und still sein. Und aufhören mich mit diesen hellblauen Augen anzustarren.

»Machen Sie die Augen zu!«

Er unterwarf sich mir nicht und starrte mich weiter an. Das wurde mir langsam zu blöd. Ich riss mir das Tuch vom Hals und wollte es gerade als Augenbinde um seinen Kopf legen, als er seinen Kopf gegen meinen schnellen ließ. Ich taumelte von dem plötzlichen Schmerz zurück und fasste instinktiv an meine Stirn. Keine offene Wunde. Maximal eine leichte Gehirnerschütterung.

Das Ziel versuchte erfolglos, sich an der Wand nach oben zu schieben. Er probierte mit seiner Schulter den Knebel loszuwerden, doch auch das wollte nicht funktionieren. Ich beförderte ihn wieder auf den Boden und machte es mir auf seinem Rücken bequem. Dann eben so. Ich blickte auf die Uhr, noch 16 Minuten, bis die Transporter da wären. Ich öffnete die Korrespondenz Funktion und tippte eine Nachricht an Ric.

Warum zur Hölle schon wieder ein neuer Bote? Hat der Nabel so einen Verschleiß? Warum kommen die verdammten Transporter erst so spät? Erbitte Gehaltserhöhung und Weihnachtsgeld.

Ich musste grinsen und löschte die Textnachricht wieder. Diese Art von Humor würde Ric nicht verstehen. Ich probierte es sachlicher.

Schon wieder ein neuer Bote? Sag mir nicht, dass du den alten Garrick entlassen und ersetzt hast. L.A

So konnte ich das stehen lassen. Ich drückte auf Senden. Ich mochte den alten Garrick. Er war es gewesen, der mit damals vor neun Jahren das Bild meines ersten Zieles übergeben hatte. Damals, mit sechzehn, hätte ich ein Ziel wie heute wahrscheinlich nicht zugeteilt bekommen. Mein Handgelenk vibrierte.

Ich hasse es, wenn du deine rhetorischen Fragen stellst, Vite. Du hast den Neuen doch heute zugeteilt bekommen. Also spar dir solche Fragen in Zukunft. Über Interna spreche ich nicht mit dir. Und Lilly, jeder ist ersetzbar. R.M

Ich schnaubte genervt. Ric war einfach zu ernst. Zumindest wenn es unmittelbar um die Arbeit ging. Erst nach Feierabend und mit dem ein oder anderen Whiskey intus war der Italiener entspannter. Wenn Moretti es besonders ernst meinte, nutzte er unsere Namen, die wir im Zuge der Aufnahme gewählt hatten. Für heute sollte ich also einfach nur meinen Teil leisten und mich ruhig verhalten. Die Arme vor der Brust verschränkend, lehnte ich den Kopf gegen die Wand.

»Leben Sie noch?«, fragte ich den Körper unter mir.

Er blieb bewegungslos und als ich den Kopf zur Seite neigte, sah ich, wie er versuchte mich anzuschauen, doch dafür war der Winkel zu steil.

»Sparen Sie sich die Mühe. Bald sind Sie mich los.«

Ich beobachtete seine Gesichtszüge. Er schien in höchstem Maße verwirrt zu sein.

»Ach, tun Sie nicht so. Hören Sie auf zu schauspielern. Wenn man einen bestimmten Beruf ausübt, weiß man doch, dass es andere gibt, die daran Interesse haben. Sie tun ja gerade so, als hätten Sie keine Idee, wieso Sie in dieser Situation sind.«

Er schüttelte leicht den Kopf.

»Als ob!«, lachte ich auf. »Sie machen mich neugierig. Wieso wollen … sie Sie? Was machen Sie? Computer-Freak? Mediziner? Wissenschaftler?«

Er nickte kein einziges Mal.

»Also was Exotisches? Mir kann es egal sein.«

Doch das entsprach nicht im Geringsten der Wahrheit. Es war mir überhaupt nicht egal. Auch wenn uns Sammlern das von Anfang an eingetrichtert wurde. Keine Frage stellen, kein Interesse an den Zielen, kein gar nichts. Aber in den neun Jahren hatte sich ein Muster herauskristallisiert. Es waren immer bestimmte Berufsgruppen gewesen. Entweder hatte ich ein ähnliches Nicken-Kopfschüttel-Spiel gespielt wie gerade eben – vor allem als ich noch jünger war und die Ziele mich noch nicht so ernst nahmen und dachten, dass ich sie frei lassen würde, sobald ich meine Antworten hätte – oder ich hatte es mir über Kleidung und körperliche Fitness der Ziele und den Bezirk des Zugriffes erschlossen. Der namenlose Mann schien nicht in das Muster zu passen. Oder er log mich mit seiner Mimik einfach nur an. Auch seine legere Kleidung könnte eine bewusste Inszenierung sein. Gab den Ahnungslosen, damit man ihn für unschuldig hielt.

Die Türe zum Hinterhof schlug auf und ein mir unbekanntes Gesicht kam auf mich zu.

»Ich bin der Transporter«, knurrte der Mann. »Ich übernehme von hier.«

Ich runzelte die Stirn. »Wo sind Frank und Eric?«

»Versetzt. Ich übernehme.«

Bevor mich der Transporter unsanft von seinem Ziel zerrte, stand ich lieber selbst auf. Er hob das Ziel mit einem Arm auf die Füße und schulterte ihn. Ich stolperte hinterher.

»Der Transport war erst für ein paar Minuten geplant. Mit wem auch immer ich hier das Vergnügen habe, ich muss sicher gehen, dass …«

Er warf mir einen kalten Schulterblick zu. »Dass was?«

»Zeigen Sie mir einfach Ihre Kennung.«

Nun blieb er stehen und drehte sich langsam zu mir um. »Da meint es aber jemand besonders genau?«

Ich hielt seinem Blick stand.

»Schon gut. Ich lade kurz ab, dann zeige ich dir meine Kennung.«

Indem er mich duzte, stufte er mich herab und das gefiel mir nicht. Er setzte das Ziel in dem geöffneten weißen Lieferwagen ab und kam dann zu mir zurück, um mir auf seiner Uhr seine Kennung zu zeigen. 1./97.74 Edward Parker. Eine 1./. Er war ein Teil aus dem Inneren Kreis des Nabels. Noch nie war ich jemandem aus dem Inneren Kreis begegnet. Selbst Ric, mit seiner 3./ gehörte nicht dazu. Bemüht entspannt blickte ich zu Parker auf.

»Dann ist meine Arbeit hiermit getan.«

»So ist es, Sammler.«

Edward Parker ging zurück zum Transporter und schnitt zuerst das Klebeband an den Füßen und dann an den Handgelenken entzwei.

»Um Hilfe schreien, bringt jetzt eh nichts mehr.«

Mit einer fließenden Bewegung befreite Parker den Mann von dem Tape über dem Mund. Das Ziel spuckte das Taschentuch aus und starrte mich an. Bevor Parker die Türe des Transporters zuschlagen konnte, entwich dem Mann im Inneren nur ein Wort. Es ließ mich erstarren.

»Emille!«

Mit einem lauten Scheppern schlug die Türe zu und Edward drehte sich stirnrunzelnd zu mir um.

»Was hat er gesagt? Meint er damit irgendwie dich?«

»Keine Ahnung. Ich kenne den Typen nicht.«

»Ist auch besser so. Warte auf neue Anweisungen.«

Mit diesen Worten stieg Edward Parker aus dem Inneren Kreis in den Transporter, beschleunigte und verschwand aus meiner Sicht. Doch auch wenn er und das Ziel weg waren, spürte ich noch immer den Blick von hellblauen Augen auf mir.

Emille.

Diesen Namen hatte ich vor neun Jahren aufgehört zu tragen. Wieso kannte das Ziel meinen alten Namen?

3.

Abwesend schlurfte ich durch die Eingangstür meiner WG, warf den Rucksack in die Ecke und ließ die Türe hinter mir ins Schloss fallen. Normalerweise hatte ich nach einem erfolgreichen Zugriff und einer erfolgreichen Übergabe ein Lächeln auf den Lippen. Es war ein gutes Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben. Und es bedeutete den Rest der Woche frei zu haben. Zumindest mehr oder weniger. Es gab gewisse Verpflichtungen und Erwartungen.

Auch heute war alles erfolgreich gewesen, aber warum hatte das heutige Ziel meinen alten Namen gekannt, der selbst bei mir nur noch eine kleine schattenhafte Erinnerung war? Ich hob mein Armgelenk und blickte auf das heutige Datum. Heute vor neun Jahren, einem Monat und neunzehn Tagen war ich in einem sterilen, weißen Raum aufgewacht und mir wurde gesagt, dass ich mit sehr viel Glück einen schweren Unfall überlebt hatte und an einer retrograden Amnesie litt. Die Dinge, an die ich mich noch erinnern konnte, waren an einer Hand abzählbar. In meinem Kopf schwirrten damals nur noch der Name Emille Lillan Falk, ein Geburtsdatum aus acht Zahlen und ein paar Bilder, die ich nicht zuordnen konnte. Mir wurde gesagt, dass mein neuer Name Lilly Anders sei und ich für den Nabel arbeite. Meinen alten Namen sollte ich aus Sicherheitsgründen für mich behalten. Neuer Name, neue Identität, Neuanfang. Als ob ich irgendeine andere Wahl gehabt hätte.

Eine zweite Frage drängte sich mir auf. Warum kümmerte sich jemand aus dem Inneren Kreis um den Transport? Das stand den 2./ zu. Danach kam die Disposition, zu der Ric gehörte. Wir Sammler schafften es gerade mal auf die 6./. Die ganze Sache verwirrte mich so sehr, dass ich mehrere Stunden durch die Stadt gestreunt war, ehe meine Füße mich hierher getragen hatten. Ich schielte auf die Uhr in der Küche. Es war bereits Mittag.

»Bist du das, Lilly?«, hörte ich meine Mitbewohnerin aus dem Esszimmer rufen. Ich betrat das kleine Nebenzimmer der Küche, zog mir die Jacke aus und legte sie über den Stuhl.

»Hast du noch mehr Mitbewohner? Wer sollte dir sonst beim Mittagessen Gesellschaft leisten?«

»Wie war dein Tag? War viel los? Jetzt setze dich doch hin und bediene dich erstmal, ich habe eh wieder zu viel gekocht.«

Sie schob mir einen der Teller entgegen und ich nahm mir ebenfalls von den Nudeln. Marie hatte die Soße vergessen. Lecker. Sie dachte ich würde in einem Architektenbüro aushelfen. Sie wusste nicht, was ich in Wirklichkeit tat.

»Nein, nicht viel, ich werde die restlichen Tage vermutlich wieder von zu Hause arbeiten dürfen.«

Das war meine Erklärung dafür, dass ich bis zum nächsten Auftrag frei hatte und lediglich ein paar Sportstunden erfüllen musste.

»Hast du es gut. Bei uns in der Klinik ist gerade in den letzten Tagen ein extremer Zulauf. Deswegen muss ich gleich auch wieder zurück.«

»Okay. Wollen wir heute Abend einen Film zusammen schauen? Oder Kinoabend? Ich würde dich einladen.« Die Ablenkung könnte ich gut gebrauchen.

»Oh, das wäre schön. Aber ich habe von einer Kollegin die Spätschicht übernommen. Ich komme erst irgendwann nachts zurück. Aber das holen wir nach!«

Sie griff zu ihrer über der Stuhllehne hängenden Tasche, ihrem Kittel und winkte mir kurz zum Abschied, bevor sie sich noch eine letzte Fusilli stibitzte.

Ich nahm meinen Teller, holte mir am Kühlschrank einen Spritzer Tomatenketschup, und setzte mich auf unseren kleinen Balkon. Während ich in den Hof unter mir starrte, aß ich die Nudeln schneller als nötig auf. Es war erst kurz nach 13 Uhr und so wie es aussah, würde ich den restlichen Tag allein verbringen. Den leeren Teller neben mir auf dem Boden abstellend, streckte ich mich und richtete den Blick in die Ferne über die Hausdächer.

Woher kannte das Ziel meinen alten Namen? Die Frage, die sich hartnäckig in meinem Kopf verankerte, wollte beantwortet werden und ich musste mich nicht anstrengen, alle Erinnerungen an den Vormittag noch einmal Revue passieren zu lassen, da Gehirntraining schließlich zu unserer Ausbildung gehörte. Und aufgrund meines Unfalls hatte ich hier viele Extrastunden aufgebrummt bekommen, obwohl ich nicht wirklich das Gefühl hatte, dass mein Gedächtnis besonders schlecht war. Es war nur der Unfall an sich und alle Ereignisse davor, die wie wegradiert waren.

Doch da gab es nichts, was mir bei meiner Antwort helfen konnte. Ich hatte nichts übersehen. Nichts an dem Ziel kam mir bekannt vor. Nicht sein Aussehen, nicht seine Art zu sprechen, nicht seine Mimik und auch nicht seine Gestik. Der einzige Anhaltspunkt war Edward Parker. Er war die Unregelmäßigkeit. Eine 1./ als Transporter. Das war nicht nur lächerlich, das war in erster Linie verdächtig.

In einem spontanen Impuls schnappte ich mir meinen Teller, stellte ihn in die Spülmaschine und verschwand in meinem Zimmer, um mir meine Sportsachen anzuziehen. Sport war das perfekte Alibi. Uns wurde nahe gelegt in unser tägliches Sportprogramm Joggen einzubauen, da wir dafür nicht auf den Nabel angewiesen waren, aber für uns konzipierte Sportgeräte und auch ein eigenes Schwimmbecken waren im Nabel. Eigentlich wollte ich morgen meinen Sporttag absolvieren, aber da ich nicht regelmäßig im Nabel Sport machte, würde es nicht auffallen, wenn ich heute schon da wäre. Ich packte in meine Tasche eine Flasche Wasser, ein Handtuch und frische Klamotten und machte mich zu Fuß auf den Weg.

Ric hatte uns empfohlen, dass wir an fünf verschiedenen Stellen in der Stadt sogenannte Assistenzen verstecken sollten. Pakete, die ein wenig Bargeld, Medikamente, eine Wolldecke und eine Flasche Wasser beinhalteten. Damit man in Notfällen wenigstens eine Grundausrüstung hatte. Ich ging nicht den direkten Weg zum Nabel, sondern nahm ein paar Abzweigungen, um meine eigenen Assistenzen auf Vollständigkeit zu überprüfen. Es kam immer wieder vor, das Obdachlose schlecht versteckte Assistenzen fanden und auch wir untereinander bestohlen uns gelegentlich. Das war vom Nabel sogar erwünscht. Denn nur so waren wir – so formulierten sie es zumindest – motiviert, uns regelmäßig darum zu kümmern. Fünf Assistenzen erschienen mir zu wenig, allein auf meinem Weg zur Zentrale kam ich an sieben vorbei und alle waren noch vollständig und dort, wo ich sie vor Wochen versteckt hatte.

Ich hatte meine Pakete noch mit haltbaren Lebensmitteln und Klamotten ergänzt. In einem Assistenzpaket waren ein gefälschter Reisepass und Personalausweis, die mich ein dreiviertel Jahreslohn gekostet hatten. Dazu kam noch ein Autoschlüssel von einem etwas älteren Volvo, der aber zuverlässig ansprang und mich im Notfall aus Linberg bringen würde. Mit all meinen Assistenzen könnte ich problemlos zwei bis drei Jahre untertauchen. Zumindest in meiner Vorstellung.

Gerade als ich das letzte Versteck kontrolliert hatte, das sich – versteckt hinter einem losen Stein – unter einer Brücke befand, bemerkte ich jemand hinter mir. Ich wirbelte herum und fühlte mich ertappt. Als ich in das bekannte Gesicht meines besten Freundes blickte, entspannte ich mich.

»Leander! Was schleichst du dich so an mich heran?!«, rief ich empört, aber viel zu vergnügt, als dass er mich ernst nehmen könnte.

»Assistenzüberprüfung?«, fragte er und blickte über meine Schulter.

Ich rollte die Augen. Für dieses Paket müsste ich mir jetzt eigentlich ein neues Plätzchen suchen, aber Leander würde mich niemals bestehlen. Außerdem war es nur ein Standardpaket von denen ich noch zahlreiche andere hatte.

»Auf dem Weg zum Sport«, erwiderte ich mit einem Wink auf meine nicht zu übersehende Tasche.

»Okay, habe ich schon hinter mir. Aber um dich seelisch zu unterstützen, würde ich dich begleiten. Du bist doch meine liebste Vite.«

Ich funkelte ihn wütend an, denn ich hasste es, wenn Leander mich genauso nannte, wie es Moretti zu tun pflegte.

»Nenn mich nicht so!«

Er ging einen Schritt nach hinten. Wenn ich wütend war, ging er immer in Deckung, als befürchte er, dass ich ihm körperliche Schmerzen zufügen würde. Und das führte dazu, dass mein Ärger verflog. Zumindest meistens und so auch heute.

»Schon gut, Leander. Wäre cool, wenn du mitkommst.« Ich hakte mich bei ihm unter und zog ihn mit.

»Wolltest du nicht morgen Sport machen? Wir waren doch für morgen verabredet?«, fragte er mich mit einem misstrauischen Blick.

»Was du heute kannst besorgen«, erwiderte ich.

»Dass verschiebe nicht auf morgen«, ergänzte er mich. »Ich habe heute aber auch schon eine extra Schicht Joggen gemacht. Kopf frei bekommen. Du glaubst nicht, was ich heute morgen für eine merkwürdige Zielerfassung hatte.«

Das machte mich hellhörig. »Was denn?«

»Frank und Eric, die sonst immer für den Transport zuständig waren …«

»… waren nicht da? Ja. Das habe ich heute auch schon erfahren müssen«, unterbrach ich Leander.

Er runzelte die Stirn. »Was? Nein. Die waren schon da. Aber die sahen ziemlich zugerichtet aus. Als wären sie in einer heftigen Prügelei gewesen. Und stumm wie zwei Fische. Wie kommst du auf die Idee, sie wären nicht da gewesen? Es gibt nichts Zuverlässigeres als die Beiden.«

Ich blieb in der Hoffnung stehen, dass dies helfen würde, meine Gedanken zu sortieren. Wenn ich jemandem mittlerweile vertraute, dann war das Leander. Aber sollte ich ihm wirklich von meinem Vormittag erzählen? Ich beschloss seine Fragen zunächst zu ignorieren und weitere Antworten zu bekommen. Ich ging weiter.

»Wann war das denn?«, fragte ich.

»Ganz früh heute morgen. Habe mitten in der Nacht die Koordinaten bekommen. Es hatte noch nicht einmal angefangen zu dämmern. Und das Ziel war nicht auffindbar. Dass habe ich auch so weitergeleitet und trotzdem kamen die Transporter. Das hatte ich noch nie.«

Ich notierte für mich selbst: Kein Ziel, trotzdem Transport. Fehlerhafte Kommunikation? Das konnte ich so gut wie ausschließen.

»Lilly?«, holte mich mein Freund aus den Gedanken.

»Ja?«

»Was ist los?« Diesmal blieb er stehen und ich gezwungenermaßen auch. »Wieso meinst du, Frank und Eric wären nicht da gewesen?«

»Bei mir waren sie es nicht. Mein Ziel hat heute Morgen jemand anderes geholt.«

Er riss die Augen auf. »Wie bitte? Wer kam stattdessen? In unserem Bezirk sind seit wir vor neun Jahren rekrutiert wurden, immer die beiden Männer für uns zuständig gewesen!«

Ich wurde leiser. »Ich weiß nicht, ob ich das sagen sollte. Ich … hatte selbst eine so konfuse Zielerfassung, dass ich erst selbst ein paar Antworten brauche, bevor ich da weiter drüber reden kann.«

Leander rollte mit den Augen und wir setzten uns wieder in Bewegung. »Du bist mal wieder in deiner Ich-Phase, Lilly. Fang bitte mal wieder ein wenig mit dem Wir-Denken an. Du bist nicht so allein, wie du immer vorgibst.«

Ich zog meinen Arm demonstrativ weg, starrte ihm in seine dunkelbraunen Augen und blieb erneut stehen. In dem Tempo würden wir es erst morgen in den Nabel schaffen.

»Wir sind alle die einsamsten Menschen auf diesem Planeten. Wir sind nur die kleinen Marionetten von großen Leuten, die wir noch nie gesehen haben. Wir sind austauschbar. Wir sind nichts. Kleine Schrauben, die bestimmt irgendwann entsorgt werden, wenn sie nicht mehr funktionieren. Sind das genug Wir-Gedanken?«

Ich wusste, dass ich Leander gerade unfairerweise als seelischen Mülleimer benutzte, doch es war gerade das Ventil, dass ich brauchte.

»Was ist bei deiner Zielerfassung passiert?«, fragte Leander hartnäckig weiter.

Ich wandte den Blick ab und starrte stattdessen auf den Boden. »Das Ziel kannte meinen Namen. Er kannte meinen alten Namen.«

Ohne aufzusehen spürte ich, wie Leander sich versteifte. »Du meinst den Namen, den du als Kind getragen hast?«

Ich nickte und heftete meine Augen weiter auf die Pflastersteine unter mir. Nach einer kurzen Pause hörte ich wieder seine Stimme. »Und hast du ihn erkannt?«

Mein Kopfschütteln musste Antwort genug sein.

»Vielleicht war es einfach eine Verwechslung?«

Wieder schüttelte ich meinen Kopf, aber diesmal musste ich mich näher erklären. Nicht einmal Leander kannte meinen ehemaligen Namen.

»Glaube mir, das ist nicht im Bereich des Möglichen. Mein alter Name war ungewöhnlich und selten. Diesen Zufall kann es nicht geben.«

»Okay. Aber dann hat er vermutlich keine große Rolle in deinem früheren Leben gespielt. Amnesie hin oder her, man würde sich doch an bestimmte, wichtige Personen bestimmt erinnern, wenn man sie wieder sieht? Wenn du dich nicht an ihn erinnern kannst, war es in der Vergangenheit bestimmt nur eine kurze Begegnung. Nichts von Bedeutung damals und deswegen auch heute nicht von Bedeutung.«

Ich hob meinen Kopf und suchte seine Augen. »Aber es muss eine Bedeutung haben, sonst wäre dieses Ziel heute nicht von einer 1./ abgeholt worden!«

Leander lachte lauthals auf. »Einer 1./? Niemals!«

Mit dieser Reaktion war ich mehr als zufrieden. Sie bestätigte all meine Gedanken. Es bestätigte, wie weit die Begegnung mit Edward Parker jenseits der Norm lag.

»Es ist aber so. Deswegen bin ich auf dem Weg zum Nabel. Ich will wissen, wieso ich heute Vormittag das erste Mal in meinem Leben einer 1./ begegnet bin.«

Okay, das war es dann mit der Überlegung, alles für mich zu behalten. Mein Freund blickte mich fassungslos an und brauchte ein paar Augenblicke, die richtigen Worte zu finden.

»Jemand aus dem Inneren Kreis holt ein Ziel ab, dass dich offenbar kennt? Und du willst da jetzt selbst recherchieren? Wenn dem so ist, würde ich die Füße stillhalten. Mit denen willst du dich doch nicht anlegen. Du weißt ganz genau, dass ich selbst noch nie Kontakt zum Inneren Kreis hatte. Keiner von uns Sammlern ist jemals diesen Leuten begegnet. Woher weißt du überhaupt, dass es jemand von ihnen war?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich überlasse doch niemandem mein Ziel, den ich nicht kenne. Als es nicht Frank und Eric waren, habe ich nach der Kennung gefragt.«

Wieder lachte Leander auf. »Dein Selbstbewusstsein hätte ich manchmal auch gerne.«

Ich wollte gerade etwas erwidern, als ich eine Vibration an meinem Handgelenk spürte. Es war eine anonyme Nachricht.

In 10 Minuten in Raum 0.384.

Ich hob meinen Kopf und sah wie Leander auch auf seine Uhr blickte.

»Sport müssen wir verschieben. Ich soll in zwanzig Minuten in Raum 0.381 sein«, meinte er verwirrt.

»Ich muss in zehn Minuten auch im Nabel sein. Drei Räume weiter.«

»Scheiße Lilly, was geht hier vor sich?«, murmelte er leise. »Ein Ziel, dass dich kennt. Jemand aus dem Inneren Kreis als Transporter und jetzt werden wir beide in den Nabel zitiert mit zehn Minuten Abstand, als wollten sie nicht, dass wir voneinander mitbekommen, dass wir dort sind? Sie können doch schlecht wissen, dass wir uns hier zufälligerweise getroffen haben. Oder?«

Leander musterte nun nervös die Umgebung. Ich packte den Gurt meiner Tasche fester.

»Du vergisst jetzt alles, was ich dir erzählt habe. Hörst du? Kein Wort darüber. Du warst gerade Joggen, als du die Nachricht bekommen hast. Wir haben uns letzte Woche Donnerstag das letzte Mal gesehen.«

Ich wandte mich bereits von ihm ab, um nicht zu spät im Nabel zu erscheinen. Ich wollte mich davor wenigstens noch umziehen und mich nicht in den Sportklamotten präsentieren.

»Lilly«, hörte ich seine Stimme, die mittlerweile ein Flüstern war. »Viel Glück.«

Ich erwiderte den Wunsch und ging zielstrebig zum Nabel.

4.

Es war wie ein Déjà-vu. Als ich mich nach dem Unfall vor neun Jahren körperlich einigermaßen erholt hatte und mich im Nabel wieder zurückmelden sollte, war ich genauso unruhig und nervös gewesen wie jetzt. Nur mit dem Unterschied, dass ich jetzt wusste, wie ich damit umzugehen hatte. Ich massierte meine Schläfen und beschwor vor meinem inneren Auge das Bild eines großen Sees herauf. Der See war meine einzige lebhafte Erinnerung an mein vergangenes Ich, meine Vergangenheit, meine Zeit vor dem Nabel. Der See war umgeben von einem dichten Wald. Ich spürte die Kieselsteine unter meinen nackten Füßen. Das Geräusch der kleinen Wellen, die am Ufer ausliefen, war so gleichmäßig, dass ich bald meinen eigenen Atem danach richtete und mich entspannte. Ich hatte nur dieses eine klare Bild. Andere Erinnerungen waren nur Fetzen, die mit jedem Jahr mehr verblassten. Ein Geburtstagskuchen mit neun oder zehn Kerzen und die schemenhaften Umrisse von einem Jungen und einem Mann in einem dunklen Kiefernwald.

Die Mühe, herauszufinden, was das für ein See war, hatte ich mir nie gemacht. Weder wusste ich, wann ich dort war, noch hatte ich eine Ahnung, wo sich dieser See befand. Ich hielt nur an dem Glauben fest, dass es eine reale Erinnerung war und das reichte mir.

Die Lampe links neben der Türe zu Raum 0.384 wechselte von rot auf grün. Ich durfte und sollte nun eintreten. Die Sporttasche im Flur liegen lassend, drückte ich langsam die Klinke hinunter und betrat den dahinterliegenden, fensterlosen Raum. In der Mitte stand ein Tisch mit zwei Stühlen, von denen einer bereits von einem Mann mittleren Alters besetzt war. Die Wände waren weiß gestrichen, nur an der Wand hinter dem Mann hing ein großer Spiegel. Mit Sicherheit ein Einwegspiegel.

»Schließen Sie bitte die Türe und setzen Sie sich mir gegenüber«, forderte mich der Mann auf und ich tat ihm den Gefallen.

Ich war geneigt, meine Arme vor der Brust zu verschränken, aber das hätte Unsicherheit ausgestrahlt, also platzierte ich sie auf den Armlehnen und versuchte, mich entspannt hinzusetzen.

»Mein Name ist Dr. Martin. Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen, die Sie mir vollständig und ehrlich beantworten werden. Verstanden?«

Wer war dieser Dr. Martin? Ich hatte ihn noch nie gesehen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, ihn nach seiner Kennung zu fragen, doch hier im Nabel war ich bei weitem nicht so selbstsicher wie draußen auf den Straßen, die mir genauso vertraut waren, wie jede einzelne Ecke und Kante in meiner eigenen Wohnung. Ich nickte und er fuhr fort.

»Fangen wir mit einer einfachen Frage an. Wie heißen Sie?«

Ich runzelte die Stirn. An sich war das tatsächlich eine einfache Frage, aber ich hatte heute so eigenartige Begegnungen bezüglich meines Namens gehabt, dass ich bereits jetzt angespannt war. Doch ein kurzer, schneller Gedanke an meinen See brachte mich wieder zur vollen Entspannung.

»Lilly Anders.«

»Wie alt sind Sie?«

»25.«

»Wann wurden Sie geboren?«

Ich blickte auf den Tisch zwischen uns. Mein Gegenüber hatte vor sich die Hände verschränkt. Er hatte weder eine Notiz, auf der seine Fragen standen, noch hatte er die Möglichkeit, meine Antworten zu notieren. Wir wurden definitiv beobachtet, wenn nicht sogar aufgezeichnet. Darauf verwettete ich mein wertvollstes Assistenzpaket.

»5. Mai 1996.«

»Wo sind Sie geboren?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wo sind Sie aufgewachsen?«

Jetzt blickte ich wieder in die Augen von Dr. Martin. »Das weiß ich auch nicht. Wieso stellen Sie mir Fragen, die Sie sich selbst beantworten könnten, wenn Sie einen Blick in meine Akte werfen würden?«

Dr. Martin lächelte, doch das Lächeln erreichte nicht seine Augen. »Sie sind sicher verunsichert, wenn ich Fragen stelle, die Sie nicht beantworten können. Dafür habe ich Verständnis. Um auszuschließen, dass sich mittlerweile neue Erinnerungen ergeben haben, müssen wir diese Fragen stellen. Können Sie mir denn sagen, wie Sie aufgewachsen sind?«

»Mir wurde gesagt, dass ich in einem Kinderheim aufgewachsen bin. Auch das steht in meiner Akte.«

Ich musste mich wirklich beherrschen. Die Fragen waren lächerlich. Was für Erinnerungen sollten nun plötzlich da sein? Mir wurde damals zwar auch gesagt, dass durchaus die Möglichkeit bestand, dass sich die retrograde Amnesie in Teilen zurückbilden könne, aber je länger der Zustand andauere, desto unwahrscheinlicher wäre es. Als mich Marie vor einigen Jahren in einen Kinofilm über ihre Lieblingsautorin Astrid Lindgren zerrte und der Film in der Originalsprache lief, hatte ich erstaunt erkannt, dass ich die eingeblendeten Untertitel nicht benötigte, sondern Schwedisch konnte. Diese neue Information behielt ich jedoch für mich. Nach dem Unfall war ich mit dem Gefühl aufgewacht, dass jeder andere mehr über mich wusste als ich selbst. Der Moment der Erkenntnis, dass ich eine andere Sprache konnte, war das erste Mal, dass ich mich nicht mehr gläsern fühlte, sondern wie eine echte Person mit eigenen echten Erinnerungen. Und wenn es nur die Tatsache war, dass ich schwedisch verstand und konnte.

»Waren Sie nach Ihrer Abholung noch einmal in diesem Kinderheim?«, fragte Dr. Martin weiter.

Ich runzelte die Stirn. Wo sollten diese Fragen hinführen? »Nein. Ich weiß nicht, wo dieses Kinderheim ist.«

Dr. Martin schien mit meiner Antwort zufrieden zu sein und das beunruhigte mich.

»Es ist gut, wenn Sie keine neuen Erinnerungen haben. Die würden Sie nur aufhalten, im Hier und Jetzt zu leben«, erklärte Dr. Martin.

Wohl eher im Hier und Jetzt zu funktionieren und für die Institution zu arbeiten. Dass traf es wahrscheinlich viel mehr, aber diesen Gedanken behielt ich für mich.

»Würden Sie mir bitte Ihren alten Namen mitteilen?«, versuchte Dr. Martin betont gleichgültig zu fragen, aber ich wusste sofort, dass wir jetzt bei der Frage waren, wieso ich überhaupt hier war. Darum ging es also. Es ging um mein Ziel heute früh. Darum, dass er mich erkannt hatte und nun die Überprüfung stattfand, welche Verbindung es gab. Entweder hatte das Edward Parker in die Wege geleitet oder aber das Ziel hatte eine lockere Zunge und weiterhin behauptet, mich zu kennen.

»Nein, das werde ich nicht. Das widerspricht den Richtlinien des Nabels.«

Ich hatte nie gedacht, dass mir die Richtlinien des Nabels einmal helfen würden. Meine Güte war ich damals als sechzehnjähriges Mädchen unmotiviert das Kleingedruckte zu lesen, aber ich hatte mir doch die Mühe gemacht. In den Richtlinien war klar formuliert, dass die frühere Vergangenheit keine Rolle mehr spielt und der ursprüngliche Name abgelegt und durch einen neuen, selbst gewählten, ersetzt wird. Kurz vor dem Unfall hatte ich mich wohl, so wurde es mir zumindest erzählt, für den Namen Lilly Anders entschieden. Der alte Name wiederum sollte nirgends auftauchen, um mögliche Rückschlüsse nicht zuzulassen. Ohne die echten Namen konnten andere Behörden mit unseren Akten nichts anfangen. Sollten sie überhaupt jemals in die Hände von Fremden fallen.

Die Augen meines Gegenübers verengten sich minimal. »Es wäre für Sie besser, wenn Sie kooperieren würden. Es ist sehr vorbildlich von Ihnen, dass Sie unsere Richtlinien so gut kennen und auch umsetzen, aber … ein gegenwärtiger … Vorfall, zwingt uns zu diesen Schritten. Ich wiederhole mich also: Würden Sie mir bitte Ihren alten Namen mitteilen?«

Ich lehnte mich leicht nach vorne und kopierte die Position von Dr. Martins verschränkten Händen. »Auch ich wiederhole mich sehr gerne für Sie. Ich werde Ihnen meinen Namen nicht verraten. Ihnen nicht und auch nicht denjenigen, die uns gerade durch diesen hübschen Spiegel beobachten. Ich vermute mal, dass dort Edward Parker steht? Hat er Sie beauftragt, diese Fragen zu stellen?«

Wieder erschien dieses unechte Lächeln auf den Lippen von Dr. Martin. Er schwieg.

»Dr. Martin, wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben, würde ich mich nun gerne verabschieden.«

Er widersprach nicht, also stand ich auf. Ich hatte bereits die Türklinke in der Hand, drehte mich aber noch einmal um. Ich warf einen Blick in den Spiegel und suchte dann die Augen von Dr. Martin.

»Das Gespräch mit Leander Lehmann wird Ihnen nicht weiterhelfen. Auch er kennt meinen alten Namen nicht. Da haben Sie wohl ein paar Minuten Ihres Lebens verschwendet. Einen schönen Tag noch.«

Ich schloss die Türe hinter mir, griff nach meiner einsamen Sporttasche und machte mich auf den Weg nach draußen. Die Lust auf Sport war mir gehörig vergangen.

Die Beine über der Mauer baumeln lassend, die Hände hinter mir abgestützt, schielte ich über meine Schulter auf Hausnummer 14 des Johann-Dryander Platzes. Das Gebäude des Nabels war kubisch im Bauhausstil errichtet worden und die Glasvorhangfassade gab das Gefühl von Transparenz und Freiheit. Doch das war, im wahrsten Sinne des Wortes, nur eine Fassade. Der Nabel war eine geschlossene Institution, bei der so gut wie nichts nach außen getragen wurde. Die oberirischen vier Stockwerke, die von der Disposition besetzt wurden, waren vielleicht noch vorzeigbar und nicht sonderlich anders als die Nachbargebäude, doch die richtigen Geschäfte liefen in den Räumen unterhalb des Erdgeschosses ab. Und genau dort saß immer noch Leander.

Während ich nach wenigen Minuten draußen war, wartete ich jetzt schon eine dreiviertel Stunde auf meinen Freund. Was fragten sie ihn? War Dr. Martin nach unserem Gespräch zu Leander gegangen und hatte ihn ausgefragt? Über mich? Was machten sie mit ihm?

Ich richtete den Blick wieder nach vorne auf den Fluss. Auch ein Fluss verursachte einen gleichmäßigen Klang, aber das Geräusch eines Sees war sehr viel entspannender.

Würden sie es wagen auch zu körperlichen Bestrafungen zu greifen, um ihn zum Reden zu bringen? Ich hatte noch von keinem Sammler gehört, dass der Nabel solche Maßnahmen tolerierte, aber andererseits, wer würde denn offen darüber sprechen? Was wusste ich eigentlich über die Menschen, die im Inneren Kreis saßen? Was sie sich dachten, wie sie uns Sammler, und vor allem die Ziele, aussuchten? Ich legte einen imaginären Notizzettel an. Wer führte den Nabel? Nach welchem Muster wurden die Ziele ausgesucht? Was passierte danach mit den Zielen und wer war das Ziel heute Vormittag? Wieso gab es nun dieses Interesse an meiner Vergangenheit, insbesondere meinem Namen?

Mir kam eine Aussage von Dr. Martin in den Kopf. Um auszuschließen, dass sich mittlerweile neue Erinnerungen ergeben haben, müssen wir diese Fragen stellen. Nun, jetzt würde ich beginnen, meinerseits Fragen zu stellen. Und ich würde Antworten bekommen. Ich wollte anfangen, aktiv nach Erinnerungen zu suchen. Und da er mich geradewegs auf das Kinderheim angesprochen hatte, würde ich genau dort ansetzen. Mein nächstes Ziel hieß nun Emille Lillan Falk. Ich war mein eigenes Ziel und würde nun alles über mein altes Leben herausfinden.

Hochmotiviert griff ich nach meiner Sporttasche und wollte bereits aufstehen, als ich Schritte auf dem Kies hinter mir vernahm. Doch entgegen meiner Erwartung, dass es Leander sein müsse, war es Ric.

»Ciao, Vite. Gut, dass ich dich noch hier sehe. Dachte, du wärst schon weg«, entgegnete Ric mit seiner rauchigen Stimme.

Ich stand auf. »Ich bin so gut wie weg.«

»Nein, du bleibst noch ein bisschen. Setz dich wieder«, forderte er mich auf, doch ich blieb stehen.

»Was willst du von mir? Ich möchte nach Hause.«

Er ignorierte meine Ablehnung und setzte sich seinerseits auf die Mauer.

»Dann stehst du eben, während ich mit dir spreche.«

Oder ich gehe einfach, dachte ich mir, aber ich blieb stehen. Er war schließlich mein direkter Vorgesetzter. Konnte er mich eigentlich kündigen, wenn ich nicht gehorchte? Was passierte mit uns Sammlern, wenn wir nicht mehr funktionierten? Noch mehr Fragen für meinen Notizzettel.

»Du hattest gerade ein Gespräch mit Dr. Martin. Was wollte er von dir?«

»Dass ich vollständig und ehrlich seine Fragen beantworte.«

Ric reagierte gereizter als gedacht. »Anders, was zur Hölle hat er von dir gewollt? Mit Dr. Martin ist nicht zu spaßen. Ich versuche dir hier gerade wirklich nur zu helfen. Was hat er dich gefragt?«

»Nichts von Belang. Das waren nur allgemeine Fragen. Die Antworten stehen eigentlich alle in meiner Akte. Ist wohl zu faul zum Lesen.«