Das Zitat - Tartana Baqué - E-Book

Das Zitat E-Book

Tartana Baqué

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Beschreibung

Eines Tages bemerkt die zweiundvierzigjährige Psychotherapeutin Katja in ihrer Wohnung, dass in ihrem Lieblingsbuch gezielt Worte unterstrichen wurden. Nachdem Sie von ihrem Mann betrogen wurde, hat sie eine neue Praxis in Brühl bei Köln eröffnet und sich geschworen, nicht mehr an die Liebe zu glauben. Doch diese Zitate berühren ihr Inneres und lassen sie nicht mehr los. Sie entscheidet sich nach dem Unbekannten zu suchen. Schrittweise begibt sie sich aus ihrem Schneckenhaus und löst ihre eigenen emotionalen Blockaden, um ihr Seelengegenüber zu finden.

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EPUB
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Seitenzahl: 377

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Hinweis zur Autorin

Die Schriftstellerin ist Psychotherapeutin und veröffentlich ihre Romane unter dem Pseudonym Tartana Baqué. In ihren Büchern liebt sie, Realität und Fantasie zu vermischen mit feingespicktem Fachwissen, um die Vielschichtigkeit der Menschen widerzuspiegeln.

Manchmal verstehe ich Dich und die Welt nicht.

Manchmal verstehen die Welt und ich mich selbst nicht.

Doch wenn ich vertraue und liebe,

Kommt die Antwort von allein

Tartana Baqué

Tartana Baqué

Das Zitat

© 2022 Tartana Baqué

Bilder: Cover „Frau mit Tulpe” (2005), im Innenteil „Rose“ (2022):

Helga C. M. Land-Kistenich

Lektorat, Satz & Layout: Susanne S. Junge

ISBN Softcover:

978-3-347-71182-2

ISBN Hardcover:

978-3-347-71183-9

ISBN E-Book:

978-3-347-71189-1

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhalt

Prolog

Als ob mich das Leben zwingen will, mit mir selbst ins Reine zu kommen.

Vieles geschieht im Leben, womit man nicht gerechnet hat. Manchmal wirft es einen um.

Wir brauchen keine Männer, um glücklich zu sein.

Ich frage mich immer wieder, ob ich nicht etwas falsch gemacht habe.

Wenn man seine Wahrnehmung gezielt auf einen bestimmten Punkt richtet, nimmt man andere Dinge nicht mehr wahr.

War DAS wirklich alles in meinem Leben?

Wir sind auf der Suche nach unserem Seelengegenüber. Erst wenn wir ihn gefunden haben, fühlen wir uns vollkommen und glücklich.

Eine große Liebe kann tatsächlich vergehen. Manchmal erfährt man nie den Grund.

Ich bleibe lieber allein. So habe ich jede Freiheit der Welt und kann tun und lassen, was ich will.

War der Verlust seiner Mutter der Beginn seines Problems? Angst zu haben, von einer Frau verlassen zu werden, die er bedingungslos liebte.

Du schaffst es nicht loszulassen, um im Hier und Jetzt zu leben, weil du dich nicht selbst kennst, und dich nicht selbst liebst.

Du spielst der Welt deine Rollen vor von Persönlichkeiten, die du gerne sein möchtest.

Wir fühlen, dass uns etwas zu unserem Seelenfrieden und zum Glücklichsein fehlt. Deshalb suchen wir nach der großen Liebe, nach jemandem, der unseren Wunsch nach Vollkommenheit erfüllt.

Als Kinder haben wir uns danach gesehnt, laut und wild zu sein. Diese Leidenschaft haben wir auch heute noch in uns.

Vertraue deinem Weg. Deine Verletzungen und schlimmen Erlebnisse, die du während deines Lebens erfahren hast, sind nicht dazu da, dass du sie hegst und pflegst.

Darum werde dir deiner Selbst bewusst: Vertrete egoistisch deine Ziele, indem du dich ehrlich einbringst und dir selbst folgst.

Liebe und körperliche Nähe sind wie Tag und Nacht. Sie ergänzen sich. Erst wenn du deinem Körper vertraust und an dich glaubst, wird ein erfülltes Leben entstehen.

Das Leben ist unser härtester und bester Lehrmeister. Je mehr wir lernen, die auf uns zukommenden Dinge als Aufgaben wahrzunehmen, umso schneller werden wir uns selbst erkennen und verstehen.

Manchmal passiert etwas, das wir uns nicht erklären können. Doch wir müssen mit dem Resultat leben.

Wenn unser Herz zerbrochen ist, dann kann Sex unsere Lust nur kurz entflammen. Danach sind wir noch einsamer als zuvor.

Miteinander zu schlafen bedeutet, sich zu lieben. Es ist ein Zwiegespräch ohne Forderungen nach Sexpraktiken oder Wetteifern nach dem besten Orgasmus.

Elf Jahre eines gemeinsamen Lebens waren innerhalb von fünfzehn Minuten beendet.

Mach deine Hausaufgaben, sonst machen deine Hausaufgaben dich.

Männer kommen und gehen, aber eine Freundin bleibt ein ganzes Leben lang.

Ich kann Männern nicht mehr vertrauen, weil ich Angst habe, dass sie mich verletzen.

Es war ihr, als würde etwas aus ihrer Seele herausgewaschen. Etwas, von dem sie nichts mehr wusste. Etwas Unbekanntes, was lange im Verborgenen darauf gewartet hatte, entdeckt zu werden.

Neurochemische Transmitter lösen im limbischen System unseres Gehirns automatisch Körperreaktionen aus. Lust hat nicht unbedingt etwas mit Liebe zu tun.

Die körperliche Liebe gehört zu uns Menschen ohne Wertung. Deshalb lebe deine Lust. Heile deine Verletzungen, um dich frei zu entfalten.

Ist es nicht unsere Angst, die uns blockiert? Angst zuzugeben, dass wir verwundbar sind? Darum ist es wichtig, dass wir lernen, uns zu vertrauen, und jeden Tag aufs Neue beginnen, unsere Angst zu überwinden.

Darum ist es so wichtig, dass du dich annimmst, so wie du bist. Eine Lebenskrise kann der Beginn einer neuen Lebendigkeit sein, die dich sensibilisiert, dein Seelengegenüber zu finden.

Wieso kann man Liebe nicht erzwingen?

Eine gute Freundschaft hält oft ein Leben lang, was man von manchen Ehen nicht behaupten kann.

Hör auf davonzulaufen. Hör auf zu träumen. Hör auf, dir ein Bild von einem wunderbaren Leben zu basteln. Höre in dich hinein, realisiere deine Ideen und werde glücklich.

Wenn alle warten … dann passiert nichts.

Selbst wenn man die Wahrheit ahnt, will man sie oft nicht akzeptieren. Aber wenn nichts mehr hilft, dann hilft nur noch die Wahrheit.

Unsere Körper haben viel früher gewusst, was unser Geist erst mühsam später begriffen hat.

Prolog

„Wäre dieses Buch nicht was für meine Patienten?“, fragte sich Katja und blieb am Bücherstand von Julia Jorkmann stehen. Der Titel „Finde Dich selbst und Du bist glücklich“ ließ sie nicht los. „Will nicht jeder Mensch glücklich sein?“, überlegte sie, während sie das rote Paperback-Buch in ihren Händen hin- und herdrehte.

Es herrschte ein reges Treiben in der Brühler Einkaufszone. Passanten eilten mit schnellen Schritten vorbei, andere blieben wie Katja an den Bücherkisten mit den Sonderangeboten stehen. Laut zwitscherten die Vögel in den Baumkronen. An den Ästen wechselten die jungen Blätter die Intensität ihres Grüns im Sonnenlicht ganz so, wie es dem Wind gefiel. Katja schloss für einen Moment ihre Augen, während sie den süßen Duft der Narzissen einatmete, die dicht gedrängt in zwei wuchtigen Blumenkübeln am Ladeneingang gepflanzt waren. Die Märzsonne schien ihr durch die Baumzweige direkt ins Gesicht.

Sie rümpfte ihre Nase: Bloß nicht niesen! Mit einer Hand kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, als die Anrufmelodie ihres Handys ertönte. Sie hielt das Papiertuch fest, während sie mit der anderen Hand nach dem Smartphone angelte. Ohne Halt entglitt ihr das Buch und fiel mit einem lauten Knall auf das Straßenpflaster.

„Eine interessante Lektüre“, hörte sie eine seltsam angenehme Männerstimme. Ein Fremder hatte das Buch von Hanna Friedemann vom Boden aufgehoben und hielt es ihr entgegen.

„Danke“, antwortete Katja knapp, während sie nach dem Ratgeber griff. Ihre Finger berührten sich. Blitzartig zog sie ihre Hand zurück.

„Keine Ursache“, sagte der Unbekannte und lächelte sie an. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Katja schluckte. Endlich … das Klingeln des Telefons hatte aufgehört. Der Mann war verschwunden.

Sie war sich nicht sicher, ob sie in seinen braunen Augen ein spöttisches Lächeln bemerkt hatte. Leicht schüttelte sie ihren Kopf, während sie mit einem Ruck ihre Ledertasche schulterte und in den Laden stürmte. Das rote Taschenbuch hielt sie wie eine Trophäe fest in ihrer Hand.

Als ob mich das Leben zwingen will, mit mir selbst ins Reine zu kommen.

„Guten Morgen, einen Kaffee wie immer?“, begrüßte Nicole ihre Chefin, als Katja ihre psychotherapeutische Praxis betrat.

„Ja gerne”, antwortete Katja und hängte ihren Mantel an den Garderobenständer direkt neben der kleinen Teeküche. Etwas entfernt von der Eingangstür stand Nicoles Schreibtisch, der den hellgelb gestrichenen Flur unterteilte, sodass er auch als Empfang für die Patienten diente.

Katja liebte ihre Praxis, die sie nach ihrem seelischen Zu sammenbruch vor anderthalb Jahren in Brühl mithilfe ihrer alten Schulfreundin Susanne gegründet hatte. In ihrem großen Praxisraum hatte sie zwei Bambuspflanzen in gelblasierten Tontöpfen vor die zartgrün getönte Wand gegenüber der Couch aufgestellt. Ihr Arbeitstisch stand frei vor dem Fenster, denn Katja liebte das Licht.

Während der Computer hochfuhr, putze Katja ihre Brille. Mit dem hellbeigen Ledersofa und den beiden Clubsesseln im selben Farbton, dem Schreibtisch und den zwei bis zur Decke reichenden Regalen an den Wänden, vollgestopft mit Büchern, hatte Katja in ihrem Therapiezimmer alles, was sie brauchte.

Die meisten ihrer Patienten waren weiblich und litten unter Beziehungsschwierigkeiten mit Depressionen und Ängsten.

Katja hatte manchmal das Gefühl, als würden die Frauen ihr einen Spiegel vorhalten, bemühte sie sich doch selbst weit über ein Jahr, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Obwohl fast zwei Jahre vergangen waren, tauchten immer wieder die Bilder von ihrem Ehemann Frank auf, wie er in einem Kölner Restaurant einen blonden Mann küsste.

Katja hauchte noch einmal gegen die Brillengläser.

„Warum hat er mir das angetan?“

Heftig rieb sie mit dem Spezialtuch die beiden Gläser blank. Wie lange er sie betrogen hatte, wollte sie auf keinen Fall wissen. Sie holte tief Luft und setzte ihre rote Brille auf.

„Nur nicht schlapp machen!“

Nicole kam herein und legte ihr drei Akten auf den Glasschreibtisch.

„Ich hole uns den Kaffee“, verkündete sie und schob die braune Hornbrille, die ihr auf die Nase heruntergerutscht war, hoch.

Die Luft im Therapieraum war erfüllt von Kaffeeduft. Schweigend saßen Katja und Nicole sich gegenüber und tranken in kleinen Schlückchen das heiße Getränk, als würden sie ihre Akkus aufladen. Katja lächelte still vor sich hin, denn sie war froh, dass Nicole, die mit Fünfzig hatte aufhören wollen zu arbeiten, bei ihr geblieben war. Jetzt kam sie zweimal in der Woche vormittags in die Praxis, um sie zu unterstützen. Katja sah Nicole an, die sie abwartend beobachtete. Ja, sie war hier in Brühl glücklich. Wenn sie es genau bedachte, konnte sie froh sein, dass sie damals den Zusammenbruch erlitten hatte und so dem Hamsterrad der großen Psychotherapeutischen Praxis in Köln entkommen war. Wer weiß, ob sie jemals den Absprung aus Köln geschafft hätte.

„Gibt’s heute etwas Besonderes zu beachten?“, fragte Katja und schaute in ihren Kalender.

„Ja, heute haben wir auch mal Männer als Patienten. Jens Richter kommt um 16 Uhr, und bereits um 11 Uhr kommt ein neuer Patient, den Susanne uns empfohlen hat“, Nicole überreichte Katja eine dünne Akte.

„Tu mal nicht so, als ob ich keine männlichen Patienten mag“, lachte Katja, während sie den Anmeldebogen von Marcel von Minsdorff überflog, „er ist vierzig Jahre, und sein Ehemann hat ihn betrogen“, las sie laut vor, wobei sie demonstrativ ihre Hände hob, „siehst du, Nicole, wieder mal jemand, der in Trennung lebt. Mal sehen, wie ein Mann damit klarkommt.“

Sie legte die Akte beiseite.

„Als ob mich das Leben zwingen will, mit mir selbst ins Reine zu kommen“, murmelte sie vor sich hin und holte dann tief Luft, „Männern kann man nicht vertrauen.“

Nicole hob ihren Kopf: „Ist was?“

„Nein, nein. Alles in Ordnung“, antworte Katja und strich sich mit beiden Händen durch ihr kurzes, blondes Haar. Ihr Blick blieb an dem Wandregal, vollgestopft mit Büchern hängen, als ob von dort die Antwort auf all ihre Fragen käme.

Nach einer kleinen Pause sah sie Nicole an und fragte: „Wer kommt gleich?“

„Frau Scholz.“

Als wäre es das Stichwort, durchdrang ein lauter Klingelton die Praxis. Nicole nahm den Stapel Akten vom Schreibtisch und eilte zur Praxistür; wenig später führte sie die Patientin in den Therapieraum.

„Guten Morgen, Frau Scholz. Sie können sich gerne auf das Sofa setzen“, lächelte Katja sie an und zeigte auf die Couch. Umständlich nahm Frau Scholz Platz, wobei sie sich zwei Kissen hinter ihren Rücken stopfte.

„Meine Beine sind zu kurz“, kicherte sie und zupfte an ihrer grün gemusterten Kostümjacke, dann sprudelte sie los, ohne Punkt und Komma.

Katja hatte Mühe, mit ihren Notizen nachzukommen.

„Wann war der Überfall?“, fragte sie, als Frau Scholz kurz Luft holte.

„Am 21. Dezember letzten Jahres. Ich kam gerade von meiner Schicht, so gegen zweiundzwanzig Uhr. Ich war auf dem Weg nach Hause. Da tauchte aus dem Nichts ein junger Mann auf und riss an meiner Handtasche.“

„Woher wissen Sie, dass es ein Jugendlicher gewesen ist?“

Frau Scholz blickte Katja mit großen Augen an: „Bei der Gegenüberstellung bei der Polizei habe ich ihn sofort wiedererkannt“, erklärte sie mit lauter Stimme, wobei sie ihren Kopf hin- und herbewegte, so dass das Deckenlicht ihre blondgefärbten schütteren Haarlocken hin und wieder aufblitzten ließ.

„Wie? War es nicht dunkel?“

„Ja, schon, aber ich hielt doch meine Tasche fest. Er konnte sie mir nicht entreißen …und da hat er mich niedergeschlagen. Ja, … und dann, … als ich auf dem Boden lag, hat er sich über mich gebeugt. Da habe ich ihn genau gesehen. Er zerrte so fest an meiner Handtasche …“, Frau Scholz hielt ihre beiden Arme fest verschränkt vor ihrer Brust und wackelte nun mit ihrem gesamten Körper, „… so fest. Da musste ich sie loslassen.“

Frau Scholz schniefte. Katja reichte ihr die Box mit den Papiertaschentüchern. Sie war sich unsicher, ob Frau Scholz weinte, weil der Dieb ihr trotz heftiger Gegenwehr die Handtasche entrissen hatte, oder weil sie verwundet worden war.

„Er hatte mir mit einer Eisenstange auf den Kopf geschlagen“, fuhr die Patientin fort, „ich erlitt ein Schleudertrauma. Beim Sturz auf den Bürgersteig brach ich mir auch noch mein linkes Becken. Mehrere Tage lag ich im Krankenhaus. Zwei Monate war ich an einen Rollstuhl gefesselt, weil ich nicht laufen konnte …und was das Schlimmste ist“, sie blickte Katja mit verweinten Augen an, „… jetzt traue ich mich nicht mehr aus dem Haus. Jedes Mal, wenn ich Schritte hinter mir höre, denke ich, dass ich gleich niedergeschlagen werde.“

Frau Scholz holte tief Luft, während sie Katja mit wasserblauen Augen fixierte: „Meine Berufsgenossenschaft hat Sie mir empfohlen, weil Sie eine Spezialistin für Traumabehandlungen sind.“

„Das stimmt“, nickte Katja, „machen Sie sich keine Sorgen, ich kann Ihnen helfen. Mit bestimmten Therapietechniken werden Sie Ihre Ängste verarbeiten und lernen, ohne Panikgefühle wieder auf die Straße zu gehen.“

Vieles geschieht im Leben, womit man nicht gerechnet hat. Manchmal wirft es einen um.

„Marcel von Minsdorff ist da. Kann ich ihn reinbitten?“, fragte Nicole und reichte Katja die ausgefüllten Anmeldepapiere und die noch dünne Aktenmappe.

„Warte, ich will mir kurz die Daten anschauen. Gib ihm schon mal den Depressionstest. Wenn er damit fertig ist, kannst du ihn reinbringen.“

Katja öffnete die Patientenakte. Susanne hatte ihn an sie verwiesen, da er ihr Sicherheits- und Datenschutzbeauftragter war und sie bei allen Software-Problemen beriet. Sie hatte Katja nicht viel von ihm erzählt, außer, dass er dringend ihre Hilfe benötige. Katja therapierte seit der Trennung von Frank nicht gerne Männer. Mehr noch, sie wollte sich gar nicht erst mit ihnen auseinandersetzen. Aber bei diesem Patienten sowie bei Jens Richter hatte sie eine Ausnahme gemacht, weil Freunde ihr die Patienten empfohlen hatten. Sie konnte einfach nicht Nein sagen.

Katja überflog nochmals den Anmeldezettel. Er wohnte in Köln, litt seit mehreren Monaten an Depressionen. Vor kurzem hatte er erfahren, dass sein Ehepartner Kevin fremdging.

Sie lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück. Wieso kam er zu ihr nach Brühl? Es gab doch genügend gute Psychotherapeuten in Köln. Nur aufgrund der Empfehlung von Susanne?

Die Tür ging auf, und Nicole bat einen schlanken, großgewachsenen Mann herein, der viel älter als vierzig wirkte. Mit schleppenden Schritten kam er auf Katja zu. Er war völlig schwarz gekleidet, so wie es heute in ist. Eine schlabberige Designer-Trainingshose und eine Sportjacke von Adidas, die mit einem Emblem auf dem Rücken aufgemotzt war. Locker trug er einen schwarzen Lederrucksack über der rechten Schulter.

„Guten Morgen. Ich bin Katja Meerkamp“, begrüßte sie ihn.

Er streckte ihr seine weiße Hand entgegen. Spontan zuckte sie zurück, um dann doch seine Begrüßung zu erwidern. Sein Händedruck war überraschend fest.

„Wo möchten Sie Platz nehmen?“, fragte sie, wobei sie auf das Sofa und dann auf den Ledersessel zeigte, „oder möchten Sie lieber am Schreibtisch sitzen?“

Sie wusste, dass einige Patienten diesen Platz bevorzugten, weil sie sich hinter dem Glasschreibtisch sicherer fühlten, in der Annahme, dass Katja ihnen gefühlsmäßig nicht zu nahekommen könnte. Was ein Irrtum war. Aber das bemerkten die Patienten erst, wenn es zu spät war. Deshalb hatte sie auch dort eine kleine Box mit Papiertüchern aufgestellt, die sie heimlich “Weintücher” nannte.

Ohne zu zögern, ging Herr von Minsdorff zum Sofa und setzte sich, wobei er genau überprüfte, ob sein Rucksack richtig neben ihm lag. Seine Wasserflasche stellte er auf den kleinen Glastisch vor sich.

„Sorry, Herr von Minsdorff, wenn ich Sie mit meiner ersten Frage überfalle“, sagte Katja, während sie sich im Clubsessel ihm gegenüber niederließ, „aber ich bin einfach neugierig.“

Sie zog ihr Kleid über ihre Knie – die, wie Frank meinte, viel zu spitz waren, „wieso kommen Sie zu mir nach Brühl, obwohl es genügend kompetente Kollegen und Kolleginnen in Köln gibt?“

Ein breites Lächeln erhellte sein Gesicht, was ihn sofort jünger erschienen ließ: „Gern beantworte ich Ihre Frage. Aber … könnten Sie mich duzen und mit Marcel ansprechen? Ich habe längere Zeit im Ausland gelebt und bin es auch von meiner Arbeit her gewöhnt. Wenn Sie möchten, dass ich Sie mit „Sie“ anspreche, ist das kein Thema für mich.“

Katja rückte ein Stück mit ihrem Sessel nach hinten und antwortete: „Gerne werde ich auf Ihr Angebot zurückkommen, sobald es sich ergeben solle. Grundsätzlich duzte ich meine Patienten nicht, auch wenn man es in England, Holland oder Spanien anders macht“, sie hob ihren Kopf, wobei sie ihn anlächelte, „im Moment möchte ich, dass wir es beim „Sie“ belassen.“

In seinem blassen Gesicht bewegte sich keine Miene: „Einverstanden. Sagen Sie mir, wenn Sie mich duzen möchten“, dabei lehnte er sich locker zurück, schlug das rechte Bein über das linke und fuhr fort: „Vielleicht hole ich zur Beantwortung Ihrer Frage etwas weiter aus, damit Sie besser meine Situation verstehen können.“

„Gerne, erzählen Sie ruhig. Alles hat seinen Sinn. Manchmal erschließt er sich uns nur nicht sofort“, gab Katja zurück, während sie auf ihrem Schreibblock einige Notizen machte.

„Meine Großeltern, die ich sehr liebe, sind echte Kölner. Sie wohnten, seit ich denken kann, in Marienburg. Jetzt sind sie nicht mehr so gut zu Fuß und haben sich in einem Seniorenheim eingekauft – hier bei Ihnen in Brühl. Es wird dort ein ausgezeichneter Versorgungsservice, abgestimmt auf die Bedürfnisse älterer Menschen, angeboten. Die Wohnanlage befindet sich in der Nähe der Innenstadt, sodass meine Oma mit ihren fünfundsiebzig Jahren immer noch shoppen und ins Café gehen kann. Mein Opa ist zweiundachtzig und kann leider nicht mehr so gut laufen. Auch leidet er seit einiger Zeit an Herzproblemen. Ich habe ihm zu Weihnachten einen elektrischen Rollstuhl gekauft, damit ich ihn samstags durch den Brühler Schlosspark fahren kann. Er liebt es, mit mir am Ende unseres kleinen Ausflugs eine Kleinigkeit im Bahnhofsrestaurant zu essen.“

Marcel von Minsdorff machte eine kleine Pause und sage dann: „In der Regel besuche ich meine Großeltern mittwochs und samstags.“

Katja hörte auf zu schreiben und sah ihn direkt an.

Ein breites Lächeln glitt über sein Gesicht: „Ich weiß, es ist ungewöhnlich, dass sich ein Mann in meinem Alter so intensiv um seine Großeltern kümmert. Aber Sie müssen wissen, meine Oma und mein Opa haben mich seit meinem sechsten Lebensjahr großgezogen, weil meine Mutter sehr früh an Krebs verstorben ist.“

Er stoppte; leise fuhr er fort: „Bis zu ihrem Tod hatte unsere Familie in Málaga gelebt“, er sah Katja plötzlich direkt an und sagte fast trotzig mit lauter Stimme, „meine Mutter ist Spanierin.“

Für einen Moment hielt er wieder inne, während sich sein Gesicht verdunkelte; dann erzählte er mit gepresster Stimme: „Mein Vater heiratete sehr schnell nach dem Tod meiner Mutter seine jetzige Frau. Sie ist Indonesierin, und sie haben zwei Kinder … sie leben in Jakarta.“

Er starrte auf seine geballten Fäuste. Nach einer Weile hob er seinen Kopf und sagte: „Als meine Großeltern nach Brühl gezogen sind, überschrieben sie mir ihre Villa in Marienburg. Jetzt wohne ich dort und habe da auch mein Büro.“

„Und wie haben Sie mich gefunden?“

„Ganz einfach“, er beugte sich vor, während seine braunen Augen sie anfunkelten, „es war Zufall! … Oder? … Oder war es Schicksal?“, er schüttelte leicht seinen Kopf, „ist egal. Eines mittwochs bin ich durch die Waldstraße gegangen und … da habe ich Ihr Schild gesehen. In Köln kennen mich viele Leute, … und da dachte ich mir, …dass es vielleicht gar nicht so schlecht ist, wenn ich eine Therapeutin nehme, die mich nicht kennt und etwas außerhalb der „Tratsch-Zone“ lebt. Von meiner Steuerberaterin, die Sie kennen, habe ich den Tipp bekommen, mich bei Ihnen zu melden. Es ist im Moment wirklich nicht einfach, einen guten Therapeuten zu finden“, er schob sein Kinn nach vorn, „und so bin ich jetzt hier.“

„Gut, dann nennen Sie mir bitte Ihre Probleme, die Sie jetzt besonders belasten.“

„Okay, die Kurzform: Mein Ehepartner Kevin hat mir letzten Monat gestanden, dass er ein Verhältnis mit einem anderen Mann hat. Das reicht. Oder?“

Katja nickte und wartete, ob er noch etwas hinzufügen würde; er jedoch starrte mit zusammengekniffenen Augen das Bild an der Wand hinter ihr an.

Nach einer kleinen Weile sprach er plötzlich doch weiter: „Kevin und ich sind seit fünf Jahren verheiratet. Ich habe alles für ihn getan. Was er heute ist, hat er mir zu verdanken. Und … und dann betrügt er mich so schändlich.“

Er nahm seine Nickelbrille herunter und wischte sich mit der rechten Hand über die Augen: „Dieser Typ behauptet tatsächlich, ich sei ihm zu rechthaberisch und langweilig. Ich wäre lahm im Bett, und wir würden sowieso nicht zusammenpassen“, mit großen Augen sah er Katja an, “ich verstehe das alles nicht. Ich fühle mich wie erschlagen und habe keine Kraft mehr … für nichts. Ich kann nicht mehr schlafen und kann mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Ich brauche dringend Ihre Hilfe. … Ohne meine Arbeit fühle ich mich, als wäre ich ein halber Mensch.“

„Vieles geschieht im Leben, womit man nicht gerechnet hat. Manchmal wirft es einen um“, sagte Katja leise, wobei sie ihre Hände zusammenpresste, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. Es war ihr, als hätte Marcel ihre eigenen Gefühle beschrieben.

Schnell angelte sie ein Blatt mit einem Zahlenstrang aus ihrer Mappe und hielt ihm die Seite entgegen, so dass er die Zahlen genau erkennen konnte: „Wie würden Sie Ihre Stimmung in diesem Moment einstufen? Die Zahl 1 bedeutet: „Mir geht es sehr schlecht und ich fühle mich überhaupt nicht wohl.“. Die Zahl 10 besagt: „Mir geht es sehr gut.““, sie sah ihn abwartend an, „welche Zahl nennen Sie mir?“

„Eine Eins“, antwortete er spontan.

Katja nickte und kreuzte die Nummer an: „Herr von Minsdorff, es stimmt, es geht Ihnen gerade nicht gut. Aber … Sie haben sich heute eingestanden, dass Sie sich schlecht fühlen und dass Sie Hilfe brauchen. Das war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung und der Beginn Ihrer positiven Veränderung“, Katja sprach nun lauter und eindringlicher, wobei sie seinen Blick hypnotisch festhielt, „deshalb werden Sie ab sofort merken, wie es Ihnen von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, besser geht und Sie mehr und mehr an Kraft und Energie gewinnen.“

Sie lächelte ihn an, nahm ihren Stift, ihren Kalender und fragte beiläufig: „Wann möchten Sie das nächste Mal wiederkommen?“

Marcel blinzelte mit den Augen und kramte sein Handy aus seinem schwarzen Lederrucksack: „Könnte ich am Mittwochoder Freitagabend kommen?“

Katja überlegte, welcher Designer diesen Rucksack gemacht haben könnte, während sie ihm weiter zuhörte.

„Sie wissen ja, ich bin dann bei meinen Großeltern. Ich könnte mir eine extra Fahrerei von Köln nach Brühl sparen“, fuhr er fort und schaltete sein Handy ein.

Katja blätterte in ihrem Notizbuch, bis sie einen passenden Tag gefunden hatte: „Wie sieht es nächsten Freitag um 18:00 Uhr aus?“

„Perfekt. Ich könnte dann direkt in Brühl bleiben“, nickte er und tippte den Termin in sein Smartphone, „der Autoverkehr von Köln nach Brühl ist annoying. Fast könnte man sagen -wenn die Züge pünktlich fahren würden, wäre man mit der Bahn schneller in Brühl als mit dem Auto.“

Katja fiel in sein Lachen ein: „Wohnen Sie dann bei Ihren Großeltern?“

„No, no. Das ist dann wirklich zu viel des Guten. Ich habe ein kleines Häuschen in der Nähe des Jagdschlosses Falkenlust gekauft.“

Seine Augen leuchteten Katja an: „Ich habe dort einen Ort zum Chillen gefunden“, er schwieg einen kleinen Moment, „Köln ist mir zu laut geworden … und ich will Kevin aus dem Weg gehen.“

„Wenn Sie möchten, trage ich Sie bis auf weiteres immer für Freitag um diese Uhrzeit ein.“

„Okay, das passt, dann kann ich vorher mit meinem Hund eine Runde durch den Wald gehen.“

„Sie haben einen Hund?“, Katja klappte ihren Kalender zu, „ich liebe Hunde.“

„Es ist ein Mixto und heißt Sancho.“

„Mixto? Was ist das für eine Rasse?“

„Oh, das ist Spanisch und bedeutet, dass er nicht reinrassig ist und man keine Ahnung hat, welche Hunderassen sich in ihm kreuzen.“

Ein Strahlen glitt über sein Gesicht, während er mit kraftvoller Stimme weitersprach: „Ich finde, dass Sancho am meisten etwas von einem Labrador hat. Vor einem Jahr habe ich ihn aus dem Tierheim in Málaga geholt. Sein Herrchen hatte ihn dort abgegeben, weil er ihm schon nach einem halben Jahr zu groß geworden war“, er schüttelte seinen Kopf, „ich verstehe nicht, wie man Hunde einfach so weggeben kann. Hunde sind Lebewesen und keine Gegenstände.“

„Da bin ich ganz Ihrer Meinung“, stimmte sie ihm zu, „wie sind Sie denn auf den Namen Sancho gekommen?“

Er lehnte sich zurück, während seine Stimme sanft vibrierte: „Sie wissen ja, dass ich meine Kindheit in Spanien verbracht habe, und daher kenne ich die Geschichte von Don Quijote von Miguel de Cervantes. Besonders mochte ich in der Geschichte den Diener Sancho Panza, der so geduldig und freundlich war. Ich finde, mein Hund ist genauso tapsig, gemütlich und treu … der Name Sancho passt genau.“

Katja registrierte, dass er jetzt wie umgewandelt war, und so fragte sie ihn: „Und wie fühlen Sie sich jetzt? Welche Zahl können Sie mir jetzt nennen?“

Er überlegte kurz: „Eine fünf. Ja, tatsächlich. Ich gebe Ihnen jetzt eine fünf“, antwortete er zögerlich, wobei er Katja ungläubig musterte.

„Das freut mich“, ein Lächeln glitt über Katjas Gesicht, „bitte bleiben Sie sitzen. Meine Sekretärin gibt Ihnen noch einige Fragebögen, die Sie bitte vollständig ausfüllen. Ich werde diese für unsere nächste Sitzung auswerten.“

Zum Abschied reichte sie ihm ihre Hand: „Auf Wiedersehen, Herr von Minsdorff. Wir sehen uns Freitag in einer Woche. Wenn Sie noch Fragen haben, dann wenden Sie sich bitte an meine Sekretärin.“

Wir brauchen keine Männer, um glücklich zu sein.

Katja schaute auf ihre Armbanduhr. Tatsächlich es war fast zwölf Uhr, und ihr Magen machte sich bemerkbar. Während sie ihren Mantel überzog, bat sie Nicole: „Kannst du mir noch Wasser in den Kühlschrank stellen?“

„Mache ich. Ich warte, bis der Patient fertig ist, und lege dir alles für heute Nachmittag auf deinen Schreibtisch. Wir sehen uns ja heute nicht mehr.“

„Stimmt. Lass dich umarmen“, Katja nahm Nicole, die ihr nur bis zur Schulter reichte, zum Abschied in den Arm, „ich wünsche dir ein schönes Wochenende.“

„Wünsch’ ich dir auch… Und nimm dir nicht zu viel Arbeit mit nach Hause.“

„Diesmal lasse ich die Gutachten hier. Ich fahre mit Susanne ins Münsterland.“

„Wer’s glaubt, wird selig“, lachte Nicole, wobei sie die Außentür hinter Katja verschloss.

Katja eilte die Treppen hinunter, denn um fünfzehn Uhr hatte sie die nächste Patientin. Sie checkte auf ihrer Armbanduhr die heutige Schrittzahl. Normalerweise hatte sie selten mehr als zweitausend Schritte pro Tag, was eindeutig zu wenig war, um schlank zu sein. Deshalb machte sie seit einiger Zeit einen kleinen Umweg durch die Fußgängerzone an der Buchhandlung von Julia Jorkmann vorbei, wo sie Stammkundin war. So pushte sie ihre Tagesschrittzahl, während sie ihren Gedanken freien Lauf lassen konnte.

Erinnerungsfetzen tauchten auf. Fast vier Monate hatte sie nach ihrem Zusammenbruch nicht mehr arbeiten können. Die Erkenntnis, dass Frank sie nach elf Ehejahren belogen und betrogen hatte, nahm ihr jeden Lebensmut und all ihre Energie. Tagelang war sie ruhelos in ihrem Haus umhergeirrt, konnte weder essen noch schlafen. Auf Anraten von Susanne hatte sie sich endlich krankschreiben lassen, denn sie konnte sich nicht mehr auf ihre Patienten konzentrieren. Ihre Hausärztin empfahl ihr, eine Vertretungsassistentin einzustellen, die später ihre Praxis übernahm.

Zum Schluss hatte sie sich vollständig in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, keine Telefonate und Emails mehr beantwortet und sich wochenlang in Alkohol ertränkt. Katja hatte sogar ernsthaft darüber nachgedacht, sich in eine Klinik einzuweisen, weil ihr Alkoholkonsum bedenklich angestiegen war und sie sich zu nichts mehr aufraffen konnte. Wie Spinnenwebenfäden hingen ihre offenen Fragen in ihrem Kopf und verklebten jeden Ausweg. Auf ihre Fragen fand sie keine erlösenden Antworten. Warum liebte Frank sie nicht mehr? Warum hatte er sie mit einem Mann betrogen? Warum hatte er sie belogen? Warum hatte sie nichts von seinem Betrug bemerkt? Franks Erklärung, er hätte erst mit der Zeit gemerkt, dass er sich für Männer interessierte, konnte und wollte sie nicht akzeptieren.

Katja blieb stehen und rang nach Luft. Mist. Wieder hatte sie sich in negativen Gedankenschleifen verfangen, obwohl sie wusste, wie schmerzhaft und gleichwohl sinnlos das war.

Nur mit Hilfe von Susanne und dem Zuspruch mehrerer Freunde hatte sie damals den Mut gefasst, einen Neustart als Psychotherapeutin in Brühl zu wagen. Mit Herrn Butter, dem Immobilienmakler von Susanne, fand sie zwei Monate später eine Eigentumswohnung. Die lag direkt am anderen Ende der Waldstraße, sodass sie nur ein paar Minuten zu Fuß zu ihrer Praxis gehen musste. Katja war schon vorher von dem Städtchen Brühl begeistert gewesen, denn wenn sie Susanne besuchte, gingen sie oft in den weitläufig angelegten Schlosspark. Kurfürst Clemens August zu Wittelsbach hatte um 1725 das gelbliche Rokoko-Bauwerk, angelehnt an das Schloss Versailles in Frankreich, in Auftrag gegeben. Jetzt gehörte die Sommerresidenz zum Weltkulturerbe und gab Brühl ein besonderes Flair.

Katja war fast zu Hause, als sie vom Duft frischer Brötchen in die Bäckerei Heinersdorff gelockt wurde. Ohne sich infrage zu stellen, kaufte sie zwei Sahnestückchen: eins mit Himbeeren und das andere mit Erdbeeren.

„Obst ist doch gesund! Oder …?“

Vor ihrer Haustür blieb sie stehen und kramte in ihrer Handtasche. Verdammt, wo war dieser blöde Haustürschlüssel? Sie liebte ihre riesige Tasche: Kalender, Tablet, Handy und die eine oder andere Akte passten hinein. … Andererseits war sie ständig auf der Suche nach irgendetwas.

Plötzlich wurde die Tür von innen mit einem Ruck geöffnet, und ein Mann trat heraus.

„Hallo! … Schon Feierabend?“, grüßte er und hielt ihr die Tür weit auf.

„Nein, nein. Ich habe nur meine Mittagspause“, lächelte sie ihn an. In seinem Sakko und den blauen Jeans sah er elegant-sportlich aus. Sie bemerkte, wie er sie mit seinen graublauen Augen musterte.

„Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Edgar Bramke, ihr Nachbar, und wohne im vierten Stock,“ wobei seine Augen sie anblitzten.

„Ich bin Katja Meerkamp und wohne im zweiten Stock“, antwortete Katja kurz angebunden und ging in den Flur. Sie drückte den Aufzugknopf für die zweite Etage, während sie überlegte, wieso dieser Typ so von sich eingenommen war. Oben angekommen, war ihr klar, dass es gesünder gewesen wäre, wenn sie die Treppe genommen hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette.

Kaum, dass sie ihre Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, streifte sie ihre Pumps von den Füßen. Nicole hatte ihre eine WhatsApp geschickt. Der Termin um fünfzehn Uhr war abgesagt worden, so hatte sie jetzt sogar genügend Zeit für ihren Mittagsschlaf. Auf Strümpfen lief sie in die Küche, um den Kuchen abzustellen. Dann zog sie ihr Wollkleid aus, damit es nicht während ihres Mittagsschlafs zerknitterte. Vorsichtshalber stellte sie den Wecker auf fünfzehn Uhr; so blieb ihr noch eine gute halbe Stunde Zeit für ihr „gesundes Mittagessen“. Sie streckte sich lang auf der Couch aus, deckte sich mit ihrer weißen Kuscheldecke zu und stopfte sich ein Kissen unter ihren Kopf.

„Dieser Edgar Bramke sah verdammt gut aus. Aber was sollte diese plumpe Anmache?“, überlegte sie, „verdammt, ich muss mich entspannen. Was will ich mit einem Kerl? Das gibt nur Probleme. Ich habe Wichtigeres zu tun.“

Katja legte ihre Arme neben ihren Körper und begann mit dem Entspannungstraining, I.S.T. genannt, das sie selbst entwickelt hatte. Innerhalb von fünf Minuten fiel sie damit in einen Tiefschlaf und wachte normalerweise genau zu der geplanten Zeit auf. Danach war sie für die nächsten sechs bis acht Stunden voller Energie und Konzentration. Dieses Ich-Stabilisierende-Selbstsicherheits- und Entspannungstraining setzte sie auch für ihre Patienten ein, um den Therapieerfolg zu steigern.

Als Katja in ihre Praxis kam, sah sie von weitem ihren vollen Schreibtisch. Um sechzehn Uhr sollte Jens Richter kommen. Sie blickte auf ihre Uhr. Es war allerdings schon zehn nach vier, als das Telefon schellte.

„Hallo Frau Meerkamp. Sorry, ich komme einfach nicht aus dem Bett“, hörte sie die leise Stimme von Jens Richter.

Katja atmete tief durch. Es war nicht das erste Mal, dass er kurzfristig absagte.

„Es tut mir wirklich leid, aber ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und bin nur herumgetigert. Ich bin erst gegen sechs Uhr morgens eingeschlafen und gerade wach geworden. Mein Kopf schmerzt, und mir ist schwindelig, wenn ich mich bewege.“

„Haben Sie schon etwas gegessen?“, fragte Katja und ärgerte sich, weil sie sich auf sein Spiel einließ, denn sie wusste, dass er sie benutzte, um sein schlechtes Gewissen abzubauen.

„Nein“, stöhnte er in die Leitung, „ich bekomme keinen Bissen herunter. Und jetzt habe ich die Klausur nicht mitgeschrieben. So ein Mist. Ich schäme mich so sehr. … Können Sie mir eine Entschuldigung für die Uni schreiben, dass ich krank war?“

„Versuchen Sie, heute auf alle Fälle aufzustehen. Es ist wichtig, dass Sie etwas essen. Trinken Sie mindestens zwei Liter Wasser“, erklärte Katja knapp und sachlich, „Sie werden sofort merken, wie Sie neue Kraft bekommen. Ist das angekommen, Jens?“

„Ja, ja, logo. Bin ja nicht doof.“

„Und nun zu Ihrer Krankschreibung. Psychotherapeuten dürfen keine Krankschreibung ausstellen. Sie müssen dafür Ihren Hausarzt aufsuchen.“

„Ach so. Das wusste ich nicht. Danke für Ihr Verständnis, Frau Meerkamp. Ich bin so froh, dass Sie mich verstehen. Schreiben Sie mir bitte noch unseren nächsten Termin auf WhatsApp. Ich stehe dann pünktlich auf der Matte. Versprochen.“

Katja legte den Hörer auf. Sie schrieb in seine Akte: „Nächstes Mal paradoxe Intention und Hypnose.“ Irgendwie musste sie diese Spielchen von Jens durchbrechen. Immer wieder versuchte er mit seinem Charme und seinen Ausführungen, ihre psychotherapeutischen Interventionen zu unterlaufen.

Die letzte Patientin war gegangen. Katja erledigte noch einige verwaltungstechnischen Arbeiten für Montag und packte Nicole einen dicken Aktenstapel auf ihren Arbeitsplatz. Mit voller Handtasche nahm sie den kurzen Weg nach Hause. Der Tragegurt schnitt schmerzhaft in ihre rechte Schulter. Sie schwor, sich endlich einen Rucksack mit Rollen im Internet zu kaufen.

Zu Hause angekommen, war ihr die Lust, sich etwas zu kochen, vergangen. Sie schmierte sich ein Käsebrot im Stehen und rief Susanne an. Die Anrufmelodie dudelte zum fünften Mal. Katja stellte das Handy auf Lautsprecher und legte es auf den Küchentisch. Sie hasste es, wenn das Smartphone am Ohr heiß wurde. So war es auch viel praktischer, denn auf diese Weise konnte sie während des Telefonierens andere Tätigkeiten erledigen. Allerdings ging sie nicht so weit – wie sie von Patienten erfahren hatte -, das Handy auf die Toilette mitzunehmen.

„Hallo, Susanne, hörst du mich?“, rief Katja laut. Es war eine dumme Angewohnheit von ihr, lauter zu sprechen, wenn sie ihren Gesprächspartner nicht richtig verstehen konnte.

„Hallo? … Kati? … Ich höre dich nicht so gut. Warte mal. Ich mache den Fernseher leiser“, die Stimme des Nachrichtensprechers im Hintergrund verschwand, „bist du noch dran?“

„Ja, ich bin noch da“, antwortete Katja, wobei sie in die Richtung des Mikrophons sprach, „Susanne, wann wollten wir morgen los?“

„Ich dachte, wir nehmen einen frühen Zug so gegen acht Uhr. Kommst du mit deinem Rad zu mir? Dann sind wir auf dem halben Weg zum Bahnhof.“

„Klar. Hast du die Karten? Ich gebe dir später das Geld. Wie besprochen, bringe ich etwas zu Essen mit.“

„Keine Panik. Die Karten sind bei mir in der Reisetasche … und die Getränke stehen im Kühlschrank“, Katja hörte, wie Susanne tief Luft holte, „ach, Kati, ich freue mich riesig auf unsere Radtour.“

„Ich mich auch. Ich bin dann morgen früh gegen halb acht bei dir. Schlaf gut.“

Während Katja die Spülmaschine einräumte, dachte sie an Susanne, mit der sie seit ihrer gemeinsamen Schulzeit auf dem Gymnasium in Rodenkirchen befreundet war. Zwar mit Unterbrechungen, aber irgendwie hatten sie sich nie aus den Augen verloren. Selbst als sie in Köln Psychologie studiert und Frank geheiratet hatte, waren sie in Verbindung geblieben. Susanne war die geborene Junggesellin. Außer einigen heftigen Liebschaften hatte sie sich voll auf ihren Beruf als Wirtschafts- und Steuerberaterin konzentriert. Mit der Zeit hatte der Kontakt zwischen ihnen abgenommen, mal eine Weihnachtskarte oder eine Grußkarte zum Geburtstag. Doch als sie von Franks Betrug erfahren hatte, rief sie als erstes Susanne an, die ihr sofort geholfen hatte. Katja lächelte, als sie daran dachte, wie Susanne ihr sofort mit Rat und Tat ihr zur Seite gestanden hatte. Sie hatte sogar einen Monat bei Susanne gewohnt, bevor sie ihre eigene Wohnung in Brühl beziehen konnte.

Aus heutiger Sicht konnte sie nur bestätigen, dass es die beste Entscheidung gewesen war, nach Brühl zu ziehen. Hier war alles in unmittelbarer Nähe - ihre Arbeit, ihre Freundin, das Stadtzentrum mit den vielen Geschäften und Restaurants und ihr geliebtes Schloss mit der großen Parkanlage. Vielleicht war es sogar gut, dass Susanne wie sie keine Kinder hatte. So konnten sie beide viel öfter etwas Gemeinsames unternehmen.

Wie Susanne immer zu sagen pflegte: „Wir brauchen keine Männer, um glücklich zu sein.“

Ich frage mich immer wieder, ob ich nicht etwas falsch gemacht habe.

Katja wachte am Samstagmorgen viel zu früh auf. Den Gedanken, sich noch einmal umzudrehen und weiterzuschlafen, verwarf sie – zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. So begann sie, die Wohnung aufzuräumen, den Boden zu saugen, die Wäsche zu falten und letztendlich auch die Spülmaschine zu leeren. Ihren Rucksack hatte sie bereits am Vorabend gepackt, denn für eine Übernachtung in Billerbeck brauchte sie nicht viel. Sie wollte sich gerade einen Kaffee machen, als das Telefon klingelte. Katja sah auf dem Display die Nummer von Frank. Kurz überlegte sie, ob sie rangehen sollte.

„Hallo Frank, was ist los?“

„Guten Morgen, Katja. Entschuldige, wenn ich dich so früh anrufe, aber ich weiß ja, du bist morgens am besten zu erreichen.“

„Komm zur Sache, Frank. Was willst du?“, fragte Katja, während sie den Knopf der Kaffeemaschine drückte.

„Der Scheidungstermin steht fest. Hast du die Einladung bekommen?“

„Nein, wann soll er sein?“

„Am 5. April um 11:30 Uhr. Wollen wir gemeinsam hinfahren?“

„Nein danke. Susanne wird mich bestimmt begleiten.“

Die Maschine zischte laut, und heißer Kaffee sprudelte in ihren Kaffeebecher.

„Sorry, Frank. Ist noch etwas? Ich bin verabredet und muss gleich los.“

„Nee, nee, lass mal. Hat sich erledigt. Wir sehen uns dann im April“, seine Stimme klang müde.

Katja hatte das sichere Gefühl, dass er ihr noch irgendwas hatte sagen wollen. Wer konnte wissen, was er von ihr wollte?! Sie setzte sich auf den Küchenstuhl mit Blick zur Straße und starrte auf den weißlichen Dampf, der langsam ihrem Kaffeebecher entstieg. Vielleicht hätte sie Frank doch zuhören sollen. Jetzt ratterte es in ihrem Kopf: Was wollte er wirklich? Zwischen ihnen war doch alles geregelt?! Sie sah ihn vor ihrem geistigen Auge: glattrasiert, frisch geduscht, die graumelierten, kurzen Haare zur Seite gekämmt. Schon morgens früh saß er top gestylt im Anzug am Kaffeetisch. Nichts überließ er dem Zufall.

Katja trank einige Schlückchen. Ja, mit seiner freundlichen Art und seinen großen, grauen Augen, die so vertrauensvoll gucken konnten, wickelte er jede Person ein. Auch sie war seinem Charme damals erlegen. Sie fühlte sich bei ihm so wohl, sicher und geborgen. Anfangs konnte sie gar nicht glauben, dass er sie betrogen hatte. Als sie es dann endlich begriffen hatte, war sie voller Wut für eine Woche zu Susanne gezogen. Sie konnte seine Nähe nicht ertragen. Am Anfang wollte sich Frank nicht scheiden lassen, weil er meinte, dass seine Affären mit Männern nichts mit ihrer Ehe zu tun hätten. Er fand ihre Reaktion übertrieben und hysterisch. Letztendlich hatte er aber erkannt, dass es ihr mit der Scheidung ernst war. Es war sogar seine Idee, bei ihrem gemeinsamen Freund und Notar Karl Carlson einen Termin auszumachen. Mit seiner Hilfe gründeten sie eine Stiftung, zum Schutz der gemeinsamen Immobilien, sodass sie beide nach ihrer Scheidung eine Art “eigenes Einkommen “ erhalten. Frank und sie hatten somit keine finanziellen Auseinandersetzungen, so wie es oft bei Scheidungen passiert. Was also wollte Frank von ihr? Der Scheidungstermin könnte theoretisch auch ohne sie stattfinden.

Katja spülte ihre Kaffeetasse ab und stellte sie in den Schrank. Nein, sie wollte Frank nicht mehr zurück. Nein, sie trauerte ihm nicht mehr hinterher. Aber es tat verdammt weh, dass ihr Traum von einer glücklichen Ehe und einer heilen Familie gescheitert war. Was sie am schwersten getroffen hatte, war die Tatsache, dass er sie hintergangen und belogen hatte.

Zwei Jahre lang war sie bei Frauenärzten und anderen Spezialisten Stammpatientin gewesen. Hatte brav Pillen und Hormone geschluckt, trotz der einen oder anderen Nebenwirkung, bis sie einsehen musste, dass sie mit Frank keine Kinder bekommen konnte. Das hätte sie sich alles ersparen können, wenn sie gewusst hätte, dass Frank auf Männer steht und gar keine Kinder wollte. Jetzt im Nachhinein war ihr klar, warum Frank so selten mit ihr geschlafen hatte und nur gezwungenermaßen mit ihr zum Arzt gegangen war.

„Ich bin doch kein Zuchthengst“, hatte er ihr nach einigen Untersuchungen bei seinem Urologen und mehreren Versuchen, einen Samenerguss herbeizuführen, vorgeworfen. Eine Adoption eines Kindes lehnte er rigoros ab.

Katja atmete tief durch. Ihr war schwindlig, und Tränen traten ihr in die Augen. Sie hatte damals ihren Babytraum schweren Herzens begraben und sich auf ihre Arbeit gestürzt. Und die Ehe war einfach nicht mehr das, was sie sich vorgestellt hatte – irgendwann war dann der Umzug in getrennte Schlafzimmer die logische Konsequenz ihrer nicht mehr funktionierenden Ehe. Katja war bewusst, sie hätten beide in ihrer Ehe mehr miteinander reden müssen. Vielleicht hätte sie Frank mit seinen Neigungen verstanden, und sie hätten gemeinsam eine Lösung gefunden. Auf alle Fälle wären Katja dieses Desaster und diese Enttäuschung erspart geblieben. Vielleicht wären sie sogar gute Freunde geblieben. Jetzt war sie nur wütend und von ihm enttäuscht. Katja schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch. Männer konnten ihr gestohlen bleiben! Mit einem Ruck drehte sie den Wasserhahn der Spüle auf und hielt ihre Hände unter das kalte Wasser, bis sie rot anliefen. Es half. Ihr Kopf war wieder frei.

„Guten Morgen“, begrüßte Susanne ihre Freundin an der Haustür, „alles gepackt? Und … genügend Essen mitgenommen?“

„Sicher“, entgegnete Katja und hob den Rucksack hoch.

Mit erhobenem Zeigefinger und drohender Stimme fragte sie dann Susanne: „Und du? Genügend Wasser und Piccolos kaltgestellt? Und hast du auch die Kühlpads für die Eiswürfel eingepackt?“

„Klar doch. Du ohne Eiswürfel – geht doch gar nicht“, kicherte Susanne.

„Ich bin ja mal gespannt, ob diese gefrorenen Plastikeiswürfel halten, was sie versprechen.“

„Wird schon klappen, Kati. Ist bestimmt besser als gar kein Eis.“

„Denke ich auch“, stimmte Katja zu, „für den ersten Stopp habe ich heißen Kaffee in der Thermosflasche. Frische Croissants und Teilchen können wir gleich beim Bäcker holen“, fügte sie hinzu, während sie ihren Rucksack auf ihrem Fahrrad festklemmte.

Im Zug stellten sie die Räder in dem entsprechenden Wagon ab. Mit ihrem Frühstück bewaffnet, gingen sie zu ihren reservierten Plätzen in den Großraumwagon. Sie waren nicht die Einzigen, die auf die Idee gekommen waren, eine Fahrradtour zu machen. Sehr schnell kamen sie mit einer Gruppe von Bankangestellten ins Gespräch und tauschten sich über verschiedene Fahrradrouten aus. Die Zugfahrt nach Münster ging schneller vorbei als gedacht.

„Wir sollten uns das nächste Mal E-Bikes ausleihen, dann kommen wir besser voran“, schlug Katja vor, während sie ihr Gepäck im Vorderkorb des Hollandrades festzurrte und die Haltegurte am Rucksack hinten überprüfte.

„Na, Ladies, kommt ihr klar?“, fragte einer der Männer, die sie im Zug kennengelernt hatten, „wohin geht jetzt die Reise?“

„Billerbeck!“, rief Susanne.

Die Männer schwangen sich auf ihre Tourenräder und fuhren mit lautem Geklingel davon.

„Mal sehen, wer zuerst da ist“, rief der Letze ihnen zu.

Das Münsterland mit seiner unendlichen Weite strahlte mit seiner Kargheit und Eintönigkeit eine heilende Ruhe aus. Kein Berg verhinderte den Blick in die unendlich scheinende Ferne. Die Frühlingssonne schien vom wolkenlosen Himmel herab. Die ersten grünen Sprossen überzogen die Felder und Wiesen mit einem intensiven Grün, das von Zitronen- über Erbsen- bis zu einem Moosgrün im Schatten der Bäume wechselte. Neongelber Ginster säumte ihren Fahrradweg wie ein goldenes Band. Ohne Stress radelten sie gemütlich nebeneinanderher, kilometerweit immer ebenerdig, immer geradeaus. Nicht umsonst ist das Münsterland eines der beliebtesten Ausflugsziele für Fahrradtouren in Nordrhein-Westfalen.

„Puh, ich kann nicht mehr“, stöhnte Katja und hielt direkt vor einem Tulpenfeld.

„Gute Idee, Pause“, stimmte Susanne zu, während sie ihr Rad mit quietschender Bremse ein paar Meter weiter zum Stehen brachte, „ich könnte jetzt was essen und du?“

„Essen? Trinken? Immer!“, lachte Katja.

Sie lehnte ihr Fahrrad an eine Birke und packte ihren Korb auf eine der drei Bänke, die für Wanderer und Radfahrer vom Forstamt an diesem besonderen Aussichtsplatz aufgestellt waren.

„Willst du auch einen Schluck Sekt?“, bot Katja an, während sie den Getränkekorb öffnete und eine Piccolo-Flasche herausnahm.

„Aber klar doch, Kati. Das haben wir uns verdient“, stimmte Susanne in Katjas übermütiges Lachen ein, während sie in die vollen Sektgläser vorsichtig zwei Plastikeiswürfel gleiten ließ.

„Und? Was sagst du? Ist der Sekt kalt genug?“

Katja zögerte: „Na ja, irgendwie ungewohnt“; als sie Susannes enttäuschtes Gesicht bemerkte, fügt sie schnell hinzu, „…aber lecker.“