Dass ich eins und doppelt bin - Doris Mauthe - E-Book

Dass ich eins und doppelt bin E-Book

Doris Mauthe

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Beschreibung

Es sind nicht die kleinen Dinge des Lebens, die Doris Mauthe in ihren bewegenden Erzählungen thematisiert, es sind die großen: Kindheit, Liebe und Tod.

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Inhaltsverzeichnis

Ciao Benno

Mein Ahorn

Die Reise zu meiner Schwester

Ciao Benno

Wie konnte ich nur den Fehler machen, Gabi nach Venedig mitzunehmen. Gabi, die fremde Länder und Städte in großer Menge sammelt wie andere Liebhaber, war in meinen Augen eine Kosmopolitin. Sie war schon überall gewesen. In allen Ferien hatte sie sich auf und davon gemacht – die Lehrer eben. Vierzig Jahre Ferien. Wie konnte ich ausgerechnet sie zur Reisegefährtin machen? Ich reiste gerne an Orte, die ich schon kannte und hielt mir das auch noch zugute.

Benno war auch immer auf Reisen gewesen, allerdings zu Hause am Schreibtisch. Sich auf Reisen zu fühlen, hatte den Vorzug, nie ankommen und nie abreisen zu müssen. Wenn man todkrank ist, macht das Ankommen keinen Sinn.

Gabi war Single. Immer schon, geradezu militant. Ich erst seit Bennos Tod.

Stimmte nicht, ich hatte nicht einmal diesen Single-Status. Nach seinem Tod kroch ich Nacht für Nacht aus einem verunglückten Auto, das mit einem ICE zusammengestoßen war. Das Auto, zusammengequetscht zu einem Stück Blech wie aus der Schrottpresse, gab mich entgegen aller physikalischer Gesetze wieder frei. Äußerlich intakt – Hände, Füße, Kopf waren noch dran – , war ich doch gleichzeitig tot. Ein Single wie Gabi war ich noch lange nicht.

Seit zwei Jahren steige ich nicht mehr aus zusammengefalteten Autos. Die Träume werden friedlicher: Das kleine Auto, in das ich diesmal steige, ist äußerlich ein perfektes Ding, ein Kinder-Cabrio. Ich sitze darin und will losfahren, aber es tut sich nichts, es springt nicht an. Als ich schließlich die Motorhaube öffne, um nach dem Fehler zu suchen, kann ich sehen, dass das Auto gar keinen Motor besitzt, innen hohl und nach unten hin offen ist. Kein Motor, kein Gaspedal. Ich schließe die Motorhaube, steige wieder ein und setze die Attrappe mit trippelnden Füßen in Gang. Gut, dass die Füße noch dran sind.

In Gabis nagelneuem Auto, wo alles am richtigen Platz ist, rollen wir schneller als mit den Füßen. Und wir rollen am Tage und nicht in der Nacht.

Es war Ende August, als wir losfuhren. Gabi hatte ihren Plan – in Berlin bereits um halb sechs in der Frühe zu starten, um abends in Venedig im »Florian« bei einem Spritz zu landen – ohne ihre Beifahrerin gemacht. Der frühe Start gelang uns noch. Alles lief glatt, und wir hatten München schnell hinter uns gelassen. Ich fütterte Gabi mit Erdnüssen. Sie saß am Steuer. 68 PS waren für Gabi, die immer noch ihrem alten Alfa Romeo nachtrauerte, natürlich nichts, aber der Polo, Best Car of the Year, hatte sie, die immer praktisch dachte, überzeugt. Wenig Sprit, wenig Verpestung, Lederlenkrad, Navi, heizbare Sitze, Geschwindigkeitsregler. Was soll ich mit 220 km auf dem Tacho in Zeiten der Staus, sagte sie. Es war heiß, und ich schaltete die Klimaanlage höher.

Es war gar nicht so einfach gewesen, Gabi zu überreden, mit mir nach Italien zu fahren. Das ganze alte Europa interessierte sie nicht. Gabi wollte Exotik und Ferne: Himalaja, Butan, Spitzbergen, Peru. Kein Wunder, dass sie maulte, als ich sie bat, nicht die Direttissima nach Venedig zu nehmen, sondern einen Abstecher nach Benediktbeuern zu machen.

Fahr nicht über Rosenheim, sagte ich, nimm bitte den Abzweig Richtung Garmisch, ich möchte gerne das Kloster wiedersehen. Komm, lass uns da vorbeifahren.

Vorbeifahren können wir schon, sagte Gabi Erdnüsse kauend und nahm die richtige Ausfahrt. Als ich von Weitem schon die barocken Türme des Klosters sah, fragte sie wie nebenbei: Und Benno, vermisst du den immer noch? Gabi hatte, wie ich auch, in den siebziger Jahren bei Benno ihr Diplom gemacht. Wir wollten über schwedische Reformschulen schreiben und hatten zusammen eine Studienreise nach Stockholm unternommen. Wir waren damals keine jungen Studentinnen mehr, sondern hatten schon zehn Jahre Schule auf dem Buckel. Die Schule war uns beiden zu eng geworden.

Bennos Sprechstunde war immer voll. Niemand nahm sich so viel Zeit wie er. Benno sah ein bisschen aus wie Einstein mit Schnauzbart, rauchte Rothändle, stand politisch links und hatte einen kaum merklichen, aber für meine Ohren doch hörbaren ostpreußischen Zungenschlag, in den ich mich sofort verliebte. Dieser leichte Singsang hatte mich wohl mit einem Schlag in meine Kindheit versetzt, wo es einen liebenswürdigen, nicht sehr groß gewachsenen Herrn Pommrehn gab – auch er ein Flüchtling aus Ostpreußen, der uns im Garten half. Ich folgte Herrn Pommrehn auf Schritt und Tritt, weil er mir alles zeigte: das Ansaugen des Wassers mit dem Schlauch, das Veredeln der Apfelbäume, das Feuermachen. Dass er auch unsere Kaninchen schlachtete, minderte meine Zuneigung nicht. Ich weiß bis heute, wie das geht.

Ob ich Benno immer noch vermisse? Was heißt: immer noch? Gibt es ein zugebilligtes Maß fürs Vermissen? Das erste Jahr mit Herbst, Winter, Frühling und Sommer, die alle kommen ohne ihn … das erste Jahr, wo das letzte Weihnachten, der letzte Geburtstag, der Sterbetag und die Beerdigung auf Tag und Stunde genau zurückerinnert werden wie Fixpunkte, Stecknadeln auf einer alten Landkarte. Das erste Jahr ist das sogenannte Trauerjahr, das wird dir zugestanden. Was darüber hinaus geht, ist für andere befremdlich. Jetzt musst du an dich denken, sagen sie, lass das mal hinter dir. Dabei vermisse ich Benno manchmal noch stärker als in den ersten Jahren, weil ich nicht mehr heimlich auf ihn warte und alles endgültig ist.

Was hätte ich Gabi denn erzählen sollen? Hätte ich ihr mit dem Traum kommen sollen, wo Benno mit seinem Federbett auf der Straße liegt, auf einer viel befahrenen Autostraße, und nach mir ruft: Komm zu mir, leg dich zu mir! Und von dem Schrei, meinem Nein, von dem ich aufgewacht bin?

Dass sich alles fortsetzen sollte – ewige Krankheit, ewiges Füßemassieren, Pudding kochen, nur Vanillepudding konnte er bei sich behalten, ewige Übelkeit und Chemotherapie und immer die Angst vor dem Moment, auf den sein Leben unweigerlich zusteuerte – , das alles vermisste ich nicht.

Und auch in den Keller wollte ich nicht zurück, in die Unterwelt der Charité, den Strahlenkeller, wo Menschen mit kleinen Ausweisen in der Hand wie eine Herde zusammengetriebener Schafe auf ihre Bestrahlung warteten. Mein Benno einer von ihnen. Er war gezeichnet. Auf seinen Rücken hatte man mit Filzstift rote Quadrate und Kreuze gemalt, markiertes Fleisch wie beim Schlachter. Später, als die Hirnmetastasen bestrahlt wurden, waren zwar keine Kreuze auf dem Schädel, dafür gab es eine Maske. Ich cremte ihm den Rücken ein, die Brandstellen ganz vorsichtig. Meine Hände fuhren über seine zarte, weiße Haut, die er nie der Sonne aussetzte, und weinten, wenn Hände weinen können. Ich war froh, dass er seinen Rücken nicht sah. Für mich hatte der Strahlenkeller mit Bennos Tod aufgehört zu existieren. Aber jeden Tag würden neue Menschen dorthin kommen und andere verschwinden – so wie auch wir eines Tages weggeblieben waren.

Natürlich vermisse ich ihn, sagte ich, drehte mich abrupt zu Gabi und reichte ihr die Wasserflasche. Ich bin Witwe und versuche mich mit diesem Wort anzufreunden. Da ist man eben allein, aber auch frei.

Ich bin auch frei, sagte Gabi, war ich schon immer, und gab Gas.

Ich sah die Zwiebeltürme des Klosters, an dem sie gerade vorbeibrausen wollte, ganz nah.

Halt, hier musst du einbiegen. Sie trat mit einem Ich dachte, wir wollten nach Venedig auf die Bremse. Hatte sie vorbeifahren etwa wörtlich genommen? Wie das mit uns wohl weitergehen würde, fragte ich mich. Ich bin nicht fair zu ihr, schiebe ihr meine eigenen Pläne unter.

Benediktbeuern muss sein, sagte ich. Da war ich mit Benno gewesen. Das reichte ihr zum Glück als Erklärung. Ich konnte Gabi in der Klosterbrauerei zurücklassen, draußen an einem der langen Gartentische, wo sie bei Rettich, Laugenbrezeln und einem Maß Bier ihren Himalaja-Treckingführer studieren konnte.

Ich machte mich auf meinen Weg, ging durch den Klosterhof zur Kirche, die bekannten Wege, und wollte den alten Kräutergarten wiederfinden, in dem ich es zum ersten Mal gehört hatte: Blut im Stuhl. Diese drei Wörter. Es war auch im August gewesen, und wir hatten zuvor ausgelassen und albern im Kräutergärtlein Fangen gespielt, hatten uns wie Kinder in einem Labyrinth abwechselnd getroffen und verloren. Und ich hatte Benno spaßeshalber am Zipfel seines hellen Leinensakkos festgehalten, immer ein Sakko, auch bei Hitze, damit er mir nicht weglief zu den Mönchen. Ich kannte die Geschichte doch, wie er mit zwanzig ins Benediktinerkloster Gerleve eintreten wollte, und spürte die anhaltende Anziehungskraft auf ihn. Damals hatte sein Vater es verhindert. Als der Vater gesehen hatte, dass die Mutter am Küchentisch in jedes Stück Bettzeug, Taschentuch, Handtuch die Initialen seines Namens stickte – die Aussteuer des Novizen – , fiel er der Länge nach auf den Küchenfußboden wie ein gefällter Baum. Das war sein wortloser Kommentar zur strengen Benediktinerregel, nach der Benno erst wieder aus dem Kloster hätte herauskommen dürfen, wenn Vater oder Mutter im Sterben lagen.

Ich nahm Witterung auf, immer der Nase nach, zum Duft der Kräuter. Thymian, Rosmarin, Lavendel – all die bekannten und unbekannten Düfte hatten sich in der Hitze entfaltet und lagen wie eine Hülle über dem ganzen Areal. Jedes Kraut war auf einem eigenen Schild mit Namen bezeichnet, und man ging auf schmalen, gepflasterten Wegen mäandernd durch die Beete wie in einem Paradiesgärtlein. Wo er es genau gesagt hatte, wusste ich nicht mehr. Auch das war weg, wie alles um mich herum verschwunden war, als Benno es sagte. Ich erinnere mich nur noch an unsere Augen, an unsere Blicke in die Augen des anderen. War da wirklich schon das Wissen? Wir versuchten beide, den andern vor diesem Wissen zu bewahren. Es war eine Liebeserklärung, stärker als die erste. Lebendig bleiben ist wichtig, sagte Benno, und daran hat er sich gehalten.

Wann immer etwas Schweres auf mich zukommt, zitiere ich einen Vierzeiler von Benno, den er vier Jahre später geschrieben hat, kurz vor seinem Tod:

Mit dem Infusionsständer

durch die Wohnung,

was mir alles möglich geworden ist

an Lebensweise.

Wie ein Mönch meditieren, durch den Klostergarten gehen und Kräuter für die Küche sammeln – das hätte Benno gepasst. Jetzt wäre ich selbst gern zu den Mönchen gegangen, aber ich ging zurück. Gabi war mit ihren roten Haaren von Weitem zu sehen. Sie leuchteten in der späten Nachmittagssonne wie eine Laterne. Frisch gefärbt, hatten sie etwas Irritierendes – diese jungen Haare in ihrem alten, gegerbten Gesicht. Von wegen alt. Sie war umringt von einer Schar junger Männer, die sie zum Bier eingeladen hatte, Studienstiftler des Don-Bosco-Heims, das zum Kloster gehörte. Gabi war in überraschend guter Laune und ganz in ihrem Element. Halb Lehrerin, halb Weltenbummlerin, hielt sie ihre Lumixkamera mit den fotografischen Trophäen am ausgestreckten Arm mal nach links zu dem gelockten Jüngling hin, mal nach rechts zu den anderen. Hier, die buddhistische Universität in Boulder, Colorado, die einzige auf der Welt!

Die wollte ich auch sehen und rutschte an Gabi heran, kroch noch etwas näher und erblickte die Bibliothek, die nach Allen Ginsberg, dem Vater der Beat Generation, benannt war. Ich sah den Campus, angelegt in der Art eines englischen Gartens, aber klick ging es weiter. Jetzt zu den Sand Dunes, der Wüstenlandschaft bei aufgehender Sonne. Klick: Horse riding, klick: Continental Divide, die Wasserscheide auf den Rocky Mountains. Alles hatte die Fotomaschine, gefräßig wie eine kleine Raupe, sich einverleibt und spuckte es nun wieder aus. Gabi hatte deutlich zu viel Bier getrunken und lehnte sich zurück. Mit einem etwas zu laut gesprochenen Man kann hier übernachten, haben mir die Jungs erzählt, wollte sie nicht weiter. Sie ist wunderbar, dachte ich. Sie guckt, wo sie bleibt, ist immer auf ihrer Seite. Vielleicht war es kein Fehler gewesen, Gabi mitzunehmen.

Wann macht das »Florian« zu?, fragte ich sie. Benediktbeuern gegen Venedig. Den Spritz auf dem Markusplatz war ich ihr schuldig. Also stiegen wir doch ins Auto. Gabi ließ mich ans Steuer und schlief neben mir ein. Hinter dem Brenner musste ich tanken. An der gleichen Raststätte wie damals mit Benno. Der gleiche Gestank und der gleiche Espresso, nur doppelt so teuer. Ein einziges Mal hatte ich Benno dazu gebracht, mit mir nach Italien zu reisen. Venedig wollte er sehen, die meisten anderen Reisen machte er in seinen Büchern. Es war sein erster guter Espresso. Dieser unglaubliche Genuss: Espresso und Rothändle-Qualm. Damals durfte man sich noch vergiften. Ich sah in seine Augen, ein kindliches Glück. Da hatte er den Fuß bereits in Arkadien und sagte: weiter.

Jetzt fuhr ich weiter mit der schlafenden Gabi an meiner Seite, fuhr über Franzensfeste, Bolzano, Trento, aber nicht weiter als Rovereto, da überkam mich die Müdigkeit. Ich verließ die Autobahn und steuerte nach Torri am Gardasee. Meine schlafende Beifahrerin wusste noch nicht, dass aus dem Spritz in der Nacht ein Kaffee am Morgen werden würde. Statt Markusplatz der Hafenplatz von Torri. Auch damals mit Benno war ich am Gardasee gewesen. Ich wegen des Schwimmens, er wegen Goethe. Wann immer er mich mit meiner schwarzen Schwimmbrille ins Wasser steigen sah, kam sein belustigtes Ah, Jugend trainiert für Olympia.

Fürs Schwimmen war es nie zu spät, fürs Hotel aber schon. Kein Zimmer mehr frei. Gabi verdrehte die Augen in der Manier eines Ich glaub’s ja wohl nicht und wollte zurück ins Auto, weiterschlafen. So schnell ließ ich mich aber nicht abwimmeln. Am Ende kam doch noch ein Zimmer für uns heraus, non è buono, eine kleine dumpfe Kammer mit einem französischen Bett. In der Nacht der stumme Kampf um das einzige Betttuch, das hin und her gezogen wurde. In der stickigen Luft, mit dem Gabikörper so nah, konnte ich nicht schlafen.

Meine Gedanken gingen zum Anfang zurück. Hast du dir das gut überlegt? hatte mich mein Vater ernst gefragt, als ich nach Tübingen gereist war, um meine Eltern auf Benno vorzubereiten. Ein Mann mit drei Kindern, hast du dir das gut überlegt? Nichts hatte ich mir gut überlegt. Dazu war keine Zeit gewesen – Hals über Kopf hineingezogen in das Leben des anderen. Bei einem Empfang, drei Jahre nach der ersten Sprechstunde, waren Benno und ich stundenlang wie festgenagelt nebeneinander sitzen geblieben, danach zu Fuß von Tempelhof nach Charlottenburg gelaufen, als gäbe es keine Busse und U-Bahnen, und hatten uns wegen des überhöhten Tempos, mit dem wir ineinander gestürzt waren, eine Quarantäne von einer Woche auferlegt, die wir nach drei Tagen abbrachen.

Es gab ein Leben vor Benno, durchfuhr es mich. Neben dieser schnarchenden Gabi dachte ich zum ersten Mal daran, dass es auch ein Leben vor Benno gegeben hatte. Ich überließ Gabi das Betttuch, schlich mich aus dem Zimmer und ging zum See, zur Badestelle am Anleger der Fähre Adamello. Jetzt in der Nacht war alles still. Über die harten Kieselsteine per aspera tauchte ich ein in dieses dunkel schwappende Wasser, das mich umhüllte wie ein übergroßes Laken, kein Zerren mehr, das Wasser weich wie Bennos Hände, und ich schwamm hinaus im Licht des Vollmonds. Das hätte mir Benno nicht erlaubt. Er war zeitlebens ängstlich. Er hatte den Krieg nicht wie ich in einem wohnlichen Keller überlebt, sondern war mit seinen acht Jahren auf der Flucht gewesen, im Treck auf der Landstraße am frischen Haff, und hatte die Pferdefuhrwerke im Eis versinken sehen. Die Flucht war vorbei, die Angst war geblieben. Sie war in das Kind hineingeraten und konnte nicht mehr heraus, wie ein in Bernstein gefangenes Insekt.

Als ich damals mit Benno am Gardasee war und schwimmen wollte, hatte er mich gewarnt mit einem Vers von Vergil aus der »Italienischen Reise«: Der See erhebt sich mit Wellen und Meeresgebraus. Er kann wild sein, der See, sagte Benno, er kann dich holen, schwimm nicht zu weit hinaus! Er holte mich nicht, und auch in dieser Nacht war er nicht wild. Ich schwamm weit hinaus, ließ das enge Zimmer und die schaukelnden Boote hinter mir, schwamm auf der Lichtstraße des Mondes und ließ mich vom Wasser schaukeln wie Häwelmann im Himmelbett.

Seit Bennos Tod las mir niemand mehr vor: »Die Mutter« von Oskar Maria Graf, Hermann Lenz »Der Kutscher und der Wappenmaler«, Tschechov, Turgenew. Ich war beim Vorlesen oft eingeschlafen. Wenn meine Atemzüge gleichmäßig gingen, hatte Benno mitten in den Text hinein gefragt: Schläfst du schon? Das hörte ich und sagte: Nein. Im Klang seiner Worte konnte ich dann weiterschlafen. Im Klang seiner Worte weiterschwimmen, immer weiter.

Über mir die Sterne wie scharf gestochene Lichtpunkte. Nichts hatte aufgehört zu existieren, nicht der Strahlenkeller, nicht das Vorlesen, nicht der Kräutergarten, nicht die Röntgenaufnahme seines Schädels, seines Totenkopfs. Die Ärztin hatte mir das Röntgenbild in jener Nacht an den Lichtkasten in ihrem Sprechzimmer geklickt, und ich sah die weißen Punkte verstreut in seinem Gehirn wie jetzt die Sterne am Himmel über dem Wasser. Die Metastasen wie Sterne in seinem Schädel. Mit diesem Wissen ging ich zurück an sein Klinikbett. Du wirst Cortison bekommen, dann hört die Übelkeit auf. Am nächsten Morgen schrieb er in sein Tagebuch den Vierzeiler vom Pfeifer in der Klinik:

Vor einer Stunde, gegen halb neun,

habe ich zum ersten Mal gepfiffen,

habe in meinem Krankenzimmer am Fenster gestanden

und vor Lebensfreude gepfiffen.

Und einen Tag später hat er vom Sterben geschrieben, nur ein einziges Mal:

Das Sterben hat (jetzt) nichts Ängstigendes.

Auch der Tod (jetzt) nicht.

Aber der Gedanke an dich,

ist (immer) nur Schmerz.

Mit diesem Schmerz, der jetzt meiner war, und dem Leben als Geschenk, das auch mir gehörte, schwamm ich die Mondstraße zurück.

Gabi stand schon am Auto.

In diesem Loch konnte ich nicht schlafen, sagte sie. Nur Alpträume.

Sie hatte bereits unsere Sachen gepackt und wollte los. Es war noch halb in der Nacht. Wir legten den Schlüssel mit einem Geldschein auf den Tresen und machten uns davon. Jetzt war ich es, die im Auto schlief bis kurz vor Venedig. Als Aufweckmusik ließ Gabi »Orfeo« für mich spielen, die Fanfaren von Monteverdi. Venedig, die Stadt der Lagunen, war unter Wasser. Der ganze Markusplatz unter Wasser. Touristen und Venezianer balancierten auf hölzernen Stegen – Stühle und Tische der Straßencafés waren praktisch verschwunden.

Ich habe keine Gummistiefel dabei, sagte Gabi. Hier bleibe ich nicht. Was hältst du von Rom?

Ich wollte nicht nach Rom, es ging auch ohne Gummistiefel in Venedig. Ich wollte in die Scuola Grande di San Rocca, wo man mit Spiegeln umherging, um die Deckengemälde von Tintoretto sehen zu können. Dort wollte ich noch einmal hin, mit Benno an meiner Seite und mit dem Spiegel in der Hand. Ciao Gabi, ich bleibe hier.

Einen neuen Weggefährten fand ich auf der Terrasse des Hotels. Er kam aus seiner Hundehütte gekrochen. Ergraut und knöchern blieb er zitternd vor mir stehen und schaute mich erwartungsvoll an. Du Guter! Caro mio!, vielleicht verstand er kein Deutsch. Benno hatte mit jedem Hund gesprochen. Jetzt war ich es, die mit Hunden sprach. Die Hundeaugen, übergroß in dem abgemagerten Gesicht, erinnerten mich an meine alte Tante, die ich kurz vor der Reise in ihrem Tübinger Stift besucht hatte. Auch ihre Augen waren wach, ernst und uralt. Kein Unterschied zwischen Mensch und Tier.

Ich bestellte einen Espresso, wollte beim Hund bleiben und schrieb eine Karte an meine alte Tante. Mit Tante Hilde konnte man auf dem Sofa reisen. Wir waren an jenem Nachmittag in Tübingen wie auf dem Teppich aus Tausendundeiner Nacht nach Venedig geflogen, hatten den schweren Bildband von Tintoretto auf dem Schoß und blätterten vom »Abendmahl« zu den Deckengemälden der Scuola. Alles hatte sie mit eigenen Augen gesehen – auch den Hund, den Tintoretto unter dem Abendmahltisch versteckt hatte.

Hunde kannst Du auf vielen großen Gemälden finden, sie sind meine Freunde, sagte Tante Hilde.

Tante Hilde, sechsundneunzig Jahre alt, konnte nicht mehr gut hören, aber wenn sie »ihr Ohr«, wie sie den Hörapparat nannte, einsetzte, ging es. Es piepste, aber es ging. Wir blätterten weiter, und sie kommentierte alle einundzwanzig Szenen aus dem Alten Testament, die Tintoretto auf die Decke der Scuola gemalt hatte.

Als die Dämmerung kam, legte sie »ihr Ohr« auf den Nachttisch, lehnte sich in die Kissen zurück, schloss die Augen und sprach den »Abendsegen« von Hölderlin. Ihr Kopf war voller Gedichte. Ich wünschte mir ihr gutes Gedächtnis, würde aber eher ihre Schwerhörigkeit erben. Sie sprach das Gedicht langsam, mit dunkler Stimme – einer Stimme, die aus der Tiefe ihres Lebens kam. Jetzt auf der Terrasse des Hotels mit dem Hund, der in seine Hütte zurückgefunden hatte, kamen ein paar Zeilen zu mir zurück, die ich auf die Postkarte schrieb:

Vor seiner Hütte im Schatten sitzt der Pflüger …

am Abendhimmel blühet ein Frühling auf …

komm du nun, sanfter Schlummer, zuviel begehrt das Herz …

friedlich und heiter ist das Alter …

Friedlich und heiter?

Ich kaufte mir einen Regenschirm und schlenderte über die Salizzada San Rocco vorbei am Glockenturm von Santa Maria zum Campo San Rocco. Die Fassade der Kirche, die neben der Scuola liegt, ist dem prächtigen Renaissancebau der Scuola Grande angeglichen, und der weiße Marmor leuchtet trotz des Regenwetters. Tintoretto, Benno, die Tante … aber vor allem die Spiegel waren es, die mich in die Scuola zogen, die kleinen Spiegel, die einem den Himmel herunterholen. Ein solcher Spiegel war in meinem nächtlichen Traum auch auf Bennos Grabstein eingelassen – ein ovaler Spiegel im grauen Granit.

Als der Grabstein gesetzt wurde, an jenem regnerischen Septembertag ein Jahr nach Bennos Tod, hatte ich tagsüber seinen in Stein gemeißelten Namen vor Augen gehabt, sein Name in alle Ewigkeit eingemeißelt – ein paradoxes Gefühl von Dauer und Verschwinden. Aber in der Nacht, in meinem Traum, kam anstelle seines Namens der Spiegel auf den Grabstein. Ich näherte mich dieser kleinen, schimmernden Fläche, um besser sehen zu können. Als ich nahe genug war, zeigte mir der Spiegel mein Gesicht, auf dem Grabstein.