Datengrab - Christiane Bogenstahl - E-Book

Datengrab E-Book

Christiane Bogenstahl

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Beschreibung

Machtmissbrauch, Datensicherheit, Universitätsfilz Das Fernsehteam Pegasus ermittelt wieder. Für Kameramann Klaus-Ulrich Mager kommt es doppelt hart. Im ehemaligen Kleingarten seiner Eltern wird eine skelettierte Leiche gefunden und sein Vater ist der Hauptverdächtige. Das schädigt nicht nur den Ruf der Familie, sondern sorgt vor allem für Probleme im Job. Mageres Mitarbeit beim Fernsehteam PEGASUS steht vor dem Aus. Zeitgleich ermittelt Sohn Kalle mit Freundin und IT-Expertin Simone am Kopula-Institut der Uni Duisburg-Essen: Wo ist die Doktorandin Lea Bennsdorf? Schnell zeigt sich, dass an dem renommierten Institut nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Beim Fleddern alter Datengräber schrecken Kalle und Simone einen mächtigen Gegner auf und plötzlich müssen sie um ihr eigenes Leben fürchten. Bissig, witzig, hintergründig!

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Seitenzahl: 554

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Hauptpersonen
Montag 1
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Dienstag 5
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Mittwoch 15
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Donnerstag 26
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Freitag 33
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Samstag 43
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Sonntag 45
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Der zweite Montag 50
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Der zweite Dienstag 59
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Der zweite Mittwoch 70
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Der zweite Donnerstag 76
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Der zweite Freitag 86
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Der zweite Samstag 103
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Der zweite Sonntag 113
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Kriminalroman

Kriminalroman

Ruhrkrimi-Verlag Mülheim an der Ruhr

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Ruhrkrimi-Verlag Uwe Wittenfeld, Mülheim/Ruhr

Druck: BoD, Norderstedt

Taschenbuch: ISBN 978-3-947848-36-2

eBook: 978-3-947848-37-9

2. überarbeitete Auflage, 07/2021

Die Originalausgabe erschien

im Oktober 2016 im Grafit-Verlag, Dortmund

Coverfoto: Peter Mazlen, Adobe Stock

Disclaimer:

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

https://ruhrkrimi.de

Autorin und Autor

Christiane Bogenstahl wurde 1973 in Wattenscheid geboren. Nach dem 1. Staatsexamen für das Lehramt schulte sie zur Informatikerin um und arbeitet nun als IT-Projektleiterin in Essen. Neben einigen Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien schrieb sie zwei Bücher mit Reinhard Junge. Datengrab ist ihr Debütroman.

Reinhard Junge, geboren 1946 in Dortmund, arbeitete vierunddreißig Jahre als Lehrer für Deutsch, Russisch und Latein in Hattingen und Wattenscheid. Seit 2012 ist er Rentner, arbeitet aber immer noch nebenberuflich an einer Grundschule.

Er gilt als Urgestein des Ruhrgebietkrimis und schrieb vor Datengrab - zum Teil zusammen mit Leo P. ARD - unter anderem zehn Krimis um das Fernsehteam PEGASUS.

www.reinhard-junge.de

www.toedliche-texte.de

www.rucksackundrentner.de

Statt eines Vorworts

Für den Wahrheitsgehalt dieses Kriminalromans übernehmen Autorin und Autor keinerlei Gewähr. Man darf ja nicht alles glauben, was die Zeitungen schreiben und die Leute erzählen. Aber manchmal kann man aus diesen Gerüchten eine schöne Story stricken.

Unser Dank für Tipps und Hilfe gebührt:

Sibylle Banaschak (Köln), Charlotte Junge (Duisburg), Kai Kinscher (Essen), Hans-Jürgen Müller (Bochum), Dr. Ovis Mufflon (Essen), Florian Kuba (Marl), Dr. Andreas Möller (Duisburg), Herbert Nagel (Bochum), Volker Schütte und seinem Team (Polizei Bochum), Volker Schulze (Duisburg), Thomas Schweres (Essen) für einige Leiharbeiter sowie A. wie Anonymous für die fabelhafte Arbeit vor Ort.

Die Hauptpersonen

Lea Bennsdorf, 26, spurlos verschwunden, Doktorandin

Prof. Paul Kehlmann, 48, von Versagern umzingelt, Leiter des Kopula-Instituts

Dr. Adele Klawitter, 43, entdeckt ihr Gewissen, Kehlmanns rechte Hand

Ole Rasmusson, 26, verfolgt ein Ziel, Doktorand

Tim Hoppe, 34, verachtet seinen Chef, Systemadmin

Matthias Kestermann, 40, gräbt etwas aus, Archivar

Hulda Grote, 89, beerdigt zwei Männer, Vermieterin

Anja Hermann, 53, liebt nur die Sanften, Lehrerin

Erika Langmann, 71, kennt nur das Grobe, Hausdrache

sowie die Kriminalpolizisten:

Herta Kasten, 56, Dogge auf zwei Beinen

Christoph Waliszczek, 28, Kater auf zwei Pfoten

Kevin Kopitzki, 32, ausdauernd wie ein Pferd

Rolf Echternach, 47, geduldig wie ein Elefant

Heiko Müller, 44, der Fuchs im Team

und das Fernsehteam PEGASUS samt Anhang:

Simone ›Sim‹ Olsok, 36, sucht einen Trojaner

Dr. Kalle Mager, 36, findet eine Ausfahrt

Klaus-Ulrich Mager, 59, stürzt in eine Krise

Karin Jacobmayer, 46, ringt um Luft

Mechthild Mager, 55, wittert Gefahr

Theo Mager, 11, schockt seinen Vater

Susanne Ledig, 55, zieht die Notbremse

Prolog

Es gab Regeln, die zu befolgen waren.

Die junge Frau, die vor ihm auf dem Teppich lag, hatte dieses Gesetz missachtet. Es hätte nicht so kommen müssen.

Während er sich erhob, schüttelte er bedauernd den Kopf. Dann passierte er das Schauspiel vor seinen Füßen und strebte zu der gläsernen Vitrine rechts neben der Tür, die eine Auswahl an erlesenen Whiskys barg. Sie alle buhlten um seine Aufmerksamkeit.

Er entschied sich für etwas Süßes. Ein Adelphi Aultmore von 1974. Das Etikett verkündete in bescheidenen Lettern, dass es sich um eine von hundertundeins Flaschen eines Fasses mit der Nummer 999 handelte. Ein hervorragendes Tröpfchen, das dem Anlass angemessen war.

Bedächtig griff er eines der Nosing-Gläser, die ordentlich aufgereiht auf dem zweiten Regalbrett standen, und füllte es zu einem Viertel mit dem Whisky seiner Wahl. Er schwenkte den Inhalt sanft in freudiger Erwartung. Mit einem anerkennenden Nicken verfolgte er die ölige Spur der dunklen Flüssigkeit und senkte seine Nase ins Glas. Nahm einen tiefen Atemzug. Wundervoll.

Der kräftige Mann hätte den Inhalt gern mit der kleinen Blonden geteilt. Auch sie wusste einen guten Single Malt zu schätzen, wie er mehrfach beobachtet hatte. Doch dazu hätte man das rosa Hemdchen entfernen müssen, das ihren Mund verstopfte. Zu diesem Zeitpunkt keine gute Idee. Und das falsche Signal. Zuerst musste sie ihre Lektion lernen.

Als vernünftiger Mensch wusste er, dass er nicht jede Aufgabe selbst erledigen konnte. Manchmal musste man sich im Hintergrund halten. Dies hier war solch ein Moment.

So kehrte er, ohne den Teppich zu berühren, beinahe vergnügt zu dem bequemen Sessel zurück. Seine massige Gestalt versank fast darin, während das Leder seufzte wie eine gebrochene Witwe.

Der Blick auf die Szenerie vor ihm war unverstellt und der Whiskytrinker nahm jede Einzelheit in sich auf. Es war, als sammelte er Schnappschüsse, die er später noch mal in Ruhe betrachten wollte.

Soeben erhob sich der muskulöse Mann, dessen Körper die junge Frau auf den Teppich gezwungen hatte, und gab den Blick auf sie frei. So nackt und so hilflos. Ihre Brust hob sich, als sie gequält durchatmete. Sie versuchte, den Mann im Sessel anzusehen. In ihrem Blick lagen Panik und Schmerz, vermischt mit einem Funken Hoffnung.

Genießerisch nippte der Zuschauer an seinem Drink, während der Peiniger sich zu ihm umwandte. Sein Gesicht wurde von einer Strumpfmaske verdeckt, aber die Frage in seinen Augen war deutlich.

Ein Seufzer des Bedauerns entfuhr ihm. Sein falscher blonder Engel. Von der Wolke geholt und entzaubert. Schade auch. Es war eine gute Zeit gewesen. Noch vor einer Woche hätte er jeden getötet, der sie angefasst hätte. Aber jetzt hatte er sie freigegeben.

Er nickte dem Maskierten zu.

Montag 1

»Fleißiger Mann!«

Ächzend richtete sich Matthias Kestermann zu seiner vollen Größe von eins dreiundneunzig auf, rieb sich den schmerzenden Rücken und sah seiner Frau entgegen, die über den Gemeinschaftsrasen des Vierfamilienhauses zu ihm heranstiefelte.

In der schmalen Furche, die das heilige Grün hinter der Pulverstraße 13 vom privaten Grabeland trennte, blieb sie stehen und begutachtete sein Zerstörungswerk. Zwischen den Obstbäumen, an denen sich zögernd die ersten Blättchen entfalteten, türmten sich die Reste einer altersschwachen Laube. Hier stapelten sich schiefe Gartenmöbel aus Holz, Draht und Plastik, dort sah man zwei Regale, die noch auf die Säge warteten, ein Stückchen weiter häuften sich alte Zeitungen aus den Sechzigern und Siebzigern. Gleich daneben gab es rostige Spatenblätter und Harken, die an morschen Stielen hingen, halb verrottete Arbeitsschuhe und lehmige Stiefel. Behalten würde er lediglich die drei alten Ölfässer, in denen bereits die Vorgänger das vom Dach tropfende Regenwasser gesammelt hatten.

Den größten Stapel bildeten die Bretter, Latten und Balken des Daches und der Seitenwände, aus denen Kestermann noch jede Menge verbogene Nägel ziehen musste. Und daneben ruhten ein ausgedienter Toilettentopf aus Porzellan und etliche Streifen geteerter Dachpappe.

»Mein lieber Scholli«, sagte Caro. »Da hat morgen aber jemand einen richtigen Muskelkater. Möchtest du ein Bier?« Zögernd musterte Kestermann die dargebotene Flasche.

Das würde ganz schön zischen. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Lieber nicht. Nach dem ersten Schluck falle ich tot um. Und das da muss ich noch schaffen, bevor es dunkel wird.« Er deutete auf ein leicht buckliges Rechteck, das von mehreren Schichten Linoleum bedeckt war. »Darunter liegt noch der alte Bretterboden. Jede Menge morsches Holz. Mit einem Brecheisen ist das aber ein Klacks!«

»Was ist mit den Fliederbüschen?«

»Die bleiben stehen. Die Obstbäume natürlich auch. Sind kerngesund und tragen noch.«

Nachdenklich blickten die Eheleute auf den Garten. Die Bretterbude war die Flickschusterei eines ungeübten Handwerkers, aber Bäume, Büsche und Beete zeugten von einer gärtnerisch durchdachten Anlage.

»Meine Güte«, sagte Caro. »Wie viele Tausend Stunden Arbeit stecken wohl in diesem Stückchen Land?«

Matthias Kestermann nickte, drehte sich zu dem Wohnhaus um und musterte den Balkon im ersten Stock, der nun ihnen gehörte, genau wie der Garten, in dem sie standen. Das Ehepaar, das über vierzig Jahre dort gewohnt und fast die ganze Zeit über diesen Boden bearbeitet hatte, war tot – und sie selbst hatten das Glück gehabt, die Wohnung mieten und den Garten pachten zu können.

Ob die wirklich von oben zusehen können, was wir heute mit ihren Hinterlassenschaften anfangen?

Er lächelte und deutete auf die anderen Parzellen Grabeland, die sich nach Süden bis zur Hauptstraße und nach Norden bis zu einem alten Bauernfriedhof aneinanderreihten. In einigen von ihnen sah man die gebeugten Rücken mehrerer Hobbygärtner, die wie er bei den ersten schönen Tagen des Jahres 2012 mit der Frühjahrsarbeit begonnen hatten. Hin und wieder hatten sie neugierige Blicke herübergeworfen und sein Tun verfolgt.

»Wie auch immer«, sagte er. »Die Nachbarn passen schon auf, dass der Garten nicht verwildert. Und in einer Stunde ist es dunkel.«

»Ich koche uns was Schönes«, sagte sie, küsste leicht seinen kurzen schwarzen Urlaubsbart und ging zum Haus zurück.

Sein Blick folgte ihr, bis erst ihre immer noch schlanken Beine, danach ihre etwas fülligeren Hüften und zum Schluss ihre braunen Locken auf der Treppe zum hinteren Kellereingang verschwunden waren. Seine Frau! Ein tolles Weib.

Dann spuckte Kestermann in die Hände und nahm den Fußboden in Angriff. Mit einem Teppichmesser zerlegte er das brüchige Linoleum in annähernd gleich große Stücke, die er dann von der nächsten Schicht des Belags und endlich vom Fußboden abreißen und zur Seite werfen konnte.

Die Bretter bestanden, wie erwartet, aus morschem Holz verschiedener Sorten, Längen und Stärken. Flickwerk wie der gesamte Bau.

Endlich griff er zum Brecheisen und löste die Dielen von den fünf, nein sechs Querbalken, auf denen die gesamte Hütte geruht hatte. Die lehmige Erde in den Hohlräumen war mit einer Unzahl von Mäusekötteln überzogen, zwischen denen ein paar Kieselsteine glänzten. Die Katzen aus den nahen Wohnhäusern verloren gerade eines ihrer schönsten Jagdreviere.

Schon wollte er sich abwenden, als ihm etwas auffiel: Die Kieselsteine lagen insgesamt zwar wie zufällig ausgestreut auf dem lehmigen Boden, bildeten aber bei genauerer Betrachtung zwischen den mittleren Balken ein schmales, fast zwei Meter langes Rechteck. Eine düstere Vision schlich sich in seinen Kopf. »O nein, bitte nicht!«

Sein Ausruf lockte eine betagte Frau aus dem Nachbargarten herbei. Der gekrümmte Rücken und die Falten in ihrem Gesicht deuteten auf ein Leben voller Arbeit hin, das schmantige Weißhaar auf mangelnde Pflege. Doch geistig war sie immer noch hellwach. Aufmerksam sah sie zu, wie der junge Nachbar den Kies zur Seite schaufelte. Nach und nach tauchten die Reste eines Müllsacks und ein paar Stofffetzen auf. Und dann …

Vorsichtig stieg die Frau über die Balken und schaute in das Loch. »Ach, du lieber Gott«, rief sie und presste erschrocken die Hand aufs Herz. »Wenn das mal nicht die Silke ist!«

2

Es war jetzt zwei Tage her, aber Simone Olsok war noch immer sauer.

Sie hatte im Kellergang gestanden und den nassen Aufnehmer zurück in den Wischeimer geklatscht. »Frau Langmann. Ihnen auch einen wunderschönen guten Tag. Was habe ich diesmal Schlimmes verbrochen?«

Vor ihr stand eine der Nachbarinnen aus dem Erdgeschoss und hielt ihr ein kleines Holzschild mit der Aufschrift Schneeräumdienst vor die Augen. »Frau Olsok, können Sie lesen?«

»Sogar in Ihrem Gesicht, Frau Langmann. Sie sind mal wieder zornig, stimmt’s?«

»Wütend bin ich. Sehr wütend sogar! Wie können Sie es wagen, mir jetzt schon dieses Schild an die Tür zu hängen?«

Grundgütiger, dachte Simone, spinnt die? Sie fragte zur Sicherheit noch einmal nach: »Hätte ich bis zum Mittag warten sollen?«

Eine Sekunde rang die Xanthippe um ihre Fassung, aber dann spuckte sie ihr Anliegen aus: »Sie haben weder gestern noch heute Schnee geräumt!«

»Stimmt. Ich habe gestern vor der Arbeit und heute an meinem freien Tag jeweils um sieben Uhr morgens Salz gestreut, weil der Weg vor diesem schönen Haus mit einer dünnen Eisschicht …«

»Sie geben es also zu!«, triumphierte die Alte. »Es war gar kein Schnee da. Sie haben auch nichts geräumt, sondern nur gestreut! Das reicht aber nicht!«

Sim war nun ernsthaft verwirrt. »Nicht?«

»Nein. Das könnte Ihnen wohl so passen, wenn Sie mit fünf Minuten Salzstreuen davonkämen. Und wir sollen dann Ihren Schnee wegschippen, wenn es wieder richtig schneit, stimmt’s? Eine Unverschämtheit ist das. Eine Unverschämtheit!«

»Verstehe ich Sie richtig: Wenn es mal einen ganzen Winter lang nicht schneit, sondern immer nur etwas Eis vor der Tür liegt, soll ich jeden Morgen raus – bis es endlich mal …?«

Die Alte ließ sie gar nicht ausreden, sondern stemmte, ihre vom Ohnsorg-Theater abgeschaute Lieblingspose, die dünnen Arme in ihre Hüften. »Hören Sie, Frau Olsok: Wir alle hier im Haus haben viel, nein, sehr viel Geduld mit Ihnen gehabt. So geht das nicht. Jeder Mieter hat seinen Anteil an Pflichten zu erledigen. Auch Sie!« Die Alte stach ihren knochigen Zeigefinger in Simones Brust. »Sie, Sie sind …«

Sim trat einen Schritt zurück, doch die Gegnerin ging wie mit einem Florett zur Attacke über. Ihr war, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. Im Reflex schlug sie die Hand der Hexe von ihrem Busen weg. Dabei flog das Holzschildchen, das die Angreiferin noch in den Fingern hielt, gegen eine Wand und landete mit einem vorwurfsvollen Klappern auf dem grauen Beton.

»Geht’s noch?«, schrie Simone. »Fassen Sie mich nicht noch einmal an. Sonst hacke ich Ihnen die Hand ab!«

Schockiert wich die Alte zurück. Das hatte es in diesem Haus noch nicht gegeben. Sie flüchtete zu ihrer Wohnungstür und rief mit zeternder Stimme durch den Hausflur: »Das hat ein Nachspiel! Das sag ich alles dem Gregor!« Dann schlug die Tür mit einem Krachen zu.

Simone hatte einen Puls von zweihundert und zitterte vor Wut. Die können mich alle mal, dachte sie. Dann kippte sie entschlossen das Wischwasser in den Ausguss. Es reichte.

Das war nun gerade zwei Tage her – aber so ähnlich waren schon die letzten sechs Jahre verlaufen, die Simone in diesem ehrenwerten Haus wohnte. Keine Woche verging, ohne dass eines der vertrockneten Weiber ihr das Leben schwer machte. Und seitdem Kalle häufig bei ihr übernachtete, verspritzten sie ihr Gift fast täglich.

Anfangs war es noch halbwegs witzig gewesen, über diese unfruchtbaren Ziegen zu lästern oder sie mit einer ironischen Bemerkung geistig zu überfordern. Doch es war, als ob Simone und Kalle gegen Windmühlen kämpften, und der anfängliche Spaß war dem Frust gewichen. Denn im Hintergrund lauerte Gregor, der Hauswirt, der seinen Kampfhunden jede Unterstützung gab.

Als Simone von der Arbeit nach Hause kam, steckte ein neuer Brief von Gregor im Kasten. Sie widerstand der Versuchung, ihn sofort zu lesen, sondern packte erst die Einkäufe in den Kühlschrank, setzte Teewasser auf, zog sich etwas Bequemes an und gönnte sich ein Schlückchen feinsten Portweins.

Nun war sie bereit.

Sehr geehrte Frau Olsok,

ich wende mich in einer unangenehmen Sache an Sie: In den vergangenen Tagen und Wochen sind erneut Beschwerden über Sie und Ihren Partner bei uns eingegangen. Unsere Mieter klagen darüber, dass die Hausordnung mehrfach nicht eingehalten worden sei (z. B. Flur- und Kellerdienst), insbesondere wurde auch Ihre Angewohnheit kritisiert, den Trockenkeller zu heizen und Wäsche übermäßig lange dort hängen zu lassen.

Am 02.03. haben Sie sich zudem, wie Frau Langmann berichtete, geweigert, Ihrem Schneeräumdienst nachzukommen, und sie grob behandelt, als diese Sie an Ihre Pflichten erinnerte. Mit diesem Schreiben möchte ich Sie dringlichst darauf hinweisen, dass Sie, sollte es zu einem durch Glatteis oder Schnee verursachten Unfall vor dem Haus kommen, persönlich haftbar sind.

Im Übrigen habe ich keinen Zweifel an Frau Langmanns Meldung dieser Missstände. Seit achtundzwanzig Jahren ist sie eine zuverlässige Mieterin, die die Interessen der Hausgemeinschaft wahrt und mit den anderen Mietparteien harmoniert.

Bitte beachten Sie zukünftig auch, Ihre Wäsche nicht länger als nötig im Trockenkeller hängen zu lassen und die Heizung nicht aufzudrehen. Die Wäscheleinen müssen sich derzeit drei Nutzer teilen, alle anderen benutzen Elektrotrockner. Das Aufdrehen der Trockenkellerheizung ist nicht nötig, weil die Wäsche das ganze Jahr über praktisch binnen Stunden durch Durchzug trocknet, wenn Sie die Kellerfenster und die Trockenkellertür geöffnet halten. Ich möchte Sie letztmalig bitten, diese seit Jahrzehnten bewährten Regeln in unserem Haus einzuhalten. Frau Langmann steht Ihnen bei Fragen gerne zur Verfügung. Noch ein letztes Wort zu Ihrem Partner: Frau Wellner beklagte sich, dass er sie unwirsch angesprochen habe. Frau Langmann bestätigte dies und erweiterte den Vorwurf auf Ihre Person. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass Herr Mager kein Mieter dieses Hauses ist. Er besitzt also keinerlei Rechte, mit Mieterinnen über die Hausordnung oder die Regeln der Hausgemeinschaft zu diskutieren. Zu meinem eigenen Schutz weise ich darauf hin, dass er nicht versichert ist, während er den Flur putzt oder andere Arbeiten erledigt.

Falls Sie nicht bereit sind, sich anzupassen, oder Sie sich in meinem Haus nicht wohlfühlen, würde ich einen Auszug begrüßen.

Ich hoffe, dass Sie und Ihr Schlafgast mit den anderen Mietern bis zu Ihrem eventuellen Auszug gut miteinander auskommen.

Hochachtungsvoll

Gregor Bitterholz

Als Kalle eine Stunde später die Wohnung betrat, fielen ihm sofort Simones gerötete Augen auf.

»Was ist?«, fragte er.

Seine Freundin schob ihm den Brief über den Tisch.

»Von Arschloch Gregor?«

Sie nickte.

Er überflog das Blatt, dachte kurz nach, seufzte und sagte dann: »Ich glaube, dass das der richtige Zeitpunkt ist.« Sie sah ihn aufmerksam an.

Theatralisch wie ein Zirkusdirektor öffnete er seine Arme und kniete vor ihr nieder.

»Bist du bereit …«, begann er pathetisch und baute eine bedeutungsvolle Pause in den Satz ein, »… all das zurückzulassen … und mit mir in eine gemeinsame Wohnung ohne Hausdrachen zu ziehen?«

Simone lachte erleichtert auf. »Meine Fresse! Hast du mir einen Schrecken eingejagt!«

»Hä, warum?«

»Ich dachte schon, du wolltest mir einen Heiratsantrag machen.«

3

Zehn Minuten später und der Kriminaldauerdienst hätte ausrücken müssen. Aber dafür kam der verdammte Anruf zu früh. Wochen, die so begannen, konnten nur beschissen enden.

Still vor sich hin fluchend, zwängte sich Hauptkommissarin Herta Kasten in ihre gelbe Windjacke, drückte ihre Dienstpistole etwas tiefer in die ausgebeulte Seitentasche und baute sich voller Schadenfreude vor der Herrentoilette auf. Genau dorthin hatte sich bereits vor dreizehn Minuten ihr engster Mitarbeiter Christoph Waliszczek verzogen, um mit einer Dauersitzung die Zeit bis zum Feierabend zu überbrücken. Der Mann war mit achtundzwanzig gerade mal Kriminalkommissar und damit noch lange nicht zu solchen Verpissungsmanövern befugt. Na, warte.

»Was ist, Hertalein?«

Schüppe kam vorbei, einen Dienstgrad höher als sie, einst Chef der Mördertruppe, aber inzwischen so etwas wie der freischaffende Künstler für das Besondere. Zudem kam er sich als Fan des königsblauen Fußballvereins im Dortmunder Präsidium manchmal vor wie ein schwuler schwarzer Jude im Visier des Ku-Klux-Klans.

»Ich warte«, sagte sie lakonisch.

Mit einem flüchtigen Blick auf ihre gelbe Jacke lästerte er: »Hässliche Farbe. Und falls du’s noch nicht bemerkt hast: Du stehst nicht nur auf den falschen Verein, sondern auch vor der verkehrten Tür.«

»Schüppe-Schätzchen«, entgegnete sie, »es gibt drei Themen, bei denen ich mich nie irre: Fußball, Männer und Türen. Und jetzt mach. Sonst kommst du mit zu unserer neuen Leiche.«

Schüppe verzog den Mund und schüttelte den Kopf – ganz so, als hätte er die Kollegin gerade dabei erwischt, wie sie einen ihrer stinkenden Zigarillos an der Türzarge ausdrückte. Herta, bei dieser Frau ist der Name Programm, dachte er. »Also?«

Statt einer Erwiderung zuckte er nur mit den Schultern und hinkte von dannen. Dabei zog er seine Packung mit Schmerzpillen aus der Tasche, ohne die er offenbar nicht mehr leben konnte.

Kasten blickte ihm nach. Ein guter Bulle – aber offenbar zu feige, um sich operieren zu lassen. Oder gab es andere Gründe, warum er die Pillen bevorzugte?

Endlich öffnete sich die Toilettentür, vor der die rustikale Beamtin Wache bezogen hatte, und ihr junger Kollege trat heraus. Die schwarzen Haare frisch gestylt, der elegante Mantel für die Vorfrühlingskühle etwas zu lässig über den Arm geworfen, die spitzen Schuhe mit Klopapier auf Hochglanz poliert.

»Tut mir ja leid, Jungchen«, tönte ihre Reibeisenstimme. »Aber deine Holde muss auf ihren Prinzen noch etwas warten.«

Gehetzt steuerte der junge Kommissar den Dienstwagen über die Stockumer Straße in Richtung Westen. Seine Chefin informierte ihn während der Fahrt über den Leichenfund im Kleingarten, unterbrach sich aber zu Beginn einer langen Rechtskurve: »Mann, pass auf! Der Starenkasten!«

Waliszczek nahm den Fuß vom Gas, aber es war zu spät. Zwei Blitze zuckten auf.

»Blindfisch!«, sagte sie mit unverhohlener Schadenfreude.

»Die Knolle bezahlst du privat!«

»Ich dachte, der funktioniert nicht.«

»Das Ding steht da seit der Kreidezeit«, erklärte sie. »Und natürlich blitzt es nur bei Flugsauriern und Leuten, die so denken wie du.« Sie zeigte über die Ackerfläche hinweg nach rechts. »Vor den Schrebergärten in den Feldweg!«

»Das ist aber nicht …«

»Ich weiß. Aber das ist die beste Route. Vertrau mir!«

Waliszczek gehorchte. Links eine lange Ligusterhecke, hinter der sich eine Kompanie von Schrebergärtnern versteckte, rechts das Feld des letzten Bauern von Renninghausen. Einige Hundert Meter weiter bogen sie ab. Der Weg führte zwischen hohen Hecken hindurch zu dem mit Gras bewachsenen Wendeplatz vor dem Eingang eines kleinen Friedhofs. »Hier?«

»Jungchen, lass die überflüssigen Fragen! Komm mit!«

Gegenüber dem Eingang zum Gottesacker führte ein schmaler Pfad zwischen zwei Reihen von Gärten zurück in Richtung Stockumer Straße.

Ziemlich in der Mitte wurden sie fündig: Rechts lag die einzige Parzelle ohne eine Laube, aber dafür mit Bergen von Abfall. Ein paar Schaulustige, die den Weg hierher gefunden hatten, standen brav in den Furchen, die diesen Garten umgrenzten – sorgsam bewacht von einer Kollegin und einem Kollegen in Uniform.

»Gut gemacht«, lobte Herta, nachdem sie ihren Dienstausweis gezeigt hatte. »Und wo liegt der arme Mensch?«

Die Polizistin deutete zu der ebenen Fläche zwischen den Müllhügeln. Der Rasen, neben dem die Laube gestanden hatte, sah aus wie nach einer Pokalschlacht zwischen Hombruch 09 und Rot-Weiß Barop. Hauptkommissarin Kasten rümpfte die Nase, doch die junge Kollegin beruhigte sie: »Da waren schon vorher keine Spuren mehr!«

Kasten gönnte ihr einen zweifelnden Blick, aber die Verwüstungen waren wirklich nicht mehr frisch.

Die Querbalken nutzend, auf denen der Hüttenboden geruht hatte, näherte sich die Hauptkommissarin der Leiche. Die Szenerie war gespenstisch. Selbst in der Dämmerung konnte sie erkennen, dass an dem verrotteten Müllsack zahlreiche Zähne genagt hatten. Nur Dreck, Moder und ein Skelett, an dessen Knöcheln ein paar Kleidungsfetzen hingen.

»Das war bestimmt die Silke!«, ereiferte sich eine Altweiberstimme hinter ihr.

»Wer?«

Die Hauptkommissarin musterte die Weißhaarige mit dem krummen Rücken, die in der Furche zwischen dem Garten und dem Rasen des Vorderhauses stand. Hände, Hose und Stiefel waren mit lehmiger Erde bedeckt, die Haare ungepflegt, ein faltiges Gesicht. In den grünen Augen glühte Sensationslust.

»Die ist vor zwanzig oder dreißig Jahren verschwunden. Und nie gefunden worden.«

Der Wind ließ die zerfransten Ränder des Müllsacks flattern.

Kasten fröstelte und wickelte ihre Jacke fester um die nicht vorhandene Taille. »Und wie heißt Ihre Silke weiter?«

»Weiß ich nicht. Aber die hat im Sommer oft da drüben auf dem Rasen gelegen.«

Die Alte zeigte mit dem Kopf nach hinten. Neben dem Vierfamilienhaus, in dem die Kestermanns wohnten, stand noch ein Bau mit wesentlich mehr Balkonen – offenbar gab es da nur Appartements.

»Ich komme gleich mal zu Ihnen!«, versprach die Hauptkommissarin. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf das Grab und betrachtete die Knochengestalt mit professionellem Interesse. Angesichts der geringen Größe und des schmalen Körperbaus tippte sie auf eine Frau, aber das behielt sie lieber für sich.

Sie trat einen Schritt näher heran und ging ächzend in die Hocke. Aufmerksam musterte sie das Gebiss des Skeletts. Der obere mittlere Schneidezahn schien ihr deutlich breiter zu sein als die Eckzähne – auch das sprach dafür, dass hier kein Mann, sondern eine Frau verscharrt worden war.

Kasten seufzte unwillkürlich und musste ihr Kopfkino ausschalten. Suchte weiter. Sah nichts. Wie lange lag die Leiche schon in dem dunklen Loch?

Schnaufend richtete sie sich wieder auf. »Okay. Los, Wali, ruf an: Frag, wo die Technik bleibt.«

Ihr Kollege war skeptisch. »Bis die hier sind, ist es schon zu dunkel.«

»Ja.«

Sie musterte die Umgebung. Würde eine Menge Arbeit erfordern, hier für ordentliche Beleuchtung zu sorgen. »Die müssen zumindest ein Zelt über das Grab stellen. Die Rechtsmedizin muss auch noch her. Und fordere ein paar Leute von der Bereitschaft an, die bis zum Morgen Wache halten.« Dann wandte sich Kasten den beiden Uniformierten zu. »Schreiben Sie bitte die Namen aller Anwesenden und ihre Adressen auf. Ist der Gartenbesitzer anwesend?« »Hier!«, rief Kestermann.

Sie drehte sich zu dem Rufer um. »Wie lange haben Sie den Garten schon?«

»Seit Oktober.«

Nun gut, dachte Kasten. Diese Leiche geht wohl nicht auf sein Konto.

»Sie bleiben bitte hier. Ich habe gleich noch ein paar Fragen an Sie.«

Zwei weitere Kollegen aus dem Kriminalkommissariat 11 stiefelten heran – Kopitzki, lang und hager wie ein Marathonläufer, und Echternach mit dem Boxergesicht. Ihre Blicke verrieten, dass sie nicht darüber begeistert waren, Überstunden zu schieben.

»Was können wir tun?«

»Übernehmt die Leute hier. Wir müssen wissen, wer in den letzten dreißig Jahren diese Gärten bewirtschaftet hat – und wo wir notfalls eine Namensliste herkriegen.«

Nun zog sie ihr Handy, tippte auf die Kurzwahltaste und wandte sich ein wenig ab. »Herr Staatsanwalt, tut mir ja so leid, dass ich Ihren Feierabend störe. Aber wir haben einen neuen Leichenfund. Und als Herr der Ermittlungen …«

Die Antwort konnte Wali nicht verstehen, aber Kastens Augen leuchteten plötzlich auf. »Natürlich können wir auch ohne Sie anfangen. Aber dieser Fall ist etwas … speziell.«

Sie drückte das Gespräch weg. »Ist ja klar, dass er kommen muss. Aber bei seinem Gehalt scheuche ich ihn besonders gerne von der Couch.«

Was für ein Aas, dachte Waliszczek.

4

»Bist du sicher, dass du es mit mir in einer Wohnung aushältst, Kalle? Du lebst jetzt seit über fünfzehn Jahren allein.«

»Lag ja nicht nur an mir. Manchmal wollten auch die Damen nicht.«

Sie grinste schief. »Ob das nun besser ist, weiß ich noch nicht.« Sie saßen beim Italiener im S-Bahnhof Höntrop. Eigentlich war das gar kein richtiger Bahnhof, sondern ein öder Haltepunkt: keine Bahnhofshalle, kein Fahrkartenschalter, nur zwei nackte Bahnsteige mit einer Uhr, einer Lautsprecheranlage und Rauchverbotsschildern.

Der Italiener passte in diese Gegend, aus der sich die betuchten Leute weitgehend zurückgezogen hatten. Ein sauberes Lokal mit zwei gemütlichen Räumen, einer unspektakulären Speisekarte, aber einer brauchbaren Küche und zivilen Preisen. Das überdurchschnittlich freundliche Team machte den Nachteil wett, dass es nur einen einzigen trinkbaren Rotwein gab. Dafür konnte man aber beim Chef den ›Grappa für gute Freunde‹ bestellen. Der passende Ort also für ein unverwöhntes Paar, das keine Lust hatte, abends noch selbst zu kochen – oder einmal etwas gründlich diskutieren wollte. So wie jetzt.

»Hm, mit dir hat es ja auch keiner lange ausgehalten«, erwiderte Kalle schließlich und kramte seine Zigaretten heraus.

»Stimmt. Keiner – und keine.«

Kalle sah sie scheinbar gelassen an. Dann stand er auf und bedeutete ihr mit einer Zigarette in der Hand, ihm nach draußen vor die Tür zu folgen.

Über die kurze lesbische Phase in ihren Berliner Jahren hatte sich Simone bisher ausgeschwiegen, ihn aber umgekehrt auch nicht mit der Aufforderung zu einer eigenen Generalbeichte genervt.

Sie spielte an ihrem überdimensionalen Ohrschmuck. Es handelte sich um einen Plug, den sie vor etwa einem Jahr hatte einsetzen lassen, nachdem sie fast sechs Monate gebraucht hatte, um das Loch im Ohrläppchen ausreichend zu dehnen.

Kalles Geschmack entsprach das auffällige Schmuckstück immer noch nicht, aber das behielt er für sich. Immerhin hatte er viele Jahre Zeit gehabt, um aus der Kriegsehe seines Vaters Klaus-Ulrich Mager mit Mechthild zumindest eines zu lernen: Manchmal war’s besser, die Klappe zu halten. Vor allem, wenn man das Glück hatte, mit einer so vielseitigen Frau wie Simone zusammen zu sein.

Vorm Eingang schnippten ihre Feuerzeuge. Sim ließ ihren Blick erst in Richtung der Höntroper Straße wandern, dann zurück zu Kalle. Schließlich holte sie tief Luft.

»Ich sag es mal geradeheraus. Es ist nicht ganz einfach mit mir. Ich habe etwas gegen Gitter vor den Fenstern und Metalltüren, die nur von außen aufgeschlossen werden. Ich mag es, meine Zeit frei zu bestimmen und meine Ruhe zu haben, wenn ich sie brauche. Was gar nicht geht, ist, dass sich deshalb jemand verletzt fühlt oder mir Vorwürfe macht.«

»Puh! So schlimme Erfahrungen?«

Sie zuckte mit den Schultern und schaute ihn mit halb gesenkten Lidern lächelnd an. »In den letzten sechs Jahren nicht. Aber wir haben ja auch nicht so eng aufeinandergehockt. Bisher …«

»Hast du Angst, dass sich bei uns was ändern könnte?«

»Du nicht?«

»Ich habe zuerst gefragt!«

»Lass uns drinnen weiterreden. Hier friert man sich den Hintern ab.«

Er nickte. Beide drückten ihre Zigaretten in dem Aschenbecher aus, der draußen aufgestellt war, und kehrten zurück ins Warme.

Das Essen ersparte beiden eine schnelle Antwort. Sie gabelte versonnen ihre Penne auf, er zersäbelte seine Pizza.

Sim dachte an Sophie, die Berliner Exfreundin. Sie wollte am Ende nur noch gemütliche Abende zu Hause verbringen und gluten-, histamin- und laktosefrei kochen. Dass Simone abends trotzdem gerne geräuschvoll Kartoffelchips aß und lieber etwas unternehmen wollte, hatte erst zu vorwurfsvollen Blicken und dann zu immer mehr Streit geführt.

Kalle hingegen erinnerte sich kauend an Rosa Pawlak, seine erste richtige Freundin. Mit ihr wäre er gerne länger zusammengeblieben. Aber sie hatte irgendwann den dringenden Wunsch nach Heirat und Kindern verspürt, den er nicht zu teilen vermochte. So machten sich Träume vom gemeinsamen Glück schleichend aus dem Staub.

Schließlich seufzten beide und sahen sich an. Keiner hätte sagen können, ob die Arrabiata oder die Pizza Spinaci so gut geschmeckt hatte wie sonst auch. Aber das Funkeln in den Augen des anderen übersahen sie nicht.

»Diese Rosa«, fragte Sim schließlich, »hast du sie geliebt?«

Kalle schrak auf. Wie konnte sie wissen, dass Rosas Bild gerade vor seinem inneren Auge aufgeflackert war?

Sims Augen funkelten. »Ertappt?«

»Nein. Ja. Okay, ein bisschen.«

Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas.

»Liebe? Ich denke schon. Damals habe ich von einer Zukunft mit ihr geträumt. Wie wir gemeinsam dieses heuchlerische Gute Deutsche Kreuz in Datteln aufgemischt haben – nicht schlecht. Aber Nestbau?«

»Kenne ich. Einer will ein Nest bauen, aber der andere will viel lieber fliegen.«

Kalle spielte mit der Gabel. »Eigentlich hatten wir über unsere gemeinsame Wohnung reden wollen.«

»Tun wir doch.«

»Ach ja?«

»Ein Wohnschlafzimmer, kein Kinderzimmer, aber für jeden einen Raum, in dem er seinen Schreibtisch und sein eigenes Bett aufbauen kann. Und wenn einer allein schlafen will, hat es der andere zu akzeptieren.«

»Kommt mir bekannt vor«, sagte Kalle und legte die Gabel weg. »So eine russische Sozialutopie aus dem 19. Jahrhundert. Da verabreden zwei Leute sogar, dass sie anklopfen, bevor sie das Zimmer des anderen betreten dürfen.«

»Gefällt mir. Wie heißt das Buch?«

»Was tun?«

»Lenin?«

»Nein. Ist von Tschernyschewskij. Lenin fand den Roman so gut, dass er später eine politische Schrift danach benannt hat.«

»Immer wieder erstaunlich, was so ein Philosoph alles weiß.«

»Tja, in mir schlummern eben viele Talente.«

»Die deine Professoren nicht gewürdigt haben. Ein summa cum laude haben sie dir ja nicht gegeben.«

»Ein rite reicht, wie der Name schon sagt, tatsächlich. Und auf der Visitenkarte macht sich die Abkürzung ausgesprochen hübsch.«

»Ja, Herr Doktor Mager. Aber viel kaufen kannst du dir davon nicht.«

Er nickte und seine Miene wurde ernster.

»Was ist?«

»Wir haben noch nicht über Geld geredet. Du hast dich ja beruflich gut stabilisiert. Aber ich kann als Hilfskeule bei PEGASUS nicht viel zu unserem Haushalt beisteuern.«

Sie sah ihn fest an. »Spinnst du? Wir leben im 21. Jahrhundert! Da dürfen auch Frauen mal mehr verdienen als die Männer.«

Kalles Begeisterung hielt sich in Grenzen. »Weiß nicht. Außerdem: Mein Alter ist bald sechzig und geht irgendwann in Rente. Was dann aus PEGASUS wird, ist völlig offen.«

»Blöd«, sagte sie. »Darüber müssen wir noch mal reden.« Eine nachdenkliche Pause trat ein. Kalle schien sich wirklich Sorgen um ihre gemeinsame Zukunft zu machen.

»Hey.« Sie legte ihre Hand auf seine. »Uns fällt schon noch was ein. Vielleicht können wir ja was Gemeinsames aufziehen?« Kalle sah sie überrascht an.

Ihre Augen strahlten optimistisch. »Du weißt doch: Hinterm Horizont geht’s weiter. Ein neuer Tag …«

Er schluckte und sagte: »Klingt kitschig.«

»Finde ich nicht. Eher romantisch.«

Er streichelte ihre Hand. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?« »Ich habe da so eine leise Ahnung«, sagte sie und strahlte. »Gut. Wann fangen wir also mit der Wohnungssuche an?«

»Gestern«, erwiderte Simone. Und zum hübschen Kellner rief sie: »Zwei Prosecco bitte, Aytaç!«

Dienstag 5

Klaus-Ulrich Mager war diesmal schon am Morgen sauer. Wie an jedem Tag war er vor dem Frühstück mit einem Pott Kaffee vor die Tür getreten, um sich die erste Zigarette des Tages zu gönnen. Missmutig stellte er fest, dass der Basketball seines Sohnes Theo mal wieder mitten im Hof lag – genau an der tiefsten Stelle über dem Gully, der an schlechten Tagen das Regenwasser aufsaugte.

Mit einem gequälten Seufzer ging er los, den Ball zu holen. Abschätzend blickte er zu dem Basketballkorb hoch, den er zusammen mit seinem Erstgeborenen Kalle über dem vergitterten Treppenhaus an der Hauswand angebracht hatte. Der Wurf misslang – und der Ball rollte zu dem Gully zurück. Mager gab auf.

Danach wäre der Sportteil der Dortmunder Rundschau an der Reihe gewesen, doch der war bei der Rückkehr an den Küchentisch nicht aufzufinden. Und der Rest der Zeitung lag nicht griffbereit auf dem vierten Stuhl, sondern bestand aus einem Haufen auf dem Boden verstreuter Blätter.

»Karin, wo …?«

»Nix Karin«, beschied ihm seine Gattin. »Dein Sohn …«

»Wieso meiner?«, fragte Mager. Er sprang auf und öffnete die Tür zum Hausflur. »Kal…«

»Nix Kalle«, unterbrach ihn Karin. »Der wohnt schon rund fünfzehn Jahre nicht mehr im selben Haus wie du!«

Mager verdrehte die Augen. Sein Irrtum war ihm auch schon nach der ersten Silbe aufgefallen, aber er fand es unfair, an sein schwächer werdendes Gedächtnis erinnert zu werden.

»Theo?!«

Oben im Haus rauschte die Klospülung, direkt danach schlug die Gastherme an. Und erst als er seine Hände abgetrocknet hatte, öffnete Sohn Nummer zwei die Tür. »Ja?«

»Wo ist …?«

»Den Sportteil habe ich hier. Kannst du dir schenken. Nur Aufgewärmtes von gestern. Nichts Neues über Götzes Zukunft. Aber der BVB liegt immer noch sieben Punkte vor den Weißwurstfressern …«

»Du sollst die Zeitung nicht auf dem Klo lesen.«

»Tust du doch auch. Und da Väter Vorbilder …« Mager stöhnte auf.

Theo war inzwischen elf, kannte alle Ausreden dieser Welt, hatte eine Grundschulklasse übersprungen und gehörte trotz seiner Faulheit zu den Top Drei einer siebten Klasse des Gymnasiums in Dorstfeld – eine Platzierung, die sein Vater nie erreicht und deshalb irgendwann nicht mehr angestrebt hatte.

»Aber höchstens nach dem Frühstück. Ich halte es nicht für hygienisch, eine Zeitung vom Klo mit an den Tisch zu bringen.«

Theo war inzwischen die Treppe heruntergepoltert und hielt ihm die Zeitung hin. »Hier. Völlig sauber. Außerdem: Manchmal bist du wie dieser Nörgelpapa aus dieser alten Fernsehserie. Der tat auch immer so, als wäre er der Lehrer der Familie.«

»Welche Serie?«

»Irgendwas mit ›Herz und Seele‹. Aber der Titel passte gar nicht.«

Dem Kindsvater stockte der Atem. Aber Karin rettete den Morgen – jedoch nur vorerst, wie sich vier Minuten später herausstellen sollte. »Siehst du, Klaus. Er ist wirklich dein Sohn. Er sagt, was er denkt. Wie du. Und eifert dir nach.«

»Nein, Mami, das stimmt nicht.«

»Wieso?«

»Ich will bestimmt nicht Kameramann werden. Schon gar nicht bei so einer kleinen Privatfirma. Viel zu stressig.«

»Und was willst du werden?«

»Leuchtturmwärter. Da knipst du morgens das Licht aus und abends an. Ansonsten kannst du den ganzen Tag aufs Meer gucken oder spannende Bücher lesen.«

»Habe ich auch mal gedacht«, meinte Mager amüsiert. »Aber es gibt keine Leuchtturmwärter mehr. Die Dinger werden jetzt alle automatisch betrieben und kontrolliert.«

»Dann werde ich Rentner!«

»Guter Plan«, meinte Mager und verkniff sich für dieses Mal weitere Belehrungen. So kehrte für zwei oder drei Minuten Ruhe ein – ein scheinbar harmonisches Frühstück einer glücklichen Familie. Bis Mager plötzlich seine Kaffeetasse auf den Tisch knallte und fragte: »Wo hast du eigentlich Ein Herz und eine Seele gesehen, Theo? Wir haben die Serie doch gar nicht.«

»Drüben. Bei Tante Mechthild. Die hat doch …«

Die Sache mit den alten Videokassetten und dem noch älteren VHS-Gerät hörte Mager schon gar nicht mehr. ›Drüben‹ – das war das Hinterhaus. Der Schauplatz seiner missratenen ersten Ehe. Das Haus des Schreckens. Und Mechthild, das war Kalles Mutter und Magers erste Ehefrau, die sich störrisch weigerte, dort endlich auszuziehen. Eigentlich keine Frau, sondern ein Drache, der Feuer spuckte und dafür nicht einmal Spiritus brauchte. Und sein kleiner Sohn saß dort, ganz allein mit dieser Schabracke, guckte alte Videos und wurde wahrscheinlich mit Streuseltalern und Apfelpfannkuchen vollgestopft! Unfassbar!

»Die ist richtig nett, Papa. Gestern hat sie mir sogar eine Nerf geschenkt.«

»Eine was?«

»Mann! Du kennst auch nix. Das sind diese coolen Pistolen mit den Schaumstoffpfeilen und …«

»Das wird ja immer schöner«, polterte Mager und warf seiner Gattin einen vielsagenden Blick zu. Er wusste, wie die Rote zum Thema Kriegsspielzeug stand.

Aber Theo war mit seiner Verteidigung noch nicht fertig. »Mensch, Papa, stell dir mal vor, ich wäre tot und Mama wäre abgehauen. Dann wüsstest du, wie es Tante Mechthild geht. Aurelius’ Tod hat sie bis heute nicht verkraftet. Sie hat jetzt doch sonst niemanden mehr.«

Der Kameramann verkniff sich den pietätlosen Satz, der ihm durch den Kopf ging, und sagte stattdessen: »Sie hat Kalle.«

»Aber der kommt doch auch fast nie zu Besuch. Entweder ist er mit euch beim Drehen oder beim Training oder bei Simone …«

Dem Bärtigen war, als wäre sein ganzes Blut in den Unterschenkel gesackt. Was ging hier eigentlich vor? Sein eigener Sohn paktierte mit dem Feind. Hilflos sah er Karin an.

Gattin Nummer zwei seufzte. Dann blickte sie ihrem Mann in die Augen. »Mir tut sie auch leid. Ich habe ihr Samstag, als du im Stadion warst, einen Kuchen gebacken und bin mit Theo drüben gewesen. Sie … sie hat sich wirklich gefreut.«

Gab es eine Katastrophe, die noch schlimmer war? Mager war sprachlos. So fassungslos wie in jener Nacht, als man die DDR-Fahne vom Brandenburger Tor holte, besoffene Berliner auf der Mauer Freudentänze aufführten und Kohl sein fettes Siegergrinsen in die Fernsehkameras hielt. Aber das hier – das schmerzte ihn noch mehr.

»Alles okay, Klaus?«, fragte die Rothaarige und legte ihre Hand auf seine. »Ich wollte noch was anderes mit dir besprechen. Es ist wegen …«

Bevor sie den Satz beenden konnte, klopfte jemand heftig an die Haustür. Theo lief los, um zu öffnen, dann stürmte sein großer Bruder ins Haus. »Morgen auch. Vatta, hasse den Polizeibericht gelesen?« Mager schrak auf.

»Sie haben eine Leiche gefunden. In der Pulverstraße. Hinter Nummer 13. Unter einer alten Holzhütte.«

Der Kameramann brauchte einige Sekunden, bis sein Gehirn auf Jetztzeit umschaltete. »In Ommas altem Garten?« Kalle Mager nickte.

»Verdammt, wir müssen los! Karin, bringst du Theo zur

Schule?«

»Mache ich doch sowieso jeden Morgen!«

»Okay!« Er sprang auf, schwang sich in seine speckige Lederjacke, küsste seine Frau auf die Stirn und nahm zum Abschied den Kleinen kurz in den Arm. »Mach nicht so ein Gesicht. Alles okay. Bist ein guter Sohn!«

6

Herta Kasten und Christoph Waliszczek trafen noch vor den Technikern in der Pulverstraße 13 ein. Rechts und links des Vierfamilienhauses war die Straße zugebaut – kein Durchkommen.

»Doch hintenherum am Friedhof vorbei?«, fragte Wali.

»Geht schon«, sagte die Hauptkommissarin und drückte auf die zweite Schelle von oben, bei Kestermann. Sekunden später wurde die Tür aufgedrückt und sie kletterten in die erste Etage, wo sie der Pächter des Gartens in Schlafanzug und Bademantel empfing. »Sorry, aber ich habe Urlaub.«

Kasten lächelte. »Verstehe. Tut mir leid, dass wir Sie beim Frühstück stören. Können Sie uns den Hintereingang aufschließen?«

»Klar.«

Kestermann griff nach dem Hausschlüssel und ging voran. Im Keller mussten sie eine düstere Waschküche durchqueren, von der aus man in den Garten gelangte. Die Parzelle war ringsum von Flatterband eingerahmt, das illegale Grab war sorgfältig abgeschirmt und auf einem Holzstapel in der Nähe saßen zwei frierende Polizisten in Uniform.

Kasten überquerte die struppige Wiese zwischen Haus und Garten. Das Gras war nass und streifte unangenehm an ihren Knöcheln entlang.

»Habt ihr etwa die ganze Nacht hier gesessen?«

»Erst seit sechs Uhr. Aber wenn man nichts zu tun hat …«

Kasten ließ amüsiert ein paar Zähne aufblitzen. »Wenn die Techniker da sind, kann einer von euch ja Kaffee und Brötchen holen.«

Die Mienen der beiden hellten sich etwas auf und Kasten wandte sich an den Kleingärtner, der fröstelnd an der Absperrung wartete. »Danke. Sagen Sie mir nur noch, wer mir etwas über die Geschichte des Gartens erzählen kann.«

Kestermann deutete auf eine gepflegte ältere Dame, die, fertig angekleidet, auf einem der unteren Balkone stand und gedankenverloren eine dicke schwarze Katze streichelte. »Frau Grote, die Hauswirtin. Sie wohnt am längsten von allen hier.«

Die Kommissarin lief durch das nasse Gras auf die Frau zu und stellte sich und ihren jungen Kollegen vor. »Haben Sie ein paar Minuten Zeit für uns?«

»Gern.« Die Dame nickte und setzte die Katze ab. »Geh, Mäuschen. Aber stör die Leute im Garten nicht.« Es dauerte etwas, bis Frau Grote die Wohnungstür öffnete.

»Tut mir leid, aber ich bin nicht mehr so gut zu Fuß.«

Ihre Stimme klang etwas brüchig und ihre Lippen bebten ein wenig. Nervös, dachte Kasten. Würde mir genauso gehen, wenn ich mit neunzig zum ersten Mal die Polizei im Haus hätte.

Frau Grote ging mit etwas unsicheren Schritten voraus und führte die beiden ins Wohnzimmer. Deutsche Standardeinrichtung, Gelsenkirchener Barock, Häkeldeckchen. Aber statt des röhrenden Hirsches und der vollbusigen Zigeunerin blickten von den Wänden Kinder und Erwachsene in Kreide und sogar in Öl herab.

»Ihre Familie?«, fragte Kasten.

Grotes Gesicht zeigte eine Wärme, wie man sie nur von Müttern und Großmüttern kennt. »Ja. Mein Schwiegersohn ist Künstler. Das da hat er nach einem Foto gemalt.«

Sie deutete auf das Bildnis einer jungen hübschen Frau mit braunen Augen und einem weißen Schleier über dunklen Locken.

»Sie?«, fragte die Polizistin.

»Ja. Aber viel zu lange her.«

»Wie lange?«

»Fast siebzig Jahre. Aber setzen Sie sich doch.«

Ihre Finger zitterten, als sie auf das Highlight des Raumes zeigte. An der Trennwand zwischen den benachbarten Wohnungen hatte der Architekt auf beiden Etagen die langen Balkone verkürzt und eine Art Erker geschaffen – eine Sitzecke mit breiten Fenstern, die bis auf Kniehöhe hinabreichten und einen unverstellten Ausblick auf die Gärten boten.

Als die Polizistin sich niederließ, entdeckte sie auf dem Tisch ein braunes Fläschchen mit einem roten Herzen auf dem Etikett. Daneben einen Teelöffel, auf dem es noch klebrig schimmerte.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee einschenken?«, fragte die Hausherrin. Waliszczek wollte schon nicken, aber seine Chefin lehnte höflich ab: »Danke. Wir haben leider nur wenig Zeit.« Sie deutete auf den Garten, an dessen Ende sich bereits ein paar Schaulustige an der Absperrung versammelten. »Die Frau aus dem Nachbargarten der Kestermanns hat gestern etwas von einer Silke gerufen, die hier gewohnt haben soll …«

»Ja, Silke.« Frau Grote seufzte, während ihre Hände die Armlehnen ihres Sessels etwas fester umklammerten. »Wir haben unter dem Dach zwei möblierte Zimmer für Studentinnen. Und eine unserer Mieterinnen ist spurlos verschwunden und nie mehr aufgetaucht.«

»Wie lange ist das her?«, fragte Waliszczek und zückte Notizblock und Kugelschreiber.

»Ach, schon über zwanzig Jahre.«

»Und wie hieß die Studentin genau? Silke – und weiter?«

Hulda Grote grübelte. »Irgendwas mit Nau… oder Neu … Naumann? Neumann? … Ich komme nicht drauf. Diese Aufregung. All die Jahre habe ich da auf dem Balkon gesessen und auf ein Grab geguckt. Und jetzt die vielen Menschen hinter dem Haus …«

»Verstehe ich«, sagte Kasten und legte ihre Hand auf die der Greisin. »Bald ist alles geklärt und es wird wieder ruhiger hier.« »Hoffentlich«, sagte Hulda Grote. »Aber wie Silke hieß – ich kann meinen Sohn fragen. Der hat alle Unterlagen, bestimmt auch die alten.«

»Das wäre nett. Aber ich habe noch eine Frage: Wem hat Kestermanns Garten in den letzten dreißig Jahren gehört?«

»Ursprünglich meinem zweiten Mann. Aber der bekam es mit einundfünfzig so heftig an der Bandscheibe, dass er nicht mehr im Garten wühlen konnte.«

»Und wer hat das Land dann gepachtet?«

»Familie Mager. Sind auch schon tot. Er war ja ein begnadeter Gärtner – aber er hat auch ewig an der Hütte herumgebastelt. Gut, dass diese Bruchbude jetzt weg ist.«

Jeder Mensch hatte seine eigenen Sorgen, dachte Kasten. »Noch was: Können Sie mir etwas über die Leute in Nummer 11 und Nummer 15 sagen? Wer hat da schon vor zwanzig oder dreißig Jahren gewohnt?«

»Ach«, meinte die alte Dame. »Niemand. Die Studenten aus Nummer 15 sind längst ausgeflogen. Und nebenan, in Nummer 11, sieht heute alles ganz anders aus.«

»Wieso?«

»Da haben früher zwei alte Frauen gewohnt. Die hatten bestimmt noch zehn Jahre mehr auf dem Buckel als ich. Ein kleines Haus, nach dem Krieg aus Trümmerresten gebaut.« Sie dachte einen Moment nach.

»Die beiden sind vor zehn oder zwölf Jahren gestorben. Der neue Besitzer hat alles umgemodelt. Die hohen Hofmauern und den hässlichen Taubenschlag am hinteren Ende hat er abgerissen und ein neues Stockwerk aufs Haus gesetzt. Jetzt toben da bis in den Abend seine wilden Kinder herum und nerven alle Leute hier im Haus. Respekt und Rücksicht – das kennen diese Leute nicht.«

7

»Herzlich willkommen!« Mit breitem Lächeln und ausgestreckter Pranke begrüßte der Direktor und Gründer des Kopula-Instituts seine neue Sekretärin.

Kopula war vor knapp drei Jahren von Professor Paul Kehlmann und Professor Kulk-Huhn als Initiative für den Bereich Softwaresicherheit gegründet worden. Zwei Arbeitsgruppen der Universität Duisburg-Essen hatten sich am Standort Duisburg zusammengeschlossen, um europaweit in einem wachsenden Forschungszweig agieren zu können. Man beschäftigte sich damit, welche Prinzipien und Methoden angewendet werden müssen, um sichere Software sowie Sicherheitssoftware zu entwickeln.

Jetzt, 2012, war das Institut etabliert und gewachsen und an zahlreichen Industrieprojekten beteiligt, die von der EU gefördert wurden und für die große Summen aus Brüssel flossen.

Nach dem Ausscheiden der bisherigen Sekretärin war ihre Stelle längere Zeit unbesetzt geblieben. Mit Improvisationstalent und Überstunden hatten die anderen Mitarbeiter die Lücke notdürftig geschlossen. Kehlmann war froh, wieder Verstärkung an der Verwaltungsfront zu haben.

»Frau Pastor, schön, dass es geklappt hat.« Er umschloss die schmale Hand der neuen Angestellten so fest, als könnte sie auf dem Absatz kehrtmachen und verschwinden.

Die Frau, die vor Paul Kehlmann stand, machte einen bodenständigen und selbstbewussten Eindruck. Dezente Kleidung, aber das Haar war zu einem kinnlangen Bob mit frechem Pony geschnitten. Darunter blitzten wache graue Augen in sommerlich gebräunter Haut.

»Ich freue mich auch sehr, Herr Professor Kehlmann. Und vielen Dank für Ihr Verständnis, dass ich nicht gleich anfangen konnte. Der Urlaub war schon so lange gebucht.«

Der stämmige Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. »Keine Ursache. Bei Ihnen habe ich gern die berühmte Ausnahme von der Regel gemacht. Auch wenn die Univerwaltung nicht einverstanden war.« Er lachte. »Da ist es ganz gut, wenn man ein gewisses Standing hat.«

Mit einer einladenden Geste wies er auf einen Bürostuhl hinter der Empfangstheke des schicken Sekretariats. »Ihr Arbeitsplatz. Ich hoffe, er gefällt Ihnen. Direkt nebenan sitze ich.«

Meike Pastor blickte sich aufmerksam um. Auf dem Schreibtisch standen zwei flache 24-Zoll-Monitore, eine ergonomisch geformte kabellose Tastatur mit passender Maus. Die Arbeitsplatte aus massivem Ahornholz war in Form eines L geschnitten, wobei die Innenecke elegant gerundet war. Zur linken Seite befand sich ein zusätzliches quadratisches Schreibtischelement, auf dem ein Farblaserdrucker stand. Sie nickte. »Das sieht perfekt aus.«

Kehlmann lachte. »Wir geben uns alle Mühe. Aber darf ich zuerst noch einen Vorschlag machen? Bei Kopula pflegen wir flache Hierarchien und einen freundschaftlichen Umgang. Wir duzen uns alle. Ich hoffe, dass Sie damit einverstanden sind? Ich heiße Paul.«

Diese IT-Leute sind wirklich anders gestrickt als normale Beamte, dachte Meike. Aber dann hob sie freundlich die dunklen Augenbrauen. »Gerne. Ich heiße Meike. Aber das weißt du ja schon.«

Natürlich wusste Kehlmann das. Er hatte die Bewerbungsunterlagen der Mittvierzigerin gründlichst studiert und bei den letzten beiden Arbeitgebern telefonisch Auskunft eingeholt. Beide hatten ihre Exsekretärin in den höchsten Tönen gelobt und bedauert, dass sie das Unternehmen verlassen hatte.

Die ist okay, dachte Kehlmann. Nach der hohen Fluktuation in den letzten Jahren war er bei allen Neuen misstrauisch. Er brauchte Leute, die nicht bei der ersten Belastung zusammenbrachen.

Er erwartete, dass seine Angestellten stets einhundertzwanzig Prozent gaben. Aber viele junge Dinger besaßen kein Standvermögen oder hatten eine große Affinität zu Ärzten, die nicht mit Krankenscheinen geizten.

Ohne Fleiß kein Erfolg, dachte er. Und ohne Erfolg keine Motivation. Das Kopula-Institut würde es nicht geben, wenn er nicht immer dicht am Ball geblieben wäre. Nur deshalb floss jährlich ein hoher sechsstelliger Eurobetrag in das Institut, über den er frei verfügen konnte. Diese zusätzlichen Gelder für Forschung, Ausstattung und Haushalt erregten eine Menge Neid bei anderen Professoren. Im Gegensatz zu diesen Kleinkrämern musste Kehlmann sich keine Sorgen ums Geld machen.

»Natürlich habe ich deine Unterlagen studiert«, gestand er und verzog das Gesicht wie ein kleiner Junge, den man beim Griff in Omas Keksdose erwischt hatte. »Darum war ich im Vorstellungsgespräch auch etwas grob.« Sie hob die linke Augenbraue.

»Alles zu perfekt«, erklärte er und strich sich über das rote Stoppelhaar. »Ich wollte dich aus der Reserve locken!«

»Ist dir gelungen«, sagte sie lakonisch. »Man wird ja auch nicht jeden Tag als Lügnerin bezeichnet, die in Wirklichkeit mit den Kollegen nicht klarkommt.«

Er hob entschuldigend seine breiten Hände. »Aber genau deine heftige Empörung über diesen Vorwurf war es, die mich überzeugt hat …«

»Keine Sorge.« Sie winkte ab. »Ich habe dir das nicht krummgenommen.«

Kehlmann nickte. »Freut mich. Auf gute Zusammenarbeit.«

»Ja, das wünsche ich mir auch.«

»Prima. Mein IT-Admin Tim kann dich jetzt durchs Institut führen und dich vorstellen. Später gibt es noch einen kleinen Sektumtrunk. Außer deinem Start gibt es nämlich noch etwas zu feiern.«

»Das hört sich gut an. Was feiern wir denn außerdem?«

Kehlmann ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Das verkünde ich, wenn wir alle zusammensitzen.«

Er griff zum Telefon. »Tim? Hast du gerade Zeit? Es wäre nett, wenn du unserer neuen Sekretärin Meike alles zeigen könntest. Und bring doch Adele mit. – Ach ja, die Betriebsvereinbarungen zur privaten PC-Nutzung liegen auch bei euch, oder?«

Kurz darauf betraten ein Mann und eine Frau den Raum. Er war Mitte dreißig, sie etwa genauso alt wie Meike. Die Lachfältchen um ihre Augen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie es gewohnt war, sich durchzusetzen.

Kehlmann stellte die drei einander vor: »Doktor Adele Klawitter, geschäftsführende Assistentin, Teamleiterin der sogenannten ›weiteren Angestellten‹, außerdem zuständig für die Projektfinanzen. Und das ist Tim Hoppe, verantwortlich für IT-Technik und Software.«

Der Admin mit dem runden, freundlichen Gesicht legte die mitgebrachten Papiere auf den Schreibtisch.

Kehlmann wartete, bis Tim und die neue Kollegin den Raum verlassen hatten. Dann schloss er sorgsam die Tür und wandte sich an Adele. »Ich wollte gern mit dir über die Neue sprechen. Aber vorher noch eine kurze Frage: Hat Lea sich krankgemeldet? Ich warte dringend auf die neuen Power-Point-Folien für Thailand.«

Dieser Auftrag einer Universität war äußerst lukrativ. Man brauchte dort Schulungsmaterial für einen neuen Studiengang im Bereich Software Systems Security und für Vorlesungen und Seminare in englischer Sprache – ein Rundum-Sorglos-Starter-Paket. Und so kurz vor dem Beginn des Sommersemesters drängte die Zeit.

»Nicht dass ich wüsste«, erklärte die Assistentin. »Aber ich werde mich wegen Lea gleich mal bei der Verwaltung erkundigen.«

»Tu das«, meinte der Professor. »Zu der Neuen: Sie macht einen ganz passablen Eindruck. Vielleicht haben wir mit ihr ja mehr Glück als mit ihren Vorgängerinnen.«

Die Angestellte wartete schweigend ab. Das konnte noch nicht alles sein.

»Ich möchte sie in der Probezeit auf Herz und Nieren testen«, fuhr Kehlmann fort. »Gib ihr reichlich Aufgaben, setze sie unter Zeitdruck. Mach ihr die Hölle heiß. Wie’s geht, weißt du ja.«

Adele blickte ihn bekümmert an. »Mensch, Paul, lass mich da bitte raus. Ich will das nicht mehr. Warum erledigst du das nicht selbst?«

»Wie soll ich einer Assistentin vertrauen, die sauer auf mich ist? Ich brauche jemanden, der hundertprozentig loyal ist. So wie du, Witti. Komm, du wärst mir eine große Hilfe. Ich habe dich damals auch unterstützt. Eine Hand wäscht die andere, oder?«

O ja, dachte Klawitter. Und manchmal ist die Hand im Anschluss schmutziger als vorher.

Sie nickte. »In Ordnung. Aber das ist das letzte Mal, dass du mich um so einen Gefallen bittest.«

8

»Mann, ich möchte hier einmal im Leben was anderes als Rot sehen!«, nörgelte Mager, als sich der PEGASUS-Skoda kurz vor neun von West nach Ost durch Barop quälte. Der Berufsverkehr war zwar etwas abgeebbt, aber Cheffahrer Kalle musste noch zwei weitere Ampelstaus überwinden.

»Ach«, merkte Susanne auf, die gelassen auf dem Beifahrersitz ruhte. »Wirst du deiner alten Lieblingsfarbe untreu?«

Gegen Sticheleien war Mager in diesem Moment immun. Stattdessen rutschte er voller Ungeduld auf der Rückbank hin und her.

Eine Leiche unter Vaters altem Schuppen? Sein Erzeuger war ein harter Knochen gewesen und auch kein Kind von Traurigkeit. Aber dass zu seinem Nachlass ein Grab gehören sollte – ausgeschlossen.

Aufgeregt registrierte der Kameramann, dass Kalle die Einfahrt zur Pulverstraße passierte und wieder aufs Gas drückte.

»Wo willst du denn hin?«

»Zum Bauernfriedhof. Die Pulverstraße ist doch völlig zugebaut. Da gibt es keinen Durchgang mehr zu den Gärten.«

Nun folgte der Sohn dem Weg, den Kommissarin Kasten am Vortag eingeschlagen hatte. Mager knurrte wie ein angeleinter Kampfhund, als der Skoda von einem Schlagloch ins nächste torkelte. Unnötiger Zeitverlust!

Dann erreichten sie den Pfad zum Begräbnisplatz und Mager stöhnte los – sie waren zu spät dran. Auf beiden Seiten reihten sich, dicht an Büsche und Zäune gedrängt, etliche Pkw.

»Scheiß Privatsender!«, fluchte der Kameramann, als er die Schriftzüge und Logos auf den Türen der ersten Fahrzeuge entdeckte. Dann blickte er nach vorn, wo eine Blechwand in Blau und Silber Weg und Blick versperrte. »Stopp! Da hinten können wir nicht mehr drehen.«

»Und jetzt?«, fragte Kalle.

»Pulverstraße. Wir müssen eben irgendwo klingeln.«

»Fuck«, fluchte der Sohn und lenkte den Skoda zurück zur Stockumer Straße.

Dort musste er eine endlose Minute lang warten, bis sich zwischen den heranzischenden Autos eine Lücke zum Abbiegen bot. Zweihundert Meter weiter kam die erste Ampel – natürlich rot. Und dicht vor der Pulverstraße gab es noch einen Übergang für Fußgänger, an dem zwei Rollatorpiloten gerade die Ampelschaltung bedienten. Gemächlich schoben sie ihre Vehikel über den Asphalt.

»Jetzt fehlt nur noch ein Tagesbruch in der Pulverstraße«, meinte Susanne, doch Kalle schmunzelte. »Dann wären wir endlich mal wieder als Erste vor Ort.«

Der Spaß verging ihm, als er abgebogen war. Die Straßenränder waren so zugeparkt, als hätte die Borussia im nahen Westfalenstadion ein Heimspiel. Doch gegenüber dem Haus 13 waren vor zwei Polizeikleinbussen noch ein paar Meter frei.

»Dahin!«, empfahl der Kameramann.

»Vatta! Da ist ein Gartentor!«

»Macht nix. Seit der Türke das Haus auf der Ecke renoviert hat, ist das Törchen nie mehr geöffnet worden.«

Voller Zweifel stellte Kalle den Wagen ab. Dann stieg er aus und prüfte die Lage. Ein Blick über den Zaun zeigte, dass der Alte recht hatte.

Anerkennend blickte Kalle zu seinem Vater hinüber, der gerade den Kofferraum mit der Ausrüstung geöffnet hatte und sich auf die Schnelle ein paar Zigarettenzüge gönnte. Klaus-Ulrich Mager hatte Barop schon vor vielen Jahren verlassen, aber Oma hatte ihn über allen Dorfklatsch auf dem Laufenden gehalten.

»Steh nicht herum!«, meldete sich der Alte. »Oder soll Susanne alles alleine schleppen?«

»Nö«, sagte Kalle und steckte sich demonstrativ auch eine an. »Wie immer. Susanne nimmt das Kleinzeug, du das Stativ und ich die Kamera. Macht sechs Kilo mehr für mich als für dich. Also spar dir den Kommandoton!«

»Du hast zu viel über Rebellen gelesen.«

»Stimmt. Im Gegensatz zu dir habe ich ja zu Ende studiert.«

Magers Gesicht lief rot an. »Ich habe abgebrochen, weil ich Geld verdienen musste. Immerhin warst du unterwegs!«

»Tja, da hat wohl einer im falschen Moment nicht aufgepasst!«, gab Kalle spöttisch zurück.

»Aus!«, befahl Susanne. »Wir haben Arbeit. Und noch eins, Klaus: Kalle ist nicht dein Hund.«

Ein kurzer Blick, dann drückte Mager auf den zweiten Klingelknopf von oben. Kestermann – das war der Typ, der die Wohnung seiner Eltern übernommen hatte. Wie es da oben wohl jetzt aussah?

Keine Reaktion. Also klingelte Mager in der Nachbarwohnung bei Stumpf. Das war die seltsame Frau mit den bunten Pluderhosen und den vielen Männerbesuchen. Wann immer der Bärtige seine Mutter besucht hatte, musste er sich Lästereien über die ›liederliche‹ Frau anhören: »Man weiß gar nicht, ob all die Kerle bei ihr übernachten oder bei der Tochter.«

Irgendwann hielt Mager das nicht mehr aus und konterte: »Vielleicht vor zwölf bei der einen und danach bei der anderen?«

Seine Mutter hatte ihn so empört angesehen, als hätte er gerade die Fransen ihres Perserteppichs in Unordnung gebracht. Danach hatte sie nie mehr von dem »Schweinkram« der Nachbarin gesprochen.

Zweiter Versuch.

Endlich meldete sich der Türöffner und das Team hastete die Treppen hinauf. Die Nachbarin trug noch immer ihre Haremshosen. Die Haare waren zwar von Herbst auf Winter umgefärbt, aber noch immer lang und wirr.

»Tag, Frau Stumpf. Dürfen wir mal zehn Minuten Ihren Balkon benutzen?«

Die Nachbarin musterte die Kamera und sah hartnäckig an ihm vorbei. »Da arbeitet schon ein Kollege von Ihnen.«

Kacke, verdammte, dachte Mager und musste tatenlos zusehen, wie die Tür vor seinen Augen ins Schloss fiel. Das Trio tauschte Blicke der Ratlosigkeit.

»Was ist mit dem Dachboden?«, fragte Kalle.

Mager schüttelte den Kopf. »Auf der einen Seite zwei möblierte Zimmer und auf der anderen nur ein paar enge Dachluken. Kannste vergessen.«

»Also nach unten.«

»Auch keine Logenplätze«, sagte Mager enttäuscht. »Da sind wir fast auf gleicher Höhe mit den Gärten.«

Treppab war Susanne die Erste. Sie hob die Hand, um im Erdgeschoss zu klingeln – direkt unter Magers früherer Wohnung.

»Neeein!«, zischte Mager, aber es war zu spät.

Eine dralle Endsechzigerin steckte ihre Dauerwelle heraus, entdeckte Klaus-Ulrich Mager und giftete: »Dass du dich noch hierher traust! Deine Eltern haben meinen Mann ins Grab gebracht!«

Erschrocken sah Susanne auf den Kameramann und auch dessen Sohn wurde wachsam. Gab es da ein unbekanntes Familiengeheimnis?

»Du lügst ja schon wieder!«, erwiderte Mager. Seine Stimme klang gelassen, aber Susanne beobachtete, wie seine Kiefer mahlten. »Du hättest deinen Oskar in der Klapse lassen sollen. Oder ihm Ohrenstöpsel verpassen müssen. Ein Mensch, der schon einen Herzinfarkt bekommt, wenn irgendwer im Haus einen Furz lässt …«

Die Nachbarin donnerte die Tür so laut zu, wie sie es zu Lebzeiten des Gatten nie gewagt hätte. Ein Wunder, dass die Bude noch steht, dachte Mager.

Aber dieser Lärm rief die zweite Bewohnerin des Erdgeschosses auf den Plan. Hulda Grote, die Hausbesitzerin, um die neunzig, hatte zwei Ehemänner und ein Dutzend Hunde überlebt und war immer noch gepflegt und fit genug, um allein zu leben – solange ihr der Wir-lieben-Lebensmittel-Mann die Einkäufe ins Haus brachte und der Sohn die Mieten eintrieb.

»Ach, Klaus-Ulrich!«, sagte sie und streckte Mager die faltige Hand entgegen. »Du weißt doch, dass du meine Nachbarin nicht stören darfst!« Susanne schob sich nach vorn. »Tut mir leid, Frau Grote, Klaus ist unschuldig. Ich hab’s aus Versehen getan. Susanne Ledig. WDR. Wir wollen …«

»Kann ich mir denken. Ach, was ist der Kalle groß geworden! Na, kommen Sie!«

Als das PEGASUS-Trio sich anschickte, ihr zu folgen, polterten schwere Schritte die Treppe herab. Zwei, nein drei Leute. Mager musste sich gar nicht erst umsehen, um Bescheid zu wissen. Das konnte nur Tom Balzack sein, das Raubein von RTL, dem immer ein passender Spruch einfiel. »Na, Dicker, wieder mal zu spät aufgestanden?«

»Vorsicht!«, warnte Mager. »Als Blauer solltest du in Dortmund lieber stickum sein.«

Balzack zeigte mit dem Daumen auf seinen Sohn Chris, der zusammen mit Kameramann Harry noch oben auf dem Treppenabsatz stand und bei Broadfacts.TV denselben Job machte wie Kalle bei PEGASUS. »Mein Bodyguard. Boxt bei Erle.«

»Na und?«, konterte Mager. »Meiner hat ’nen schwarzen Gürtel in Taekwondo.«

Die drei RTL-Leute setzten sich wieder in Bewegung und nahmen die letzten Stufen. Nun konnten sich die Söhne in die Augen sehen.