Davids letzter Film - Jonas Winner - E-Book

Davids letzter Film E-Book

Jonas Winner

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Beschreibung

Wie ein Film von David Lynch Journalist Florian Baumgartner soll den bekannten und umstrittenen Filmemacher David Mosbach porträtieren und dafür seine Kontakte zum einstigen Jugendfreund nutzen. Als Florian im winterkalten Berlin eintrifft, muss er feststellen, dass David seit Tagen spurlos verschwunden ist. Mehr von Sorge um den bewunderten Freund als von journalistischem Eifer getrieben, stürzt sich Florian in seine Recherchen, und ihn überkommt das blanke Entsetzen: Mosbach hat in seinen Filmen nicht nur die Grenzen des Geschmacks, er hat auch die Grenzen der Menschlichkeit überschritten. Kein Wunder, dass die Polizei bereits gegen ihn ermittelt. Und zwar wegen Mordes. 

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Seitenzahl: 388

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Jonas Winner

Davids letzter Film

Psychothriller

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2011

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

eBook ISBN 978-3-423-40604-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21260-1

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/​ebooks

Inhaltsübersicht

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Filmografie David Mosbach

»Süßmaus!«

Christine Marin stellt den tropfnassen Teller zum anderen Geschirr neben das Spülbecken, zieht die Gummihandschuhe aus und dreht sich um.

»Süßmaus?«

Eben war sie noch hinter ihr gewesen. Das Malbuch liegt aufgeschlagen auf dem Küchenfußboden, die Stifte sind wild unter dem Tisch verstreut.

Christine geht durch die Tür ins Wohnzimmer. »Maja?«

In dem Zimmer ist niemand. Aber die Glastür, die in den Garten führt, steht offen und schwankt ein wenig im Wind.

Kommt die Kleine denn jetzt schon an die Klinke?, schießt es Christine durch den Kopf. Sie tritt durch die Tür in den Garten.

»Maja – wo steckst du denn?«, ruft sie und spürt, wie der Klang ihrer Stimme sie beunruhigt.

»MAJA!« – als würde mit jedem Ruf aus dem, was doch nur die leise Vorahnung eines möglichen Albtraums sein kann, ein Stückchen mehr Wirklichkeit.

Christine zwingt sich, ruhig zu atmen. Die Kleine ist mit Sicherheit beim Buddelkasten. Mit Förmchen spielen – die letzten Tage war sie ganz versessen darauf.

Mit hastigen Schritten eilt Christine am Rosenbeet vorbei zu der Ecke des Hauses, hinter der sich der Buddelkasten befindet. Sie achtet nicht darauf, dass sie barfuß ist, dass die Kälte des Winterbodens ihr in die Fußsohlen schneidet.

»Maja!« Echolos verfliegt ihr Ruf in der Winterluft. Christines ganze Aufmerksamkeit ist darauf konzentriert, einen Laut, einen Blick, ein Lachen, IRGENDWAS von ihrer Tochter zu erhaschen –

Leer. Er ist leer. Der Buddelkasten ist leer!

»MAJAA! Um Himmels willen, Maja, MAAJAAA!«

Christine zittert. Sie dreht sich im Kreis. Das Herz in ihrer Brust pocht. Das… Das kann doch nicht… Ist sie auf die Straße gelaufen… Bei all den Autos…

Christine rennt. Ihre nackten Füße fliegen über den harten Winterboden. Zur Gartenpforte.

Die Straße der Wohngegend liegt ruhig und verlassen da. Ein paar geparkte Autos. Die Vorgärten der anderen Häuser. Niemand zu sehen.

Im nächsten Augenblick hat Christine ihr Handy am Ohr, die zuletzt gewählte Nummer aktiviert. Das Klingelzeichen.

Geh ran!, schreit es in ihr. Geh ran!

»Ja?«

»Maja, sie… es…«

»Was ist mit Maja?«, unterbricht sie die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Sie ist weg.«

Für einen Sekundenbruchteil scheint die Zeit stillzustehen. Es kann doch nicht sein. Sie kann doch nicht weg sein.

Christines Blick fliegt die Straße hinauf – hinunter. Niemand zu sehen.

»Ich komme«, dringt es aus dem Telefon – dann bricht die Leitung zusammen.

Christine läuft. Zum Vordereingang. Sie reißt das Einfahrtstor auf, schrammt sich an dem spröden Holz die Hand blutig, springt über die flachen Feldsteine, mit denen Hannes die Einfahrt gepflastert hat, die kleine Anhöhe zum Haus hinauf. Sie hat ihm so oft gesagt, dass er die Finger davon lassen soll. Dass er sich von diesen Leuten lösen muss. Dass er nicht länger zögern darf, aber er hat nicht auf sie gehört –

NEIN, sie selbst, schießt es ihr da durch den Kopf, als würde ihr Blut plötzlich aufgekocht, sie selbst ist schuld daran, sie hätte ihn zwingen müssen, sich von diesen Leuten zu trennen, sie hat doch gewusst, dass so etwas passieren würde, dass es irgendwann zu spät sein würde. WIE HAT SIE ES NUR SO WEIT KOMMEN LASSEN KÖNNEN –

Da hört sie es. Ein leises Schniefen.

»Maja?« Christine wirbelt herum.

Die Kleine steht an der Ecke des Hauses, beim Durchgang zum Garten, und starrt sie mit großen Augen an.

Christine fliegt. Hat das Mädchen im nächsten Moment in den Armen geborgen. Als wollte sie Maja wieder in ihren Körper aufnehmen, den einzigen Platz, wo sie sie wirklich beschützen kann –

»Maja Maja Maja Maja Maja Maja Maja Maja Maja«, perlt es aus Christines Mund, während sich die Dreijährige an ihre Mama kuschelt, ganz fest, die dünnen Kleider von der Winterluft kalt, die Arme um den Hals der Mutter geschlungen, das Gesicht an ihrer Wange verborgen.

»Wo warst du denn, ich–«

»Ich hab nichts Böses gemacht, Mama.«

Christine hält ihr Töchterchen vor sich hin, erkennt den Schrecken und die Ratlosigkeit, die in dem so zarten, kleinen, verletzlichen Gesichtchen stehen.

»Ich wollte nur… ich darf doch… es war… ich hab nichts Böses gemacht–«

»Was ist denn passiert?«

In Christines Kopf tost es. Das Gesichtchen der Tochter verzieht sich, ein Schluchzen schüttelt den kleinen Körper, Tränen hängen plötzlich an ihren Wimpern. Sie kämpft gegen den Griff an, mit dem die Mutter sie vor sich festhält, sie will nicht ausgefragt werden, sie will umarmt werden… windet sich endlich los, stürzt zurück an den Hals der Mutter, das Gesicht daran schmiegend.

Da nimmt Christine aus dem Augenwinkel einen Geländewagen wahr, der die Straße heruntergerast kommt, auf ihr Haus zu. Hannes. Er ist ganz in der Nähe gewesen. Christine löst eine Hand vom Rücken der Tochter, winkt dem Wagen zu. Er kommt am Bürgersteig der gegenüberliegenden Straßenseite zum Stehen, die Fahrertür springt auf, Hannes taucht auf. Sein Blick trifft den seiner Frau.

Christine lächelt, die Tränen verwischen ihr die Sicht. Maja ist da. Sie wird sie niemals wieder aus den Armen lassen. Nichts wird sich zwischen sie drängen können, nichts und niemand sie auseinanderreißen.

Es ist der vielleicht schönste Augenblick in Christines Leben. Sie sieht Hannes die Wagentür hinter sich zuwerfen, um den Wagen herumgehen. Sie fühlt das Kind in ihrem Arm, spürt, wie es sich langsam wieder beruhigt, und lächelt ihrem Mann zu, dem die Erleichterung anzusehen ist – auch wenn die Sorgen der letzten Wochen sein Gesicht tief gezeichnet haben. Der vielleicht schönste Augenblick in Christines Leben, in den im selben Moment, in dem Hannes die Straße betritt, um zu ihnen zu kommen, mit unerbittlicher Schärfe das Entsetzen einschlägt.

1

Der Raum ist vollständig gekachelt. Boden. Wände. Decke. In der Mitte des Fußbodens befindet sich ein Abfluss. Direkt darüber steht eine Pritsche mit höhenverstellbarem Kopfende, mehreren Riemen und einem Ausleger für den Arm.

Auf der Pritsche liegt ein junger Mann. Fast noch ein Junge. Seine Augen sind tief in die Höhlen gesunken. Er blinzelt, sieht irritiert aus, verschreckt. Seine Gesichtszüge wirken ein wenig grobschlächtig. Die Stirn ist niedrig, der Mund breit.

Der Mann, der vor ihm steht, trägt einen weißen Kittel und sieht aus wie ein Arzt. Er ist blond, die Brille auf seiner Nase randlos. Seine Hände, lang und schmal, überprüfen die Riemen. Sie sitzen fest am Körper des Jungen. Der Mann sieht dem Jungen in die Augen. Will er eine Spritze?

Der Junge nickt. Er zuckt nur kurz, als der Arzt ihm die Nadel in den Arm sticht, beobachtet, wie sein Betreuer die Flüssigkeit aus der Kanüle drückt. Sein hastiges Atmen verlangsamt sich. Die Muskeln erschlaffen, er legt den Kopf zurück auf die Pritsche.

Der Mann wendet sich einem Apparat zu, der auf einem Rolltischchen neben der Pritsche steht: ein Plastikkasten mit Anzeigen, Schaltern und Reglern. Aus dem Kasten kommen Kabel in unterschiedlichen Farben. Ihre Enden sind abisoliert und mit Pflastern versehen. Der Mann nimmt zwei Kabel, rollt das T-Shirt des Jungen hoch und klebt ihm die Pflaster auf die Haut. Eins unter die linke Brustwarze. Das andere mitten auf den Bauch. Der Junge versucht etwas zu sagen, aber die Worte kommen nur unverständlich aus seinem Mund.

Der Arzt zieht die Augenbrauen hoch. »Bitte?«

Der Junge bemüht sich, die Worte richtig zu formen. Aber es ist, als wäre seine Zunge festgewachsen. Speichelblasen treten zwischen seinen Lippen hervor.

Der Mann lächelt. Mit der Rechten zieht er vorsichtig die Zunge des Jungen zwischen den Zähnen hindurch. Die Augen des Jungen glänzen feucht. Seine Brust hebt und senkt sich ruckartig. Aber er wagt es nicht, seinen Kopf dem Griff des Mannes zu entwinden.

Der Arzt löst das Pflaster vom Bauch und fixiert es behutsam an der Zungenspitze des Jungen. Fragt ihn, ob er bereit sei.

Der Junge starrt ihn mit aufgerissenen Augen an. Seine Zunge hängt mit dem Kabel verbunden zwischen seinen Lippen hervor. Er gibt keinen Laut von sich.

Der Arzt atmet aus. Wenn er nicht kooperiere, werde doch alles nur schlimmer.

Der Junge keucht. Schweiß tritt auf seine Stirn.

Der Arzt lächelt. »Also?«

Der Junge grunzt. Es klingt wie ein Ja.

Der Arzt nickt und legt einen Schalter an seinem Kasten um. Eine Leuchtdiode glimmt auf. Hinter einem Fensterchen klettert eine Nadel auf null.

Dann löst er den Stromstoß aus. Es knallt wie ein Schuss. Ein rauer Aufschrei entwindet sich der Kehle des Jungen. Seine Muskeln versteinern, sein Körper wird hart gegen die Riemen gepresst. Aber sie lassen dem Krampf keinen Spielraum.

Der Arzt verzieht das Gesicht. Er kann sich den Schmerz, den er zufügt, kaum vorstellen. Wieder betätigt er den Schalter. Der Körper des Jungen klatscht zurück auf die Pritsche, unter den Pflastern tritt verschmorter Blutsud hervor.

Der Arzt löst das Pflaster von der Zungenspitze des Jungen. Rohes Fleisch kommt zum Vorschein, an den Wundrändern haben sich Hitzeblasen gebildet. Statt die Zunge zurück in den Mund zu ziehen, lässt der Junge sie schlaff heraushängen. Er starrt dem Arzt ins Gesicht. Sein Atem geht jetzt pfeifend und stoßweise.

Der Arzt löst auch das andere Pflaster. Die Brustwarze scheint sich vollständig vom Körper gelöst zu haben und schwimmt auf einem blutigen Schweißfilm.

Der Arzt untersucht die Augen seines Opfers. Das Weiße ist von geplatzten Äderchen durchschossen. Er entnimmt der Schublade des Rolltisches ein Portionierfläschchen und träufelt dem Jungen ein wenig Flüssigkeit in die ausgetrockneten Tränenkanäle.

Florian Baumgartner atmete durch. Wie nannten sie das? Torture Porn? Das war alles, was David zu bieten hatte? Flo hasste diese Blut- und Gewaltorgien. Sie betäubten ihn, machten ihn stumpf im Kopf und gaben ihm das Gefühl, etwas Falsches zu tun, etwas Unrechtes. Etwas, wofür er sich schämen musste.

Wieder waren ein Knall, das Prasseln und Knistern aus den Lautsprechern zu hören. Der Arzt hatte einen neuen Stromstoß ausgelöst. Flo blickte zwar auf die Leinwand, aber er vermied es, sich auf die gezeigten Bilder zu konzentrieren.

Seine Gedanken schweiften ab. Für diesen Trash hatten sie all die Sicherheitsvorkehrungen getroffen? Er hatte sich für die Vorführung persönlich anmelden müssen und ein Passwort gemailt bekommen, das er hier am Eingang einem Türsteher aufsagen musste. Allein den Keller zu finden, in dem sie den Film zeigten, war eine Herausforderung gewesen. Ein heruntergekommenes Fabrikgebäude in Oberschöneweide, einer Gegend, in der er noch nie gewesen war.

Verstohlen blickte er sich im Halbdunkel des Raumes um. Im Widerschein der Projektion konnte er die anderen Zuschauer nur schemenhaft erkennen. Die meisten schienen zwischen dreißig und vierzig zu sein. Anzüge, Jeans, Mäntel, Pullover. Die Leute wirkten ganz normal, nicht wie Freaks auf der Suche nach einem verbotenen Kick. Aber das Publikum war ja auch handverlesen, vielleicht gab es in anderen Vorführungen ganz andere Leute.

Sein Blick wanderte zurück auf die Leinwand. Ihm fiel auf, dass die Bilder zwar den körnigen Look eines echten Zelluloidstreifens hatten, aber nicht von einem Filmprojektor auf die Leinwand geworfen wurden, sondern von einem Beamer, der auf einer kleinen Platte direkt unterhalb der niedrigen Decke angebracht war. Wenn das, was sie hier sahen, kein richtiger Filmstreifen war, sondern ein Video, eine avi-Datei oder sonst was, warum dann diese altmodische Vorführung in einer Art Kino, auch wenn es so etwas wie ein Geheimkino war? Warum wurden die Bilder nicht einfach im Internet gezeigt, geschützt durch ein Passwort – genauso wie hier–, aber mit viel geringerem Aufwand?

Florians Aufmerksamkeit wurde erneut vom Geschehen auf der Leinwand gefesselt. Das Bild begann zu flackern, Perforationslöcher blitzten auf, der Ton setzte aus. Im nächsten Augenblick war eine junge Frau im Bild zu sehen. Sie sprach direkt in die Kamera. »Die Aufnahmen aus der gekachelten Kammer, die Sie eben gesehen haben«, sagte sie, »stammen aus dem Behavior Research Center in Massachusetts, USA.Dort werden schwer erziehbare und autoaggressive Jugendliche mit Elektroschocks behandelt, damit sie sich nicht selbst verstümmeln. Eine umstrittene Praxis. Eine Praxis, die tödlich sein kann. Eine Praxis, an der nicht nur deutsche Ärzte, sondern auch deutsche Patienten beteiligt sind.«

Flo verschränkte die Arme. Waren die Aufnahmen wirklich echt? Oder war das nur ein Trick, um den Zuschauern einen besonders heftigen Schauer über den Rücken zu jagen? Aber es gab keine Schnitte in dem Filmmaterial, wie sollten das Blut und die Verletzungen des Jungen also getrickst worden sein? Waren die Bilder digital nachbearbeitet worden, damit man die Schnitte nicht mehr erkannte?

Erneut blendete der Film in den gekachelten Raum über. Die Elektroden waren diesmal an den Zähnen des Jungen befestigt. Der Mann rieb den Körper seines Opfers mit einem feuchten Waschlappen ab. Der Junge zitterte, das Wasser musste eiskalt sein. Mitfühlend sah ihm der Mann in die Augen. Der Junge versuchte erneut, etwas zu sagen. Dickflüssiges Blut, mit Speichel vermengt, rann ihm übers Kinn. In dem Blubbern war kein Wort zu verstehen.

In dem Moment öffnete sich eine Tür im Hintergrund des Raumes. Und die Frau, die eben zu den Zuschauern gesprochen hatte, betrat die gekachelte Kammer.

Flo zuckte zusammen. Hatte sie nicht eben gesagt, es seien Aufnahmen aus den USA? Und dieses Research Center soll einer Deutschen erlaubt haben, bei einer solchen Behandlung dabeizusein? Das Ganze war doch nichts anderes als eine hinterhältige Suggestion!

Er sah sich im Halbdunkel des Vorführraums um. Ihm war flau von den Bildern, er wollte sich setzen. Aber es gab weder Kinosessel noch Stühle in dem fensterlosen Kellerraum. Er hatte zwar gesagt, dass er sich die Vorführung ansehen würde. Aber warum sollte er sich das antun? Konnte er nicht einfach gehen, bevor er diese Bilder nie mehr aus dem Kopf bekam?

Auf der Leinwand war jetzt groß das Gesicht des Jungen zu sehen, der bleich auf der Pritsche lag – niedergepresst durch die Riemen, nass von dem Waschlappen, zitternd vor Kälte. Um seine Augen hatten sich schwarze Schatten gebildet. Der Arzt setzte ihm einen Becher an die aufgesprungenen Lippen. Die Flüssigkeit floss an den Drähten vorbei in den Mund, tropfte aus den Mundwinkeln heraus.

Der Ausschnitt weitete sich, und die Frau kam ins Bild. Sie nickte dem Mann im Kittel zu und wandte sich wieder an die Zuschauer. »Das hier ist kein Spielfilm und keine Aufzeichnung«, sagte sie, »sondern eine Übertragung übers Internet – und zwar live.«

Florian musste hart schlucken, in seiner Kehle klickte es. Eine Live-Übertragung? Hieß das, dass sie so lange weitermachten, wie hier im Raum Leute zusahen? Damit wollte er nichts zu tun haben! Fieberhaft begann er, mit den Augen das Halbdunkel nach dem Ausgang abzusuchen, durch den er verschwinden konnte. Erst jetzt sah er, dass einige Zuschauer bereits zu der schweren Eisentür strebten, durch die sie in den Keller hineingekommen waren, dass sie sich davor stauten, daran zu schaffen machten, vergeblich daran rüttelten. Flo fühlte Wut in sich aufsteigen. Was war hier los? Hatte man sie in dem Scheißkeller etwa eingeschlossen?

Da hörte er wieder die Stimme der jungen Frau von der Leinwand. »Die Übertragung, die Sie hier sehen, wird an ausgewählte Kunden verkauft. Teuer. Diskret. Und in erstklassiger Qualität. Normalerweise sind die Stromschläge um ein Vielfaches schwächer. Heute aber werden wir weitergehen als sonst.«

Flo blickte zurück auf die Leinwand. Was redete sie da? Was sollte das denn? Warum hörten sie nicht endlich auf, den armen Teufel auf der Pritsche zu quälen?

In dem Moment wechselte das Bild erneut. Eine Eisentür wurde auf der Leinwand sichtbar. Florian keuchte. Das war doch der Eingang, durch den er vorhin in den Keller gelangt war, in dem er sich gerade befand! Ein Mann war zu sehen, der vor der Eisentür auftauchte und dem Türsteher das Passwort nannte.

Flo prallte zurück. Der Mann – das war ja er! Es waren Aufnahmen von ihm vor fünfzehn Minuten, als er angekommen war, sein Passwort gesagt und den Keller betreten hatte! Sein Gesicht war deutlich zu erkennen!

Gleichzeitig hörte er die Frau sagen: »Heute werden wir in Bereiche vorstoßen, in die wir uns bisher nicht gewagt haben. Und zwar seinetwegen. Florian Baumgartner. Er ist unser bester Kunde. Er hat uns darum gebeten.«

Entsetzt schrie Flo auf. Was hatte er denn mit dieser entsetzlichen Übertragung zu tun? »Das stimmt doch gar nicht! Hören Sie auf! Ich will das nicht!« Laut dröhnte seine Stimme in dem niedrigen, stickigen Kellergewölbe, das im selben Augenblick in grelles, gleißendes Licht getaucht wurde – Licht aus Dutzenden von Neonröhren, die schlagartig an der Decke des Gewölbes aufflammten.

Geblendet riss Florian die Hände über die Augen, wollte sie abschirmen – und nahm gleichzeitig wahr, wie sich die anderen Zuschauer zu ihm umdrehten, wie sich Ekel und Empörung in ihrem Blick mischten. Sie glaubten der Frau!

Er wollte etwas sagen, sich verteidigen, das Missverständnis aufklären, doch sein Mund gehorchte ihm nicht. Die Blicke der anderen schienen ihn glatt zu durchbohren. Verzweifelt riss er seinen Mantel hoch, bis übers Gesicht, nur um sich vor diesen Blicken, vor diesem Licht zu verbergen – während gleichzeitig aus den Lautsprechern zu hören war, wie es erneut knallte und der Junge auf der Leinwand, von einem dritten Stromstoß durchzuckt, die Zähne so hart aufeinanderschlug, dass sie zersplitterten.

2

12Stunden vorher

Florian Baumgartner lag noch im Bett, als das Telefon klingelte. Er schlug die Augen auf. Sein Blick fiel auf den Radiowecker: kurz vor elf Uhr vormittags. Das dünne Laken klebte an seinem Rücken, er war völlig verschwitzt. Die Sonne brannte direkt auf die Fensterläden.

Wieder klingelte das Telefon. Hastig schlug er das Laken zurück und setzte sich auf. Er war erst spät eingeschlafen, hatte die halbe Nacht an einem Artikel gearbeitet, den er am Nachmittag abliefern musste.

Er griff nach der halbvollen Wasserflasche, die neben dem Bett auf dem Boden stand, nahm einen kräftigen Schluck und stand auf. Würde seiner Stimme anzuhören sein, dass er noch geschlafen hatte? Er räusperte sich kräftig und stakste vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, das er zugleich als Arbeitszimmer nutzte und in dem sich Bücher, Zeitungen und Magazine an den Wänden stapelten. Direkt vor dem Fenster stand sein Schreibtisch, auf dem – halb verdeckt von Rechnungen, Korrespondenzen und Merkzetteln – das Mobilteil seines Telefons lag und klingelte.

Flo griff danach und warf einen Blick aufs Display. Eine Nummer aus Deutschland, 004969, Frankfurt am Main. Ein gutes Zeichen. In Frankfurt saßen gleich zwei große Tageszeitungen, für die er ab und zu aus Spanien schrieb. Zwar nicht als fester Korrespondent, aber als freier Mitarbeiter, der sich unter den Redakteuren den Ruf erarbeitet hatte, der richtige Mann für die eher abseitigen Storys zu sein, für die Geschichten, die den festen Korrespondenten eher nicht so lagen.

»Baumgartner!«, bellte er ins Telefon, um seiner Stimme jede verdächtige Brüchigkeit zu nehmen.

»Florian?«, tönte es zurück. »Tut mir leid, hab ich… hab ich Sie geweckt?«

Flo spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Hölzemann. Einer der beiden Redakteure, genau, wie er vermutet hatte. Er versuchte, den Restalkohol abzuschütteln, der wie Spinnweben sein Hirn zu verkleben schien.

»Richard. Schön, von Ihnen zu hören.«

»Wie geht’s? Alles in Ordnung da unten?«

Hölzemann rief mit Sicherheit nicht an, um zu hören, wie es ihm ging, sondern weil er etwas von ihm wollte.

»Alles bestens. Ich habe gerade neulich an Sie gedacht.«

»Ach ja? Haben Sie wieder etwas für uns, Florian? Eine von Ihren Geschichten?«

Für einen Augenblick schwindelte ihn. Was konnte er Hölzemann anbieten? Die Sache mit den Katakomben? War das auch unverbraucht genug? Das Porträt des Marathonläufers? Interessierte das die Leute in Deutschland überhaupt? All die Ideen, die er seit Monaten für den Redakteur beiseitegelegt hatte, kamen ihm plötzlich nichtssagend und ausgelutscht vor.

»Hören Sie, Florian, Sie müssen mir unbedingt bei Gelegenheit davon erzählen«, fuhr Hölzemann zu Florians Erleichterung fort. »Heute bin ich jedoch derjenige, der etwas für Sie hat.«

Umso besser! »Schießen Sie los.«

»Mosbach. David Mosbach. Schon mal von ihm gehört?«

Florian musste lachen. »David? Na und ob! Wie kommen Sie denn auf den?«

»Sie sind befreundet, oder?«

»Ja, sicher.« Flo zögerte. Er hatte schon länger nichts mehr von David gehört.

»Ein Kollege sprach mich gestern an«, sagte Hölzemann. »Er will schon seit einiger Zeit etwas über Mosbach machen. Die Dreharbeiten zu seinem letzten Film haben ziemliches Aufsehen erregt.«

Flo merkte, dass er keine Ahnung hatte, wovon Hölzemann sprach. »Sein letzter Film?«

»Ja, ›Tabu‹. Hat er Ihnen nichts davon erzählt?« Hölzemanns Stimme klang ein wenig verzerrt. Die Verbindung war nicht besonders gut.

»›Tabu‹? Ist das nicht ein Film von Murnau?«

»Es ist nur der Arbeitstitel, der endgültige Titel steht noch nicht fest. Mosbach hat daraus ein großes Geheimnis gemacht.«

»Das sieht ihm ähnlich.«

»Diesmal scheint er es auf die Spitze getrieben zu haben. Die Arbeit an dem Film wurde streng überwacht und geheim gehalten. In Spanien haben Sie davon vielleicht nichts mitbekommen, aber hier in Deutschland war das in aller Munde. Es gab keinen Pressetermin während der Dreharbeiten. Niemand, der nicht unmittelbar gebraucht wurde, durfte ans Set. Bis heute hat kaum jemand etwas von dem Film gesehen. Aber es kursieren Gerüchte, dass die, die Ausschnitte vorab zu Gesicht bekommen haben – Sie wissen schon, Leute im Kopierwerk und so weiter–, dass die ziemlich verstört gewesen sein sollen.«

»Donnerwetter.«

Florian tigerte mit dem Telefon am Ohr im Zimmer auf und ab. Das hörte sich allerdings ganz nach David an.

»Mein Kollege arbeitet in der Feuilleton-Redaktion«, fuhr Hölzemann fort. »Er hat vor einigen Jahren schon einmal über Mosbach berichtet, aber diesmal steckt er fest. Keiner seiner Reporter kommt an Mosbach heran. Ich hatte ihm erzählt, dass Sie ab und zu für mich schreiben und dass Sie Mosbach noch aus Ihrer Jugend kennen. Deshalb sprach er mich an. Ob ich bei Ihnen einmal nachfragen könnte.«

Florian blieb stehen und starrte durch das Fenster auf die Straße. Was hatte er heute vor? Er musste seinen Artikel fertig schreiben und wollte Marisa treffen. Marisa sollte den Kontakt zu einer Frau herstellen, die angeblich einen deutschen Millionär kannte, der wilde Partys auf seinem Landsitz feierte. Florian hoffte, an einer der Partys teilnehmen und die Erlebnisse für eine Reportage verwenden zu können. Einen Titel hatte er schon: »High Life in La Mancha«. Na, klasse.

Hölzemann unterbrach seine Gedanken. »Passen Sie auf, hier ist mein Vorschlag. Sie nehmen den nächsten Flieger nach Berlin und versuchen etwas über Mosbachs Film herauszubekommen. Wenn das klappt, schreiben Sie einen Artikel darüber. Wenn nicht, machen wir eben eine Reportage, wie perfekt dieses Filmprojekt abgeschottet wird. Was halten Sie davon? In jedem Fall ziehen wir das Ding richtig hoch, vielleicht sogar als Titelgeschichte unserer Sonntagsbeilage. Schließlich handelt es sich nicht um irgendein Studentenfilmchen. Da steckt richtig Geld dahinter, das ist eine große Produktion.«

Florian starrte aus dem Fenster. »Ja, sicher.«

Er musste daran denken, dass die Anzahl der Aufträge, die er aus Deutschland bekam, in letzter Zeit stetig zurückgegangen war. Inzwischen hielten ihn vor allem seine Rücklagen über Wasser, und es war klar, dass das auf Dauer nicht gutgehen konnte. Aber so gern er auch einen Artikel bei Hölzemann platziert hätte – seit er wusste, dass er ihn auf David ansetzen wollte, war sein Arbeitseifer merklich abgekühlt.

»Trotzdem, ich weiß nicht, Richard…«

»Sie wissen nicht?« In Hölzemanns Stimme schlich sich eine Spur Ungeduld. »Was soll das heißen? Sie müssen mir schon sagen, ob Sie den Auftrag haben wollen oder nicht.«

»Ja, ja, nur, verstehen Sie, David ist… Er ist so etwas wie mein bester Freund, wir kennen uns seit über dreißig Jahren.« Flo nahm seine Wanderungen durch das Zimmer wieder auf. »Und ich habe nicht wirklich Lust, diese Freundschaft für einen Artikel aufs Spiel zu setzen, der am nächsten Tag wieder Altpapier ist.«

Hölzemanns Stimme wurde eindringlich. »Sie wissen doch, Florian, ein guter Artikel hält sich, auch wenn die Zeitung schon alt ist. Das hängt ganz allein von Ihnen ab. Machen Sie was draus! Was Großes meinetwegen! Sie haben von mir jede Unterstützung.«

Florian schwieg. Ihm war die ganze Sache nicht geheuer. In den vergangenen Jahren hatte er immer wieder gehofft, David würde sich mal bei ihm melden. Am Anfang hatte Flo noch von Madrid aus bei ihm angerufen. Aber auch das war inzwischen vorbei, und sie hatten lange nichts mehr voneinander gehört. Das war etwas, das ihn schmerzte, aber das ging auch nur ihn etwas an. Und ausgerechnet über David sollte er jetzt einen Artikel schreiben?

Durch die Leitung hörte er, wie Hölzemann sich eine Zigarette anzündete. »Es ist Ihre Chance, Florian. Glauben Sie mir, ich habe Sie immer gemocht. Aber die Sachen, die Sie uns liefern… Das ist nicht wirklich – wie soll ich sagen… nichts wirklich Weltbewegendes. Bisher jedenfalls nicht. Nehmen Sie’s mir nicht übel, ich bin sicher, Sie können es besser. Sie haben einfach noch nicht den richtigen Stoff gefunden. Ich habe schon mit vielen Autoren gearbeitet, fragen Sie die Kollegen. Nicht jeder kann alles. Die Mosbach-Story aber, die würde Ihnen liegen, da bin ich mir sicher. Wenn Sie eine Arbeit abliefern wollen, mit der Sie sich endlich einen Namen machen können – und ich weiß, es ist höchste Zeit bei Ihnen, ohne Ihnen zu nahetreten zu wollen–, dann sollten Sie diesen Job annehmen.«

Florian schwieg. Vor seinem geistigen Auge tauchte David auf an dem Tag, an dem sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Es musste acht oder neun Jahre her sein. Sie hatten sich abends auf ein Bier verabredet. Am nächsten Tag musste Florian nach Israel fliegen, es ging um eine langweilige Reisegeschichte aus Jerusalem. David war schwer beeindruckt gewesen, er wollte nichts davon wissen, dass Reisejournalismus irgendwie zweitklassig wäre. Im Gegenteil, wenn Flo das anpackte, würde mit Sicherheit etwas Besonderes daraus werden, davon war David überzeugt. Sagte er zumindest. Ja, es musste 1999 oder 2000 gewesen sein. Sie hatten bis tief in die Nacht darüber geredet, wie sie die Welt mit ihren Arbeiten erobern würden. Es war ein schöner Abend gewesen, voller Erinnerungen an vergangene Zeiten, aber auch voller Zuversicht, dass die Erwartungen, die sie in die Zukunft gesetzt hatten, nicht enttäuscht werden würden. Wobei David damals schon sehr viel überzeugter davon war als Florian. Was würde ihm David heute raten, fragte er sich. Den Artikel zu schreiben? Was würde David denn selbst machen?

Er wechselte den Hörer in die andere Hand. »Okay, Sie haben recht, Richard, ich mach’s.«

Hölzemann atmete hörbar aus. »Gute Entscheidung, Florian. Das wird eine große Sache. Ich freue mich auf den Artikel. Ich habe auch schon ein wenig recherchiert. Jetzt, wo Sie an der Sache dran sind, kann ich es Ihnen ja sagen.«

»Ja?«

»Seit ein paar Wochen kursieren Gerüchte«, fuhr Hölzemann fort, »es gebe außer ›Tabu‹ noch einen anderen neuen Film von Mosbach, der aber in keinem normalen Kino läuft. Angeblich wird er nur in irgendwelchen Kellern, in schwer zugänglichen Locations gezeigt, die auch noch ständig wechseln, damit die Behörden nicht dahinterkommen. Es heißt, man müsse persönlich eingeladen worden sein, um reinzukommen. Keine Ahnung, worum es in dem Film geht. Es sei keine so große Produktion wie ›Tabu‹, viel kürzer und billiger, und der Titel sei ›Audience‹, sagt man.«

Flo kniff die Augen zusammen. Plötzlich war er aufgeregt. Er hatte schon lange darauf gebrannt, endlich mal einen von Davids Filmen zu sehen. Aufgrund seines ständigen Herumreisens hatte er das bisher nie geschafft.

»Können Sie mir so eine Einladung besorgen, Richard? Das wäre sicher ein guter Aufhänger!«

»Ich spreche mit dem Kollegen, der mich auf Mosbach aufmerksam gemacht hat«, hörte er Hölzemann sagen. »Er mailt Ihnen eine Einladung weiter, dann brauchen Sie sich nur noch persönlich anzumelden. In Ordnung?«

Flo musste grinsen. Auf nach Berlin!

»In Ordnung.«

»Gut. Und ich sag meiner Sekretärin Bescheid. Die besorgt Ihnen Flug und Hotel.«

Flo nickte. »Okay.«

Er wollte das Gespräch beenden, aber da ergriff Hölzemann noch einmal das Wort.

»Und… Florian?«

Flo hielt den Hörer noch mal ans Ohr. »Was denn noch, Richard? Wenn ich heute Nachmittag nach Berlin fliegen soll, hab ich jetzt dringend ein paar Sachen zu erledigen.« Er hasste es, wenn Hölzemann am Telefon kein Ende fand.

»Es ist nur… Wissen Sie, Sie sollten das in Ihrem Artikel nicht überbewerten. Es ist auch noch nicht offiziell bestätigt, nur der Kollege von der Polizeiredaktion hat davon gehört, aber das kann sich von einem Tag auf den anderen auch wieder ändern…«

»Was denn, Richard, spucken Sie’s schon aus!«

»Ihr Freund… Mosbach… er ist vermisst gemeldet. Seit über zehn Tagen.«

3

Die beiden Düsentriebwerke der Boeing 737 heulten auf. Florian wurde leicht in seinen Sitz gedrückt. Der Flughafen Madrid-Barajas raste an seinem Fenster vorbei. Dann zog die Maschine in den strahlend blauen Himmel über der Stadt.

Flo griff nach der Mineralwasserflasche, die er sich noch gekauft hatte, und nahm einen Schluck. Er war froh, dass er den Flug noch erwischt hatte.

Nach Hölzemanns Anruf hatte er sich beeilen müssen. Er hatte den Artikel, an dem er schon seit Tagen gearbeitet hatte und für den er eigentlich noch hatte recherchieren wollen, zu Ende geschrieben und abgeschickt. Dann hatte er Marisa angerufen und ihr erklärt, dass er für ein paar Tage nach Berlin fliegen würde. Wann genau er wieder zurück sei, wisse er nicht. Da es nicht das erste Mal war, dass er für einen Artikel verreisen musste, hatte sie nicht groß nachgefragt. Schließlich hatte er seinen Kühlschrank ausgeräumt, die verderblichen Sachen weggeworfen und den Aluminiumkoffer gepackt, den er immer benutzte, wenn er auf Reportagereise ging. Am Flughafen war er erst kurz vor dem letzten Aufruf eingetroffen.

Florian schraubte die Wasserflasche wieder zu, steckte sie zurück in die Vordersitztasche und schloss die Augen. Vermisst gemeldet. Hieß das, dass er David vielleicht nie wiedersehen würde?

Das erste Mal waren sie sich begegnet, als sie beide noch Kinder waren. Erst wenige Tage zuvor war Florian mit seinen Eltern in die Kleinstadt gezogen, in der sein Vater eine Anstellung als Gymnasiallehrer bekommen hatte. Sie hatten eine schöne Wohnung in einem Mietshaus gefunden, an dessen Ecke sich eine Kneipe befand. Und diese Eckkneipe betrieb niemand anderer als Davids Vater, der mit seiner Familie – der Frau, den beiden Töchtern und David, dem Jüngsten – in der Wohnung über der Kneipe wohnte.

Zuerst begegnete Florian David nur hin und wieder im Treppenhaus. Eines Tages aber stellte sich heraus, dass sie beide in den letzten Monaten eine beachtliche Sammlung von Miniatursoldaten, Plastikpanzern und Modellflugzeugen aufgebaut hatten. Damals– Ende der Siebziger – haftete dem Spiel mit Armeen noch nicht der Ruch des politisch Unkorrekten an. Und so wurde die Passion der beiden Jungen von den Eltern auch gleichmütig hingenommen. Für David und ihn aber war dieser Zeitvertreib mehr als nur ein Spiel unter vielen. Für sie war es der Grundstein ihrer Freundschaft, denn es brachte die wunderbare Möglichkeit mit sich, nachmittagelang Truppen gegeneinander aufmarschieren zu lassen, Taschengelder in beliebiger Höhe für eine endlose Aufrüstungsspirale zu verschleudern und sich in immer ausgefeiltere Modellbautechniken zu versteigen.

Bald lernten sich auch ihre Eltern flüchtig kennen, teilten die Freundschaft der Söhne jedoch nicht. Denn immer wieder wurde gemunkelt, dass der alte Mosbach nicht nur trinken, sondern im Suff auch seine Frau schlagen würde. Mit solchen Leuten wollten die Baumgartners nun wirklich nichts zu tun haben. Flo aber empfand es als umso reizvoller, wenn David ihn zu sich einlud und sie auf Zehenspitzen durch die Wohnung schleichen mussten, weil der alte Mosbach noch schlief.

Unzertrennlich wurden sie jedoch durch etwas anderes. Und zwar durch ihre Begegnung mit der Welt des Kinos und der Filme – eine Begegnung, die ihr Leben von Grund auf verändern sollte. Natürlich war es David, der als Erster entdeckte, was für ein schier unüberblickbares Abenteuer-Universum sich einem eröffnete, wenn man die Welt des Kinos betrat. Schon immer war er derjenige, der ihren Spielen mit seinen Ideen neue Impulse verlieh, während Flo, der Ältere und Vorsichtigere, sich von Davids verrückten Einfällen gern anstecken ließ. So war er auch gleich Feuer und Flamme, als David vorschlug, Woche für Woche in die Lichtspielhäuser der Innenstadt zu pilgern, um dort ein neues Leinwandabenteuer in Augenschein zu nehmen, das den weiten Weg aus den Studios der Welt in ihre Stadt gefunden hatte. Es waren die Meisterwerke aus jenen Tagen, von »Krieg der Sterne« bis zu »Die durch die Hölle gehen«, die sie dort zu sehen bekamen und die dafür sorgten, dass der Zauber des Kinos sie bald fest im Griff hatte. Warum? Weil nichts von dem, was sie aus eigener Erfahrung kannten, mit den Gefühlen mithalten konnte, die sie packten, wenn die Heroen Hollywoods über die Leinwand tobten.

Stundenlang unterhielten sie sich nach einem Film über jedes Detail. Sie begannen mit der Schießtechnik des Helden, kamen auf die Gefahrensituation, die der Film heraufbeschworen hatte, streiften kurz die Frage, ob die Liebesgeschichte nachvollziehbar sei, und erörterten schließlich ausgiebig die Entscheidungen, mit denen sich der Held am Ende seinem Schicksal stellte. Ursprünglich hatten sie sich am liebsten die Klamotten von Bud Spencer und Terence Hill angesehen – mit dem Verstreichen der Jahre aber gewann ihr Geschmack an Profil. So schwärmte Florian später vor allem für Sergio Leones »Es war einmal in Amerika«, während David nicht genug von Ridley Scotts Science-Fiction-Schocker »Alien« bekommen konnte – obwohl es Monate dauerte, bevor er wieder ins Bett gehen konnte, ohne zuvor nachsehen zu müssen, ob sich darunter nicht doch das Monster aufhielt, das dem einen Kosmonauten direkt aus der Bauchhöhle geplatzt war.

Sicher, mancher Film war ein kläglicher Versager gewesen und hatte sie, statt sie in die unendlichen Weiten des Vorstellbaren zu entführen, in die helle Welt des Alltags mit dem schalen Gefühl entlassen, einem Stümper dabei zugesehen zu haben, wie er die sakrosankten Instrumente der Magie entweihte. Wenn der Zauber aber funktionierte, dann nahm die Filmerzählung sie auf ihre Schwingen und mit hinauf in solch luftige Höhen, dass es ihnen glatt den Atem verschlug. Genau diese Höhenflüge – das war es, womit sie ihr Leben verbringen wollten! Keine andere Vision konnte da mithalten.

So war es nur ein logischer nächster Schritt, als David auf die Idee kam, selbst Filme machen zu wollen. Und diese Idee war so zwingend, dass Flo nie so recht wusste, was er dem entgegensetzen sollte. Erst als sich herausstellte, dass David nichts dagegen hatte, wenn auch Flo sich diesem sagenhaften Projekt verschrieb, fand seine halbherzige Suche nach einer Alternative ein Ende. Genau wie sein Freund David wollte er dies und nichts anderes machen: Filme! Was für ein großartiger Einfall!

Mit dem Abitur in der Tasche stand ihr Ziel also fest. Filme konnte man nicht nur sehen, man konnte sie auch drehen. Und das war für sie mehr als nur ein Berufswunsch – es war eine regelrechte Mission! Eine Lebensaufgabe, der sie sich stellen wollten, koste es, was es wolle. Bald allerdings zeigte sich, dass es sehr viel schwieriger war, dieses Ziel zu erreichen als es ins Auge zu fassen. Denn die beiden Filmschulen, die es damals in Deutschland gab, in München und in Berlin, wollten sie erst zur Bewerbung zulassen, wenn sie mindestens einundzwanzig Jahre alt waren.

So zogen sie erst einmal nach Berlin, um dort ein Studium zu beginnen, bis sie alt genug waren, um sich an den Akademien bewerben zu können. Sie mieteten gemeinsam eine Wohnung, arbeiteten nebenher, um ein wenig Geld zu verdienen, und trieben sich an der Uni herum. Bald bildete sich ein kleiner Kreis Gleichgesinnter um sie herum, mit denen sie bis tief in die Nacht über Filme, Filme und nochmals Filme diskutierten. Das alles vermochte jedoch nicht das bedrückende Gefühl zu vertreiben, dass sie letztlich ihre Zeit nur vergeudeten, solange sie sich nicht endlich ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Filmemachen, zuwandten.

Kurz nach dem Mauerfall war es dann so weit, und sie begannen, an ihren Bewerbungen für die Akademien zu feilen. Lange genug hatten sie über Filme geredet – jetzt war der Zeitpunkt gekommen, zu beweisen, dass sie auch das Zeug dazu hatten, selbst welche zu schaffen. In gewisser Weise war es die Stunde der Wahrheit, und nur einer von ihnen hatte das Glück, sie zu meistern: David. Er wurde genommen, Florian nicht.

Von da an hatten sich ihre Lebenswege, die so lange so eng miteinander verwoben gewesen waren, voneinander entfernt. Denn während David an der Berliner Akademie begierig alles über das Filmemachen lernte, musste Florian plötzlich erkennen, dass er sich nie gefragt hatte, was er mit seinem Leben eigentlich anfangen wollte, wenn das mit dem Filmen nicht klappte. So zögerte er nicht, einen Artikel für eine Lokalzeitung zu schreiben, als sich ihm die Gelegenheit dafür bot. Sein Text gefiel der Redaktion gut, und bald arbeitete er fleißig als freier Reporter für das Blatt.

So vielversprechend seine Laufbahn als Journalist auch begonnen hatte, mittlerweile war er Ende dreißig und konnte nicht länger die Augen davor verschließen, dass er sich in einer Sackgasse befand. Dass er bereits in den neunziger Jahren nach Spanien gezogen war, um von dort aus für deutsche Zeitungen zu berichten, hatte daran nichts geändert. Nach wie vor musste er mindestens einmal im Jahr bangen, ob er mit seinen Artikeln auch genug Geld zusammenbekommen würde, um davon zu leben. Wie lange konnte das wohl noch gutgehen? Das hatte er sich schon oft gefragt, und das fragte Flo sich auch diesmal, als er mit geschlossenen Augen auf seinem Flugzeugsitz saß und über den Wolken Richtung Berlin raste.

Er solle sich einen Namen machen, hatte Hölzemann vorhin zu ihm gesagt. Florian hatte zwar keine Lust, aus einem Artikel über David einen persönlichen Vorteil zu schlagen. Dafür war ihm ihre alte Freundschaft nach wie vor viel zu teuer. Aber er könnte doch einen Artikel schreiben, der dem Freund gar nicht schaden würde – überlegte er. War es nicht höchste Zeit, dass er eine Titelgeschichte bei Hölzemann unterbrachte? Das wiederum würde weitere, spannendere Aufträge nach sich ziehen, sodass er in einigen Monaten – wenn alles gutging – endlich auch wieder aus Spanien nach Deutschland zurückkehren könnte, bevor er dort gänzlich den Anschluss verpasste.

So dachte er. Und hatte dabei völlig verdrängt, dass er ursprünglich aus einem ganz bestimmten Grund aus Deutschland fortgezogen war. Aus einem Grund, der unmittelbar mit dem Auftrag zusammenhing, den er gerade angenommen hatte.

4

Es war bereits dunkel, als Florians Maschine in Berlin-Tegel landete. Das Flugzeug war halb leer gewesen, so dass es nicht lange dauerte, bis er seinen Alukoffer vom Gepäckband nehmen und Richtung Ausgang streben konnte. In der Haupthalle glaubte er für einen Moment zu bemerken, dass eine junge Frau ihn beobachtete. Da er jedoch nicht erwartete, abgeholt zu werden, achtete er nicht weiter darauf und trat ins Freie. Es pfiff ein eisiger Wind. Er schauderte. Solche Temperaturen kannte man in Spanien nur aus dem Kühlhaus.

Wenig später saß er in einem Taxi und rauschte über die Stadtautobahn Richtung Zentrum. Hölzemanns Sekretärin hatte ihm ein Zimmer im Savoy in der Fasanenstraße reserviert. Das war zwar nicht das Kempinski, aber Florian mochte das Hotel. Es lag in Charlottenburg, dem Bezirk, der ihm von allen immer der liebste gewesen war.

Alles ging glatt. Im Savoy wurde er erwartet, und man hatte ein schönes Zimmer für ihn vorbereitet. Der Boy wuchtete den Koffer auf die Ablage, grinste, als Flo ihm ein Trinkgeld in die Hand drückte, und ließ ihn mit einem freundlichen »Schönen Abend noch« allein.

Florian atmete aus. Erst jetzt spürte er, wie anstrengend die Reise gewesen war. Er trat an das Fenster und öffnete es. Direkt gegenüber befand sich das Delphi-Kino, in dem er schon als Student die neuen Woody-Allen-Filme gesehen hatte.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Um elf hatte er sich mit Walter verabredet, Walter Kunert. David und Flo hatten Walter vor etlichen Jahren gemeinsam an der Universität kennengelernt. Flo hatte ihn noch von Madrid aus angerufen und zu einem späten Abendessen eingeladen. Walter war zwar erstaunt gewesen, so plötzlich von Flo zu hören – sie hatten sich bestimmt seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen–, aber er hatte die Einladung gern angenommen.

Jetzt war es kurz vor acht. Vor seiner Verabredung mit Walter blieb ihm also noch genug Zeit, um die Vorführung von »Audience« aufzusuchen, bei der er sich über Hölzemanns Kollegen angemeldet hatte. Der Film sollte um neun beginnen, in einem Fabrikkeller in Oberschöneweide, wie der Mail zu entnehmen gewesen war, die er weitergeleitet bekommen hatte.

Er schloss das Fenster und machte sich auf den Weg.

***

In der Ferne hörte er das Brausen der Stadt. Über ihm wölbte sich der Nachthimmel des winterlichen Berlin. Die Kälte umklammerte sein Gesicht, seine Beine zitterten. Er musste sich setzen! Im selben Augenblick zog sich sein Magen zusammen. Er keuchte, beugte sich nach vorn, bekam die Mauer des verlassenen Fabrikgebäudes zu fassen, aus dem er gerade herausgetreten war, und erbrach das Mittagessen, das er im Flugzeug serviert bekommen hatte, auf das Pflaster des Gewerbehofs. Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann war es vorbei. Er spuckte mehrfach kräftig aus, richtete sich wieder auf und wischte sich mit einem Papiertaschentuch den Mund ab.

Der unerwartete Anruf Hölzemanns, die überstürzte Abreise aus Madrid, die entsetzlichen Bilder von dem Jungen auf der Pritsche und nicht zuletzt der Schock, als sein Name genannt und sein Bild gezeigt worden war, obwohl er mit dem Grauen auf der Leinwand nun wirklich nichts zu tun gehabt hatte – all das war entschieden zu viel auf einmal gewesen.

Florians Blick schweifte über den Gewerbehof. Ihm gegenüber befand sich der Eingang, durch den man hinaus auf die Straße gelangte. Zu seiner Rechten erstreckten sich verlassene Lagerhallen und verwahrloste Schuppen, zu seiner Linken wurde der Hof durch eine zum Teil eingestürzte Brandmauer begrenzt. Mit noch unsicheren Schritten begann er, an dem Fabrikgebäude vorbeizugehen, in dessen Keller bis vor wenigen Minuten die »Audience«-Vorführung gelaufen war. Ein schwarzes Schimmern hatte durch eine Öffnung der Brandmauer hindurch seine Aufmerksamkeit erregt. Als er an dem Fabrikgebäude vorbei war, sah er es. Direkt dahinter wälzte sich die Spree durch die Nacht. Er ging um das Gebäude herum, entdeckte eine Laderampe, die die Fabrik mit dem Flussufer verband, ließ sich darauf nieder und starrte erschöpft in den schweigend dahinfließenden Strom.

Nur Sekunden, nachdem im Keller das Licht angegangen war, war die Tür entriegelt worden. Die Moderatorin und der Mann im weißen Kittel, die im Film zu sehen gewesen waren, waren hereingekommen, um die verstörten Zuschauer zu beruhigen. Aufgebracht hatten die Menschen sie zur Rede gestellt. Was für Aufnahmen waren das gewesen? Eine Übertragung? Eine Aufzeichnung? Ein Spielfilm? Was?!

Die Moderatorin hatte sie aufgeklärt: Selbstverständlich seien die Aufnahmen nur Special Effects gewesen, und dem jungen Schauspieler, der die Rolle des Opfers übernommen hatte, sei kein Haar gekrümmt worden. Auch dass ein bestimmter Zuschauer verantwortlich gemacht worden sei, habe natürlich zur Vorführung gehört. Bei jedem Screening treffe es einen anderen Teilnehmer aus dem Publikum. Aufgrund der persönlichen Anmeldung und Einlasskontrolle verfüge der Veranstalter ja über Foto und Namen jedes einzelnen Zuschauers. Wer sich auf »Audience« einlasse, erwarte schließlich eine ganz besondere Erfahrung. Sie hoffe, die Zuschauer nicht enttäuscht zu haben.

Während alle anderen auf die Frau eingeredet hatten, hatte Florian sich zurückgehalten. Der Schock war tiefer gedrungen, als er sich das hatte anmerken lassen wollen, und er hatte nur noch einen Wunsch gehabt. Weg von diesen Leuten! So war er der Erste gewesen, der den Keller verlassen hatte.

Florian starrte in den Fluss. Das also hatte David aus ihren früheren endlosen Gesprächen über Filme gemacht? Florian musste zugeben, dass die Bilder eine beträchtliche Wirkung auf ihn gehabt hatten – aber um welchen Preis? Gab es etwas, das solche Bilder hätte rechtfertigen können? Was wollte David denn mit dem Schock erreichen, den der Film bei jedem Zuschauer auslösen musste? Ging es ihm nur darum, die Leute aus dem sicheren Dunkel des Kinosaals heraus ins Licht zu zerren? Und zwar genau dann, wenn es ihnen am Unangenehmsten sein musste? Ging es ihm darum, die Scham des ertappten Zuschauers auf die Spitze zu treiben? Aber wieso?

Flos Blick fiel auf einen Wasserhahn, der neben der Rampe an einem Rohr angebracht war. Er stand auf und drehte daran. Klares, eiskaltes Wasser schoss auf das Pflaster. Er stellte sich breitbeinig davor, schöpfte das Wasser mit den Händen, wusch sich das Gesicht und spülte den Mund aus. Dann trank er in langen Zügen.

Erfrischt drehte er den Hahn wieder zu. Die Moderatorin, der Mann im Kittel, der Türsteher – mussten sie nicht, direkt oder indirekt, mit David in Verbindung stehen, wenn er wirklich derjenige war, der sich hinter dieser Veranstaltung verbarg? Er musste sie zur Rede stellen!

Mit schnellen Schritten ging er um das Fabrikgebäude herum wieder zurück zum Eingang, durch den er es verlassen hatte. Wie lange hatte er auf der Laderampe gesessen? Zehn Minuten? Fünfzehn? Er betrat das Gebäude, eilte durch die Eingangshalle zum Treppenhaus und begann, die zum Teil gesprungenen Betonstufen hinabzusteigen. Außer seinen Schritten war nichts zu hören. Von einem unguten Gefühl getrieben, hetzte er in den Gang, in den die Treppe mündete und von dem die Eisentür in den Vorführraum abgegangen war. Fahl fiel das Licht der Laterne, die auf dem Gewerbehof stand, durch die kleinen, vergitterten Fenster des dämmrigen Korridors. Schon konnte er die Eisentür an seinem Ende erkennen. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und riss sie auf.

Schwarz und verlassen gähnte ihn der Kellerraum dahinter an.

»Scheiße!«, entfuhr es ihm, und seine Stimme brach sich dumpf in dem niedrigen Gewölbe.

Hatte er sich in der Tür geirrt? Aufgeregt schlug er sie wieder zu und suchte mit den Augen den halbdunklen Gang nach einer weiteren Tür ab. Aber es gab keine. Wieder griff er nach der Klinke und drückte sie hinunter. Kein Zweifel. Dies war die Tür, durch die er vorhin in den Vorführraum getreten war. Genau hier hatten sie das Bild von ihm gemacht, das sie am Ende des Films gezeigt hatten!

Er zog die Tür wieder auf und tastete sich in den Raum dahinter. Unter seinen Fingern löste sich feuchter Putz von der Wand und rieselte zu Boden. Er meinte noch den Schweißgeruch wahrnehmen zu können, den die Zuschauer hinterlassen hatten. Sehen aber konnte er nichts – der Schein der Laterne auf dem Hof reichte nicht weit genug.