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Eigentlich wollten Aaron und Andreas nur gemeinsam ihren Urlaub an der Nordseeküste verbringen. Doch statt Sonne und Strand finden sie sich in einem Albtraum wieder. Sie durchleben »Die sieben Tage des Meermanns« Diese und acht weitere gruselige Geschichten finden sich in diesem Sammelband. Gespenster, Gremlins, Werwölfe und andere spukhafte Gestalten geben sich ein Stelldichein. Wahnsinn und Wirklichkeit verschwimmen miteinander. "Gutes Buch!" - Martina Kald, Verlegerin "Die Geschichten machen mich traurig, aber sie berühren mich und darauf kommt es an." - Mike Gorden, Schriftsteller Content Notes: Wahnsinn, Albträume, Fesseln, Gefangenschaft, Gewalt, Tod, Mord, übernatürliche Erscheinungen
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Impressum
Texte: © 2022 Manuel Bianchi
Umschlag: © 2022 @betibup33
TestleserInnen: Martina Kald, Janine Janneck, Mike Gorden
Verantwortlich für den Inhalt: Manuel Bianchi, Wilhelm-Raabe-Str. 2b, 21680 Stade
Email: [email protected]
Manuel Bianchi ist Mitglied im BVjA und im Selfpublisher-Verband.
Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Liebe LeserInnen,
Das Buch, das Sie hier in Händen halten, hat eine lange und wechselvolle Geschichte hinter sich. Angefangen hatte es mit vier Kurzgeschichten, die ursprünglich für einen Storywettbewerb auf Englisch verfasst wurden.
Doch damit war die Geschichte dieser Geschichten noch nicht zu Ende.
Ich übersetzte sie ins Deutsche, überarbeitete sie ein erstes Mal. Dann kamen mir noch mehr Ideen für Geschichten. Und was angefangen hatte mit einer verfluchten Kamera wuchs sich aus zu einem ganzen Universum, einem Panoptikum gruseliger Figuren.
Viele dieser Figuren finden sich in den Geschichten in diesem Buch wieder. Und für die meisten von ihnen habe ich noch mindestens eine Handvoll Ideen in meinem Kopf, für weitere Stories.
Erkunden Sie mit mir dieses neue Gruselversum. Seien Sie willkommen in der Welt von
»de occultis«
Dieses Buch besteht aus drei Teilen.
Teil 1 ist die neue Kurznovelle
»Die sieben Tage des Meermanns«.
Teil 2 enthält die ursprünglich auf Englisch verfassten Kurzgeschichten um die »verfluchte Kamera« sowie eine weitere Kurzgeschichte und eine verknüpfende Rahmenhandlung.
Teil 3 enthält drei weitere Kurzgeschichten, in denen jeweils eine »Camera Obscura« eine entscheidende Rolle spielt, auch hier in eine verbindende Rahmenhandlung eingewoben.
Prolog
Drei Wagen hielten nebeneinander auf dem Kiesplatz an, der einer Gruppe von Ferienhäusern als Parkplatz diente. Ihre Kofferräume quollen über mit Gepäckstücken voller Klamotten und Kisten mit Lebensmitteln, die die Urlauber vorsorglich aus Deutschland mitgebracht hatten. In den Ferienhäusern waren sie eh Selbstversorger. Und Lebensmittel waren nun mal teuer in Dänemark.
Aaron wäre fast nicht mitgekommen. Sein Freund und Kollege Christian Vorbeck musste mit Engelszungen auf ihn einreden, damit er sie in diesen Urlaub begleitete. Er sah ein, dass er, wie jeder Mensch, ein wenig Erholung benötigte. Allerdings war Jütland, die dänische Halbinsel nördlich von Schleswig-Holstein wie ein rotes Tuch für ihn. Zumindest dieser eine Ort, hoch im Norden, von dem er nicht mehr sprechen wollte.
Vejer's Strand, wo sich ihr Ferienhaus befand, lag weiter südlich als dieser eine Ort. Ein kleines, verschlafenes Nest, das noch ein wenig von den Touristenmassen verschont geblieben war.
Aaron hatte kein eigenes Auto, also hatte er für die letzten Stunden auf dem Rücksitz hinter Irene und Christian Platz genommen. Ihn kannte er seit der Polizeischule. Sie waren beide zusammen in einer Abschlussklasse gewesen. Danach zog es Aaron nach Süddeutschland. Er konnte selbst nicht mehr sagen warum. Für seine Karriere und sein Seelenheil war dieser Ausflug nach Nürnberg nicht gerade förderlich gewesen. Deswegen war Christian jetzt, nach seiner Rückkehr zur Bremer Kriminalpolizei, auch sein Vorgesetzter. Sie teilten sich ein Büro, waren ein Ermittlerteam und arbeiteten kollegial zusammen. Doch am Ende traf Christian die wichtigen Entscheidungen. Und stand in der Schusslinie, wenn mal was falsch lief. Es hatte auch seine Vorteile, wenn man nicht ganz oben auf der Karriereleiter stand. Man konnte es sich während einer fünfstündigen Autofahrt auf der Rückbank eines neuen Mercedes Kombi gemütlich machen, während der eigene Vorgesetzte den Fahrer machte.
Das zweite Auto, das auf dem Kiesplatz vor dem Haus abgestellt wurde, gehörte der Chefin des pathologischen Instituts in Bremen, Dr. Martina Meyerholz. Ein roter Zweisitzer mit schwarzem Stoffverdeck. Sie war kein Familienmensch. Trotzdem hatte sie ihren Freund mitgebracht. Mario Maynz, ein junger Polizist. Sie hatten sich kennengelernt, als Mario für eine bundesweit agierende Sonderkommission wegen eines Mordfalls in der Hansestadt ermittelte. Auf den ersten Blick gaben sie ein merkwürdiges Paar ab. Doch aus nicht ersichtlichen Gründen schien es zu funktionieren zwischen den beiden.
Im dritten Auto saßen Mark und Philipp. Sie waren keine Polizisten. Aaron hatte sie in der Szene kennengelernt. Die beiden rundeten die gemeinsamen Pokerrunden ab. Es war ganz angenehm, dass sie nicht alle beruflich mit Strafverfolgung zu tun hatten. Von den zweien stammte die Idee zu einem gemeinsamen Urlaub. Lange Spaziergänge am Strand, abends Karten spielen, die Seele baumeln lassen. Doch als Aaron die Wagentür öffnete und das erste Mal seit Jahren dänischen Boden betrat, spürte er die dunkle Wolke aus bösen Erinnerungen über sich schweben.
Aus den drei Autos entfaltete sich die Reisegemeinschaft. Ein gutgelauntes Stimmengewirr pries die Seeluft, bewunderte das Haus, freute sich auf den Whirlpool. Gemeinsam entluden sie alle ihr Gepäck aus ihren Vehikeln und nahmen das Haus in Beschlag, in dem sie die nächsten zwei Wochen verbringen würden.
»Okay, wie machen wir das mit den Zimmern?«, fragte Martina.
»Also«, setzte Philipp an, »du und Mario, ihr nehmt das Zimmer am Ende des Ganges. Da kriegen wir am wenigsten davon mit, was ihr des Nachts so treibt.«
»Ha! Ha!«, blaffte Mario, während er eine Einkaufskiste voll mit Lebens- und Putzmitteln auf dem Küchentisch abstellte.
»Das Zimmer hier hat nur ein Etagenbett«, hörten sie Marks Stimme aus einem der angrenzenden Räume.
»Kein Problem, das nehme ich dann«, wandte Aaron ein. »Ich bin ja auch als einziger allein hier.«
Insgeheim freuten sich alle anderen, dass er sich opferte. Nach ein paar weiteren Minuten waren die anderen Schlafzimmer auf die anderen drei Paare verteilt (Mario und Martina hatten tatsächlich das Zimmer am Ende des Ganges in Beschlag genommen), die Lebensmittel im Kühlschrank verstaut und das Haus bis in den letzten Winkel inspiziert. Das große Badezimmer hatte einen Whirlpool und das Wohnzimmer, das immer im Katalog geräumiger aussah als in Wirklichkeit, hatte einen Kaminofen, über dessen Ökobilanz sich in den nächsten vierzehn Tagen niemand Gedanken machen würde.
Das Haus war auf zehn Personen ausgelegt, trotzdem wirkte das Wohnzimmer ziemlich voll, als sich alle nach der Auspackorgie in den diversen Sitzgelegenheiten niederließen, die rund um den Kamin angeordnet waren. Christian kam als letzter zu der Runde und brachte ein Tablett mit vollen Whiskygläsern mit, die er in der Runde verteilte. Für ihn war kein echter Sitzplatz mehr übrig. Irene klopfte auffordernd auf ihre Seite des Sessels und er machte es sich auf ihrer Sessellehne bequem.
»Und so verbringt ihr immer euren Urlaub?«, sprach Mark die beiden an.
»Wir waren schon öfter hier, aber das letzte Mal ist schon eine Weile her«, sagte Irene.
»Wir haben Jahre gebraucht, um Aaron dazu zu kriegen, mit uns zu kommen«, ergänzte Christian. »Er hat sich lange Zeit gesträubt. Aber wir haben ihn am Ende doch weichgeklopft.«
»Mit unserer aller Hilfe«, rief Martina und hob ihr Glas. Alle anderen erwiderten ihren Toast mit einem halblauten »Hört, hört!«. Nur Aaron blieb still, während er sein Glas hochhob. Er nahm einen großzügigen Schluck von dem Whisky. Aaron hoffte, dass das Thema damit durch war. Doch als er sah, wie sich Mark auf dem Sofa aufmerksamkeitsheischend nach vorne beugte und einmal in die Runde blickte, wusste er, dass es nicht vorbei war. Dass die anderen es nicht einfach dabei belassen würden.
Warum wollte Aaron Weißhaupt, der harte Kriminalpolizist, nicht in Dänemark, dem Kuscheltier unter den Urlaubsländern, Urlaub machen? Was konnte so furchteinflößend sein an der Westküste Jütlands?
Dann fing Mark an zu reden: »Ich weiß ja nicht, wie es mit euch und eurer Neugierde bestellt ist. Oder vielleicht gehört ihr ja zu den Eingeweihten. Aber ich habe Philipp gefragt, der hatte keine Ahnung. Mario weiß auch von nichts, aber er ist der Neue in der Runde.«
Martina lachte leise ob dieser Bemerkung. Schließlich war sie es, die ihren jungen Freund in die Pokerrunde eingeführt hatte. Seitdem war Mario ›der Neue‹.
»Aber ich würde zu gerne wissen, warum es so schwierig war, dich zu überreden, hierher in den Urlaub zu fahren«, wandte sich Mark direkt an Aaron. »Welche Geister plagen dich, denkst du an Dänemark in der Nacht?«
Ein Lachen ging durch die Runde. Selbst Aaron musste schmunzeln, obwohl er nicht wirklich in der Stimmung war.
»Du musst niemandem hier was erzählen, Aaron«, sprach Christian ihn direkt an, während er sein leeres Glas auf den gläsernen Couchtisch stellte.
Marks Blick ging zwischen Christian und Aaron hin und her. »Das heißt, du weißt, was ihm passiert ist.«
Christian zuckte mit den Schultern. »Ich kenne nicht alle Einzelheiten. Doch wenn du es so ausdrücken willst, ich weiß Bescheid. Irene auch.« Sie nickte, wie um die Aussage ihres Ehemanns zu bestätigen. Dann ging der Tumult los. Stimmen riefen durcheinander. Halb scherzhaft, dass es unfair sei, dass einige Bescheid wussten, andere nicht.
Nach einer Weile hatte Aaron genug.
»Jetzt macht mal alle halblang!«, rief er sie zur Ordnung. Überraschenderweise reagierten sie tatsächlich und beruhigten sich. Alle Blicke gingen zu Aaron.
Er atmete tief durch. »Wenn ich einmal anfange, euch alles zu erzählen, dann gibt es kein Zurück mehr. Ich werde euch diesen Urlaub vermiesen. Wollt ihr das wirklich?«
Philipp lachte. »Jetzt sind wir schon so weit. Wir sind alle neugierig. Wir alle wollen es hören. Zumindest diejenigen von uns, die nicht eh schon alles wissen.«
Die anderen nickten. Auch Irene und Christian nickten Aaron aufmunternd zu.
»Okay, ihr habt es nicht anders gewollt. Aber bevor ich anfange mit meiner Geschichte, brauche ich noch etwas mehr von dem Whisky. Denn ohne Alkohol werde ich es selbst nicht durchstehen.«
Ohne zu zögern stand Christian auf und nahm Aarons Glas mit in die Küche, um es aufzufüllen. Als er mit dem vollen Glas zurückkam, fing Aaron an zu erzählen.
Tag 1
Andreas und ich machten unseren ersten Pärchenurlaub. Wir entschieden uns für ein Ferienhaus im Norden Dänemarks. Immer noch an der Westküste, aber hoch im Norden. Der Ort hieß Vorupør und war ein absoluter Geheimtipp. Eigentlich verirrten sich nur eine Handvoll Surfer dorthin. Es blies ein nahezu stetiger Wind von der Nordsee an die Küste und die Wellen waren höher als an anderen Orten. Zumindest war es das, was uns erzählt wurde.
Wir mieteten ein Haus, das eigentlich groß genug für sechs Urlauber gewesen wäre. In der Öffentlichkeit waren wir beide noch sehr vorsichtig miteinander. Insbesondere in einem fremden Land. Angeblich waren die Leute in Skandinavien sehr fortschrittlich. Auf der anderen Seite galt die dänische Halbinsel als tiefste Provinz. Also hielten wir uns zurück.
Die Hinfahrt kostete uns sieben Stunden. Wir waren jedoch früh genug losgefahren, sodass wir noch etwas vom Tage übrig hatten.
Der kleine Küstenort war noch wesentlich winziger, als wir erwartet hatten. Von der Hauptstraße gingen ein paar kleinere Straßen ab, an denen großzügig verteilt ein paar wenige Ferienhäuser standen. Die Hauptstraße führte direkt zum Ortskern, der sich als ein kleiner Parkplatz direkt vor dem Deich entpuppte, um den sich die wichtigsten Geschäfte versammelt hatten. Ein Restaurant mit einfacher Küche für die Touristen, ein Laden mit Nippes für Touristen, ein Aquarium oder Museum, das man in dieser Größe so wahrscheinlich nicht vermutet hätte. Und wenn ich groß sage, dann meine ich, es war klein. Auf der anderen Seite des Parkplatzes befand sich ein Geschäft für Surfzubehör, das grösser war.
Direkt neben dem Parkplatz war die Deichschart, die breit genug für große Fahrzeuge war. Wir stellten das Auto ab und gingen zu Fuß in Richtung Strand. Sobald wir das klimatisierte Cockpit hinter uns ließen, wehte uns die salzgeschwängerte Seeluft um die Nase. Sobald wir die breite Lücke im Deich durchquert hatten, präsentierte sich uns eine weitere Reihe mit Geschäften, die uns redlichen Besuchern das Geld aus der Tasche ziehen wollten. Die obligatorische Strandkneipe war berstend voll, selbst die Tische im Außenbereich waren nahezu komplett belegt. Auch die anderen Ladenlokale konnten sich nicht über mangelndes Publikum beschweren. Über den Strand verteilt konnte man mehrere Gruppen von Spaziergängern entdecken, die alle auf ihre Weise Wind, Wetter und Landschaft genossen.
Direkt neben der Ladenzeile schloss sich ein langer Pier an, der weit in die Wellen hineinführte. Auf der anderen Seite dieses Piers lagen ein paar Fischerboote direkt am Strand. Wir fragten uns beide, ob diese Boote wirklich in Gebrauch waren, oder ob sie nur der Folklore und der Touristik dienten.
Andreas schlug vor, bis zum Ende des Piers zu gehen. Das ganze Ding bestand aus einer massiven Betonkonstruktion, auf beiden Seiten flankiert von nahezu zyklopischen, ebenfalls in Beton gegossenen Wellenbrechern. Das Pier war breit genug, dass eine ganze Bilderbuchfamilie nebeneinander darauf entlang flanieren konnte. Am Ende erweiterte es sich noch zu einer quadratischen Aussichtsplattform, auf der nur eine nicht sehr vertrauenerweckende Metallkette den unvorsichtigen Touristen vom Meer trennte. Jede dritte Welle sorgte für eine sich hoch auftürmende Fontäne, die die Plattform, und alle, die sich darauf befanden, überschwemmte.
»Komm schon«, sagte Andreas und zeigte mir sein freches Grinsen, in das ich mich schon bei unserem ersten Treffen verliebt hatte. »Du bist doch nicht aus Zucker!«
Dann drehte er sich um und stolzierte in Richtung der Aussichtsplattform. Ich folgte ihm mit einem gewissen Abstand. Die Gehwegplatten auf dem Pier waren zum Teil nass von den hereinbrechenden Wellen. Andreas schien das nicht zu kümmern. Ab und zu rutschte er aus, konnte aber jedes Mal sein Gleichgewicht halten. Er lachte nur und ging dann weiter. Ich war ein wenig vorsichtiger mit meinen Schritten, was den Abstand zwischen uns eher noch vergrößerte.
Andreas betrat die Aussichtsplattform, ohne auf mich zu warten. Es war, als würde er darauf warten, dass die nächste große Welle an der Kaimauer zerschellte und die nassen Trümmer, in die die Welle zerstob, ihn gewissermaßen tauften, ihn reinigten von allen Sünden. Mit anderen Worten, lachend breitete er die Arme aus und posierte, wie in dem Titanic-Film. Er jauchzte, als die Welle über ihn kam. Ich hielt mich noch ein wenig fern von der Plattform. Erst als Andreas sich zu mir umdrehte und mich auffordernd anblickte, tat ich die letzten Schritte. Seinem Lachen konnte ich noch nie widerstehen.
In vielen Dingen war ich der Vorsichtigere. Ich beobachtete die Wogen, die sich zu uns auf den Weg machten. Sie schienen nicht mehr so kraftvoll zu sein, wie die just eben, von denen sich mein Freund willig hatte durchnässen lassen. Es schien sicher zu sein, zumindest für den Augenblick.
»Nun komm schon!«, lachte er mich an, während ich schon längst den Weg in die Mitte der Plattform angetreten hatte. Ich sah es ihm an, am liebsten hätte er mich jetzt umarmt und geküsst. Doch es gelang uns beiden nicht, unsere sonst praktizierte Vorsicht in der Öffentlichkeit abzuschütteln. Stattdessen gesellte er sich einfach zu mir in die Mitte des Aussichtspunktes und legte seine Hand auf meine Schulter. Er sah aus, als käme er aus einem Sturzregen, seine Hose und seine leichte Sommerjacke klebten an seinem Körper.
»Ich glaube wir sollten schleunigst zum Haus, damit du in trockene Klamotten kommst«, sagte ich.
»Ach, du immer«, erwiderte er mit einem Lachen. »Lass uns noch ein bisschen die Aussicht genießen.« Dann stellte er sich neben mich und wir blickten gemeinsam hinaus aufs Meer.
Mein Blick schwenkte zwischen meinem Liebhaber und der See hin und her. So verpasste ich den genauen Moment, in dem sein Gesichtsausdruck von fröhlich und entspannt zu konzentriert und besorgt wechselte.
»Was ist?«, fragte ich.
»Schau mal!«, antwortete er und zeigte auf eine wie mir schien beliebige Stelle im Meer. Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Doch außer Wellen und ab und zu ein wenig Schaum konnte ich nichts in oder auf dem Wasser entdecken.
»Was soll da sein? Ich sehe nichts.«
Langsam nahm Andreas seinen Arm wieder herunter. »Ich dachte, ich hätte da was gesehen. Einen Mann, einen Schwimmer vielleicht«, sah er mich an. »Aber viel zu weit draußen.«
»Vielleicht einer der Surfer?«, spekulierte ich.
Wir schauten zu der anderen Seite des Piers, wo sich eine Gruppe Surfer im noch flachen Wasser versammelt hatte. Aber es machte nicht den Anschein, als würde dort jemand fehlen, oder sie würden dort jemanden vermissen. Geschweige denn aktiv Ausschau halten.
»Deine Augen haben dir einen Streich gespielt«, vermutete ich.
»Wahrscheinlich hast du recht«, zuckte Andreas mit den Schultern. »Brrr, langsam wird mir doch ein wenig kalt. Komm, lass uns zum Haus zurück, dann können wir es uns gemütlich machen.«
Was wir dann auch taten. Doch es entging mir nicht, dass Andreas noch einen angestrengten Blick zurück auf das Meer warf, wo er vermeintlich jemanden hatte schwimmen sehen.
Tag 2
Die Sonne ging sehr früh auf in Vorupør, was mich daran erinnerte, wie viel weiter nördlich wir schon waren als in Bremen. Der wolkenlose Himmel versprach einen schönen Tag. Wir beschlossen, einen anderen Strandabschnitt etwas weiter südlich aufzusuchen, um dort in der Sonne zu baden, ein bisschen Federball zu spielen und es uns überhaupt gutgehen zu lassen.
Nach einem ausgiebigen Frühstück packten wir unsere Strandtaschen und machten uns zu Fuß auf den Weg. Unser Ferienhaus lag keine tausend Meter hinter dem Deich, also ließen wir das Auto stehen und genossen die Landschaft. Kaum ausgetretene Pfade führten uns durch eine mit Heidekraut und hohen Gräsern bedeckte Hügellandschaft. Es war so gut wie unmöglich, sich hier zu verirren. Sobald man oben auf einem Hügel stand, konnte man in der einen Richtung bereits das Meer sehen, wie es in sanften Wellen an den Strand gespült wurde. Blickte man zurück, sah man die Siedlung mit den Ferienhäusern.
So lustwandelten wir durch ein Meer aus grün und violett, bis es durch den fast weißen Sand ersetzt wurde, der hier an der Küste in den letzten tausend Jahren angespült wurde. Jetzt am frühen Morgen war Ebbe. Das Meer hatte sich weit zurückgezogen und bot uns stattdessen eine weite Landschaft aus grauem Watt, klaren Prielen und ausladenden Teichen, den letzten Überbleibseln der Flut, die in flachen Senken zurückgeblieben waren.
Wir nahmen dieses Geschenk mit allen Sinnen in uns auf. Das Bild, das sich unseren Augen bot, die Mischung aus Tang und Salz, die wir mit jedem Atemzug inhalierten. Die Wärme der Sonnenstrahlen und der kühle Schlick an unseren baren Füßen.
Wir sprachen kaum ein Wort. Ab und zu sahen wir uns an. Und als wir das Lächeln in unseren Gesichtern bemerkten, wurde uns bewusst, wie glücklich wir waren. Hier, in diesem Moment.
Nach einer kurzen Weile, die wir die Grenze zum Wasser erkundeten, suchten wir uns ein stilles Plätzchen nahe den Hügeln, die den Strand begrenzten. Wie kleine Miniaturgebirge begrenzten mit Dünengras bewachsene Erhebungen die natürlichen Liegeplätze. Der Strand war nahezu menschenleer, so dass wir uns den schönsten Flecken aussuchen konnten und dennoch keine Menschenseele in der näheren Umgebung unsere Ruhe stören konnte.
Wir drapierten unsere Strandtücher an einem uns genehmen Platz und nahmen Platz, entkleideten uns bis auf die Badehosen. Die Schuhe hatten wir eh schon eine Weile in unseren Händen mit uns getragen. Dann cremten wir uns gegenseitig mit Sonnenmilch ein und legten uns in unser Nest aus Frottee und Sonnenlicht. Es war wie im Paradies.
Die pralle Sonne machte uns schläfrig. Es war windstill und kaum ein Geräusch durchbrach die Ruhe. Ab und zu gab eine Möwe ihre Position im Luftraum an. Wir dösten so vor uns hin.
Als ich mich das nächste Mal wieder aufsetzte, bestätigte mir ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr, dass es bereits kurz vor Mittag war. Ich stupste Andreas an, der auf seinem Bauch lag und dessen Rücken einen gefährlichen Rotton angenommen hatte. Wahrscheinlich hatte er sich die letzten Stunden nicht von der Stelle bewegt und nicht gedreht. Ich hoffte, dass mir sein Schicksal erspart bleiben würde.
Andreas schlug vor, dass wir ein wenig Federball spielen sollten, um wieder wach zu werden.
Wir gingen etwas weiter Richtung Wasser, welches uns in den letzten Stunden ein gutes Stück nähergekommen war. Eine Sandbank, noch feucht von der letzten Flut und in Erwartung der nächsten, diente uns als Spielfeld. Die Bälle flogen zwischen uns hin und her. Wir hatten die beste Zeit.
Es geschah, als ich den einen Ball verpasste, den Andreas etwas zu weit auf meine rechte Seite gespielt hatte. Er lachte mich an und neckte mich. Ich streckte ihm die Zunge heraus, als ob ich ein kleiner Junge wäre. Dann drehte ich mich um und spurtete zu dem Ball, der es sich strandaufwärts im trockenen Sand gemütlich gemacht hatte. Ich hob ihn auf und wandte mich wieder Andreas zu.
Etwas war anders. Mein Freund stand still da, alle spielerische Spannung war aus ihm herausgewichen. Seine Füße zeigten zum Wasser und seine Augen schienen auf einen ganz bestimmten Punkt zwischen den Wellen zu blicken.
»Hey, was ist los?«, rief ich ihm zu. Er warf mir nur einen kurzen Blick zu, dann konzentrierte er sich wieder auf das Wasser. Es war nur ein kurzer Moment, aber ich konnte die Besorgnis in seinem Gesicht förmlich spüren. Mit ein paar schnellen Schritten schloss ich zu ihm auf.
»Was ist denn?«
»Da hinten, siehst du das denn nicht?«
Mit seinem Arm deutete er auf einen Punkt auf dem Meer, der für mich genauso aussah, wie jeder andere. Blaues Wasser mit einer weißen Schaumkrone, wo sich die Wellen auftürmten.
»Nein, ehrlich. Was ist denn da?«
»Da schwimmt einer!«
»Wo?«
»Da, wo ich hinzeige!«
»Ich seh nix!«
Andreas warf mir einen ungläubigen, entrüsteten Blick zu. Dann deutete er wieder auf die Wellen. Sein Gesicht entgleiste. »Jetzt ist er weg.«
»Wer?«
»Na, der Schwimmer.«
»Bist du sicher, dass es ein Schwimmer war? Vielleicht war es ein kleiner Wal. Hier soll es Schweinswale geben.«
Andreas hielt inne. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich einen menschlichen Oberkörper gesehen habe. Mit zwei Armen.«
»In einem Neoprenanzug?«, hakte ich nach.
»Nein«, sagte Andreas. »Ich glaube er war nackt.«
»Ein Er? Nackt?«
»Naja, nackter Oberkörper«, ergänzte er. »Soweit ich sehen konnte.«
»Vielleicht war's ja eine männliche Meerjungfrau. Ein Meermann.«
Eigentlich wollte ich mit dem Spruch von dem Meermann einen Witz machen. Doch wie Andreas mich danach ansah, überkam es mich, dass er tatsächlich in Erwägung zog, dass er einen leibhaftigen Meermann gesehen hatte.
Tag 3