Deadline - Renée Knight - E-Book

Deadline E-Book

Renée Knight

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Beschreibung

So schockierend und spannend, dass es einem den Atem nimmt.

Diesen einen Tag vor zwanzig Jahren wird Catherine nie vergessen. Was damals geschah, sollte für immer ein Geheimnis bleiben, bis zum Ende ihres Lebens. Doch dann hält sie plötzlich diesen Roman in den Händen, in dem ihre geheime Geschichte bis ins Detail erzählt wird. Bestürzt blättert sie eine Seite nach der anderen um. Wer kann so genau von den damaligen Ereignissen wissen, und was will der mysteriöse Verfasser des Buches von ihr? Als sie die letzte Seite aufschlägt, findet sie die grausame Antwort: Die Geschichte endet mit ihrem gewaltsamen Tod. Catherine gerät in Panik – und das ist genau das, was Stephen Brigstocke gewollt hat. Er kennt Catherine nicht, aber er weiß von ihrem Geheimnis. Und er hat sich geschworen – sie soll büßen für das, was sie getan hat, bis zu ihrem letzten Atemzug …

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Buch

»Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig …«

Was wäre, wenn du plötzlich feststellst, dass du die Hauptfigur in dem Roman bist, den du gerade liest? Wenn es deine eigene Geschichte ist, die erzählt wird? Und schlimmer noch, was wäre, wenn sie ein Geheimnis verrät, das du niemandem in deinem ganzen Leben anvertraut hast? Als Catherine Ravenscroft das Buch eines unbekannten Autors liest, das ihr eines Tages zufällig in die Hände geraten ist, muss sie schockiert feststellen, dass die Geschichte sie in ihre eigene Vergangenheit zurückführt – denn es geht um etwas, das ihr vor zwanzig Jahren passiert ist. Bis ins Detail wird dieser eine Tag in ihrem Leben beschrieben, den sie lieber für immer vergessen hätte. Ein Tag, an dem sie etwas getan hat, was sie niemals jemandem erzählt hat. Die Wahrheit hätte ihre Familie zerstört. Und mit jeder Seite, die sie umblättert, versteht sie weniger, wer der mysteriöse Autor ist und wie er von dem Ereignis wissen kann. Als sie am Ende des Romans von ihrem eigenen gewaltsamen Tod lesen muss, gerät sie in Panik. Was soll sie tun? Gegen wen muss sie sich wehren? Bleibt ihr überhaupt noch Zeit, oder neigt sich ihr Leben dem Ende entgegen?

Stephen Brigstocke beobachtet mit Genugtuung, dass sein Plan aufgeht. Er kennt Catherine nicht, aber er weiß von ihrem Geheimnis. Er war es, der ihr das Buch untergeschoben und auch ihrem Sohn in die Hände gespielt hat. Er will, dass sie für das, was sie vor zwanzig Jahren getan hat, büßen muss. Und für ihn kann die Strafe gar nicht grausam genug ausfallen …

Weitere Informationen zu Renée Knight

finden Sie am Ende des Buches.

RENEE KNIGHT

Deadline

Psychothriller

Ins Deutsche übertragen

von Andreas Jäger

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Disclaimer« bei Doubleday,

einem Imprint von Transworld Publishers, London.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe by Renée Knight 2015

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/Jake Wyman, © FinePic®, München

Redaktion: Eva Wagner

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-15918-4

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz:

Für Greg, George, Betty

und meine Mutter Jocelyn

1

Frühjahr 2013

Catherine spannt sich an, doch es kommt nichts mehr, ihr Magen ist leer. Sie hält sich mit beiden Händen am kalten Porzellan fest und hebt den Kopf, um in den Spiegel zu schauen. Das Gesicht, das ihr entgegenblickt, ist nicht das, mit dem sie zu Bett gegangen ist. Sie hat dieses Gesicht schon einmal gesehen, und sie hatte gehofft, es nie wieder sehen zu müssen. Eingehend betrachtet sie sich in diesem neuen, harten Licht und befeuchtet einen Waschlappen, mit dem sie sich den Mund abwischt. Dann drückt sie ihn sich auf die Augen, als ob sie damit die Angst darin auslöschen könnte.

»Ist alles in Ordnung?«

Die Stimme ihres Mannes erschreckt sie. Sie hatte gehofft, er würde weiterschlafen. Würde sie in Ruhe lassen.

»Geht schon wieder«, lügt sie, während sie das Licht ausschaltet. Dann lügt sie noch einmal. »Hab wohl das Essen vom Take-away gestern Abend nicht vertragen.« Sie dreht sich zu ihm um, ein Schatten in der Schwärze der Nacht. »Leg dich wieder hin. Alles in Ordnung«, flüstert sie.

Er ist gar nicht richtig wach, dennoch streckt er die Hand aus und legt sie ihr auf die Schulter. »Bist du sicher?«

»Sicher«, sagt sie. Dabei weiß sie nur eines sicher: dass sie allein sein muss. »Robert, es ist alles gut, glaub mir. Ich bin gleich wieder da.«

Seine Finger ruhen noch einen Moment auf ihrem Arm, dann folgt er ihrer Aufforderung. Sie wartet, bis sie sicher ist, dass er wieder eingeschlafen ist, bevor sie ins Schlafzimmer zurückgeht.

Sie sieht es da liegen, mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten, so, wie sie es zurückgelassen hat. Das Buch, dem sie vertraut hat. Die ersten Kapitel hatten sie eingelullt und in eine entspannte Stimmung versetzt, nur hier und da eine Vorahnung von Spannung und Nervenkitzel, kleine Appetithäppchen, um sie bei Laune zu halten, aber kein Hinweis auf das, was da zwischen den Seiten lauerte. Es köderte sie, lockte sie in seine Seiten, immer weiter und weiter, bis sie merkte, dass sie in der Falle saß. Und dann schossen die Worte in ihrem Schädel umher wie Querschläger und trafen sie mit voller Wucht in der Brust, eins nach dem anderen. Es war, als ob eine ganze Reihe von Menschen vor einen fahrenden Zug gesprungen wäre, während sie als Lokführerin ohnmächtig zusehen musste und den tödlichen Zusammenstoß nicht verhindern konnte. Zu spät für eine Vollbremsung. Es gab kein Zurück. Catherine ist unvermutet sich selbst begegnet, versteckt zwischen den Seiten des Buchs.

Sämtliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen … Die Erklärung ist fein säuberlich mit Rotstift durchgestrichen. Ein Hinweis, den sie übersehen hat, als sie das Buch aufschlug. Die Ähnlichkeit mit ihr ist unübersehbar. Sie ist eine Schlüsselfigur, eine Hauptdarstellerin. Die Namen mögen verändert sein, doch die Details sind unverkennbar, bis hin zu den Kleidern, die sie an jenem Nachmittag trug. Ein Kapitel ihres Lebens, das sie unter Verschluss gehalten hat. Ein Geheimnis, das sie keinem Menschen anvertraut hat, nicht einmal ihrem Mann und ihrem Sohn – zwei Menschen, die sie besser zu kennen glauben als irgendjemand sonst. Kein Mensch kann sich das ausgedacht haben, was Catherine gerade gelesen hat. Und doch steht es da schwarz auf weiß, jeder kann es lesen. Sie hat geglaubt, sie hätte es hinter sich gelassen. Hat geglaubt, es sei vorbei und abgeschlossen. Aber jetzt ist es wieder da. In ihrem Schlafzimmer. In ihrem Kopf.

Sie versucht, es zu verdrängen, indem sie an den gestrigen Abend denkt, bevor sie das Buch zur Hand genommen hat. An das behagliche Gefühl des Ankommens in ihrem neuen Heim: Wein zum Abendessen, dann auf dem Sofa die Füße hochgelegt und vor dem Fernseher eingenickt, schließlich mit Robert ins Bett gesunken. Ein stilles Glück, das ihr selbstverständlich geworden ist, aber es ist zu still, um ihr Trost zu spenden. Sie kann nicht einschlafen, also steht sie wieder auf und geht nach unten.

Es gibt noch ein Oben und ein Unten in ihrem neuen Zuhause, immerhin. Eine Maisonettewohnung, kein Haus mehr. Aus dem Haus sind sie vor drei Wochen ausgezogen. Zwei Schlafzimmer anstatt vier. Zwei Schlafzimmer sind angemessener für sie und Robert. Eins für sie beide, ein Gästezimmer. Und sie haben sich für eine offene Raumaufteilung entschieden. Wenig Türen. Sie müssen keine Türen mehr schließen, jetzt, nachdem Nicholas ausgezogen ist.

Sie schaltet das Licht in der Küche ein, nimmt ein Glas aus dem Schrank und füllt es. Nicht mit Leitungswasser. Kaltes Wasser auf Kommando aus dem neuen Kühlschrank, der eher an einen Kleiderschrank erinnert. Der Angstschweiß macht ihre Handflächen glitschig. Sie ist erhitzt, fast fiebrig, und sie ist dankbar für die Kühle des frisch verlegten Kalksteinbodens. Das Wasser hilft ein wenig. Während sie es in großen Schlucken trinkt, starrt sie durch die riesigen Glasscheiben, aus denen die Rückseite dieses neuen, noch fremden Zuhauses besteht. Da draußen ist alles nur schwarz. Nichts zu erkennen. Sie ist noch nicht dazu gekommen, Jalousien zu besorgen. Sie ist allen Blicken schutzlos ausgesetzt. Die anderen können sie sehen, aber sie kann niemanden sehen.

2

Zwei Jahre zuvor

Es tat mir leid, was passiert war, es tat mir ehrlich leid. Er war schließlich noch ein Kind, sieben Jahre alt. Und ich war wohl so etwas wie der stellvertretende Erziehungsberechtigte, auch wenn ich mir verdammt sicher war, dass die Eltern mir durch die Bank am liebsten jegliche Berechtigung abgesprochen hätten. Zu der Zeit war ich schon ziemlich tief gesunken: Stephen Brigstocke, der meistgehasste Lehrer an der Schule. Ganz bestimmt dachten die Kinder so, und auch die Eltern, wenngleich nicht alle – ich will doch hoffen, dass manche mich noch von früher in Erinnerung hatten, als ich ihre älteren Kinder unterrichtet hatte.

Jedenfalls war ich nicht überrascht, als Justin mich in sein Büro bestellte. Ich hatte damit gerechnet. Er brauchte ein bisschen länger, als ich erwartet hatte, aber so ist das nun mal an den Privatschulen. Da ist jede ihr eigenes kleines Königreich. Die Eltern mögen glauben, dass sie das Sagen haben, weil sie schließlich dafür bezahlen, aber es ist natürlich nicht so. Ich meine, ich bin doch das beste Beispiel – ich war so gut wie ohne Vorstellungsgespräch an den Job gekommen. Justin und ich hatten zusammen in Cambridge studiert. Er wusste, dass ich das Geld brauchte, und ich wusste, dass er einen neuen Englischlehrer brauchte. Privatschulen zahlen nämlich besser als die staatlichen, und ich brachte jahrelange Erfahrung als Lehrer an einer staatlichen Gesamtschule mit.

Armer Justin, es muss sehr schwierig für ihn gewesen sein, sich von mir zu trennen. Eine unangenehme Pflicht. Und es war tatsächlich eher eine Freistellung als eine Entlassung. Es war anständig von ihm, das rechne ich ihm hoch an. Ich konnte es mir nicht leisten, meine Pension zu verlieren, und ich ging ohnehin auf die Verrentung zu, sodass er lediglich den Vorgang beschleunigt hat. Justin stand selbst kurz vor der Pensionierung, aber sein Abgang war mit meinem nicht zu vergleichen. Ich habe gehört, dass der eine oder andere Schüler sogar eine Träne verdrückt hat. Aber um mich haben sie nicht geweint. Nun ja, warum auch? Ich hatte diese Art von Tränen nicht verdient.

Ich will keinen falschen Eindruck erwecken: Ich bin nicht pädophil. Ich habe mich nicht an dem Jungen vergangen. Nicht einmal angefasst habe ich ihn. Nein, nein, ich habe die Kinder niemals angefasst. Sie haben mich einfach nur so furchtbar gelangweilt. Ist es sehr schlimm, so etwas über Siebenjährige zu sagen? Für einen Lehrer wohl schon. Ich hatte es satt, ihre geisttötenden Geschichten zu lesen, mit denen manche von ihnen sich gewiss viel Mühe gegeben hatten. Aber es war dieses Gefühl ihrer eigenen Bedeutung, das aus ihren Aufsätzen sprach, diese Überzeugung, dass sie mit ihren sieben Jahren – mit sieben, wohlgemerkt! – irgendetwas zu sagen hätten, was mich im Entferntesten interessieren könnte.

Und eines Abends hat es mir dann einfach gereicht. Die Katharsis des Rotstifts funktionierte nicht mehr, und als ich zu dem Aufsatz dieses besagten Jungen kam, dessen Namen ich vergessen habe, da setzte ich ihm in aller Deutlichkeit auseinander, warum mir ihr Familienurlaub in Südindien, wo sie bei Bauern auf dem Dorf gewohnt hatten, wirklich komplett am Arsch vorbeiging. Schön für sie, doch. Natürlich hat es ihn verletzt. Natürlich war er gekränkt, und das tut mir leid. Und natürlich hat er es seinen Eltern erzählt. Das wiederum tut mir nicht leid. Es half, meinen Abgang zu beschleunigen, und ich musste gehen, daran gibt es keinen Zweifel. Es war das Beste für mich, und auch für sie.

Nun war ich also zu Hause und hatte plötzlich sehr viel Zeit. Ein pensionierter Englischlehrer, der an einer zweitklassigen Privatschule unterrichtet hatte. Verwitwet. Ich habe Sorge, dass ich vielleicht allzu ehrlich bin – dass das, was ich bisher erzählt habe, ein wenig abschreckend wirken könnte. Es könnte den Eindruck erwecken, ich sei grausam. Und was ich diesem Jungen angetan habe war grausam, das gestehe ich ein. Aber im Allgemeinen bin ich kein grausamer Mensch. Seit Nancys Tod jedoch habe ich die Dinge ein bisschen schleifen lassen. Na schön, mehr als nur ein bisschen.

Es ist schwer zu glauben, dass ich einmal zum beliebtesten Lehrer des Jahres gewählt wurde. Nicht von den Schülern der Privatschule, sondern von denen an der Gesamtschule, wo ich zuvor unterrichtet hatte. Und es war keine einmalige Sache, es passierte mehrere Jahre in Folge. Einmal – ich glaube, es war 1982 – erhielten sowohl meine Frau Nancy als auch ich diese Auszeichnung von unseren jeweiligen Schulen.

Ich war Nancy in den Lehrerberuf nachgefolgt. Sie hatte angefangen, als unser Sohn in die Vorschule kam. Sie hatte in Jonathans Schule die Fünf- bis Sechsjährigen unterrichtet, und ich bekam die Vierzehn- bis Fünfzehnjährigen an der Gesamtschule gleich um die Ecke zugeteilt. Ich weiß, dass manche Lehrer diese Altersgruppe anstrengend finden, aber mir gefiel es. Die jungen Leute haben es nicht leicht in diesem Alter, und deshalb war ich der Meinung, dass man sie nicht zu hart rannehmen sollte. Ich habe sie nie gezwungen, ein Buch zu lesen, das sie nicht lesen wollten. Eine Geschichte ist schließlich eine Geschichte, man muss sie nicht unbedingt als Buch lesen. Auch ein Film, eine Fernsehserie oder ein Theaterstück hat eine Erzählung, der man folgen kann, die man interpretieren oder einfach genießen kann.

Damals war ich noch engagiert. Es lag mir etwas an meinem Beruf. Aber das war damals. Ich bin kein Lehrer mehr. Ich bin pensioniert. Ich bin Witwer.

3

Frühjahr 2013

Catherine stolpert. Sie schiebt es auf ihre High Heels, dabei liegt es daran, dass sie zu viel getrunken hat, das weiß sie genau. Robert fasst sie gerade noch rechtzeitig am Ellbogen, um zu verhindern, dass sie rückwärts die Betonstufen hinunterfällt. Mit der anderen Hand dreht er den Schlüssel um und drückt die Haustür auf, hält dabei ihren Arm fest gepackt und führt sie ins Haus. Sie streift ihre Schuhe ab und versucht, ihrem Gang ein wenig Würde zu verleihen, als sie auf die Küche zusteuert.

»Ich bin so stolz auf dich«, sagt er, während er von hinten an sie herantritt und die Arme um sie legt. Er küsst ihren Nacken an der Stelle, wo er in die Schulter übergeht, und sie reckt den Kopf nach hinten.

»Danke«, sagt sie und schließt die Augen.

Aber dann schmilzt dieser Moment des Glücks dahin. Es ist Nacht. Sie sind zu Hause. Und sie will nicht ins Bett gehen, obwohl sie entsetzlich müde ist. Sie weiß, dass sie nicht schlafen wird. Seit einer Woche hat sie nicht mehr richtig geschlafen. Robert weiß davon nichts. Sie tut so, als ob alles in Ordnung wäre, sie kann es vor ihm verbergen. Stellt sich schlafend, wenn sie neben ihm liegt, allein in ihrem Kopf. Jetzt wird sie sich eine Ausrede einfallen lassen müssen, warum sie nicht gleich mit ihm nach oben ins Bett geht.

»Geh schon mal vor«, sagt sie. »Ich komme gleich nach. Ich will nur noch kurz in meine E-Mails schauen.« Sie lächelt aufmunternd, aber es braucht nicht viel, um ihn zu überreden. Er muss morgen früh raus, und umso mehr weiß Catherine seine ehrliche Freude über diesen Abend zu schätzen, an dem sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und er der stumme, lächelnde Partner im Hintergrund war. Nicht ein einziges Mal hat er angedeutet, dass es vielleicht Zeit wäre aufzubrechen. Nein, er hat es ihr gegönnt, zu glänzen und den Augenblick zu genießen. Natürlich hat sie schon bei vielen Anlässen das Gleiche für ihn getan. Dennoch, Robert hat sich anstandslos in seine Rolle gefügt.

»Ich bringe dir noch Wasser rauf«, sagt er.

Sie sind gerade von einer Party zurückgekommen, bei der die Verleihung von Fernsehpreisen gefeiert wurde. Anspruchsvolles Fernsehen. Keine Seifenopern. Keine Fernsehspiele. Tatsachenberichte. Catherine hat einen Preis für einen Dokumentarfilm bekommen, den sie gedreht hat. Darin geht es um Kinder, die zu Sexobjekten herangezogen werden. Kinder, die Schutz gebraucht hätten, aber nicht geschützt wurden, weil niemand sich um sie gekümmert hat, weil niemand sich die Mühe gemacht hat, auf sie achtzugeben. Die Jury hat ihren Film als mutig bezeichnet. Catherine wurde als mutig bezeichnet.

Sie haben keine Ahnung. Sie haben keine Ahnung, wie ich wirklich bin.

Es war kein Mut. Es war unbeirrbare Entschlossenheit. Andererseits ist sie vielleicht doch ein bisschen mutig gewesen. Heimliche Filmaufnahmen. Männer auf Beutezug. Aber jetzt ist sie es nicht. Nicht jetzt, da sie zu Hause ist. Trotz der neuen Jalousien hat sie Angst, dass jemand sie beobachtet.

Ihre Abende sind zu einer Aneinanderreihung von Ablenkungen geworden, alles nur, damit sie nicht an den unvermeidlichen Moment denken muss, wenn sie im dunklen Zimmer wach liegen wird. Es ist ihr gelungen, Robert zu täuschen, glaubt sie. Selbst die Schweißausbrüche, die sie regelmäßig bekommt, wenn die Schlafenszeit näher rückt, hat sie lachend als Wechseljahrsbeschwerden abgetan. Sie zeigt andere Anzeichen davon, gewiss, aber dieses Schwitzen gehört nicht dazu. Sie wollte, dass er ins Bett geht, aber kaum hat er es getan, wünscht sie, er wäre bei ihr. Sie wünscht, sie hätte den Mut, es ihm zu sagen. Sie wünscht, sie hätte damals den Mut gehabt, es ihm zu sagen. Aber sie hatte ihn nicht. Und jetzt ist es zu spät. Es ist zwanzig Jahre her. Wenn sie es ihm jetzt sagen würde, könnte er es nicht verstehen. Die Tatsache, dass sie ihm all die Jahre etwas verheimlicht hat, würde ihn blind machen. Sie hat ihm etwas vorenthalten, von dem er glauben würde, er habe ein Recht darauf, es zu wissen. »Herrgott noch mal, er ist unser Sohn«, hört sie ihn sagen.

Sie braucht kein gottverdammtes Buch, das ihr sagt, was passiert ist. Sie hat nichts davon vergessen. Ihr Sohn wäre fast gestorben. Sie hat Nicholas all die Jahre beschützt. Hat ihn vor dem Wissen beschützt und ihm ermöglicht, in seliger Ahnungslosigkeit zu leben. Er weiß nicht, dass er um ein Haar das Erwachsenenalter nie erreicht hätte.

Und wenn er doch noch irgendeine Erinnerung an das Geschehen bewahrt hätte? Wäre dann alles anders? Wäre er anders? Wäre ihre Beziehung eine andere? Aber sie ist sich absolut sicher, dass er sich an nichts erinnert. Zumindest an nichts, was auch nur annähernd etwas mit dem wahren Geschehen zu tun hätte. Für Nicholas ist es einfach nur ein Nachmittag, der mit vielen anderen Nachmittagen seiner Kindheit verschmolzen ist. Sie kann sich sogar vorstellen, dass er ihn als glücklich in Erinnerung hat.

Wenn Robert da gewesen wäre, dann wäre es vielleicht anders gewesen. Natürlich wäre es anders gewesen. Es wäre gar nicht erst passiert. Aber Robert ist nun mal nicht da gewesen. Also hat sie es ihm nicht gesagt, weil es nicht nötig war – er würde es nie erfahren. Und es war besser so. Es ist besser so.

Sie klappt ihren Laptop auf und googelt den Namen des Autors. Es ist fast schon ein Ritual. Sie hat es schon einmal getan in der Hoffnung, irgendetwas zu finden. Irgendeinen Hinweis. Aber da ist nichts. Einfach nur ein Name: E. J. Preston. Wahrscheinlich ein Pseudonym. »Das Opfer des Fremden ist E. J. Prestons erstes und möglicherweise letztes Buch.« Nicht einmal ein Hinweis auf das Geschlecht. Nicht sein oder ihr erstes Buch. Herausgegeben ist es von Rhamnousia. Als sie das nachschlug, hatte sich ihr erster Verdacht bestätigt: Das Buch ist im Selbstverlag erschienen. Sie hatte nicht gewusst, was Rhamnousia bedeutet. Jetzt weiß sie es. Die Göttin der Rache, auch bekannt als Nemesis.

Das ist ein Hinweis, oder nicht? Zumindest auf das Geschlecht. Aber das ist unmöglich. Es kann nicht sein. Und niemand sonst kannte diese Details. Jedenfalls niemand, der noch am Leben ist. Bis auf die anderen, die dabei waren, natürlich – anonyme Zeugen. Aber das hier wurde von jemandem geschrieben, der wirklich betroffen ist. Das hier ist persönlich.

Sie sieht nach, ob es irgendwelche Rezensionen gibt. Fehlanzeige. Vielleicht ist sie die Einzige, die es gelesen hat. Und selbst wenn andere es lesen, werden sie nie wissen, dass sie die Frau im Zentrum der Erzählung ist. Bis auf einen – oder eine. Irgendjemand weiß Bescheid.

Wie zum Teufel ist dieses Buch in ihre Wohnung gekommen? Sie kann sich nicht erinnern, es gekauft zu haben. Es war plötzlich da, auf dem Stapel neben ihrem Bett. Aber es war ja auch alles so chaotisch nach dem Umzug. Überall standen unausgepackte Bücherkisten herum. Vielleicht hat sie es selbst dort hingelegt. Hat es aus einer Kiste genommen, weil das Cover sie ansprach. Es könnte Robert gehören. Er besitzt zahllose Bücher, die sie nie gelesen hat und vielleicht gar nicht erkennen würde. Bücher, die er vor Jahren gekauft hat. Sie stellt sich vor, wie er auf Amazon herumstöbert, an dem Titel oder am Cover Gefallen findet und es online bestellt. Ein Zufall. Ein verrückter, perverser Zufall.

Aber die Erklärung, auf die sie sich schließlich festlegt und an die sie zu glauben beginnt, ist, dass jemand anders es dort hingelegt hat. Jemand war in ihrer Wohnung, in dieser Wohnung, in der sie sich noch nicht zu Hause fühlt. Jemand war in ihrem Schlafzimmer. Jemand, den sie nicht kennt, hat das Buch auf das Regal neben ihrem Bett gelegt. Ganz vorsichtig, ohne etwas zu verändern. Auf ihre Seite des Betts. Die Person wusste, auf welcher Seite sie schläft. Es sollte so aussehen, als habe sie selbst es dort hingelegt.

Ihre Gedanken türmen sich auf, kollidieren miteinander, bis sie ganz verbogen und verdreht sind. Wein und Angst, eine gefährliche Kombination. Sie sollte inzwischen wissen, dass es besser ist, das eine nicht mit dem anderen zu mischen. Sie fasst sich an den schmerzenden Kopf. Diese Kopfschmerzen sind inzwischen ein Dauerzustand. Sie schließt die Augen und sieht den brennenden weißen Punkt der Sonne auf dem Cover des Buchs. Wie zum Teufel ist dieses Buch in ihr Haus gekommen?

4

Zwei Jahre zuvor

Sieben Jahre waren seit Nancys Tod vergangen, und immer noch hatte ich mich nicht dazu aufraffen können, ihre Sachen auszusortieren. Ihre Kleider hingen im Schrank. Ihre Schuhe standen noch da, ihre Handtaschen. Sie hatte winzige Füße. Größe 35. Ihre Papiere, ihre Briefe lagen noch auf dem Schreibtisch und in den Schubladen. Ich mochte es, wenn ich zufällig etwas von ihr fand. Ich nahm gerne ihre Briefe zur Hand, selbst wenn sie von British Gas waren. Es gefiel mir, ihren Namen und unsere gemeinsame Adresse schwarz auf weiß auf offiziellen Schreiben zu sehen. Doch nach meiner Pensionierung hatte ich keine Ausrede mehr. Pack’s endlich an, Stephen, hätte sie gesagt. Also packte ich es an.

Ich fing mit ihren Kleidern an. Ich nahm sie von den Bügeln und aus den Schubladen und legte sie auf dem Bett zurecht, um sie später aus dem Haus zu schaffen. So, das war’s, dachte ich. Doch dann fiel mein Blick auf eine Strickjacke, die vom Bügel gerutscht war und sich in einer Ecke des Kleiderschranks versteckte. Sie hat die Farbe von Heidekraut. Eigentlich sind es viele verschiedene Farben: blau, rosa, lila, grau – aber der Effekt ist der von Heidekraut. Wir hatten sie in Schottland gekauft, als wir noch nicht verheiratet waren. Nancy hat sie immer wie ein Umhängetuch getragen, sodass die leeren Ärmel schlaff an ihren Seiten baumelten. Ich habe sie behalten – ich halte sie in diesem Moment in der Hand. Es ist Kaschmirwolle. Die Motten waren dran, und am Ärmelaufschlag ist ein Loch, durch das ich meinen kleinen Finger stecken kann. Sie hat sie mehr als vierzig Jahre lang behalten. Die Jacke hat sie überlebt, und ich vermute, dass sie auch mich überleben wird. Wenn ich weiter schrumpfe, was zweifellos der Fall sein wird, dann wird sie mir vielleicht irgendwann passen.

Ich weiß noch, dass Nancy sie oft umgelegt hat, wenn sie mitten in der Nacht aufstehen musste, um Jonathan zu stillen. Ich sehe sie vor mir, ihr Nachthemd aufgeknöpft, Jonathans winziges Mündchen an ihrer Brustwarze, diese Strickjacke um die Schultern gelegt, um sich warm zu halten. Wenn sie sah, dass ich sie vom Bett aus beobachtete, lächelte sie, und dann stand ich auf und kochte Tee für uns beide. Sie gab sich immer Mühe, mich nicht zu wecken – sie sagte, sie wolle, dass ich meinen Schlaf bekäme, und es mache ihr nichts aus aufzustehen.

Sie war glücklich. Wir waren beide glücklich. Es war die Freude über das unerwartete Geschenk eines Kindes in einem Alter, in dem wir fast schon jede Hoffnung aufgegeben hatten. Da gab es keine kleinlichen Diskussionen darum, wer aufstehen sollte oder wer wem den Schlaf raubte. Ich will nicht behaupten, dass es fifty-fifty war. Ich hätte mehr getan, aber die Wahrheit ist, dass Jonathan Nancy am meisten brauchte, mehr als mich.

Schon vor diesen mitternächtlichen Gelagen war diese Strickjacke eines ihrer Lieblingsteile. Sie trug sie beim Schreiben – über einem Sommerkleid, über einer Bluse, über ihrem Nachthemd. Wenn ich von meinem Schreibtisch zu ihrem hinüberschaute, sah ich sie auf ihre Schreibmaschine einhämmern, dass die schlaffen Ärmel an ihrer Seite zitterten. Ja, bevor wir Lehrer wurden, waren Nancy und ich beide Schriftsteller. Nancy hörte bald nach Jonathans Geburt damit auf. Sie sagte, sie habe den Geschmack daran verloren, und als Jonathan in die Vorschule kam, beschloss sie, dort als Lehrerin anzufangen. Aber ich wiederhole mich.

Weder Nancy noch ich waren sonderlich erfolgreich als Schriftsteller, auch wenn wir hie und da einmal eine Story unterbringen konnten. Alles in allem würde ich sagen, dass Nancy mehr Erfolg hatte als ich, und doch war sie es, die darauf bestand, dass ich weitermachte, nachdem sie es aufgegeben hatte. Sie glaubte an mich. Sie war sich so sicher, dass es eines Tages passieren würde, dass ich irgendwann meinen Durchbruch erleben würde. Nun ja, vielleicht hatte sie ja recht. Es war immer schon Nancys Vertrauen in mich, das mich angetrieben hat. Allerdings war sie die bessere Schriftstellerin. Das war mir immer bewusst, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte. Sie unterstützte mich jahrelang, während ich ein Wort nach dem anderen, ein Kapitel nach dem anderen hervorbrachte, sogar ein oder zwei Bücher. Alle abgelehnt. Bis sie Gott sei Dank eines Tages endlich begriff, dass ich nicht mehr schreiben wollte. Ich hatte es satt. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Es kostete mich einige Mühe, sie davon zu überzeugen, dass es wirklich eine Erleichterung für mich war aufzuhören. Aber ich meinte es ernst. Es war eine Erleichterung. Ich habe nämlich immer schon lieber gelesen als geschrieben. Ein Schriftsteller, ein guter Schriftsteller, muss vor allem Courage haben. Man muss bereit sein, sich zu exponieren. Das verlangt Mut, und ich war immer schon ein Feigling. Nancy war die Mutige von uns beiden. Und das war der Beginn meiner Laufbahn als Lehrer.

Es brauchte allerdings Mut, die Sachen meiner Frau auszuräumen. Ich faltete ihre Kleider zusammen und stopfte sie in Einkaufstaschen. Ihre Schuhe und Handtaschen legte ich in alte Weinkisten. Wer hätte damals, als der Wein ins Haus kam, geahnt, dass die Kisten, in denen er verpackt war, es eines Tages mit den Sachen meiner toten Frau wieder verlassen würden? Ich brauchte eine Woche, um alles zu verpacken, und noch länger, um es aus dem Haus zu schaffen.

Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, alles auf einmal loszulassen, und verteilte es deshalb auf mehrere Gänge zum Sozialladen. Dabei lernte ich die zwei Frauen im All Aboard recht gut kennen. Ich erzählte ihnen, dass die Kleider meiner Frau gehört hatten, und danach unterbrachen sie jedes Mal ihre Arbeit, wenn ich in den Laden kam, und nahmen sich Zeit für mich. Wenn ich zufällig während ihrer Kaffeepause vorbeischaute, machten sie auch eine Tasse für mich. Bald fühlte ich mich auf eigenartige Weise getröstet in diesem Laden voller Habseligkeiten von Toten.

Ich hatte Sorge, dass ich, wenn ich mit dem Ausräumen von Nancys Sachen fertig wäre, wieder in die Lethargie verfallen würde, die mich seit meiner Pensionierung gelähmt hatte, doch es kam anders. So traurig es war, wusste ich doch, dass ich etwas getan hatte, was Nancy gutheißen würde, und ich fasste einen Entschluss: In Zukunft würde ich mir alle Mühe geben, mich so zu verhalten, dass Nancy, wenn sie plötzlich ins Zimmer träte, Liebe für mich empfinden würde und nicht Scham. Sie würde meine Lektorin sein, die unsichtbar im Hintergrund wirkte, objektiv blieb und dabei immer nur mein Bestes wollte.

Eines Morgens, nicht lange nach dieser Entrümpelungsphase, war ich auf dem Weg zur U-Bahn. Ich war voller Tatendrang erwacht: Ich war aufgestanden, hatte mich gewaschen, rasiert und angezogen, hatte gefrühstückt und war um neun Uhr schon ausgehfertig. Ich war guter Laune und freute mich auf den Tag, den ich in der British Library verbringen wollte. Ich hatte darüber nachgedacht, wieder zu schreiben. Keinen Roman diesmal, sondern etwas Handfesteres, ein Sachbuch. Nancy und ich hatten ein paarmal an der Küste von East Anglia Urlaub gemacht, und eines Sommers mieteten wir einen Martello-Turm, einen jener runden Befestigungstürme aus der Zeit der napoleonischen Kriege. Ich hatte schon immer mehr über diesen Ort in Erfahrung bringen wollen, aber alle Bücher zum Thema, die ich finden konnte, waren so furchtbar trocken und blutleer. Auch Nancy hatte mehrmals versucht, etwas zu finden, was sie mir zum Geburtstag schenken könnte, aber alles, was sie auftreiben konnte, waren öde Wälzer voll mit Daten und Statistiken. Wie dem auch sei, ich beschloss, dass dies mein neues Projekt werden sollte: Ich würde diesen wunderbaren Ort zum Leben erwecken. Diese Mauern hatten sich im Lauf von Jahrhunderten mit dem Atem anderer Menschen vollgesogen, und ich war entschlossen herauszufinden, wer alles zwischen damals und heute Zeit in dem Turm verbracht hatte. Und so hatte ich an jenem Morgen geradezu beschwingt das Haus verlassen.

Und dann hatte ich eine Geistererscheinung.

Ich konnte sie nicht deutlich sehen, es waren andere Leute zwischen uns. Eine Frau mit einem Kinderwagen, zwei Jugendliche, die gemächlich dahinschlenderten und rauchten. Und doch wusste ich, dass sie es war. Ich hätte sie überall erkannt. Sie ging schnell und zielstrebig, und ich versuchte, mit ihr Schritt zu halten, doch sie war jünger als ich, mit kräftigeren Beinen, und mein Herz raste von der Anstrengung, sodass ich mich gezwungen sah, einen Moment stehen zu bleiben. Der Abstand zwischen uns wuchs, und als ich mich endlich wieder aufraffen konnte, war sie schon in der U-Bahn-Station verschwunden. Ich eilte hinterher, zwängte mich unbeholfen durch die Schranke und fürchtete schon, sie würde in einen Zug steigen und mich endgültig abhängen. Die Treppe war steil, zu steil, und ich hatte Angst, ich könnte stürzen in meiner Eile, sie noch auf dem Bahnsteig einzuholen. Ich hielt mich am Geländer fest und verfluchte meine Gebrechlichkeit.

Sie war noch da. Ich lächelte, als ich auf sie zuging. Ich dachte, sie habe auf mich gewartet. Da drehte sie sich um und sah mir direkt ins Gesicht.

Mein Lächeln wurde nicht erwidert. Ihre Miene war besorgt, vielleicht gar ängstlich. Natürlich war es kein Geist. Es war eine junge Frau von vielleicht dreißig Jahren. Sie trug Nancys Mantel, den Mantel, den ich in den Sozialladen gebracht hatte. Sie hatte die gleiche Haarfarbe wie Nancy in diesem Alter. Oder zumindest hatte ich das so wahrgenommen. Als ich näher kam, sah ich, dass die Frau ganz und gar nicht die gleiche Haarfarbe hatte wie Nancy. Braun, ja, aber nicht echt. Ein mattes, stumpfes, totes Braun. Es hatte nicht die kräftige, lebhafte Tönung von Nancys Haaren. Ich konnte sehen, dass mein Lächeln sie beunruhigt hatte, und so wandte ich mich ab und hoffte, sie würde verstehen, dass ich keine bösen Absichten hatte, dass es nur eine Verwechslung war. Als der Zug kam, stieg ich nicht ein, sondern wartete auf den nächsten. Sie sollte nicht glauben, dass ich sie verfolgte.

Ich brauchte den halben Vormittag, bis ich mich wieder ganz gefangen hatte. Die Stille der Bibliothek, die Schönheit des Baus und die beruhigenden Beschäftigungen des Lesens und Exzerpierens, die Fortschritte, die ich machte – all das brachte mich an den Punkt zurück, an dem ich gewesen war, als ich den Tag begonnen hatte. Als ich am frühen Abend nach Hause kam, war ich wieder ganz ich selbst. Ich hatte mir zur Belohnung eins dieser Fertiggerichte von Marks & Spencer gekauft, leicht und schnell zubereitet. Dazu machte ich mir eine Flasche Wein auf, trank aber nur ein Glas. Ich trinke nur noch wenig; ich ziehe es vor, die Kontrolle über meine Gedanken zu behalten. Zu viel Alkohol lässt sie wild in die falsche Richtung davonrennen wie kleine Kinder, die sich einfach nicht bändigen lassen.

Ich wollte unbedingt noch vor dem Schlafengehen meine Notizen durchgehen, also ging ich an meinen Schreibtisch, um schon mal einen Anfang zu machen. Er war immer noch mit Nancys Papieren übersät. Ich blätterte alles durch, Wurfsendungen und alte Rechnungen, und wusste bereits, dass ich nichts wirklich Wichtiges finden würde. Wäre da etwas gewesen, dann hätte es mich doch längst irgendwie auf sich aufmerksam gemacht, oder nicht? Ich warf den ganzen Stapel in den Papierkorb, dann nahm ich meine Schreibmaschine aus dem Schrank und stellte sie in die Mitte des frei geräumten Schreibtischs, um gleich am nächsten Morgen loslegen zu können.

In ihrer aktiven Zeit als Schriftstellerin hatte Nancy ihren eigenen Schreibtisch gehabt, einen kleinen aus Eichenholz, der jetzt in Jonathans Wohnung steht. Als sie aufhörte, waren wir uns einig, dass sie eigentlich auch meinen mitbenutzen könnte. Sie hatte die Schubladen auf der rechten Seite, ich die auf der linken. Sie bewahrte ihre Manuskripte in der untersten Schublade auf. Es gab zwar noch weitere, die sich im Bücherregal stapelten, aber es waren die drei in der Schreibtischschublade, für die sie die größten Hoffnungen hegte. Obwohl ich wusste, dass sie dort lagen, war es ein Schock für mich, sie zu sehen. »Mit Blick aufs Meer«, »Wintergeschichte« und »Ein ganz besonderer Freund«, alle unveröffentlicht. Ich griff nach »Ein ganz besonderer Freund« und nahm das Manuskript mit ins Bett.

Es war sicher an die vierzig Jahre her, dass ich diese Worte gelesen hatte. Sie hatte den Roman im Sommer vor Jonathans Geburt geschrieben. Es war, als läge Nancy mit mir im Bett. Ich konnte ihre Stimme deutlich hören: Nancy als junge Frau, noch keine Mutter. Die Zeilen waren geladen mit Energie, mit Furchtlosigkeit, und ich fühlte mich in eine Zeit zurückversetzt, als wir die Zukunft noch aufregend fanden, als Dinge, die noch nicht geschehen waren, uns noch mit gespannter Erwartung und nicht mit Angst erfüllten.

An diesem Abend schlief ich zufrieden ein, denn mir war bewusst, wie glücklich ich mich schätzen konnte, Nancy in meinem Leben gehabt zu haben, auch wenn sie jetzt nicht mehr bei mir war. Wir hatten uns einander geöffnet. Wir hatten alles geteilt. Ich dachte, wir wüssten alles voneinander, was es zu wissen gab.

5

Frühjahr 2013

»Warte – ich komm mit dir raus«, ruft Catherine vom oberen Treppenabsatz.

Robert dreht sich an der Haustür um und schaut herauf.

»Tut mir leid, Schatz, hab ich dich geweckt?«

Sie weiß, wie sehr er sich bemüht hat, sie nicht zu stören. Er hat extra kurz geduscht und ist auf Zehenspitzen herumgeschlichen, während er sich anzog. Dabei war Catherine die ganze Zeit wach. Hat mit halb geschlossenen Augen dagelegen und ihn beobachtet. Und ihn geliebt für seine Rücksichtnahme. Sie hat gewartet, so lange sie konnte. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, ist sie aus dem Bett gesprungen, hat sich rasch angezogen und ist ihm hinterhergeeilt. Sie kann jetzt nicht allein sein. Später vielleicht, aber jetzt noch nicht.

Sie sitzt auf der untersten Treppenstufe und zwängt ihre Füße in die Laufschuhe.

»Ich habe einen Mordsschädel. Da ist es das Beste, ich gehe gleich ein bisschen an die frische Luft«, sagt sie, während sie sich mit zitternden Fingern die Schnürsenkel bindet. Sie hört sich selbst, wie sie so normal klingt, so glaubwürdig. Die zitternden Finger, das könnte der Kater sein. Sie hat sich noch eine Woche Urlaub genommen, um auszupacken und es für sie beide gemütlich zu machen – ihr neues Zuhause wohnlich zu machen –, aber an diesem Morgen packt sie es einfach nicht. Und es ist wahr, sie hat wirklich einen Mordsschädel. Was allerdings nichts mit der gestrigen Feier zu tun hat.

Sie bemerkt, wie Robert auf seine Uhr schaut. Er muss früh im Büro sein.

»Ich beeil mich, ich beeil mich«, sagt sie. Sie läuft in die Küche, füllt eine Flasche mit Wasser und schnappt sich ihren iPod, dann läuft sie zurück zu ihm. Sie ziehen die Tür zu, schließen zweimal ab und gehen zusammen zur U-Bahn. Sie nimmt seine Hand, und er sieht sie an und lächelt.

»Das war ein schöner Abend gestern«, sagt er. »Hast du viele nette Mails bekommen?«

»Ein paar«, antwortet sie, obwohl sie noch gar nicht nachgeschaut hat. Sie hatte weiß Gott anderes im Kopf. Später wird sie nachschauen, wenn sie wieder zu Hause ist, wenn sie einen klareren Kopf hat.

Er gibt ihr ein Küsschen auf die Wange, sagt ihr, dass es wohl nicht allzu spät werden dürfte, hofft, dass es ihrem Kopf besser geht und verschwindet in der U-Bahn. Sie macht kehrt, sobald er weg ist, setzt ihre Ohrhörer ein und läuft die Straße hinauf, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen sind, auf die einzige Grünfläche im Viertel zu. Ihre Sohlen klatschen im Takt der Musik auf den Asphalt.

Sie quert das obere Ende ihrer Straße und läuft weiter. Ihr Herz klopft, schon rinnt ihr der Schweiß zwischen den Schulterblättern herab. Sie ist nicht fit. Sie sollte lieber schnell gehen und nicht laufen, aber sie braucht das jetzt, sie muss sich quälen. Bald hat sie das hohe schmiedeeiserne Tor des Friedhofs erreicht und läuft hindurch. Sie schafft eine Runde, dann bleibt sie stehen und ringt nach Luft, beugt sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. Sie sollte sich dehnen, aber es wäre ihr irgendwie peinlich. Sie ist keine Sportlerin, sondern nur eine Frau auf der Flucht.

Weiter, weiter. Sie richtet sich auf und läuft wieder los, aber nicht mehr in diesem mörderischen Tempo. Ein lockerer Trab, der den Gedanken auf die Sprünge hilft. Nach der halben Runde verlangsamt sie das Tempo noch weiter zu einem zügigen Gehen, denn sie will, dass ihr Herz stark bleibt, dass es weiterpumpt. Namen fliegen ihr von den Grabsteinen entgegen: Gladys, Albert, Eleanor – Namen aus längst vergangener Zeit, von Menschen, die längst tot sind. Aber es sind die Kinder, die sie wahrnimmt. Die Kinder, an deren Grabsteinen sie stehen bleibt, um zu lesen. Anfang und Ende ihrer kurzen Lebensspannen. Tun wir das nicht alle? An den Gräbern der Kinder stehen bleiben, die für immer in ihren Bettchen unter dem Rasen schlummern? Sie nehmen weniger Platz ein als ihre erwachsenen Nachbarn, und doch kann man ihre Anwesenheit unmöglich ignorieren, sie scheinen zu rufen: Bitte, schau mich an. Bitte, bleib einen Moment stehen. Und sie bleibt stehen. Und stellt sich einen Grabstein vor, der hier stehen könnte, wenn es anders gekommen wäre.

NICHOLASRAVENSCROFT

Geboren am 14. Januar 1988,

von uns gegangen am 14. August 1993

Geliebter Sohn von Robert und Catherine

Und sie stellt sich vor, wie sie Robert hätte beibringen müssen, dass Nicholas gestorben war. Und sie hört seine Fragen: Wo warst du? Wie konnte das passieren? Wie war das möglich? Und dann wären die Dämme gebrochen, alles hätte sich über ihn ergossen, und er wäre unter der Last in die Knie gegangen. Sie sieht, wie er verzweifelt dagegen ankämpft, wie er sich sträubt, wie er versucht, den Kopf über den Fluten zu halten, wie er nach Luft ringt, aber nie genug bekommt, um sich retten zu können.

Aber Nicholas ist nicht gestorben. Er lebt, und sie hat es Robert nicht sagen müssen. Sie haben es alle heil überstanden.

6

Zwei Jahre zuvor

Nachdem ich »Ein ganz besonderer Freund« gelesen hatte, wachte ich am nächsten Morgen erfrischt auf. Ich konnte es kaum erwarten, mich in die Arbeit zu stürzen, und ich nahm mir vor, meine Notizen durchzusehen und sie dann abzutippen. Ich wusste, dass irgendwo in der Kommode noch Papier war, weil in unserem Haus alles früher oder später in oder auf unserer Kommode zu landen schien. Ich konnte den Papierstapel, der unter den Scrabble- und Backgammon-Schachteln lag, schon vor mir sehen, doch ich scheiterte bei dem Versuch, ihn herauszuziehen. Der Stapel klemmte an der Rückwand der Kommode fest. Ein Paneel war eingedrückt, und ich versuchte, es von innen zu lockern, um das Papier herauszubekommen, doch es rührte sich immer noch keinen Millimeter. Irgendetwas steckte da zwischen der Rückwand der Kommode und der Wand. Ich langte mit der Hand dahinter und berührte etwas Weiches. Es war eine alte Handtasche von Nancy, offenbar eine ganz schlaue, die es irgendwie geschafft hatte, sich der Verbannung in den Sozialladen zu entziehen.

Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich an die Wand, streckte die Beine aus und nahm die Handtasche auf den Schoß. Sie war aus schwarzem Veloursleder mit einer Schließe aus zwei Perltropfen, die sich ineinander verhakten. Ich staubte sie ab und schaute hinein. Sie enthielt einen Satz Schlüssel von Jonathans Wohnung, einen Lippenstift und ein Stofftaschentuch, noch mit Falten vom Bügeln und zu einem Quadrat zusammengelegt. Ich zog die Kappe des Lippenstifts ab und schnupperte daran. Er hatte seinen Duft verloren, aber die abgeschrägte Form bewahrt, die er vom jahrelangen Reiben an Nancys Lippen angenommen hatte. Ich hielt das Taschentuch an die Nase, und sein Duft beschwor Erinnerungen an Abende im Theater herauf. Und dann fand ich etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: einen gelben Fotoumschlag mit dem aufgedruckten Kodak-Schriftzug in fetten schwarzen Lettern auf der Vorderseite. Das war ein kostbarer Fund, und ich wollte den Moment gebührend zelebrieren.

Ich kochte mir Kaffee und machte es mir auf dem Sofa bequem, in freudiger Erwartung einer Flut froher Erinnerungen. Ich nahm an, dass es sich um Urlaubsfotos handelte. Ich glaube, ich habe sogar gehofft, es wären welche von dem Martello-Turm darunter, als ob Nancy mir mit dem Fund der Handtasche helfen wollte, mein Projekt voranzubringen. In gewisser Weise war das auch der Fall, aber es war nicht das Projekt, das mir an jenem Morgen vorgeschwebt hatte.

Mein Kopf, der am Morgen noch so klar gewesen war, fühlte sich an, als ob jemand anders seinen Schädelinhalt darin abgeladen hätte. Ich konnte nicht mehr sagen, welche Gedanken meine waren und welche die der anderen Person, was wahr und was Lüge war. Mein Kaffee war kalt geworden, die Fotos lagen ausgebreitet auf meinem Schoß. Ich hatte Bilder erwartet, die ich wiedererkennen würde, aber diese hier hatte ich noch nie im Leben gesehen.

Sie sah direkt in die Kamera. Flirtete sie? Ich glaube, ja. Doch, sie flirtete eindeutig. Es waren Farbfotos. Manche waren am Strand aufgenommen. Sie lag da, eine lächelnde Gespielin in einem roten Bikini. Ihre Brüste waren hochgedrückt, als sei sie eine Art Pin-up-Girl, und sie sah eindeutig so aus, als hielte sie sich für eine sehr begehrenswerte Frau. Selbstbewusst. Ja, das war es. Sexuelles Selbstbewusstsein. Andere Bilder waren in einem Hotelzimmer aufgenommen. Sie waren schamlos. Die Frau war schamlos. Trotzdem musste ich hinsehen. Ich konnte nicht aufhören hinzusehen. Ich ging die Bilder ein ums andere Mal durch, ich quälte mich damit, und je länger ich hinsah, desto wütender wurde ich, denn je länger ich hinsah, desto mehr begriff ich.

Ich war so aufgewühlt, weil ich wusste, wer diese Fotos gemacht hatte. Der Schmerz setzte ein, als mir klar wurde, wer der Fotograf gewesen war. Ich kannte dieses hübsche Gesicht, auch wenn ich ihn nirgends finden konnte. Ich suchte und suchte, aber sooft ich die Bilder auch durchging, ich konnte nicht mehr erkennen als seinen Schatten, der auf einer der Aufnahmen in den Bildrand ragte. Ich ging sogar die Negative durch, hielt sie gegen das Licht, weil ich dachte, er könnte auf einem sein, das nicht entwickelt worden war. Es waren mehr Negative als Abzüge, und ich hoffte, dass eines davon ihn zeigen würde, doch sie waren verschwommen, unscharf, nicht zu gebrauchen.