Deep Sleep, Band 1: Codename: White Knight - Chris Morton - E-Book

Deep Sleep, Band 1: Codename: White Knight E-Book

Chris Morton

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Beschreibung

Sein Deckname: WHITE KNIGHT. Seine Ausbildung: TOPSECRET. Sein Ziel: die Operation DEEP SLEEP auffliegen lassen. Der 17-jährige Ian Brown führt ein scheinbar normales Leben. Doch dann hält plötzlich eine Reihe von Attentaten die Welt in Atem. Im Fadenkreuz: Politiker, Spitzenmanager, Tech-Gurus. Ehe Ian sichs versieht, überschlagen sich die Ereignisse. Denn die Anschläge werden von Jugendlichen verübt. Jugendliche, die im streng geheimen Black-Ops-Programm DEEP SLEEP ausgebildet wurden. Nun hat jemand diese Sleeper reaktiviert – und Ian ist einer von ihnen … Erlebe alle Bände der explosiven Action-Thriller-Reihe! Band 1: Codename: White Knight Band 2: Auftrag: The Whisperer Band 3: Mission: Good Mother

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Seitenzahl: 428

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2023 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2023 Ravensburger Verlag Text: Chris Morton Covergestaltung: ZeroMedia GmbH Verwendete Bilder von Shutterstock/Songquan Deng, Shutterstock/Lucia.Pinto, Shutterstock/i3alda, Shutterstock/muuraa, GettyImages/Enrico Calderoni/Aflo, Shutterstock/Ricardo Reitmeyer, Shutterstock/fran_kie Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51198-3

ravensburger.com

Für Carola,danke für alles …

PROLOG

WASHINGTON, D.C. Frühe Morgenstunden, 12. November 2022

Das Dröhnen der Rotoren senkte sich jäh zu einem Wispern, als die Black Hawks mit den beiden Navy-SEAL-Platoons sich dem Einsatzziel näherten und in den Flüstermodus übergingen. Zwei schwarzen Schemen gleich glitten sie durch die Nacht auf den Gebäudekomplex zu, der sich vor ihnen erhob. Die Aufnahmen der Wärmebildgeräte und Nachtsichtkameras offenbarten keine bösenÜberraschungen.AufdemFlachdachdesHauptgebäudes zeichneten sich die Konturen zweier Wachen ab, bewaffnet mit den üblichenAK-47. Im Hof, der von einer mit Stacheldraht gekröntenMauerumgebenwar,patrouilliertenzweiweitereBewaffnete.EinervonihnenhatteeinenWachhunddabei,derplötzlichdasBeinhob,umderNaturihrenLaufzulassen.Prompt verwandelte das Wärmebildgerät den dampfend warmen Urin auf den Monitoren im Situation Room in eine spektakuläre Lightshow.

Abigail »Aby« Cane spürte, wie sich um sie herum die erste Anspannung löste. Der Stoff von Uniformen, Anzügen und Kostümen raschelte, als die Träger sich auf ihren Sitzen etwas lockerer machten. Hier und da ertönte ein unterdrücktes Prusten.

Reicht doch gleich ein paar Häppchen dazu, dachte Aby gereizt. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu der Frau neben ihr – demGrund,dasssiegarnichtsovielessenkonnte,wiesiekotzen wollte: Katherine Long, Leiterin derCIA-Niederlassung in IslamabadundeiskalteKarrierekuh,diemanihrbeidieserMission vor die Nase gesetzt hatte – nach über zwanzig Jahren DienstalsFieldAgent.Herrgott,waswürdesiejetztfüreineZigarette geben!

Sie waren hinter Djamal Rajendran her,demPosterboy-TerroristennachBinLadensTod.DerindiesemGebäudedastecken sollte, zu Besuch bei einer Nebenfrau anlässlich des Beschneidungsfestes seines Jüngstgeborenen – so jedenfalls die Informationen aus höchsten pakistanischen Geheimdienstquellen … Katherines Quellen natürlich, wie sie bei den Briefings immer wieder betont hatte. Dass Abys Informant vor Ort geschworen hatte, dass nichts auf die Anwesenheit Djamal Rajendrans hinwies,waralswichtigtuerischesGehabeeinesOpiumschmugglers abgetan worden. Okay, an Letzterem war was dran. Aber Omar hatte sich bisher immer als zuverlässig erwiesen.

Die Anwesenden hielten den Atem an, als mit gezielten Distanzschüssen die Wachen samt Hund ausgeschaltet wurden. Black HawkIsetzte zur Landung auf dem Dach an, während Black HawkIInoch über dem Hof verharrte.

»Läuft ja wie am Schnürchen«, hörte Aby jemanden flüstern, als aus der Finsternis des Hofes ein greller Feuerschweif aufstieg und Black HawkIin einem gewaltigen Feuerball explodierte. Der Rest war Chaos, Verzweiflung, Tod …

Schweißgebadet schreckte Aby auf. Ein Albtraum … wieder einmal. Dabei lagen die Ereignisse schon über ein Jahr zurück. StöhnendließsiesichaufdasKissensinkenundstarrtezurDecke, an die der stumm laufende Fernseher sein buntes Flackerlicht zauberte. Sie waren geradewegs in eine Falle getappt. Der Gegner hatte sich in getarnten Erdlöchern im Hof versteckt. Fiebersenkende Medikamente und reflektierende Folien hatten die Wärmebildgeräte zum Narren gehalten. Sekunden nach dem Abschuss von Black HawkIwar auch Black HawkIIvon einer Stinger-Rakete getroffen worden. Niemand hatte überlebt, die Terroristen waren allesamt entkommen und diepakistanischen Geheimdienstkreise räumten auf einmal ein, dass Djamal Rajendran wohl nie im Gebäude gewesen sei.

Zu allem Überfluss hatte sich bei den Debriefings immer deutlicherabgezeichnet,dassKatherineLongesirgendwiesogeschaukelt kriegte, dass man ihr, Aby, die Schuld in die Schuhe schob.SiehättenichtenergischgenugaufihrerOrtskenntnisbeharrt. Also hatte man sie schließlich ins Aktenarchiv abgeschoben. Okay, dass sie Katherine bei der letzten Besprechung als »Dummes Miststück!« bezeichnet hatte, war auch nicht gerade hilfreich gewesen. Sie konnte froh sein, dass man sie nicht gefeuert hatte.

Aby setzte sich auf und wollte nach der Zigarettenschachtel auf dem Nachttisch langen, als ihr Blick auf dem Fernseher haften blieb.BLUTIGERANSCHLAGVONTEEN-ATTENTÄTERNAUFPOLIZEIBALLlief über denCNN-Newsticker. Darüber wurden Fotos der Täter eingeblendet. Aby starrte, als hätte sie einen Geist gesehen. Was in gewisser Weise zutraf … Sie kannte die Gesichter. Aus einer Akte, die sie vor ein paar Monaten als TeilihrerArbeithattedigitalisierenlassen.EineAktemitFotos,CodenamenundTarnbiografienvonTeenagern,dieTeileineseingestellten bizarren Black-Ops-Programms namensDEEPSLEEPwaren. Aby hatte keinen Zweifel: Die Teens auf dem Bildschirm waren Schläfer diesesCIA-Programms gewesen. Und jemand hatte sie offensichtlich geweckt.

NachdenklichstarrteAbyaufdenFernseher.Etwassagte ihr, dass sich sowohl die Akte als auch die digitalisierten Daten in Luft aufgelöst haben würden, wenn sie morgen Früh danach suchte.VielleichtwurdeesZeit,einenaltenFreundzukontaktieren …

AMERIKANISCHE OSTKÜSTE, GROSSRAUM NEW YORK CITY Früher Nachmittag, 8. März 2023

Der Ball kam in perfektem Bogen. Das vor dem tiefblauen Himmel rotierende Ei im Blick stürmte Ian Brown in die gegnerische 30-Yards-Zone.UmtanzteeinenVerteidiger,alshättedieserWurzeln geschlagen. Sofort nahmen zwei weitere Gegner ihn in die Zange – bereit, ihn in den Boden zu rammen. Körpertäuschung, kurzer Haken … Nummer eins lief ins Leere. Nummer zwei fegte mit dem für Ian gedachten Tackling seinen eigenen Kumpanen von den Beinen. Lauter Zuschauerjubel übertönte das hässliche Geräusch, mit dem die beiden auf dem Boden aufschlugen.

Laut rauschte das Blut in Ians Ohren, begleitet vom dumpfen Wummern der Füße, die über den Rasen trommelten. Die Welt war zu einem Tunnel geworden, in dem es nichts gab als den Ball. Der genau in seinen Lauf kam … und mit der Wucht eines Hammerschlags in Ians Armen landete. Im nächsten Moment hatte Ian die gegnerische Endzone erreicht. Touchdown!

Der Abpfiff des Schiedsrichters ging im ohrenbetäubenden BeifallsorkanderZuschauerunter.WieauseinerTranceerwacht, starrte Ian auf den Ball. Sie hatten es geschafft, die County-Meisterschaft gewonnen, in allerletzter Sekunde!

Unwillkürlich flog sein Blick zur Tribüne, zu Linda und Gerald,seinenAdoptiveltern.SeinDadpfiffundklatschtesich die Seele aus dem Leib, während Mom ihm den erhobenen Daumen entgegenstreckte. Ian wollte zu ihnen sprinten, doch schon wurde er von den Beinen gefegt und unter einer Traube von Mitspielern begraben. Es dauerte etwas, bis er sich aus dem Jubelwirrwarr lösen konnte und endlich bei ihnen war.

Wie häufig, wenn sein Dad gerührt war, machte er Anstalten, ihm durch die Haare zu rubbeln. Aber da Ian noch seinen Helm trug, geriet das Ganze zu einem etwas linkischen Klopfen gegen die harte Helmschale. »Gut gemacht!«, sagte er, bevor Ians Mom ihn auch schon an sich drückte – verschwitzt und vor Dreck starrend, wie er war.

»Wow! Lass dich ansehen!«, strahlte sie, unbeeindruckt davon, dass ihre strahlend weiße Windjacke auf einmal ein bizarres Kuhmuster aus schwarz-grünen Flecken aufwies. »Das muss gefeiert werden!«

»Genau«, griff Ians Dad den Vorschlag auf. »Wie wär’s, wenn wir gleich zu Tino’s fahren?«

Tino’s war Ians Lieblingspizzeria. Normalerweise hätten seine Eltern damit offene Türen eingerannt. Normalerweise …

»Tja, also …«, begann er verlegen, während seine Augen zu ein paar Mitspielern und Cheerleaderinnen in der Nähe wanderten. Genauer gesagt zu einer Cheerleaderin mit wunderschönen roten Haaren, die ihm zuwinkte.

LächelndwinkteIansMomzurück.»Ah,schonkapiert«,sagte sie zwinkernd. »Du hast was Besseres vor.«

»Na ja«, erwiderte Ian und wurde rot. »Wir wollten gleich nochallezusammenzuMax.DenSiegfeiern.«MaxwarIansbester Freund und Quarterback der Mannschaft.

»Kein Problem«, grinste Ians Dad. »Holen wir irgendwann nach.«

»Cool!«, grinste Ian zurück, erleichtert, dass die beiden es so leichtnahmen.

Gefeiert als Held und überglücklich, ließ Ian sich vom Rausch des Siegestrubels mitreißen und erst unter der Dusche, als das warmeWasserberuhigendaufseinenRückenprasselte,erwachte er langsam daraus. Mit dem Anziehen ließ er sich ganz bewusst Zeit, bis er schließlich alleine war.

TotenstillwaresaufeinmalinderKabine.Iansetztesich auf die Bank, schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Spindtür. Er brauchte einen Moment für sich, um richtig zu begreifen, was geschehen war.

EinKlingelnzerrissdieStille.EskamvonseinemHandy, das neben ihm auf der Bank lag. Leicht genervt starrte er aufs Display. Eine unbekannte Nummer. Schon schwebte sein Finger über dem Ablehnen-Button – als ihm das plötzlich völlig ausgeschlossen vorkam.

Ian ging ran. »Ja?«

»Hänschen klein, ging allein …« Wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden ließ Ian das Handy sinken, kaum dass am anderen Ende die vertraute Melodie erklang. Er starrte auf das Display in seinem Schoß. Bunt wirbelnde Kreise formten dort einen Trichter, der nach jeder Faser seines Geistes zupfte. Tastend, zaghaft zunächst. Dann brutal und unbarmherzig, bis jeder Widerstand brach.

Blinzelnd starrte er auf das Display.

Autorisierungscode WHITE KNIGHT

So wie er wusste, dass der Himmel blau war, wusste er:WHITEKNIGHT, das war er. Ohne zu zögern tippte er den Code ein, dessen Zahlen und Buchstaben ihm wie aus dem Nichts in den Sinn kamen. Mehrere Seiten mit Anweisungen, Skizzen, Karten undGPS-Koordinaten poppten auf, unter der Überschrift:Operation Liveguard – Einsatzbriefing.

Rasch und konzentriert überflog er alles.WHITEKNIGHTstand auf, griff seine Tasche und verließ die Umkleidekabine.

Ian Brown existierte nicht mehr …

1

WASHINGTON, D.C. Nachmittag, 8. März 2023

Stuart Wang – stellvertretender Sicherheitschef des Tech-GigantenBRIGHTHORIZON – konnte immer noch nicht fassen, dass er das hier durchzog. Gemeinsam mit seiner alten Freundin und Ex-CIA-Kollegin Aby saß er vor einem Notebook in einem anonymen, abgeranzten Mietbüro, das nach Rattenpisse stank, und war gerade dabei, sein Leben in die Tonne zu treten.

»Hat dir eigentlich mal jemand gesagt, dass Rauchen ungesund ist?«, brummte Stuart und wedelte die Qualmwolke weg, die Aby gegen den Bildschirm blies.

»Dasda ist ungesund!«, gab Aby ungerührt zur Antwort und zeigte auf das, was sie vor sich sahen.

Stuart konnte Aby nur recht geben. Das, womit sie es da zu tunhatten,warschlichteinAlbtraum –einWort,dasauchStuarts letzte Wochen ziemlich gut beschrieb.

Als Aby ihn vor vier Monaten kontaktiert und etwas voneinem ominösenCIA-Black-Ops-Programm mit dem CodenamenDEEPSLEEPschwadroniert hatte, hatte er die Sache zuerst nichtrechternstgenommen.TeenagervonderStraße,diezuKillermaschinen ausgebildet wurden, um sie als Schläfer bei ahnungslosen Pflegefamilien zu parken? Ohne dass sie sich ihrer wahren Identität und ihrer Fähigkeiten bewusst waren? Also, bitte! Doch Aby war Aby.

Stuart hatte sie in seiner Zeit alsIT- und Aufklärungsexperte bei derCIAkennengelernt und bei mehreren gemeinsamen Missionen in Afghanistan und dem Irak war aus einer beruflichen Beziehung tiefe Freundschaft geworden. Er kannte Abys Fähigkeiten, ihr fotografisches Gedächtnis und ihren legendären Riecher. Also hatte er ihrem Drängen irgendwann nachgegeben, nachdem sich plötzlich weder in Abys verstaubtem Archiv noch in dessen digitalem Gegenstück etwas zuDEEPSLEEPfinden ließ. Also hatte er auf denBRIGHT HORIZON-Servern, auf die dieCIAihre digitalen Akten ausgelagert hatte, heimlich gegraben – bis er in einer Backup-Spiegelcloud schließlich fündig geworden war.

AbysWortehattensichalswahrerwiesen:Namen,Codenamen,FotosundTarnbiografienvonTeenagernsowieeineBeschreibung vonDEEPSLEEP, die sich las wie ein perverses Kochbuch für Chaos und Terror. Es war alles dagewesen. Fassungslosigkeit, Bestürzung und Angst … das beschrieb in etwa das,wasinihmvorgegangenwar,kaumdassereinenBlickhineingeworfen hatte. Das und eine nervöse Erleichterung über die Sicherheitsvorkehrungen, die er nach alter, von manchen Freunden als Paranoia belächelten Gewohnheit getroffen hatte. Er hatte nachts gearbeitet, als kaum jemand im Gebäude war. An einem ungenutzten Praktikantenplatz in derPR-Abteilung, dessenIPdankVPN-Thor-Zugang und diverser anderer kleiner Kniffekaumzueruierenseinwürde.WasdieÜberwachungskameras in den betroffenen Zonen anbelangte, nun, so hatte er natürlich dafür gesorgt, dass sie nichts als leere Flure und Büros zeigten.

»He, worauf wartest du?«, riss Abys Stimme ihn aus Gedanken.

Zögernd starrte Stuart auf den Schirm, wo sein Cursor wie festgefroren über einem Hyperlink verharrte. Wenn sie das hier durchzogen, gab es kein Zurück mehr.DEEPSLEEPauszuspähen war das eine. Das andere dieser Link, auf den sie ebenfalls gestoßen waren. Ein Link zu einem verdammten Ops-Center – einer operativen Plattform, von der aus Schläferzellen geweckt werden konnten. Stuarts erster Zugriffsversuch hatte mit der Erkenntnis geendet, dass dafür ein Fingerabdruck und Irisscan der ZugriffsberechtigungALPHAerforderlich waren – über die beiBRIGHTHORIZONnur derCEOKen Olsen und Stuarts Boss WesleyStylesverfügten.Hieß:NichtnurKreisederCIAwaren indiemysteriösenTerroranschlägeverstrickt,sondernauchseine eigene Firma.

Plötzlich spürte Stuart Abys Hand auf der Schulter. »Schon gut, Stu«, sagte seine Freundin leise. »Ich habe auch Angst. Aber uns bleibt keine Wahl.«

Stuartseufzte.GenauzudemSchlusswarensielängstgekommen.DassStylesfürOlsengeradeirgendeinenGeheimjobinEuropaerledigte,spielteihnendabeiinsofernindieHände,dassStuartdamitfürdieSicherheitschecksinOlsensBürozuständigwar.Eindabei»ausVersehen«umgestoßenerundentsorgterKaffeebecherhattedasProblemmitdemFingerabdruckrelativleichtgelöst.DasmitdemIrisscanwarsogarnocheinfachergewesen:StuarthattesichdasFotovonKenOlsensSicherheitsausweisübergroßausderDatenbankaufeinPrepaidhandygezogen.

»Und wenn wir es doch mit den Cops versuchen?«, machte Stuart einen letzten, halbherzigen Versuch. »Oder demFBI?«

Aby schüttelte den Kopf. »Das haben wir doch schon alles durchgespielt. Wenn Teile derCIAund ein Weltkonzern wieBRIGHTHORIZONmit drinstecken, haben die bestimmt auch daihreLeute.Abgesehendavon,dassdiemitLeichtigkeitSachen vertuschen können, wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass uns während eines Verhörs etwas Tragisches passiert? Etwa ein Schlaganfall oder eine Lungenembolie?«

Ziemlich hoch, schätzte Stuart. »Vielleicht solltest du dann endlich mal mit dem Rauchen aufhören«, schob er in einem Anflug von Galgenhumor hinterher.

»Nur wenn du da endlich reingehst«, erwiderte Aby mit schiefem Grinsen und wurde gleich wieder ernst. »Du weißt, was auf dem Spiel steht.«

Wusste er nur zu gut. Bei ihrem ersten gelungenen Zugriff auf dasDEEP SLEEP-Ops-Center waren sie auf Hinweise auf ein weiteres Attentat vonDEEPSLEEPERNgestoßen, das unmittelbar bevorstand. Trotz moralischer Bauchschmerzen hatten sie sichdeshalbentschlossen,einenDEEPSLEEPERzuweckenund umzudrehen. Sein Auftrag: das Attentat verhindern und etwas über die Attentäter und Hintergründe herausfinden. In der Kürze der Zeit hatte die erforderliche Logistikunterstützung sie fast an die Grenzen der Möglichkeiten gebracht. Doch nun hatten sie es geschafft. Es war so weit.

»Also«, sagte Aby und stupste Stuart in die Seite. »Ente oder Twente!«

Mit einem Seufzen klickte Stuart auf den Link, wählte sich ein … und aktivierteWHITEKNIGHT.

AMERIKANISCHE OSTKÜSTE, GROSSRAUM NEW YORK CITY Nachmittag, 8. März 2023

Zielstrebig verließWHITEKNIGHTdas Schulgelände. Ohne übertriebene Hast steuerte er auf den Parkplatz eines Einkaufszentrums zu. Das Missionstiming war ambitioniert. Hieß: Er brauchte einen fahrbaren Untersatz. Im hintersten Winkel des Parkplatzes wurde er fündig: ein alter Dodge Pick-up, verdreckt bis zum Gehtnichtmehr und außer Sichtweite derÜberwachungskameras.Auch in Weiß lieferbar!hatte irgendein Witzbold mit dem Finger auf die Beifahrertür geschmiert.

Die Augen auf die Umgebung gerichtet, wickelteWHITEKNIGHTseine Windjacke um den Ellenbogen. Ein harter Stoß ließ die Seitenscheibe zersplittern. Ein Griff nach innen und die Tür war entriegelt. In einer einzigen, fließenden Bewegung fegte er mit der Jacke die Splitter vom Sitz, schwang sich hinein und riss die Abdeckung der Zündverkabelung ab. Das Kurzschließen dauerte nicht viel länger als ein Wimpernschlag. Mit tiefem Wummern erwachte der Dodge zum Leben.

Auf der Interstate 95 lenkteWHITEKNIGHTden Wagen zunächst nach Norden Richtung New York. Bis zur geplanten AnkunftszeitamEinsatzortbliebennichteinmalfünfStunden – mit eingerechnet ein Zwischenstopp im Atlantis-Marina-Jachthafen auf Staten Island, wo laut Briefing das nächste Transportmittel samt seiner Ausrüstung auf ihn warteten. Dennoch widerstandWHITEKNIGHTdem Drang, schneller als die erlaubten 65 Meilen zu fahren. Eine Fahrzeugkontrolle der Highway Patrol war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.

WährendderFahrtkonnteWHITEKNIGHTeindiffusesUnbehagen nicht unterdrücken. Die Aktivierung war kurzfristig erfolgt. Wie improvisiert. Energisch schüttelte er den Kopf und schob den Gedanken beiseite. Spielte alles keine Rolle – die Mission war das Einzige, was zählte. Dafür und nur dafür war er ausgebildet worden.

OhneZwischenfalllegteerMeileumMeilezurück.Alserendlich auf den Parkplatz des Atlantis-Marina-Jachthafens einbog, war die Sonne längst untergegangen. Zum Glück war zu dieserJahres-undTageszeitalleseinsamundverlassen.Erkappte die Zündung und stieg aus.

Dumpf halltenseine Schritte kurz darauf über die Holzbohlen der Steganlage, vorbeian Reihen von verlassenen Segel- und Motorbooten, die träge inder kalten Brise vor sich hindümpelten. Er blieb stehen. Liegeplatz185, ein Boot mit kleiner Kabine und Außenborder, wie Angleres gerne nutzten. Ein beiläufiger Blick zeigte, dass er immernoch alleine war. Er bückte sich und ertastete unter denHolzbohlen den mit Tape befestigten Kabinenschlüssel.

Er musste nicht lange suchen, kaum dass er die Innenbeleuchtung eingeschaltet hatte. Auf einer der beiden Sitzbänke wartete eine Segeltasche auf ihn, deren Inhalt keine Wünsche offenließ. Genauso wenig wie der Tauchscooter, der daneben unter einer Decke verborgen lag.

Wenig später steuerteWHITEKNIGHTin die nächtliche Schwärze der Lower Bay hinaus. Das Leuchtfeuer des West-Bank-Leuchtturms wies den Weg.

Nach dreißig Minuten änderte erdenKurs,umaufdiegleißendenLichtervonConeyIslandzuzuhalten. Schließlich stoppte er,löschtediePositionslichterundholtedieAusrüstungan Deck.

Im Okular des mitgelieferten Hochleistungsfernglases sprang ihm der Strand von Coney Island entgegen, der ebenso verwaist dalag wie die Achterbahnen des Luna-Vergnügungsparks. Ein leichterSchwenkbrachtedieSilhouettedesNewYorkAquarium mit seiner blauen Leuchtfassade in den Blick. Bingo! Irgendwo dort … Er hielt inne, als das Einsatzziel in den Fokus glitt: eine hell erleuchtete Luxusjachtmit der vom Briefing vertrauten Silhouette. Richtung 10 Grad Nordnordost, Entfernung zweitausendeinhundertfünfzig Meter, der Digitalanzeige im Okular nach.Systematisch suchteWHITEKNIGHTdie Wasseroberfläche im weiteren Umkreis ab. Nichts als ein paar Container- und Küstenmotorschiffe, aber weit und breit keine verdächtigen Umrisse kleinerer Boote. Wie’s aussah, würde er der Erste auf der Party sein.

Zufrieden,dassertrotzdesknappenTimingsnunimstrategischen Vorteil war, zog er sich aus und schlüpfte in den schwarzen Wetsuit aus der Segeltasche. Streifte die Tauchstiefel über, legte die taktische Weste mit den wasserdichten Taschen an und befestigte per Schnellverschluss das Dräger-Sauerstoffgerät. Mit effizienten Bewegungen befestigte er das Tauchmesser samt Futteral am Unterschenkel, unterzog die 9mm-Heckler & Koch einer kurzen Überprüfung, bevor er den Schalldämpfer montierte, eines der drei 15-Schuss-Magazine in den Schacht schob und durchlud. Wie nebenbei verstaute er die Pistole im Holster der Taktikweste und die Reservemagazine in entsprechenden Taschen, gefolgt von einer Blendgranate, einem Elektroschocker sowie diversen Kabelbindern.

Er langte in die Dose mit wasserfester Tarnfarbe und bestrich sich das Gesicht. Fertig ausgerüstet mit Taucheruhr, Armbandkompass, Brille und Flossen studierte er auf seinem Handy abschließend noch einmal die Grundrisse der Jacht, bis er sicher war, sie in- und auswendig zu kennen.

Mit einem letzten Blick durchs Okular überzeugte er sich, dass die Luft immer noch rein war, bevor er sein Handy verstaute, den Scooter über Bord hievte und sich ins Wasser gleiten ließ.

WährenddieeinsetzendeEbbströmungdasBootaufdenAtlantik hinauszog, ging er mit dem Scooter auf drei Meter Tiefe. Mit einem Blick auf die gespenstisch leuchtende Kompassanzeige lenkte er das Tauchgerät auf 10 Grad Nordnordost und ließ sich durch die eisige Schwärze ziehen.

Für kurze Zeit zum Nichtstun verdammt, klopfte sein Hirn wie von selbst noch einmal die Spezifikationen der Mission ab. Eigentümer der Luxusjacht war Yorik VanSand, gehypter High-Tech-Zar und seines Zeichens Vorstand des weltumspannenden TechnologieunternehmensNEWDIMENSION. Als Hauptsponsor des New York Aquarium sollte er an der großen Spendengala teilnehmen, die dort morgen Abend für die Reichen und Schönen stattfand, offizielles Motto: »Dinner unter Haien«. Die Leute hatten Nerven. Als Liebhaber extravaganter Auftritte war VanSandschonamVorabendmitseinerLuxusjacht,derMonPlaisir, aufgekreuzt, um hundert Meter vom Strand entfernt auf Reede zu gehen.

Neben dem Glamourfaktor hatte seine Security vermutlich auchausSicherheitsgründendaraufbeharrt.Dochsiehattensich geschnitten. Denn gerade in diesem Moment war ein Kill-Team unterwegs, um VanSand zu liquidieren.WHITEKNIGHTs Auftrag: den Anschlag verhindern, die Attentäter dingfest machen, verhören und danach den Behörden überlassen. Um dann unterzutauchen und auf weitere Anweisungen zu warten. Dafür würde laut Briefing noch ein weiterer Gegenstand aus der Segeltasche wichtig werden. Unwillkürlich tastete seine Hand nach den Konturen des Schlüssels, den er unter dem Wetsuit an einer Halskette trug.

Ein fahles grünes Blinken durchzuckte die Finsternis … die Scooter-Anzeige, die das Erreichen der einprogrammierten Fünfzig-Meter-Distanz zum Einsatzziel signalisierte. Er stoppte. Mit demScooterdurchdieSicherheitsleineverbunden,strebteermit zwei perfekt dosierten Flossenschlägen der Oberfläche entgegen. Ohne den geringsten Laut schob sich sein Kopf aus dem Wasser –knappaußerhalbdesScheins,dendieLichterderJacht auf das Wasser warfen. Perfekt! Genau wie berechnet. Er tauchte wiederunter,löstedieLeineundflutetedieBallastzelledesScooters. Lautlos entschwand das Gerät in der Tiefe.

ErtauchteaufdasHeckderJachtzu.Dorthin,wovomtiefliegendenAchterdeckeineLeiterinsWasserführte –fürunbeschwerte Badefreuden an schönen Sonnentagen. Kurz hatteWHITEKNIGHTmit dem Gedanken gespielt, die Ankerkette hochzuklettern, um durch die Ankerklüse an Bord zu gelangen. Aber dabei wäre er zu lange wehr- und deckungslos gewesen. Nicht so bei der Leiter – jedenfalls, wenn gerade niemand aufpasste. Doch das von Scheinwerfern angestrahlte Achterdeck lag einsamundverlassenda.AuchaufdemdarüberliegendenGaleriedeck war niemand zu sehen.WHITEKNIGHTblickte auf die Uhr. Das Kill-Team war mittlerweile überfällig. Er traf eine Entscheidung. Schlüpfte aus den Flossen, löste die Schnellverschlüsse des Drägers, nahm die Taucherbrille ab und überließ das Equipment dem Meer. Es gab kein Zurück mehr.

Er stieg die ersten drei Leiterstufen empor. Die Augen knapp über der Deckkante, spähte er aufs Achterdeck. Rechts ein paar leere Sonnenliegen. Dahinter ein dampfender Whirlpool, der verlassenvorsichhinblubberte.GeradeauseineGlasschiebetür, durchdiesicheinmattbeleuchteterGangabzeichnete.Linkseine verwaiste Loungegruppe mit Tisch, auf dem ein paar geleerte Cocktailgläser standen. Gedämpfte Barmusik erfüllte aus verborgenen Lautsprechern die Nacht.Tall and tan and young and lovely …Er huschte an Deck. Ging hinter der Loungegruppe in Deckung. Lauschte.The girl from Ipanema goes walking … Nichts, sah man von dem Gedudel ab. Geschmeidig wie eine Katze rückte er auf die Schiebetür vor.And when she passes …Und erstarrte, als er aus dem Augenwinkel etwas wahrnahm. Der Whirlpool war nicht leer. Ein blonder Mann im Anzug saß darin. Augen geschlossenen. Kopf im Nacken. Im Ohr das für einen Bodyguard typische Earpiece. … each one she passes goes »Ah!« …

Der Blonde sah aus, als ob er schliefe. AberWHITEKNIGHTwusste,dasseresnichttat.Erhocktesichnebenihnundtastete nach dem Puls der Halsschlagader. Schlaff kippte der Kopf schräg nach vorn. Ein Cocktailspieß ragte fast bis zum Anschlag aus Blondschopfs Nacken. Das Kill-Team war bereits an Bord!

Er unterdrückte einen Fluch. Jeglicher Vorteil war dahin. Jetzt liefesaufeinWettrennengegenbestenstrainierteGegnerhinaus. Gegner, die wahrscheinlich gerade strategisch gut verteilt durchs Schiff vorrückten – eine Spur aus Tod und Vernichtung nach sich ziehend. Seufzend zog er die Heckler & Koch aus dem Holster und entsicherte sie. Das hier würde hässlich werden.

Ob es nur ein Gefühl war oder der winzige Hauch warmer ZugluftimNacken –plötzlichwussteWHITEKNIGHT,dass er nicht mehr allein war. Noch bevor sich der Schatten auf den Whirlpool legte, hechtete er zur Seite. Unter lautem Scheppern stoben einige Liegestühle beiseite, während er sich noch in der Luft drehte. Ein Kerl Anfang 20 im schwarzen Wetsuit. Bürstenhaare.Muskulös.SeinMesserdurchschnittinbrutalemAbwärtshieb die Luft an der Stelle, woWHITEKNIGHTeben noch gehockt hatte. Nicht mehr in der Lage, die Bewegung abzufangen, versenkte er die Klinge in der Schulter des Blonden.WHITEKNIGHTbrachte die Heckler & Koch in Anschlag. Mit zwei lautlosen Schüssen in Schläfe und Hals schaltete er den Gegner aus. Stumm kippte Bürstenhaar nach vorne und leistete dem Blonden im Whirlpool Gesellschaft. Mit jähem Ruck schwenkteWHITEKNIGHTdenPistolenlaufRichtungSchiebetür.Weiter, hoch zum Galeriedeck. Und wieder zurück zur Schiebetür. Nichts.Erleichterterhobersich.EinpaarSekundennahmersich Zeit, um einen Blick auf den ausgeschalteten Gegner zu werfen: Wetsuit, Taktikweste, Messer … ähnliche Ausrüstung. Mit Ausnahme des M4-Sturmgewehrs mit Schalldämpfer, das an einem Riemen um den Rücken geschlungen war.

WHITEKNIGHTspielte mit dem Gedanken, es an sich zu nehmen. Die überlegene Feuerkraft war verlockend. Dann entschied er sich dagegen. In den beengten Gängen der Yacht fühlte er sich mit der handlicheren Heckler & Koch wohler, die auf kurze Distanzen höchste Präzision auch bei schneller Schussfolge ermöglichte.

Ein kurzer Blick um die Ecke zeigte, dass der Gang hinter der Glastür leer war.

Lautlos rückte er ins Innere der Jacht vor, die Waffe beidhändig im Anschlag, nach allen Seiten sichernd.

Kurz vor einer Gangkreuzung verharrte er und rief sich den Grundriss ins Gedächtnis. Links führte nach wenigen Metern ein Niedergang in die Quartiere der Crew und den Maschinenraum hinab.Rechtsgelangte manindenKombüsenbereich.ZuVanSandsPrivattrakt ging es geradeaus, Richtung Bug. Wahrscheinlich hatte das Kill-Team sich aufgeteilt.

Erlauschte.Tatsächlich!Vonlinksmeinteer,Lauteaus dem unteren Deck zu hören. Rumoren … Gepolter … erstickte Schreie … Rechts war alles totenstill.

Dafür brach im nächsten Moment weiter vorne die Hölle los. Pistolenschüsse, dumpfe Feuerstöße schallgedämpfter M4s, gellende Schreie. Er musste handeln. Jetzt!

Entschlossenrückteervor.WieausdemNichtstrafein Hieb sein Handgelenk – so hart und präzise, dass der stechende Schmerz bis in die Schulter jagte. Die Heckler & Koch entglitt den schlaffen Fingern, während von rechts eine Pranke vorschoss. Wie eine Stahlzange umkrallte sie sein Handgelenk und rissihnumdieEckeherum –aufeinenGegnerzu,derdortgelauert hatte. Ein Gefrierschrank in schwarzem Wetsuit, zehn ZentimetergrößerunddreißigKiloschwerer,miteisblauenAugen, die ihm boshaft entgegenfunkelten, während die freie Hand mit geballten Knöcheln auf seine Kehle zuschoss.WHITEKNIGHTriss den Kopf zur Seite. Die Knöchel streiften an seinem Hals entlang, aber die Hauptwucht des Schlages ging ins Leere.

Er riss das Knie hoch – und landete einen Volltreffer in die Weichteile. Grunzend sackte der Riese auf ein Knie, ohne jedochWHITEKNIGHTs Hand aus seiner Pranke zu lassen. Mit voller Wucht warfWHITEKNIGHTsich nach hinten und setzte im Fallen zu einem Tritt an. Sein Fuß traf das Standknie des Gegners. Knochen brachen, Sehnen rissen. Mit einem Schrei ging Gefrierschrank ganz zu Boden und löste den Griff um die Hand seinesGegners,nurumsichdirektwiederaufdieEllenbogen zustemmen.FieberhaftnestelteWHITEKNIGHTanderTaktikweste, bevor sich seine verschwitzten Finger schließlich um den ersehnten Griff schlossen. Mit einer flüssigen Bewegung rammte er Gefrierschrank die Elektroden des Elektroschockers in den Hals und drückte den Auslöser. Drei Millionen Volt jagten durch die Nervenbahnen des Kolosses und ließen den schweren Körper zucken und zappeln. Keuchend lagWHITEKNIGHTeinen Moment da. Doch die Schüsse, die durch die Jacht hallten, erlaubten keine Pause.

Er klaubte die Heckler & Koch auf. Der Fight mit Gefrierschrank hatte wertvolle Zeit gekostet, ihn aber jetzt mit dem Aufgang zum Galeriedeck vor Augen auch auf eine taktische Alternative gebracht. Von da oben kam man zur Brücke und von dort über eine Wendeltreppe direkt in VanSands Wohnräume. Mit der Waffe im Anschlag pirschte er hoch. Oben zeigte ein kurzer Blick, dass die Luft rein war – sah man von der Leiche eines Leibwächters ab, die auf halbem Weg zur Brücke auf dem Deck lag.

In der Brücke selbst hatte offensichtlich ein heftiger Kampf getobt, bei dem die Verteidiger ernsthaften Widerstand geleistet hatten. Außer den Leichen eines dritten Bodyguards und zweier Crewmitglieder –darunterderKapitän –zählteWHITEKNIGHTauch die eines Attentäters im schwarzen Wetsuit.

Er kauerte sich hinter einen großen Kartentisch und lauschte. Unmittelbar auf der anderen Seite des Tisches führte die Wendeltreppe in die Tiefe. Das Kampfgetöse war verstummt. Dafür drang das Gemurmel von Stimmen zu ihm empor. Auf den Ellenbogen robbte er lautlos zur Treppenöffnung vor, bis er gerade eben über den Rand nach unten spähen konnte. Durch eine weit geöffnete Tür bot sich ein Blick auf ein luxuriöses Wohnzimmer. Darin: umgekippte Sessel, ein zersplitterter Glastisch, zwei weitere tote Bodyguards und – mit dem Rücken zu ihm – drei Attentäter. Sie standen vor einem Sofa, auf dem ein völlig verängstigter VanSand saß.WHITEKNIGHTunterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Der Milliardär war noch am Leben.

»Bitte!«, krächzte dieser. »Ich habe Geld. Viel Geld.«

»Oh!«, sagte einer der Attentäter, der eine Pistole auf ihn gerichtet hatte. »Danke, aber nein, danke!«

»W… was wollen Sie dann?«, stieß VanSand zwischen bebenden Lippen hervor.

»Dass du der Welt jetzt brav auf Wiedersehen sagst«, antwortete der Zweite, während er sein Handy auf ihn richtete – offenbar, um die bevorstehende Exekution zu filmen.

Jede taktische Überlegung hatte sich erledigt.WHITEKNIGHTmusste eingreifen, sofort.

Vorsichtig zog er eine Blendgranate hervor. Entfernte den Sicherungsstift mit den Zähnen. Warf. Die 0,5 Sekunden Verzögerungszeit reichten, um den Kopf schützend zwischen die Arme zu nehmen.BÄM!Ein ohrenbetäubender Knall ließ das Wohnzimmer erbeben – begleitet von einem Lichtblitz heller als die Sonne. Desorientiert gingen die drei Attentäter zu Boden. Einer schlug sich den Kopf blutig, als seine Stirn im Fallen gegen die Kante des Glastisches krachte. Reglos blieb er liegen.

Der Körper war noch nicht aufgeschlagen, alsWHITEKNIGHTschon aufsprang und die Treppe hinabstürmte, in der einen Hand die Pistole, in der anderen ein paar Kabelbinder. Blitzschnell fesselte er Nummer eins und zwei, die sich stöhnend am Boden wälzten. Ein kurzer Blick auf Nummer drei signalisierte Entwarnung. Er eilte zum Sofa. VanSand war in sich zusammengesunken. Blut lief ihm aus den Ohren. Eine eiskalte Klammer legte sich umWHITEKNIGHTs Herz. War VanSand der Explosion so nahe gewesen, dass die Druckwelle ihn getötet hatte? Hastig legte er die Pistole ab, um nach der Halsschlagader zu tasten. Erleichtert stieß er die Luft aus, als er das Pochen spürte. Offenbar waren nur die Trommelfelle geplatzt.

Ein Stöhnen ließ ihn jäh herumfahren.

DerdritteAttentäterwarzusichgekommen.Starrteihn aus dem blutüberströmten Gesicht an. Eine junge Frau, fast noch imTeenageralter.MitgrünenAugen.Augen,dieerkannte …Die ErkenntnisließseineHand,dienachderHeckler&Kochgreifenwollte,kraftlossinken.FetzenhafteErinnerungendurchzuckten seinen Geist. Erinnerungen an Schmerz, Entbehrung und … Liebe.

Sie hob den Arm, eine schwarze Box in der Hand.

Ein Fernzünder! Das Kill-Team hatte einen Sprengsatz an Bord platziert. Mit aller Macht versuchteWHITEKNIGHT, sich aus der Trance zu reißen. Doch es war zu spät.

Ihr blutverschmiertes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Boom!«, sagte sie … und drückte den Zündknopf.

2

AMERIKANISCHE OSTKÜSTE Frühe Morgenstunden, 9. März 2023

Fröstelnd schlug die hagere Frau ihren Mantelkragen hoch und sah auf die Uhr. Ihr Date war spät dran. Ihr Mund verzog sich unwillkürlichzueinemfreudlosenGrinsen.Sowohldererwartete Kontakt als auch die Umgebung passten zu einem Date etwa so wie Burger King zu guten Blutwerten.

Mit mürrischem Blick überzeugte sie sich zum x-ten Mal, dass niemand anderes in der Nähe war. Aber wer sollte sich um diese Zeit hier schon herumtreiben, unter einer gottverdammten Highwaybrücke am Rand der Stadt?

Sie lauschte dem Verkehr, der hoch über ihr dahinrollte. Unbewusst fuhr ihre Hand in die Manteltasche und schloss sich um das Döschen, das darin ruhte. Ein beruhigendes Gefühl durchströmte sie. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich eine der weißen Happypillen zu gönnen. Doch ein Laut, der sich in das Rauschen des Verkehrs schob, ließ sie innehalten. Autoreifen, die sich knirschend über Kies bewegten.

Die schwarzen Umrisse einer Limousine glitten in den Blick. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern rollte sie langsam auf dem Feldweg heran und hielt schließlich. Ließ die Schweinwerfer aufblitzen. Einmal. Zweimal. Dreimal.

DieFrautratausdempechschwarzenSchattendesBrückenpfeilers und näherte sich dem Fond des Wagens. Eine dunkle Scheibe glitt herunter und ein Mann wurde sichtbar.

»Guten Morgen, Katherine«, begrüßte er die Frau.

»Ken!«, erwiderte sie.

»Also«, kam der Mann gleich zur Sache. Er hielt sein Handy in die Höhe. Ein junger Mann in schwarzem Wetsuit, wohl eher noch ein Teenager, starrte dem Betrachter mit verwirrtem Ausdruck entgegen. »Sie haben also neue Erkenntnisse über unseren Party Pooper?«

Die Frau nickte. »Die Gesichtserkennungs-Software hat ihn als ehemaligenDEEPSLEEPERidentifiziert, Ian Brown aliasWHITEKNIGHT.«

»Na, super«, knurrte der Mann. »Und wie konnte jemand anderes als wir ihn aktivieren? Und gegen uns einsetzen?«

Unbehaglich verlagerte die Frau ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Das wissen wir nicht«, gestand sie schließlich. »Noch nicht. Aber wir werden es herausfinden.«

Der Mann stieß ein freudloses Lachen aus. »Das hoffe ich doch. Ohne die Bodycams in den Taktikwesten wüssten wir nicht mal, dass jemand hinter uns her ist. Ist Ihnen eigentlich klar,wasdasbedeutet,Katherine?NichtnurfürunserenZugriffaufDEEPSLEEP,sonderndas,waswirdamitbezwecken?«

Die Frau kniff die Lippen zusammen. »Ja, Sir, ist es«, presste sie heraus.

»Machen Sie Jagd auf denjenigen, der uns da in die Suppe spuckt«, forderte der Mann sie auf. »Folgen Sie jeder Spur und lassen Sie keinen Stein auf dem anderen.«

»Ich kenne meinen Job«, erwiderte die Frau in einem Anflug von Trotz.

»Da kommen mir langsam Zweifel«, erwiderte der Mann kühl. »Erledigen Sie das, ein für alle Mal. Und klären Sie, was ausWHITEKNIGHTgeworden ist.«

»Er ist tot«, hielt die Frau entgegen. »Mit den anderenDEEPSLEEPERNbei der Explosion umgekommen.«

»Nur dass seine Leiche als einzige bisher nicht gefunden wurde«, schnaubte der Mann.

»IchkönnteeinpaarStrippenziehenundeineFahndunglostreten«, schlug Katherine vor. »Für den Fall der Fälle.«

Kens Maske kühler Beherrschung zeigte zum ersten Mal Risse. »Auf keinen Fall!«, blaffte er. »Gut möglich, dassWHITEKNIGHTs psychische Konditionierung kompromittiert ist. Dass er sich an Sachen erinnert, an die er sich nicht erinnern sollte. Wenn die Strafverfolgungsbehörden ihn aufgreifen, könnten sich unangenehme Fragen ergeben. Fragen, die vielleicht zu Ihnen führen, Katherine …«

Kurz ließ er die unterschwellige Drohung in der Luft schweben, bevor er fortfuhr. »Nein, wir müssen ihn selbst in die Finger kriegen. Ich will auch keine verfickten Vermisstenanzeigen. Nehmen Sie seine Adoptiveltern in die Zange, quetschen sie aus ihnen raus, was Sie können.«

»Ja, Sir!«, murmelte die Frau und machte Anstalten, sich umzudrehen.

»Ach, und Katherine«, hielt der Mann sie zurück. »Lassen Sie es danach wie einen Unfall aussehen.«

DieFraunickte.Ausdrucklossahsiezu,wiederWagen wendete und in die Dunkelheit davonfuhr. Ein Schauder ließ sie frösteln. Doch der hatte nur zum Teil mit der kalten Nachtluft zu tun.

SAN FRANCISCO Später Nachmittag, 12. Juni 2023

»He,Mister,träumenSie?«,hörteJohneineJungenstimme,bevor sich auch schon eine Eintrittskarte vor seine Nase schob. Hastig sprang sein Blick, der zuvor über das dichte Gewimmel zwischen den Jahrmarktsbuden geglitten war, zu einem rothaarigen Knirps voller Sommersprossen. Zwischen den Lippen lugte eine eifrige, zuckerstangenrote Zungenspitze hervor und er hatte sich extra auf die Zehenspitzen gestellt, um John seine Karte zu präsentieren:BIG FLY’S MAGISCHES MÄRCHENKARUSSELLsprang ihm in knallbunten Lettern entgegen. Und darunter:Einzelfahrt 2 $.

Um das zu erfassen, hätte John eigentlich nicht genauer hinsehen müssen, waren ihm doch im Lauf der letzten drei Monate, in denen er nun schon mit Big Fly von Jahrmarkt zu Jahrmarkt durchs ganze Land zog, Abertausende vor die Nase gehalten worden.

»Oh, klar, sorry«, lächelte John und riss die Karte ab. »He, Moment noch«, sagte er gleich darauf und versperrte dem Jungen den Weg, als der schon an ihm vorbeistürmen wollte. »Nimm lieber nicht den Drachen«, riet er. »Der bewegt sich heute nicht richtig. Die Mechanik macht Mucken. Aber der Fliegende Teppich ist in Bestform!«

»Danke!«, strahlte der Junge und streckte John die angewinkelte Handfläche entgegen. Schmunzelnd klatschte John ihn ab.

EinjäherWindstoßerinnerteihnunangenehmdaran,dass er mal wieder seine Jacke im Trailer vergessen hatte. Wie jeden Abend zog allmählich eisiger Nebel von der San Francisco Bay herein. John konnte immer noch nicht fassen, wie eisig es hier gegen Abend wurde – und das, obwohl tagsüber die Sonne sengend heiß vom Himmel schien.

Dann waren alle Karussellplätze besetzt. Rasch drehte John noch einmal eine Runde auf der Plattform und checkte, ob alle sicheraufihrenEinhörnern,Elfenkutschenodersonstetwas saßen. Schließlich wandte er sich zur Ticketbude, in der Big Fly wie ein Herrscher auf seinem Thron hockte – ein ziemlich gutmütiger Herrscher allerdings mit einem meist lustigen Funkeln in den Augen. Mit einem Nicken signalisierte John, dass alles in Ordnung war, woraufhin Big Fly das Karussell per Knopfdruck unter munter-nervigem Orgelgedudel auf die Reise schickte.

Während sich vor John langsam eine neue Schlange bildete, schweifte sein Blick wieder einmal hierhin und dorthin. Wie beiläufig registrierte er jede Einzelheit durch die zunehmend dichter werdenden Nebelschwaden: das strahlende kleine Mädchen dortanderLosbudezumBeispiel,dasseinenElternirgendetwas erzählte. Die gelangweilten Mienen der beiden, als sie kurz vonihrenSmartphonesaufblickten.DasenttäuschteGesicht der Kleinen, als sie merkte, dass sie ihren Eltern wohl nicht so wichtig war.

Johns Angewohnheit, ständig seine Umgebung zu scannen, war Big Fly schon kurz nach ihrem Kennenlernen aufgefallen undnichtseltenzogerihndamitauf.JohnselbsthattekeineAhnung, woher die Angewohnheit kam, erinnerte er sich doch an nichts, was länger als drei Monate zurücklag. Er wusste nur so viel: Es gab ihm einfach ein gutes Gefühl … dass alles in Ordnung war und keine Gefahr drohte. Wovor auch immer …

Im nächsten Moment riss ihn der Anblick eines Mannes aus den Gedanken, der mit seiner Tochter gerade den Hafenpier verlassen wollte, auf dem der Jahrmarkt stattfand. Sie gingen Hand inHand.DerVaterumklammertemitdemfreienArmeinenRiesenbären, den Hauptgewinn an Petes Texas-Shooter-Bude. Das Mädchen zog einen knallpinken Helium-Feenluftballon hinter sich her. Die beiden waren schon fast an Big Flys Ticketbude vorbei, als das Mädchen plötzlich stehen blieb. Mit leuchtenden Augen zeigte sie auf das Märchenkarussell und redete eifrig auf ihren Vater ein. Kurz blickte der Mann auf das Karussell, bevor er traurig den Kopf schüttelte, auf die offenbar leere Tasche seines abgewetzten Jacketts klopfte und ihr tröstend die Hand auf den Kopf legte.

Voller Sehnsucht sah das Mädchen noch einmal zum Karussell. Ihre Blicke trafen sich und plötzlich hatte John das Gefühl, sich zu verlieren. Es war, als würden Raum und Zeit in diesen braunen, flehentlichen Augen zusammenfallen … die bunt blinkenden Lichter der Fahrattraktionen, das Gejohle und Gekreische der Menge, der unvergleichliche Geruch von gebrannten Mandeln, brutzelnden Burgern und anderen Leckereien. Das Universum bestand aus nichts anderem als diesen braunen Augen, die ihn wie in einen Strudel in sich hineinsogen. Augen, die ihn an etwas erinnerten oder jemanden. So stark, dass er das Gefühl hatte, jeden Moment diesen verdammtenbleiernenRingzudurchbrechen,dersichumseinGedächtnis gelegt zu haben schien.

Doch dann löste das Mädchen ihren Blick. Der Bann war gebrochen. Blinzelnd stand John da und versuchte, das Schwindelgefühl zu überwinden, das ihn erfasst hatte. Benommen schüttelte er den Kopf.

»He«, rief er der Kleinen zu. Krächzend zunächst, dann mit festerer Stimme: »Komm doch mal her!«

Die Kleine warf ihrem Dad einen fragenden Blick zu, woraufhin dieser ihr aufmunternd zunickte.

»Was ist denn?«, fragte sie, als sie vor John stand, die Wangen vor Neugier und Aufregung knallrot.

»Wie heißt du?«, fragte John.

»Millie«, antwortete das Mädchen.

»Okay, Millie«, sagte John. Verschwörerisch senkte er die Stimme und beugte sich zu ihr hinab. »Du gehst jetzt zu dem mopsigen Kerl da drüben in der Glaskabine und sagst, wir haben hier einen Code Pink. Dann kriegst du eine Karte und kommst wieder zu mir, damit ich sie abreißen kann.«

»Einfachso?«,staunteMillie,miteinemAusdruck,derdarauf schließen ließ, dass sie ihrem Glück noch nicht ganz traute.

»Einfachso!«,bestätigteJohnmiternsterMiene:»Istaber ’n Geheimnis, das du niemandem außer deinem Daddy verraten darfst!«

»D… danke!«, stammelte Millie überwältigt. »Tu ich nicht, echt nicht, versprochen!« Schon wirbelte sie herum, drückte ihrem Dad den Ballon in die Hand und stürmte zu Big Fly, der ihr schmunzelnd ein Ticket aushändigte.

Code Pink war der Begriff fürFreifahrt, auf den John und Big Fly sich verständigt hatten – für nette kleine Menschen, denen das Leben schon kräftig eins eingeschenkt hatte und die einfach mal an der Reihe waren, wie sein Boss meinte.

Kurz darauf war Millie mit ihrer frisch erworbenen Karte wieder bei John und während er so tat, als würde er sie gewissenhaft kontrollieren, huschte sein Blick kurz hinüber zu Big Fly.

Der bedachte ihn zwinkernd mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken, bevor er seine Aufmerksamkeit dem nächsten Fahrgast widmete.

»Schöne Aktion, das mit der Kleinen«, nuschelte Big Fly später zwischen zwei Riesenlöffeln Chili, als sie im Trailer beim Abendessen saßen. Dann hielt er plötzlich inne, senkte den Löffel und musterteJohnüberdenramponiertenAusklapptischauszusammengekniffenen Augen. »Sag mal, du hast mich nicht zufällig wieder mopsig genannt, oder?«

»Nie im Leben!«, versicherte John in gespielter Unschuld.

»Hätt ich mir auch nicht vorstellen können«, erwiderte Big Fly und klopfte sich grinsend auf den mächtigen Bauch.

Es stimmte schon: Jemand, der James »Big Fly« McMasterson nicht kannte, mochte ihn mit seiner gedrungenen, fassartigen Statur und seinen knapp ein Meter siebzig durchaus für mopsig oder gar dick halten. Aber John wusste, dass sich unter der dünnen Lage Fett, die die Jahre dem Endvierziger eingebracht hatten, nichts als Muskeln befanden. Muskeln, die nicht nur durch die ewigen Auf- und Abbauten des Karussells sowie die ständigen Reparaturen an dem antiken Teil trainiert wurden. Vielmehr war Big Fly, seines Zeichens Ex-Marine und Ex-Cop, begeisterter Boxer. Regelmäßig traktierte er seinen abgewetzten Sandsack oder drehte ein paar morgendliche Sparringsrunden mit John, der – wie sein Boss kurz nach ihrem Kennenlernen staunend festgestellt hatte – ein unglaubliches Talent besaß.

Schweigend aßen sie eine Weile weiter, während sie nebenher bei laufendem Fernseher verfolgten, was der Tag Neues gebracht hatte. Wieder mal nichts Gutes, wie sich erwies, als eine BreakingNewsdieBerichterstattungüberdasbevorstehendeSpitzenspiel der San Francisco 49er gegen die Green Bay Packers vom Schirm fegte.

ERNEUTTÖDLICHERANSCHLAGVONTEEN-ATTENTÄTERNverkündete ein über den unteren Rand jagender Nachrichtenticker, während das Studio des Senders ins Bild kam.

»GutenAbend,meineDamenundHerren«,begrüßteeinModerator vom Typ Barbie-Ken die Zuschauer. »Ich bin Gordon Grey.«

»Und ich Melissa McBride«, übernahm die Frau neben ihm – eine hochtoupierte Eis-Blondine, die sich tapfer um eine betroffene Miene mühte. Hastig haspelnd fuhr sie fort: »Wieder hat ein grausamer Terroranschlag von Jung-Attentätern die Welt erschüttert.ZielwarderVorstanddesinternationalenEnergiekonzerns Oxon, der in Palo Alto anlässlich einer Spendengala zugunsten der firmeneigenen Stiftung für Schüler aus benachteiligten Familien im Grand-Plaza-Hotel zusammengekommen war. Gordon, was ist bisher über den Anschlag bekannt?«

»Im Moment überschlagen sich noch die Berichte«, nahm Gordon-Ken dankbar den Ball auf. »Aber womöglich könnte der komplette Vorstand dem Anschlag zum Opfer gefallen sein. Die jungen Attentäter haben sich offenbar als Küchenhilfen getarnt Zugang ins Hotel verschafft, wo – wahrscheinlich versteckt in einem Klimaanlagenschacht – bereits ein Arsenal automatischer Sturmgewehre sowie Handgranaten für sie bereitlag. Ebenso wie bei den vergleichbaren Anschlägen in den letzten Monaten sind die Täter ausgesprochen zielgerichtet, brutal und ohne Rücksicht auf das eigene Leben vorgegangen. Im Zuge des Feuergefechtes mit der Security und den Bodyguards sind alle Attentäter umgekommen, sodass erneut keiner der Täter von den Strafverfolgungsbehördenvernommenwerdenkonnte.Wirschaltenjetzt zum Grand Plaza, wo unser Reporter vor Ort …«

Wie hypnotisiert starrte John auf den Bildschirm. Doch kaum kam besagter Reporter mit dem Grand Plaza im Hintergrund ins Bild, hatte Big Fly sich auch schon erhoben und ausgeschaltet. Verwirrt blinzelte John und schüttelte kaum merklich den Kopf, als müsste er sich aus einer Hypnose lösen.

»Alles okay mit dir?«, fragte Big Fly, der sich wieder gesetzt hatte.

John nickte nur. »Warum hast du ausgeschaltet?«, fragte er schließlich.

»Das, was sie wissen, haben wir schon gehört. Was jetzt kommt, sind Spekulationen und Mutmaßungen. Gruselporno fürs Publikum. Ist doch immer dasselbe. Scheiß wie den hab ich schon viel zu viel in meinem Leben gesehen.«

GenaudasselbehatteBigFlyauchgesagt,alsJohnihneinmal gefragt hatte, warum er als ehemaliger Marine und New Yorker Drogenfahnder-Legende alles hingeschmissen hatte, um ausgerechnet das alte Klapperkarussell eines verstorbenen Onkels zu übernehmen. »Und weil ich eines inzwischen kapiert habe, John«, hatte er damals noch hinzugefügt. »Den Kleinen ein Strahlen ins Gesicht zu zaubern, bringt mehr, als hinter irgendwelchen Drecksäcken herzujagen, bei denen das Kind längst in den Brunnen gefallen ist. Schöne Erlebnisse und Erinnerungen geben Halt im Leben.«

Woran durchaus etwas dran sein mochte, wie John fand – auch wenn jemand, der weder sein Alter noch seinen richtigen Namen kannte, wohl nicht gerade ein Experte in solchen Dingen war. »John« war der Name, den ihm Big Fly kurzerhand verpasst hatte. Warum wusste John nicht. »Is eben ’n guter Name«, hatte BigFlynurachselzuckendgemeint.IhreWegehattensichvordrei Monaten an der amerikanischen Ostküste gekreuzt. John war zerlumpt, verletzt und halb verhungert gewesen und konnte sich an nichts mehr erinnern, wohl eine Amnesie aufgrund eines kürzlich durchlebten Traumas.

»Sag mal, wirklich alles okay mit dir?«, riss Big Fly ihn aus den Gedanken.

JohnwollteschonwiedermiteinemNickenantworten,als er es sich anders überlegte. »Na ja«, begann er zögernd. »So okay jedenfalls, wie’s geht ohne Vergangenheit.« Ehe er wusste, wie ihm geschah, sprudelte es im nächsten Moment nur so aus ihm hervor, als er von seinem Erlebnis mit Millie erzählte. »Es war, als kannte ich sie … ich mein, nicht sie, sondern diese Augen. Ich glaube, sie haben mich an jemanden erinnert … jemanden aus meiner Vergangenheit. Fast war es, als könnte ich jeden Moment die Mauer durchbrechen, hinter der mein ganzes Leben verborgen liegt. Aber dann … nichts.«

FrustriertschlugermitderFaustaufdenTisch,dassdieleeren Teller nur so hüpften.

»Mist, tut mir leid«, entfuhr es ihm, erschrocken über die eigene Reaktion. Hastig machte er Anstalten aufzustehen, um abzuräumen. Doch Big Flys mächtige Pranke hatte sich schon auf seine Schulter gelegt und drückte ihn wieder nieder.

»Lass nur«, sagte er sanft. »Das übernehme ich. Das alles muss sehr schwer für dich sein und ich denke, ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie es in dir aussieht. Aber hab ein bisschen Mut, mit der Zeit wirst du dich nach und nach an alles erinnern. Bestimmt! Nimm das mit Millie als Zeichen dafür. Und außerdem haben wir immer noch diese Spur«, fügte Big Fly hinzu und wies mit einem Nicken auf seine Brust.

Unwillkürlich fuhr Johns Hand an den Schlüssel unter seinem Hemd, den er stets an einer Kette um den Hals trug. Ein Schlüssel zu einem Lagerraum, wie es schien, und womöglich zu seiner Vergangenheit – wenn sich denn jemals das passende Schloss dazu finden würde.

»Danke!«, krächzte John.

Big Fly winkte ab. »He, wofür denn? Dass ich dich hier für ein paar Dollar schuften lasse?«

»Na, für alles eben«, murmelte John. »Du weißt schon.«

Natürlich wusste Big Fly das. Schließlich war es alles andere als normal, einen wildfremden Jungen bei sich aufzunehmen. Schongarnichteinen,denmaninseinemTrailervordemoffenen Kühlschrank ertappte. Ganz zu schweigen davon, diesen dann von einem abgehalfterten Arzt untersuchen zu lassen, der ansonsten Leute behandelte, die Krankenhäuser und Behörden mieden wie Vampire das Licht.

Die Frage nach den Gründen war John immer wieder durch den Kopf gespukt. Doch erst jetzt fand er den Mut, sie auszusprechen.

»Warum?«

»Warum was?«, wich Big Fly mit einer Gegenfrage aus.

»Warum hast du mich seinerzeit nicht einfach den Bullen übergeben, nachdem du mich erwischt hast?«

Verlegen kratzte sich Big Fly am Kopf. »Tja, dafür habe ich selbst keine richtige Erklärung. Zuerst war es nur ein Gefühl … dassdueineandereArtHilfebrauchst.Einverwirrter,orientierungsloser, verletzter Junge, wahrscheinlich minderjährig, mit dem Leben auf der Straße vertraut … das roch für mich geradezu nach Drogen und all dem Mist, der damit zusammengehört. UndnachdemicheinpaarStrippenbeialtenCopbekanntengezogen hatte, stand schnell fest, dass niemand mit deiner Beschreibung vermisst wird. Na ja, so wie ich die Sache sah, lauteten deine Alternativen staatliche Obhut oder womöglich Knast, und aus beidem kommt man selten als besserer Mensch raus.« Er hielt inne und bedachte ihn mit einem Grinsen. »Aber vor allem brauchte ich ganz dringend eine neue Hilfskraft, nachdem dein Vorgänger einfach in den Sack gehauen hat.«

»Sehr witzig«, erwiderte John mit schiefem Lächeln.

»Weißt du was?«, sagte Big Fly. »Ich mach hier noch schnell klar Schiff, während du dich schon mal in deine Suite zurückziehst. War ein langer Tag für dich und du könntest ein wenig Ruhe brauchen, um deine Gedanken zu sortieren.«

Dankbar nickte John. Nachdem er geduscht und sich die Zähne geputzt hatte, begab er sich in besagte Suite: ein kleines Kabuff, das gerade einmal Platz für eine Schlafkoje und eine Zwergenkommode bot. Nicht gerade viel, aber ein Ort, der nur ihm allein gehörte. An den er sich zurückziehen und die Tür hinter sich schließen konnte. Als zusätzlicher Bonus kam hier in San Francisco noch der fantastische Blick hinzu, der sich von der Koje aus auf die Oakland Bridge bot, die sich wie ein funkelndes Lichterband über die Bay erstreckte, bevor sie sich in der nebelverhangenen Finsternis verlor.

Eine Weile lang lag John da und lauschte dem Tuten eines Nebelhorns, das durch die Dunkelheit hallte, während er versuchte, Ruhe in seine Gedanken zu bringen. Big Flys Worte hatten gutgetan.

Doch da war noch etwas, das ihm Angst machte. Die Berichte über die Teen-Attentäter. Sie hatten etwas Ähnliches in ihm ausgelöst wie die Begegnung mit Millie. Etwas, dem eine Ahnung von Gewalt und Schmerz anhaftete …

3

WASHINGTON, D.C., ROCK CREEK PARK Früher Morgen, 12. März 2023

»Komm! Komm! Komm!«, lockte Aby mit verspielter Stimme. Sagte man das eigentlich beim Entenfüttern? Egal. Unverdrossen klaubte sie alte Brotstückchen aus der Tüte, die neben ihr aufder Bank lag. Mit verzücktem Blick warf sie die Krumen mal hierhin,maldorthinindievorihrversammelteEntenmenge,wobei sie unablässig die Umgebung im Auge behielt. Zwar wusste Aby, dass die Fütterungsaktion den Enten auf lange Sicht schadete, aber sie erfüllte ihren Zweck und den Viechern schien es zu schmecken.

Nach dem Desaster mit derMon Plaisirhatten sie und Stuart erst einmal jeden Kontakt eingestellt. Jedenfalls bis gestern, als eineNachrichtinihremtotenBriefkastenlag –einemAstloch in einer alten Ulme neben einem abgelegenen Diner.Der frühe Vogel singt am Felsenbach, hatte Stuarts verschlüsselte Botschaft gelautet – was nichts anderes hieß als: Treffen bei Sonnenaufgang, Rock Creek Park.

Alsogenaujetzt.HinterdemteilweisenochwinterkahlenGeäst der Bäume und Sträucher schob die Sonne ihre Scheibe zaghaft über den Horizont und verwandelte den grauen Morgennebel in einen zartrosafarbenen Schleier.

Für den Mann, der sich näherte, sah Aby aus wie eine harmlose,ältlicheSchachtel,dieeinfachdieZeittotschlug.Deren