Dein Staat gehört Dir! (TELEPOLIS) - Alexander Dill - E-Book

Dein Staat gehört Dir! (TELEPOLIS) E-Book

Alexander Dill

3,0

Beschreibung

Schlaglöcher selbst reparieren? Die Kinder in die öffentliche Schule schicken? Freiwillig Staatsschulden tilgen? ARD, ZDF und Hörfunk hören? Mit unterhaltsam vorgebrachten Beispielen zeigt das Buch im Wahljahr 2013, wie Bürgerinnen und Bürger völlig ohne neue Gesetze selbst ihr Land in die Hand nehmen können. Die positive Sicht auf Deutschland gibt's gratis dazu. Eine längst fällige Antwort auf Sarrazin und andere Wutbürger und 'Miserabilisten' (Dill).

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www.telepolis.de

Das Online-Magazin TELEPOLIS wurde 1996 gegründet und begleitet seither die Entwicklung der Netzkultur in allen Facetten: Politik und Gesetzgebung, Zensur und Informationsfreiheit, Schutz der Privatsphäre, wissenschaftliche Innovationen, Entwicklungen digitaler Kultur in Musik, Film, bildender Kunst und Literatur sind die Kernthemen des Online-Magazins, welche ihm eine treue Leserschaft verschafft haben. Doch TELEPOLIS hat auch immer schon über den Rand des Bildschirms hinausgesehen: Die Kreuzungspunkte zwischen realer und virtueller Welt, die »Globalisierung« und die Entwicklung der urbanen Kultur, Weltraum und Biotechnologie bilden einige der weiteren Themenfelder.

Als reines Online-Magazin ohne Druckausgabe nimmt TELEPOLIS damit eine einzigartige Stellung im deutschsprachigen Raum ein und bildet durch seine englischsprachige Ausgabe und seinen internationalen Autorenkreis eine wichtige Vermittlungsposition über sprachliche, geografische und kulturelle Grenzen hinweg. Verantwortlich für das Online-Magazin und Herausgeber der TELEPOLIS-Buchreihe ist Florian Rötzer.

Die TELEPOLIS-Bücher basieren auf dem Themenkreis des Online-Magazins. Die Reihe schaut wie das Online-Magazin über den Tellerrand eingefahrener Abgrenzungen hinaus und erörtert Phänomene der digitalen Kultur und der Wissensgesellschaft.

Weitere Informationen zu den TELEPOLIS-Büchern und Bestellung unter: → www.dpunkt.de/telepolis

Foto von Alois Kramer

Der 1959 in München geborene und in der Studentenrevolte antiautoritär erzogene Alexander Dill promovierte in Soziologie, bevor er in die Wirtschaft ging. Nachdem er unter anderem Biomasseheizwerke plante, das deutsche Auslandsmarketing koordinierte und die Softwareschmiede »Internetkloster« gründete, kehrte er 2009 in seinen Beruf als Soziologe zurück: Der Vater von drei Söhnen gründete das Basel Institute of Commons and Economics, das auf die Messung von Sozialkapital spezialisiert ist. Alexander Dill schreibt wöchentlich auf Telepolis und ist durch seine Stellungnahmen zu Politik und Wirtschaft in der kritischen Öffentlichkeit bekannt.

Seine wichtigsten Bücher:

»Philosophische Praxis – eine Einführung«, Frankfurt 1990 (Fischer-Verlag)

»Marketing für Deutschland – mit einem Vorwort von Dr. Helmut Kohl«, Teisendorf 1997 (WJD)

»Die Erfolgsfalle«, München 2006 (Random House)

»Gemeinsam sind wir reich«, München 2012 (Oekom-Verlag)

Dein Staat gehört Dir!

Ein Abschiedsbrief an das Wutbürgertum

Mit einem Geleitwort von Jochen Hörisch

Alexander Dill

Alexander Dill, [email protected]

Reihenherausgeber: Florian Rötzer, München, [email protected]

Lektorat: Dr. Michael BarabasCopy-Editing: Susanne Rudi, HeidelbergHerstellung: Miriam MetschUmschlaggestaltung: Hannes Fuß, www.exclam.deDruck und Bindung: M.P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, 33100 Paderborn

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:Buch 978-3-944099-01-9PDF 978-3-944099-60-6ePub 978-3-944099-61-3

1. Auflage 2013Copyright © 2013 Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co KG, Hannover

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.

Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert.

Weder Herausgeber, Autor noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.

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Ich danke meinen Eltern Bergith und Richard Dill für 54 Jahre antiautoritäre Erziehung.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Vorwort

I             Deine Straße – Dein Schlagloch

II           Dein Bürgersteig – Jetzt über Querneigung und Seitenraumbreite abstimmen!

III          Deine Schule – Tagesaufbewahrung oder Ort der Erkenntnis?

IV          Deine Polizei – Warum du nicht erfährst, wie gering die Kriminalität ist

V           Deine Bahn – Warum es ihr nicht hilft, wenn du sie verurteilst

VI          Deine Regierung – Warum du sie in Ruhe lassen sollst

VII        Dein Finanzamt – Dein heimlicher Verbündeter

VIII       Dein Recht – Was du nicht besitzt, kannst du auch nicht verlieren

IX          Dein Gesundheitswesen – Warum es für alle billiger wird, wenn du dir deine Krankheit selbst aussuchst

X           Deine Wirtschaft – Warum der mittlere Preis für alle am günstigsten ist

XI          Deine Armee – Warum unsere Diplomaten die Soldaten überflüssig machen

XII        Dein Europa – Wellnessoase oder Bürokratiemonster?

XIII       Deine Energie – Unerwarteter Überfluss statt bedrohlicher Knappheit

XIV        Deine Natur – Hausbesuch vom Luchs

XV         Dein Fernsehen, dein Radio, dein Nestworking – Hoch lebe die GEZ!

XVI        Deine Denker – Anreger statt Lehrer

XVII       Stell’ dir vor ...

XVIII     Die Moral zieht um: von den Regierenden zu den Regierten

XIX        Wie wäre es mit mehr Bundesländern?

XX          In deinem Staat bist du nicht die Ausnahme, sondern die Regel

XXI        Der Nutzen des Gefäßes ist dort, wo es nicht ist

XXIII     Der neue Wettbewerb um die niedrigste Rendite

XXIV     Abschied vom Miserabilismus

XXV       Die Postmoderne begann 1799

XXVI     Für eine neue Bürgerlichkeit

XXVII    Manifest des Bürgertums: Zwölf Dinge, die du ohne Gesetze und Reformen tun kannst

Personenregister

»Bürger! Die Revolution ist zu den Grundsätzen zurückgekehrt, von denen sie ausging, sie ist zu Ende.« (Napoleon I., 1799)

Geleitwort Verdrossenheit an der Staats- und Politikverdrossenheit

Jochen Hörisch

Was auch immer in Deutschland und Europa schiefgeht – der Staat, die Politik ist schuld. Konkreter: die Politiker, diese Pappnasen, diese Stümper, diese Laienschauspieler. Der Staat ist überschuldet: Schuld daran trägt »der Staat, die Politik«, tragen »die Politiker«. Die Deutschen sterben aus: Verantwortlich dafür ist »die Politik«. Extreme Wetterlagen häufen sich: na klar, bei dieser Politik. Die Kinder werden immer aggressiver: kein Wunder bei der Schulpolitik. Banken brechen zusammen: Der Staat hat nicht aufgepasst. Die Renten werden geringer und sind nicht mehr sicher: Die Schuld liegt bei den Politikern. Dass jeder erwachsene Deutsche nicht nur, aber besonders dann, wenn er Medienarbeit macht, besser durchblickt und edleren Charakters ist als »die Politiker«, ist so klar wie nur irgendetwas, so überevident wie der Umstand, dass kein Zweiter beziehungsweise Dritter so gut Auto fährt wie Sie, verehrter Leser, und ich. Jeder von uns, die wir uns, fein, wie wir sind, aus dem schmutzigen politischen Geschäft heraushalten (die sollen dankbar sein, wenn wir überhaupt noch wählen gehen), wäre, na klar, der bessere Bundeskanzler, die bessere Familienministerin, der bessere Finanzminister, die bessere Ministerpräsidentin, der bessere Oberbürgermeister, der bessere Abgeordnete – das weiß doch jeder. Was Charakterstärke und Stil angeht, können selbst Spitzenpolitiker auf exquisit feinen Positionen wie der des Bundespräsidenten mit dem Rest der Welt nicht mithalten. Die ZDF-Topjournalistin Bettina Schausten bezahlt selbstverständlich, wie sie im Fernsehgespräch den verblüfften damaligen Bundespräsidenten Wulff wissen ließ, wenn sie bei Freunden übernachtet; beim Chefredakteur der Bild-Zeitung Kai Diekmann, der nach eigner Aussage dafür sorgte, dass Wulff im Aufzug hinauffuhr, und dann noch verantwortungsvoller dafür sorgte, dass er auch wieder heruntersauste, weil er einen günstigen Baukredit in Anspruch genommen und weitere Verstöße begangen hatte, ist a priori ausgeschlossen, dass er dergleichen Verbrechen begeht. Günther Jauch und Thomas Gottschalk, Michael Schumacher und Boris Becker sind sowieso über jeden Verdacht erhaben (etwa unangemessen hohe Vortragshonorare zu kassieren oder ihre Steuerabgaben zu optimieren oder für Schleichwerbung zu kassieren); die leisten ja auch was. Aber diese Politiker!

Dass der Staat nichts taugt, der solche Politiker hat, versteht sich von selbst. Und so scheint nichts einleuchtender zu sein als der Umstand, dass das Wort »Politikverdrossenheit« schon 1992, also vor mehr als zwanzig Jahren, so verbreitet und populär war, dass es von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres erklärt wurde und zusammen mit Wörtern wie Staats-, Politiker- und Parteienverdrossenheit schnell Eingang in den Duden fand. Seitdem hat die Staats- und Politikverdrossenheit nicht abgenommen. Einige wenige Politiker akzeptieren immerhin, dass mit diesem Staat kein Staat zu machen ist, und ziehen sich aus der Politik zurück, sie verzichten großmütig auf die Privilegien, die sich die Politiker untereinander zuschanzen, und arbeiten aufopferungsvoll und möglichst staatsfern in der Bauindustrie, bei Banken oder Verbänden.

Seltsam ist an der seit Jahrzehnten wachsenden Staats- und Politikverdrossenheit in Deutschland (aber nicht nur in Deutschland) neben dem Umstand, dass sie milieuübergreifend bei Konservativen und Progressiven, bei Liberalen und Piraten, bei Jungen und Alten, bei Frommen und Atheisten erklingt, zumindest dreierlei. Erstens galt gerade Deutschland über Jahrhunderte als das staatstreue, untertänige, obrigkeitshörige und ordnungsliebende Land schlechthin. Frenetischer wurde der Obrigkeitsstaat, in monströser Konsequenz der Führerstaat und mit ihm ein kaltblütiger Massenmörder, der beschlossen hatte, Politiker zu werden, nicht gefeiert und bejubelt als in Deutschland. Es kann auch nicht ernsthaft davon die Rede sein, dass nach dem totalen Zusammenbruch des starken (Nazi-)Staates 1945 sofort alle obrigkeitsstaatlichen Traditionen in Deutschland gekappt wurden. In der DDR sowieso nicht, in der Bundesrepublik hielten sich zumindest bis 1968 noch starke, von der Bevölkerung weitgehend gewollte obrigkeitsstaatliche Muster. Die Staats- und Politik(er)verachtung der jüngeren Zeit als (nachgeholten) Antifaschismus zu verstehen, ist keine plausible Hypothese. Was es nicht leichter macht, sie zu erklären – so wenig wie (zweitens) der Umstand, dass die begrifflich und mental um 1990 zu sich kommende Staats- und Politikverdrossenheit in eine Zeit fällt, die nicht zu den übelsten Epochen der deutschen und europäischen Geschichte zählt. Politikverdrossene Deutsche konnten auf eine mehr als vierzigjährige Friedenszeit, einen bis dato unbekannten Massenwohlstand, eine funktionierende Demokratie mit gewaltlosen Regierungswechseln, neue lebensweltliche Freiheiten, eine reiche und liberale Kultur, eine Sensibilisierung gegen Gewalt (sei es familiäre, sei es kriegerische) und nicht zuletzt auf das unblutige Ende des Kalten Krieges und die deutsche Wiedervereinigung zurückschauen. Alles wird immer schlimmer, so viele Gründe für Politikverdrossenheit gab es nie – wer von denen, die 1950, 1970 oder 1990 das Licht der Welt erblickten und sich diese verbreiteten Sätze zu eigen machen, wäre ernsthaft lieber 1930, 1910 oder 1890 und also in Weltkriegs-, Massenmord- und Vertreibungszeiten hineingeboren?

Zu den nicht nur auf den ersten Blick rätselhaften Aspekten der deutschen Staats- und Politikverdrossenheit zählt es drittens, dass sie im großen Maßstab einsetzt und in dem Maße ansteigt, in dem sich der Staat und die Politik aus vielen Sphären zurückziehen. Es ist einfach sachlich unhaltbar zu behaupten, der (deutsche) Staat sei in den letzten Jahrzehnten immer bedrohlicher, stärker, gewaltsamer, umfassender geworden, er greife immer mehr in die Freiheiten des einzelnen Bürgers ein. Das Paradox ist schwer zu überbieten (und eben deshalb vergleichsweise leicht zu erklären): Der Staat, die Politik werden in genau dem Maße zunehmend für Fehlentwicklungen aller Art verantwortlich gemacht, in dem sich Staat und Politik aus weiten Feldern zurückziehen. Die Erinnerung an einige wenige, aber gewiss nicht periphere Daten genügt, um das zu illustrieren. Es gibt keine Wehrpflicht mehr – was war das für ein massiver Eingriff des Staates in das Leben junger Männer. Die Bahn, die Post und die Telekommunikation sind weitgehend entstaatlicht. Dass der Staat etwa über Homosexualitäts- und Kuppeleiverbot noch bis in die 80er Jahre hinein die erotischen Lebensformen seiner Bürger gängeln wollte (und z. T. konnte), können Nachgeborene kaum mehr glauben. Ob Müllabfuhr, ob Ausbildung (private Schulen und Hochschulen), ob Sicherheitsdienste, ob Zusatzrente: Bis auf die lustige und frustige Ausnahme Rauchverbot hat sich die staatliche Kontroll- und Reglementierungslust in einer Dimension zurückentwickelt, die 1960 und noch 1980 kaum einer für möglich gehalten hätte. Nie war der Staat, der für alles Miese, Schieflaufende, Schlechte verantwortlich sein soll und der so viel Verdrossenheit provoziert, für weniger verantwortlich als heute.

Selbstredend kann man genau dies (wohl mit besten Gründen) an der Politik der letzten Jahrzehnte kritisieren: dass sie sich selbst zurückgenommen und aus weiten Tätigkeitsfeldern zurückgezogen hat. Aber genau dies hat die Politik, haben die Politiker ja nicht gegen den erbitterten Widerstand der Bevölkerung getan, sondern weil entsprechende Programme in demokratischen Wahlen Mehrheiten fanden. Die publikumswirksamen Stichworte für eine solche Politik der Politikschwächung hießen »Liberalisierung«, »Privatisierung« und »Deregulierung«. Mittlerweile mehren sich Zweifel daran, ob große Firmen und Manager wirklich besser mit Geld umgehen können als die viel gescholtene öffentliche Hand. Machen Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, den Selbsttest: Würden Sie Ihr Geld lieber Managern wie Schrempp, Middelhoff, Esch, Oppenheim und Wiedeking anvertrauen als dem jeweiligen Bundesfinanzminister? Vertrauen Sie eher darauf, dass ein Medienimperium (wie Facebook) oder dass »der Staat« sorgfältig mit Ihren Daten umgeht? Halten Sie die Einkommen von Ministern oder die von Bankern und Managern für übermäßig? Haben Sie wirklich Geld gespart, wenn sie von einer Steuersenkung profitieren, aber Ihre Kinder auf eine Privatschule schicken müssen, weil die öffentlichen Schulen nicht mehr gut genug sind? Wer so fragt, macht sich auch deshalb unbeliebt, weil er das allseits beliebte Argumentationsschema (Argumentation?) »Der Staat, die Politik ist schuld« in Frage stellt. Aber es wird Zeit, sich von allzu bequemen Schemata, die am Stammtisch wie in weiten Teilen der Politikwissenschaft gleichermaßen präsent sind, zu verabschieden.

Wie hartnäckig die Kommunikationsblockade zwischen »der Politik« und der Bevölkerung ist, wird immer wieder deutlich. Nur zwei jüngere Beispiele: Der neue Berliner Großflughafen wird und wird nicht fertig, aber teurer und teurer – und viele Medien verlangen den Rücktritt des Berliner Regierenden Bürgermeisters, nicht aber Schadensersatzzahlungen von falsch kalkulierenden und zu viele Subunternehmen beschäftigenden Managern. Dabei weiß wirklich jeder, dass der Rücktritt eines Politikers schier nichts zur Lösung des Sachproblems beiträgt. Er aber ist »verantwortlich«. So gut wie alle machen sich über die unverbindliche und ritualisierte Sprache von Politikern (»Ich gehe davon aus, dass ...«, »Die Leute draußen im Lande«, »Es war ein konstruktives Gespräch«) lustig und wünschen sich Köpfe, die Klartext reden. Wenn aber genau dies geschieht, wird der Politiker, der als glänzender Redner bereit ist, auf munter fließende Vortragshonorare zu verzichten und um das politische Spitzenamt der Republik zu kämpfen, buchstäblich weg- und abgeschrieben – von eben denjenigen, die sich über austauschbare Politiker-Darsteller aus nachvollziehbaren Gründen lustig gemacht haben. Für die heutige Politik gilt: Sie kann es nur falsch machen.

Hochproblematisch ist dieses mittlerweile ziemlich fest eingerastete Schema, weil es die Grundintuition jedes demokratischen (und eben nur des demokratischen!) Staates bedroht: dass wir der Staat sind. Wer es anspruchsvoller und in Hegel’scher Diktion haben will: Der demokratische Staat ist das Andere unsrer selbst. Wer über Politiker schimpft, muss auch über die schimpfen, die sie gewählt haben – Wählerkritik aber ist anders als Politikerbeschimpfung das große Tabu der Demokratien. Wer nicht wählen geht, kann nicht für falsche Entscheidungen mitverantwortlich gemacht werden. Dennoch ist er nicht fein raus. Denn er tut eben in aller Regel – nichts. Wer allzu viel oder gar alles, was politisch läuft, grundfalsch findet, kann sich selbst ins politische Geschäft stürzen, wird aber dann bald die Erfahrung machen, wie zeit- und energieaufwendig und wie mäßig lohnend das ist und – wie gering die Aussichten darauf sind, der einzige Politiker zu werden, dem alle Anerkennung und Dankbarkeit bezeugen.

Besonders deutlich wird das Dilemma eines Politik- und Staatsverständnisses, das Politik und Staat zum Adressaten macht, der an allen Fehlentwicklungen schuld ist, bei einem Problem, das nicht umsonst dem Schuldproblem begrifflich engstens verwandt ist: dem (Staats-)Schuldenproblem. Die öffentliche Hand in Deutschland (Bund, Länder und Kommunen) hat bei moderater Rechnung deutlich mehr als zwei Billionen (zweitausend Milliarden) Schulden. Schuld an dem hohen Schuldenstand haben, wer sonst, die Politik, der Staat – so die gängige Rede nicht nur an Stammtischen, sondern auch im Qualitätsjournalismus, bei Volkswirten und Politikwissenschaftlern. Selbst wenn man dieser nicht sehr originellen Zuschreibung der Schuld für Staatsschulden zustimmt, ändert das nichts an dem schlichten Umstand, dass diese Staatsschulden in einem sehr handfesten Sinn unsre Schulden sind, ob es uns passt oder nicht. Wer anders argumentiert und etwa »die Politiker« verpflichten will, die trübe Schuldensuppe auszulöffeln, die sie gekocht haben, kommt schnell in Schwierigkeiten. Populär, wenn auch rechtlich bedenklich wäre möglicherweise der Vorschlag, alle Berufspolitiker in Steinbrüchen so lange arbeiten zu lassen, bis die gut zwei Billionen Schulden ausgeglichen sind – die Summe käme nicht herein, selbst dann nicht, wenn man alle Berufspolitiker zur Strafe zusätzlich enteignen würde. Die Staatsschulden sind und bleiben unsre Schulden; wir werden sie so oder so abtragen müssen. Genau dies aber wird nicht wahrgenommen, wenn man der dämlichen (pardon) »Die Politik ist schuld«-Rhetorik verhaftet bleibt.

Wir sind der Staat, die Schulden der öffentlichen Hand sind unsre Schulden – ob wir wollen oder nicht, ob wir das einsehen oder nicht. Allerdings sind semantische und transsemantische Kämpfe um die Pronomen »wir« und »unser« unvermeidbar. Die Kämpfe um die Beantwortung der Frage, wer von uns genau welchen Anteil an den aufgelaufenen Schulden zu begleichen hat, gewinnen erst langsam an Profil – nämlich genau in dem Maße, in dem nach und nach klar wird, dass die so verbreitete wie denkfaule und bequeme Rede »die Politik, der Staat, die Politiker« analytisch und funktional unhaltbar ist. Die Probleme um die Staatsschuldenkrise sind – wie sollte es anders sein, wer wüsste das nicht – hoch komplex. Und doch lässt sich ihre Grundstruktur präzise angeben: Es gibt sehr viel Quasi-Geld, von dem aber dahinsteht, ob es tatsächlich in geltendes und allgemein akzeptiertes Geld konvertiert werden kann. In anderen Worten: Es gibt irritierend viele nicht gedeckte Zahlungsansprüche bei vielen sehr unterschiedlichen Gruppen. Um nur einige wenige zu nennen: Wer griechische Staatsanleihen, Lehman-Brothers-Papiere, Einlagen bei Madoff oder Tagegelder bei einer Bank hat, die das Dreifache der von Konkurrenzinstituten gebotenen Zinsen verspricht, wird wohl einen erheblichen Teil seiner Einlagen abschreiben müssen. Sie lassen sich nicht a pari in »richtiges Geld« konvertieren. Aber auch wer in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren Renten- und Pensionsansprüche geltend machen will oder wer der Modellberechnung seiner in zwanzig Jahren fälligen Lebensversicherung Glauben geschenkt hat, muss mit dem so dunklen wie präzisen Gefühl leben, dass die Summe, die da auf dem Papier steht, ein übertriebenes Kaufkraftversprechen darstellt.

Kurzum, zur Diskussion steht, wer sich welche Ansprüche auf Geldzahlungen abschminken muss: wir. Aber wer von uns genau? Das Spiel, das mit dieser Frage in Gang gekommen ist, wird nicht sehr originell gespielt. Leute mit gut gefüllten Depots bei vom Crash bedrohten Banken insistieren darauf, dass diese Banken vom Steuerzahler stabilisiert werden, weil sie »systemrelevant« sind. Der nicht verbeamtete Teil der Bevölkerung hat keine Einwände gegen die Kürzung von Beamtenbezügen. Junge Leute finden, dass die Rentenbezüge der älteren Generation zu hoch sind. Ältere wollen, dass künftige Generationen, am besten die heute noch nicht Geborenen, die Schulden begleichen. Reiche halten die Hartz-IV-Sätze für zu hoch und wollen sie zurückfahren. Boni-Empfänger finden den Vorschlag abwegig, es solle auch Mali geben. Und es gibt auch heute noch Leute, die finden, man könne doch Reiche enteignen und es zum hundertsten Mal mit einem Staatssozialismus versuchen. Möglich sind diese und viele andere verbreitete schlichte, mit Verlaub: nicht originelle bis langweilige Ansichten, weil kaum einer wahrnimmt, dass die Staatsschulden so oder so »unsere« Schulden sind – wessen Schulden denn sonst? Alexander Dills Vorschlag ist kommunitaristisch im besten Sinne (s. die Initiative www.hurrawirtilgen.de): Wir akzeptieren, dass diese Schulden unsre sind und nicht die »der Politiker«, und wir alle zahlen unsre Schulden zurück. Gut zwei Billionen Euro Staatsschulden der öffentlichen Hand in Deutschland stehen, zurückhaltend geschätzt, zehn Billionen Euro liquides Privatvermögen gegenüber. Man muss kein Volkswirt sein (Volkswirte haben häufig feste bis fanatische Glaubensüberzeugungen1 und lassen sich von solchen Vorschlägen nicht beeindrucken), um die gut 20.000 Euro Schulden, die jeder Bundesbürger hat, auf zehn Jahre umzurechnen und zu dem Ergebnis zu kommen, dass man mit im Schnitt monatlich 166 Euro über zehn Jahre eine völlige Schuldentilgung erreicht hätte (die eingesparten Zinsen – der Schuldendienst ist selbst in Niedrigzinszeiten der zweitstärkste Etatposten des Bundes – nicht mit eingerechnet). Als sinnvolles Kriterium soll gelten, dass bei der Verwirklichung dieser Initiative, die jedem, auch denen mit kleinen Vermögen, auf zehn Jahre einen zweiprozentigen Vermögensverlust zumutet, keiner schlechter leben muss als zuvor. Lebt man wirklich schlechter, wenn man statt einhunderttausend nur noch achtzigtausend, statt einer Millionen nur noch achthunderttausend und statt einer Milliarde nur noch achthundert Millionen Euro Vermögen hat?

Wir sind der Staat, dein Staat gehört dir, die Schulen, Straßen, Schwimmbäder, Krankenhäuser auch – und ebenso die Schulden. Alexander Dills Buch macht Mut, einige schlichte und eben deshalb vertrackte Zusammenhänge neu zu sehen.

Vorwort Der Wutbürger in dir

Hast du wie ich auch einen kleinen Wutbürger im Bauch? Meiner wird zum Beispiel durch zerkochte Scampi, verspätete Züge der Bundesbahn und Hundekacke auf Liegewiesen aktiviert. Andere sollen auf Telefonate mit Kindergeld- und Arbeitsämtern, den Euro, arbeitslose Einwanderer und Griechenland reagieren.

Eine Behandlung oder Bekämpfung unserer kleinen Kobolde ist bereits deshalb unmöglich, weil jeder aus anderem Anlass und zu anderen Zeitpunkten aktiv wird.

Wohl nur wenige Viren und Bakterien in unserem Körper verfügen über eine solche Breite an Mutationen, Versionen, Identitäten und Tarnungen wie der Wutbürger. Wutbürger haben die Resistenz von Aliens. Meist reicht es, auf die Straße zu treten, um festzustellen: Die Geschwindigkeit der Autos ist zu hoch und müsste dringend von der Gemeinde durch ein Tempolimit vermindert werden. Allerdings ergibt der Anruf auf der Gemeinde, dass die betroffene Straße eine landkreisübergreifende Straße ist, die von zwei Verkehrspolizeidirektionen betreut wird. Anfragen sind an diese zu richten. Die Antwort trifft nach zwei Monaten ein: Die Unfallzahlen seien noch in Auswertung. Es gäbe Tendenzen, die aber noch nicht eindeutig seien. Nächstes Jahr sei ein Gutachten geplant. Und eine Anhörung. Ein anderer tritt auf die Straße und sein Wutbürger ruft: »Die Autos kriechen, stinken und schädigen das Weltklima. Die Radfahrer können nicht vorbei. Wir brauchen einen Radweg.«

Die Behandlung der Anfrage allerdings erfolgt auf die gleiche Art wie beim vorigen Wutbürger, also mit dem Hinweis auf die Nichtzuständigkeit der Gemeinde, dem Verweis an die Verkehrspolizeidirektion und einem freundlichen Schreiben nach zwei Monaten, das auch noch den Satz »Wir haben bereits mehrere Anfragen in dieser Angelegenheit erhalten« enthält. Darf noch hinzugefügt werden, dass ein dritter Wutbürger sich eben gerade an Tempolimits und Radwegen entflammt, die ihn zwingen, seine nach Speed und Drehmoment verlangenden 350 Pferde stotternd zu zähmen?

So beliebig die Anlässe für deinen Wutbürger sind, so unmöglich es ist, sie hier allumfassend darzustellen, denn der garantiert größte Skandal würde ja dabei stets vergessen oder gar vom Autor vorsätzlich verschwiegen, so sehr lohnt es sich, zumindest jene Gelegenheiten zum Wutbürgertum näher zu betrachten, die im fürsorglichen Einflussbereich einer magischen Instanz liegen, die als »der Staat« bekannt ist.

Wenn diese Instanz nämlich den Anlass der Erregung deines Wutbürgers gar nicht erst aufkommen lassen würde, also eine aktive Wutbürger-Prävention betriebe, dann würde dein (und mein) Wutbürger nie über das Stadium eines Schläfers oder einer gutartigen Warze hinauskommen. Hilflos müsste dein Wut-Alien zusehen, wie du auf die durchlöcherte Straße trittst und sagst: »Scheiße, es ist meine, es ist unsere Straße.«

I Deine Straße – Dein Schlagloch

Wie der Franz ohne Gutachten und Bedarfsplan die Schlaglöcher in der Moosstraße füllt.

Der Wiener Philosoph Walter Seitter hat einmal sorgfältig in seiner »Physik der Medien« dargelegt, warum die Straße das erste Medium war und also mit dem Internet verglichen werden kann. Sie bietet nämlich Zugang (access) zu Informationen und Waren. Sie ermöglicht die Teilnahme am Verkehr (traffic), der sowohl von meinem Haus weg (Upload) wie dorthin (Download) führt. Da meine Bewegungen und Äußerungen auf der Straße sofort beantwortet werden, ist die Straße auch interaktiv. Und in Sachen Kostenlosigkeit (Free-ware) kann die Straße noch heute mit allen anderen Medien konkurrieren. Die Straßen gehören aber, von ganz wenigen, winzigen Zubringern zu Eigenheimen ausgenommen, dem Staat. Es ist deshalb durchaus sinnvoll, den Staat einmal gar nicht dort beginnen zu lassen, wo er richtig kompliziert, also durch Grundgesetz, Verfassung und Gesetzgebung zur Fachangelegenheit von Anwälten wird, sondern dort, wo du ihm sofort begegnest. Wann triffst du schon einen Verfassungsrichter? Wann sucht dich die Polizei auf? Wann wird gewählt? Deine Lohnsteuer und dein Solidaritätsbeitrag werden gleich vom Arbeitgeber gepfändet, pardon, abgeführt. Du spürst also gar nicht mehr, dass und wie du diesen Staat finanzierst. Aber wenn du im Februar die Schlaglöcher auf den Straßen siehst, könnte dein Wutbürger dir einflüstern: »Für alles haben sie Geld. Für Mütter, damit sie zuhause bleiben. Für Opern. Für Wulffs Ehrensold. Aber das Schlagloch können sie nicht reparieren.« Der Nachbar kommt vorbei und ihr bestätigt euch gegenseitig, wie ungerecht und gefährlich es in Deutschland zugeht. Ein Kind könnte mit seinem Rad ins Schlagloch fahren, stürzen und sich verletzen. Ob der Staat weiß, was Stoßdämpfer von tiefergelegten Boliden kosten?

Dein Staat, das darf ich dir hier verraten, kann es gar nicht wissen. Er ist kein lernendes oder handelndes Subjekt. Er ist die Fiktion von arbeitsteilig organisierten Zuständigkeiten, die auf dem Papier einer Einheit mit dem Namen Bundesrepublik Deutschland zugeordnet sind. Wenn es also für das besagte Schlagloch keine zuständige Verwaltungseinheit mit eigenem Budget gibt, die selbständig Schlaglöcher definiert (Tiefe, Breite, Länge), ausspäht und schließt, dann wird das Schlagloch zu einer Anfrage wie die vorhin erwähnte Geschwindigkeitsbegrenzung. Es besteht deshalb prinzipiell kein Unterschied zwischen einem Schlagloch, der Hamburger Elbphilharmonie, Stuttgart 21 und dem Berliner Flughafen: Irgendwann hat jemand deren Bedarf derart dringlich artikuliert – das wird als Politik bezeichnet –, dass Verwaltungseinheiten damit beauftragt wurden, Planungen und Gutachten zur Realisierung zu beauftragen.

Am Beispiel des Schlaglochs können wir übrigens sehr einleuchtend die Dynamik in der Umsetzung beobachten. So können wir zum Beispiel fragen: Möchten wir jedes Jahr das Schlagloch provisorisch zukleistern oder möchten wir einmal die Straße für, sagen wir, 12, 15 Jahre sanieren? Und wie viele dringliche Schlaglöcher muss eine Straße aufweisen, um als mittelfristig sanierungsbedürftig in die Budgetplanungen zwischen Bund, Land, Landkreis und Gemeinde einzutreten, die zu prüfen haben, welche Kostenanteile sie an der Straße zu tragen haben? Und welche kommenden Sanierungen der Kanalisation, der Strom- und Gasleitungen, der Straßenführung und der Erschließung sollten vor dieser Sanierung abgewartet werden, um den Straßenbelag nicht viermal wieder aufreißen zu müssen?

Es sind solche Fragen, die deine Straße zu einem spröden und widerspenstigen Objekt des gesunden Menschenverstands machen.

Um eine mögliche Antwort vorweg zu geben: In der Moosstraße in einer bayerischen Kleinstadt hat die Gemeinde die Straße weise nicht geteert. Im feuchten Voralpengebiet führen deshalb sintflutartige Regenfälle dazu, dass die zum See abfallende Straße regelmäßig zum reißenden Bach wird, der Sand, Lehm und Kies mit sich reißt. Wenn dann die Laster und SUVs über den durchnässten Lehmkies brettern, bilden sich an einem Tag etwa zehn Schlaglöcher. Nachdem die Einwohner nach dem Ende des Regens etwa zehn Tage durch die Pfützen gestolpert und gefahren sind und alle Radkästen mit Schlamm ein Stück Rallye Paris – Dakar nach Oberbayern gebracht haben, nimmt ein in der Nähe wohnender Bauhandwerker seinen Laster, packt eine Fuhre Lehmkies darauf und füllt die Löcher: der Franz.

Franz ist übrigens auch Gemeinderat, Christbaumverkäufer und Cross-Country-Läufer. Es wäre zu fragen, wie viele Schlaglöcher von Franz, Rudi und Herbert auf diese Art ganz ohne Planungsverfahren repariert werden können. Wer aber ist dann der Auftraggeber? Richtig, du und ich sind es. Wir sind nun beim Titel dieses Buchs.

II Dein Bürgersteig – Jetzt über Querneigung und Seitenraumbreite abstimmen!

Warum die Bürgersteige immer schmaler werden.

Wir haben festgestellt, dass der Staat direkt vor unserer Haustür beginnt. Das ist eigentlich schade, denn zumindest die Mieter unter uns würden sicher lieber in einer bezahlbaren und unkündbaren Wohnung im Staatseigentum leben, anstatt in Wohnsachen den jeweiligen Finanzplanungen wechselnder Besitzer ausgeliefert zu sein. In vielen Städten bedeutet deshalb der erste Schritt in den öffentlichen Raum der Schritt auf eine Einrichtung, die aus gutem Grund Bürgersteig genannt wird: Sie schützt uns vor schnelleren Verkehrsteilnehmern, vor Schmutz und Lärm. Der Bürgersteig schafft einen gewissen Abstand zum quirligen Medium Straße. Er ist aber auch ein Medium und weist eine deutliche sichtbare Kapazität zum Abstellen von Autos, Fahrrädern, Lastern und Motorrädern, zur Lagerung von Müll und zur Entsorgung von Hundehaufen und angebissenen Hamburgern sowie von Kaugummis und Zigarettenstummeln, Prospekten und Kronkorken auf. Der Bürgersteig ist damit chronisch multifunktional und die ersten Stadträte, die Bürgersteige in Auftrag gaben, konnten noch nicht alle künftigen Nutzungen vorhersehen. Später platzierten sie Bäume, Straßenlaternen, Wasserhydranten, Parkautomaten und Telefonverteilerkästen auf den neu gewonnen Räumen, Gegenstände also, die der Allgemeinheit dienen.

Nicht die Funktion des Bürgersteigs als vielfältig nutzbarer Spiel-, Park-und Müllplatz jedoch führte dazu, dass die Bürgersteige in eine regelmäßige Pflege durch staatliche Verwaltungen kamen, sondern die notwendige Trennung von Fußgängern von Fuhrwerken, Lastwagen und später Automobilen. Die Pflege des Bürgersteigs ist seit seiner Erfindung eine heiß umstrittene Aufgabe, wobei die bewährte Ansicht vorherrscht, dass der Bürgersteig stets am besten von anderen gepflegt wird. Letztere waren allerdings immer in der Minderzahl, so dass Bürgersteige chronisch unter fehlender Pflege leiden. Dieser Missstand war immer Anlass für couragierte Bemühungen der Selbsthilfe. Ernst Theodor Amandus Litfaß (1816 – 1874) zum Beispiel hatte bemerkt, dass die starke Frequentierung des Bürgersteigs die Folge hatte, dass die Häuserfassaden wild mit Plakaten zugeklebt und dabei verschandelt wurden, um die Aufmerksamkeit der flüchtigen Passanten zu gewinnen. Der Bürgersteig wurde dadurch vom Verkehrs- (Gehweg!) zum Werbe- und Kommunikationsmedium. Litfaß überredete den Berliner Polizeipräsidenten Karl Ludwig von Hinckeldey 1854 dazu, in einem Modellversuch 150 sogenannte Annonciersäulen aufstellen zu dürfen – die »Litfaßsäule« war geboren. Es soll immer noch 67.000 davon in Deutschland geben.

Der Bürgersteig als Verkehrsweg für gehobene Bürger, die mit elegantem Schuhwerk, Spazierstöcken und Mänteln mit Kindern an der Hand öffentliche Orte wie das Rathaus, die Schule, die Universität, das Theater aufsuchten, ließ die Straße als Begegnungsort unwichtiger werden. Mit der Autobahn, deren Betreten Fußgänger und Radfahrern untersagt ist, wurde sie zum reinen Transportweg degradiert. Noch heute gilt ein fehlender Bürgersteig als Ausdruck von öffentlicher Armut, Gleichgültigkeit und Verwahrlosung. Dort liegende Immobilien sind oft weniger wert. Durch die verkehrsberuhigten Spielstraßen hat sich die jahrhundertealte Zwei-Klassen-Gesellschaft der Straße aufgelöst – damit aber auch die Fürsorge des öffentlichen Raums.