Dein Tod ist erst der Anfang - Ethan Baker - E-Book

Dein Tod ist erst der Anfang E-Book

Ethan Baker

0,0

Beschreibung

»Der erste Tag ist für das Zweifeln, der zweite für das Erkennen, der dritte für die Entscheidung. Danach gehört dein Name den Toten.« London in den 80ern. Eine Stadt zwischen viktorianischer Gotik und neonfarbener Moderne, in der der Nebel über der Themse dunkle Geheimnisse verbirgt und uralte Dämonen durch die Ritzen der Realität schlüpfen. Als Nathan Graves seine eigene Todesanzeige liest, beginnt der Albtraum. Der ehemalige Priester hält es zunächst für einen makabren Scherz. Doch schon bald mehren sich unheimliche Vorfälle. Als selbst Scotland Yard auf ihn aufmerksam wird, erkennt Nathan: Jemand - oder etwas - zwingt ihn, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn Graves hat genau drei Tage Zeit, um das Schlimmste zu verhindern ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 145

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Interview mit Nathan Graves

Frage: Mr. Graves, wer sind Sie?

Nathan: Jemand, der das Licht in der Tür hält, wenn sie aufgeht.

Frage: Glauben Sie an das Böse?

Nathan: Ich glaube an das, was ich gesehen habe.

Und das reicht.

Frage: Haben Sie auch manchmal Angst?

Nathan: Wenn du lange genug in den Abgrund starrst, lernst du, mit dem Echo zu leben.

Frage: Wenn es einen Gott gibt - warum lässt er das alles zu?

Nathan: Vielleicht ist sein Problem dasselbe wie meins: Er hört nicht auf, an uns zu glauben.

Frage: Sie haben sich aus dem aktiven Leben zurückgezogen. Warum also weiterkämpfen?

Nathan: Weil ich weiß , was passiert, wenn keiner mehr hinsieht.

Frage: Und Selina Cross?

Nathan (nach langem Schweigen): Sie hat mich daran erinnert, dass Hilfe manchmal von dort kommt, wo man sie am wenigsten erwartet.

Zum Autor:

Ethan Baker, geboren 1974, ist ein Pseudonym. Manche sagen, der Name stehe ihm gut. Es wird gemunkelt, der Autor sei nicht in Deutschland zuhause, kenne sich aber mit der deutschen Sprache trotzdem aus. Man hat ihn durchaus auf einer Universität antreffen können, dazumal, in den späten Achtzigern. Gearbeitet hat er in vielen Jobs und nicht alle standen in direktem Zusammenhang mit dem schriftlichen Wort. Manche aber schon. Heute verschreibt er seine Zeit mit Krimis und anderen spannungsreichen Literaturgattungen.

Ein unreiner Geist, der einen Menschen verlassen hat, wandert durch die Wüste und sucht einen Ort, wo er bleiben kann. Wenn er keinen findet, sagt er: Ich will in mein Haus zurückkehren, das ich verlassen habe.

(LK 11:24 – EU)

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Prolog

Der Wind rüttelte an den Fensterläden, als wollte er sie aus den Angeln reißen. Er war kein sanftes Wispern, kein bloßes Herbstraunen – er klang zornig, fordernd, als hätte er eine Stimme, die Graves beim Namen rief.

Nathan hob den Blick von seinem Buch. Das Prasseln des Regens auf dem Dach war ihm vertraut, ebenso wie der kühle Luftzug, der sich durch die schmalen Ritzen der Fenster ins Zimmer schlich.

Doch etwas war anders.

Sein Blick glitt zu den drei Kerzen, die auf dem Holztisch standen. Ihre Flammen zuckten, als hätte eine unsichtbare Hand nach ihnen gegriffen – ein kurzes Flackern, dann kehrte die Stille zurück.

Nicht so in ihm.

Nathan seufzte. Er legte das Buch zur Seite, griff nach der Zeitung. Eine Marotte, die er sich über die Jahre angewöhnt hatte – immer von der letzten bis zur ersten Seite. Manchmal fragte er sich, was ihm das eigentlich brachte, außer zusätzlichen Sorgen. Doch Gewohnheiten sind wie Schatten: man bemerkt sie erst, wenn man sich von ihnen lösen will.

Im Kerzenschein öffnete er die Zeitung, überflog die angesagten Veranstaltungen, die Neueröffnungen und Ausstellungshinweise.

Ein Name zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Graves. Wieder ein Windstoß an den Fenstern. Als wollte jemand ihn warnen, als wollte etwas verhindern, dass er genauer hinsah.

Er lächelte müde.

Zufall.

Seine Finger griffen fester nach dem Papier.

Und dann richtete er sich gerade auf.

Auf dem Inserat stand nicht nur sein Nach-, sondern auch sein Vorname.

Und das richtige Geburtsdatum.

Das war unmöglich.

Was ihn allerdings weit mehr beunruhigte, war das Todesdatum – drei Tage in der Zukunft.

Ein schlechter Scherz und ein geschmackloser obendrein.

Es sei denn …

Nathan zwang sich, den dazugehörigen Text zu lesen.

Kapitel 1

»Ein Priester in meiner Redaktion. Wenn du hier nach der Wahrheit suchst, wirst du sie vermutlich immer noch nicht finden.«

Der elegante, aber unterkühlt wirkende Mann mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen trug einen Maßanzug ohne Krawatte. Ein unbeteiligter Beobachter hätte ihn vielleicht auf vierzig geschätzt – deutlich jünger, als er tatsächlich war.

Und das lag daran, dass der Chefredakteur wusste, wie man am besten durch den Alltag kam. Sein ganzes Leben bestand aus Schlupflöchern, ob finanzielle oder andere, spielte dabei keine Rolle.

Jedes davon gab ihm die Möglichkeit, sich vor der Härte des Lebens zu schützen.

Heute aber wirkten seine Augen ungewühnlich rastlos, wie bei einem Tier, das sich nicht sicher fühlt.

Was wusste er über die Anzeige?

»Wenn Schuld die Hölle ist, was ist dann ihr Gegenteil?«, entgegnete Nathan gelassen.

Hallund saß hinter seinem großen Schreibtisch und machte sich nicht die Mühe, aufzustehen.

»Auch schön, dich zu sehen, Nathan.«

»Ich möchte nicht allzu viel deiner kostbaren Zeit in Anspruch nehmen.« Nathan warf ihm die Zeitung auf den Schreibtisch. »Wer hat die aufgegeben?«

Evan Hallund warf einen Blick darauf und ließ sich dann schwerfällig in seinen Drehsessel zurücksinken. Eine mindestens genauso schwerfällige Stille folgte.

Dann schüttelte er den Kopf. »Das tut doppelt weh, mit dem Schreibfehler.«

»Lass den Schreibfehler meine Sache sein. Wer hat die Anzeige aufgegeben?«

Hallund blickte auf. »Ich weiß es nicht. Selina kümmert sich um diese Sparte. Ich muss sie fragen.«

»Und natürlich ist sie nicht da.«

Hallund warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Noch nicht. Aber wenn du eine Viertelstunde warten kannst ...«

Nathan lehnte sich zurück. »Nun, was sind schon einige Minuten, wenn man in drei Tagen stirbt?«

Hallund suchte Halt in der Redaktion, die durch die großen Fenster seines Büros zu sehen war. Sein Blick blieb hängen, seine Pupillen fokussierten sich kurz. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit mit einem schalen Lächeln wieder Nathan zu.

Dieser drehte leicht den Kopf um zu sehen, wem denn Hallunds plötzliche Aufmerksamkeit galt. Ein Junge stand bei den Aufzügen.

Nicht älter als zwanzig, Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen. Jeans, Kapuzenpulli. Einer dieser Typen, die sich frühmorgens das Taschengeld mit Zeitungen austragen verdienten. Der Junge schien sich unschlüssig zu sein, machte ein paar Schritte in die offene Redaktion, blieb dann stehen. Sein Verhalten war unüblich an einem Ort, wo sonst das geschäftige Treiben eines Bienenstocks herrschte.

Seine Augen huschten über die altmodischen Holztische, die knarzenden Stühle, über die Mischung aus Computern und Schreibmaschinen, die Kaffeeflecken auf vergilbtem Papier. Es roch nach Zigarettenrauch, Druckerschwärze und nach altem Teppich, in dem die Geschichten von Jahrzehnten steckten.

Telefone klingelten unaufhörlich, unterbrochen vom Klackern der Schreibmaschinen, das wie ein Herzschlag den Raum durchzog. Irgendwo surrte ein alter Drucker, müde und krächzend, als würde er gegen das Tempo der neuen Zeit ankämpfen.

Der Blick des Jungen wanderte zu den großen Glasfenstern, die Hallund den Blick auf den hektischen Redaktionsbetrieb freigaben.

Dann sah er den Chefredakteur. Für einen kurzen Moment blickte er auch Nathan in die Augen. Zumindest hatte es den Anschein, da die Baseballkappe seine Augen im Schatten ließ .

Die Neonröhren über den Schreibtischen flackerten kurz, als wollten sie sich gegen die stickige Luft wehren

Nathan richtete sich unmerklich auf.

Ein winziges Zögern des Jungen. Dann drehte dieser sich auf dem Absatz um, stieß beinahe mit einem Journalisten zusammen, murmelte eine Entschuldigung – und verschwand wieder im Fahrstuhl.

Die Tür glitt zu.

Nathan runzelte die Stirn. Hallund sah seinen Freund an. »Ein Bekannter?«

Nathan schwieg eine Sekunde. Dann stand er auf. »So sieht’s aus.«

Er nahm seine Zeitung an sich, klopfte damit einmal auf Hallunds Schreibtisch und verließ das Büro.

Kapitel 2

Sie blickte in den Spiegel – doch diesmal suchte sie nicht nach Fehlern. Nicht nach Schatten unter ihren Augen, und nicht nach Linien auf ihrer Haut. Stattdessen fragte sie sich: Wie würde ich mir begegnen, wenn ich mir selbst nicht fremd wäre? Vielleicht lag die Antwort genau hier – in dem Blick, den sie sich selbst schenkte, in der Sprache, mit der sie mit sich redete.

Sie drehte sich leicht, neigte den Kopf zur Seite, um sich auch von hinten zu betrachten.

Ihre langen, schwarzen Haare waren hochgesteckt, hielten sich nur lose in der Spange, als wollten sie jeden Moment das Spiel beenden und sich frei über ihre Schultern ergießen. Der Nacken lag offen, blass und schutzlos, als hätte sie selbst, ohne es zu merken, eine Schwachstelle preisgegeben.

Die schwarze Bluse im viktorianischen Stil wirkte verspielt mit ihrem Stehkragen und den Rüschenmanschetten, doch in Wahrheit war sie eine Rüstung. Stoff gewordene Erinnerung daran, dass Schönheit oft erst dann entsteht, wenn man sich erlaubt, man selbst zu sein.

Das Leben war eine Herausforderung.

Noch einmal prüfte sie ihr Gesicht im Spiegel, betrachtete den sanft geschwungenen Nasenrücken, den sie noch vor einigen Jahren verabscheut hatte. Jetzt fragte sie sich, ob nicht gerade dieser kleine Makel sie unverwechselbar machte.

Sie begutachtete das Kajal, dessen Spitze perfekt geschwungen zur Schläfe hinaufstieg, als hätte sie damit nicht nur ihre Augen betont, sondern auch einen Fluchtweg markiert. Für alle Fälle.

So schlecht sah sie mit Mitte Vierzig gar nicht aus. Noch einmal glättete sie die Bluse, griff dann nach dem Mantel und der kleinen Handtasche und verließ ihre Wohnung.

Ihr Weg zur Arbeit war nicht sonderlich lang – sie hatte ihre Wohnung auch deswegen ausgesucht.

Fünf Minuten zu Fuß, wenn es regnete.

Eine Viertelstunde, wenn die Sonne schien.

Immer dem Kanal entlang.

Heute war ein Achteinhalb-Minuten-Tag.

Der Fluss beklagte sich sanft über seine mangelnde Tiefe. Es hatte schon lange nicht mehr geregnet. Aus der Ferne schlug die Glocke der Kirche die halbe Stunde und veranlasste sie, auf den letzten Metern das Tempo zu erhöhen.

Die Straßen füllten sich mit Leben, sobald sie die Uferböschung hinter sich ließ. Noch ein paar Schritte, dann lag die Straßenecke vor ihr.

Ein Junge, nicht älter als zwanzig, Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, tauchte wie aus dem Nichts auf und rammte sie beinahe. Sie konnte ihm gerade noch ausweichen, blickte ihm mit einem Stirnrunzeln hinterher. Als sie sich wieder der Straße zuwandte, kam ihr unmittelbar ein grosser, schlanker aber sehniger Mann im dunklen Mantel entgegen. Und diesmal schaffte sie es nicht, einem Zusammenstoß zu entgehen.

Abrupt blieb er stehen, während sie sich plötzlich auf dem Boden wiederfand. Sie streckte die Hand aus – er ergriff sie ohne zu zögern und zog sie hoch.

»Schwerer Tag?«, fragte sie, während sie sich den Staub vom Mantel klopfte.

»Tut mir leid, ich ...« Er warf einen Blick in die Richtung, in der der Junge verschwunden war.

»Ein Bekannter?«

Sie sah ihn genauer an.

Er trug einen Bartansatz und eine zusammengefaltete Zeitung in der linken Hand, hatte Falten auf der Stirn, mittellange Haare, mit ersten grauen Strähnen an den Schläfen. Die Art von Grau, die nicht vom Alter, sondern von Erfahrungen kommt.

Es umgab ihn etwas Faszinierendes.

Und er schien noch nicht entschieden zu haben, was er nun tun sollte.

»Ich glaube, Sie schulden mir einen Kaffee«, hörte Selina sich sagen.

Kapitel 3

»Ist der Mantel nicht etwas warm für diese Jahreszeit?«

»Man weiß nie, wann das Wetter hier umschlägt.« Nathan hielt Selina die Tür zum Café auf. Eine Einladung, der sie nur allzu gern folgte. »Dann sind Sie nicht von hier?«

Er folgte ihr ins Innere und ließ die Tür ins Schloss fallen . »Das darf man so sagen.«

»Interessant.«

Sie ließ das Wort ein wenig länger im Raum stehen, als nötig gewesen wäre. Dann erst zeigte sie auf einen kleinen Tisch am Fenster, der den Blick auf die Kreuzung und Fleet Street davor freigab. Nathan warf die Zeitung auf den Tisch, entledigte sich seines Mantels. Sie hatte recht. Der Mantel fühlte sich plötzlich schwer an.

Und ihm war warm.

»Glauben Sie an Zufälle?«, fragte sie.

Nathan spürte, dass ihr Blick für einen Moment länger auf ihm lag, als es die Höflichkeit verlangt hätte. Er hielt nach der Bedienung Ausschau während er sich überlegte, wie er denn nun den Jungen ausfindig machen konnte.

»An Zufälle?«

Etwas in ihrem Blick hatte sich verändert. Ihre dunklen Pupillen waren größer geworden, die Haltung offener, beinahe lauernd, als hätte sie eine Fährte aufgenommen. Er wollte etwas erwidern, wurde aber durch die Servicekraft unterbrochen. Sie gaben die Bestellung auf.

»Ich glaube ehrlich gesagt nicht wirklich daran. Sie auch?« Nathan blickte der Bedienung nach, lehnte sich zurück, atmete aus.

Irgendwas an diesem Treffen fühlte sich an, als würde es ihn festhalten wollen. Vielleicht sollte er sich wirklich einfach mal in den Moment fallen lassen.

»Nun, ich glaube, dass einem zufällt, was zufallen soll«, antwortete sie.

»Die Frage wäre dann, wer ist es, der wirft?«

»So in etwa, ja.« Sie schmunzelte.

»Und? Haben Sie schon eine Antwort darauf gefunden, Miss …?« Er ließ den Satz in der Luft hängen, wie gewaschene Wäsche auf einer Leine.

»Oh, tut mir leid. Selina ist mein Name.«

Er schien nicht überrascht. »Der Mond, das Licht und der Himmel.«

»Sie kennen sich mit Etymologie aus? Oder haben Sie das aus der Zeitung?« Sie deutete auf die Ausgabe auf dem Tisch.

Nathan lächelte matt. »Es war nicht als Belehrung gedacht. Und nein. So etwas steht da nicht drin.«

»Sie lesen viel Zeitung?«

»Ich löse das Kreuzworträtsel.«

»Was für eine intellektuelle Zeitverschwendung.«

Nathan hob eine Augenbraue. »Manchmal reicht etwas Zeitverschwendung, um den Tag zu retten. Aber ich gebe Ihnen recht. Es gibt weitaus intellektuellere Arten, die Zeit tot zu schlagen.«

Jetzt hatte er ihre ganze Aufmerksamkeit.

»Woher müsste ich Sie kennen?«

Er winkte ab, wartete, bis die Bedienung ihnen die Getränke serviert hatte. Und dann wartete er noch ein wenig länger.

»Evan hat es Ihnen gesagt.« Sie nickte, als würde sie mit dem Fuß wippen.

»Dann können Sie mir jetzt sicher die eine oder andere Frage beantworten.«

In diesem Moment fragte sie sich, ob sie ihm vertrauen konnte. War ihr Aufeinandertreffen wirklich Zufall gewesen?

»Ich weiß immer noch nicht, wer Sie sind.«

Nathan machte eine leichte Kopfbewegung in Richtung der Zeitung auf dem Tisch. »Seite 43.«

Sie sah ihn kurz an, griff dann nach der Ausgabe, öffnete die angegebene Seite und las das Inserat, das er mit Kugelschreiber hervorgehoben hatte.

»Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch Bekanntschaft machen möchte, Nathan.«

Er lächelte und schüttelte den Kopf. Sie faltete die Zeitung und legte sie zwischen die Tassen. »Anscheinend ist Ihre Zukunft relativ begrenzt.«

»Ich bin auch nicht auf der Suche.« Er ließ eine Pause walten, in der sie einen Schluck Kaffee nahm.

»Sie erinnern sich nicht an das Inserat.«

»Nein, tue ich nicht.«

»Absolut sicher?«

»Absolut. Ich kenne alle meine Inserenten beim Namen. Mit Geburts- und Todesdatum. Glauben Sie mir.«

»Oh, das tu ich. Ich frage mich jedoch ...«

»... wie Sie an diese ganz spezielle Ausgabe der Tageszeitung gekommen sind.«

»Das auch.«

»Vielleicht weil jemand wollte, dass wir einander begegnen .«

Er lächelte schmal. »Und was, wenn ich gar nicht gefragt wurde?«

»Dann habe ich eben Glück gehabt.«

Einen Moment lang hielten ihre Blicke sich fest.

Draußen schob der Wind die ersten grauen Wolken über den Platz. Nathan lehnte sich zurück, als hätte er beschlossen, noch zu bleiben.

»Oder Pech.«

Sie hob die Tasse, als würde sie darauf anstoßen.

»Das wird sich zeigen.«

Kapitel 4

»Da seid ihr ja wieder.« Hallund blickte nur kurz von seiner Tastatur auf, als beide ohne anzuklopfen eintraten.

»Sie hatte einen Schlüssel«, sagte Nathan. Es klang schroff und – unwillig.

»Es war intellektuelle Nötigung«, meinte Selina gelassen und ließ sich in einen der Stühle fallen. Nathan warf sein Exemplar der Zeitung erneut auf Hallunds Schreibtisch – eine Geste, die ihm langsam vertraut wurde.

»Niemand weiß, wer das Inserat aufgegeben hat.«

Hallund blickte weiterhin konzentriert auf seinen Bildschirm.

»Evan, Schätzchen, niemand hat für das Inserat bezahlt.« Selinas Stimme war süß wie Honig, der seit Tagen auf einer Anrichte klebt.

Jetzt sah Hallund doch auf. »Was?«

Nathan verdrehte die Augen. »Ich bezweifle ...«

»Das steht ja schon im Inserat.« Selina betrachtete ihre manikürten Fingernägel. Sie strahlten in einem tiefen Violett.

Nathan runzelte kurz die Stirn – Ausdruck seines Unmuts. »Es scheint, als hätte ich eine Spezialausgabe. Diese Anzeige wurde so nicht in der heutigen Zeitung gedruckt.«

Hallund schob die Zeitung mit einem Finger von sich weg, als könne sie ansteckend sein.

»Welche fehlt denn?«, fragte er betont gelassen.

»Keine Ahnung«, gab Selina zurück. »Aber ist das wichtig? Nathan hier scheint aufgebracht.«

Der Angesprochene blickte von einer zum anderen. Seine Augenbrauen zogen sich fragend zusammen.

Hallund seufzte, ließ von seinem Computer ab und wandte sich wider Willen den beiden zu. »Da hat sich jemand einen Scherz mit dir erlaubt, Nathan.« Dann zu Selina: »Und du bist gefeuert.«

Sie ließ sich nichts anmerken. »Du hast mich gestern schon gefeuert, Evan.«

Nathan schüttelte den Kopf. »Das ist doch ein ziemlich großer Aufwand für einen Scherz.«

»Mag sein ... aber heutzutage ist doch alles möglich ...« Hallund blieb unbeeindruckt.

Selina hatte ihre Fingernägel genug inspiziert, stand auf und ging zum Fenster.

»Warum bist du so beunruhigt, Nathan? Ich werde in der Druckerei nachfragen, ob sie etwas dazu sagen können.«

»Können die nach Redaktionsschluss Änderungen an der Zeitung vornehmen?«

»Hoffentlich, mein Lieber. Ohne das würde dieses schnelllebige Geschäft nicht funktionieren.«

»Wir haben Besuch«, sagte Selina, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

Es hatte begonnen zu regnen, und trotz der frühen Uhrzeit fühlte es sich an, als wäre es später Nachmittag – ein perfekter englischer Tag in London.