Deine Worte in meiner Seele - Brittainy C. Cherry - E-Book
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Deine Worte in meiner Seele E-Book

Brittainy C. Cherry

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Beschreibung

Ashlyn Jennings' Leben gleicht einem Scherbenhaufen: Ihre Zwillingsschwester ist gerade erst an Krebs gestorben, da schickt ihre Mutter sie zur Familie ihres leiblichen Vaters, den sie eigentlich nur von Geburtstagskarten und missglückten Anrufen zu Weihnachten kennt. Das Einzige, was ihr in der fremden Familie Halt gibt, ist eine hölzerne Schatulle voller Briefe, die ihre Schwester Gabby ihr vor ihrem Tod geschrieben hat - und eine Liste, die Ashlyn durch eine Welt ohne ihre Schwester helfen soll. Dank Gabby landet Ashlyn gleich am ersten Abend in einer kleinen Bar - und begegnet Daniel Daniels. Ashlyn verliebt sich Hals über Kopf in ihn und hat die Hoffnung, dass ihr neues Leben vielleicht doch ein bisschen Glück für sie bereithält - bis sie ihm am nächsten Tag wiederbegegnet: Er ist Mr. Daniels, ihr neuer Englischlehrer ...

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Inhalt

Titel

Über dieses Buch

Widmung

Prolog

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Epilog

An meine Leser

Danksagung

Über die Autorin

Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX

Impressum

BRITTAINY C. CHERRY

Deine Worte in meiner Seele

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Barbara Först

Über dieses Buch

Als ihre Zwillingsschwester Gabby stirbt, kommt Ashlyn Jennings’ Leben von einem Tag auf den anderen zum Stillstand. Nicht nur hat sie den wichtigsten Menschen auf der ganzen Welt für immer verloren, ihre überforderte Mutter schickt sie auch noch zu ihrem leiblichen Vater, den Ash nur von Geburtstagskarten und unbeholfenen Anrufen zu Weihnachten kennt. Angekommen in Wisconsin, droht ihr das Leben mit jedem Tag ein Stückchen mehr zu entgleiten, und alles, was ihr in der neuen Familie Halt gibt, ist eine Schatzkiste voller Briefe, die Gabby vor ihrem Tod an Ash geschrieben hat sowie eine Liste von Dingen, die Ash erledigen muss, bevor sie einen von Gabbys Briefen lesen darf. Obwohl Ash allein nie den Mut dazu gefunden hätte, landet sie – fest entschlossen, den Punkt »Tanz auf der Theke« zu erfüllen – eines Abends in einer kleinen Bar – und lernt den Musiker Daniel Daniels kennen. Seine Stimme klingt wie Honig, und jeder Blick aus seinen leuchtend blauen Augen macht ihr Hoffnung, dass Edgewood vielleicht doch nicht der schlimmste Ort auf der Welt ist. Ash verliebt sich Hals über Kopf in Daniel – und verliert erneut den Boden unter den Füßen, als sie ihm am nächsten Morgen wiederbegegnet: Er ist Mr Daniels, ihr neuer Englischlehrer!

Für alle Tonys dieser Welt.

Ich sehe dich.

Ich höre dich.

Ich spüre dich.

Ich liebe dich.

Und du bist nicht allein.

Prolog

DANIEL

— Vor zwanzig Monaten —

I don’t know what to tell you,

I don’t know what to say.

I only know that caring for you brings on more pain.

Romeo’s Quest

Während ich den Jeep vor der Einmündung der Gasse parkte, gingen mir trübe Gedanken durch den Kopf. In diesem Teil der Stadt war ich noch nie gewesen, hatte kaum von seiner Existenz gewusst. Der nächtliche Himmel war trunken von Dunkelheit, und die spätwinterliche Kälte tat ein Übriges, um meine Gereiztheit zu steigern. Mein Blick fiel auf das Armaturenbrett.

Halb sechs Uhr morgens.

Ich hatte mir geschworen, ihm nicht mehr zu helfen. Seine Taten hatten einen riesigen Krater in unsere Beziehung gerissen, hatten alles zerstört, was vorher gewesen war. Aber ich wusste, dass ich mein Versprechen nicht halten konnte. Denn schließlich war er mein Bruder. Selbst wenn er Mist baute – was nicht eben selten geschah –, war er immer noch mein Bruder.

Es dauerte mindestens eine Viertelstunde, bis ich Jace sah. Er kam aus der Gasse gehumpelt und hielt sich die Seite. Ich setzte mich auf, fixierte ihn.

»Verdammt, Jace«, brummte ich, stieg rasch aus dem Wagen und schlug die Tür zu. Ich ging auf ihn zu, betrachtete ihn unter dem Licht einer Straßenlaterne. Sein linkes Auge war zugeschwollen, seine Oberlippe aufgerissen. Sein weißes Hemd war von seinem Blut befleckt. »Was zum Teufel ist passiert?«, flüsterte ich entsetzt und führte ihn zu meinem Jeep.

Er stöhnte nur.

Versuchte zu lächeln.

Stöhnte wieder.

Ich warf die Beifahrertür zu und beeilte mich, wieder hinters Steuer zu kommen.

»Sie haben verdammt noch mal zugestochen.« Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht, erreichte damit jedoch nur, dass sich das Blut weiter verteilte. Er lachte kurz auf, doch seine ganze Erscheinung demonstrierte den Ernst der Lage. »Ich hab Red gesagt, ich würde das Geld nächste Woche haben …« Er zuckte zusammen. »… und er schickt mir diese Typen auf den Hals.«

»Jesus, Jace«, seufzte ich und fuhr los. Der Morgen dämmerte herauf, dennoch schien es dunkler zu sein als zuvor. »Ich dachte, du hättest das Dealen aufgegeben.«

Er richtete sich auf und sah mich mit dem gesunden Auge an. »Hab ich auch, Danny, ich schwör’s.« Er fing an zu weinen. »Ich schwör zu Gott, dass ich damit fertig bin.« Jetzt war klar, dass er nicht nur dealte, sondern das Zeug auch selbst nahm. Shit. »Die wollten mich umbringen, Danny. Ich weiß das. Er hat sie geschickt, damit …«

»Halt’s Maul!«, brüllte ich, weil mich eine Vorahnung beschlich, dass mein kleiner Bruder sterben könnte. Ein Frösteln überkam mich, eine unheimliche Furcht vor dem Unbekannten. »Du wirst nicht sterben, Jace. Halt verdammt noch mal die Klappe.«

Er schluchzte und wimmerte vor Schmerzen, es klang völlig verloren. »Es tut mir leid … Ich wollte dich nicht schon wieder mit hineinziehen.«

Ich beäugte ihn von der Seite und seufzte schwer. Tätschelte ihm den Rücken. »Ist schon in Ordnung«, log ich.

Ich hatte ihn mit seinen Problemen alleingelassen. Hatte mich meiner Musik gewidmet. Mich auf mein Studium konzentriert. Ich war auf dem College, mir fehlte nur noch ein Jahr, dann würde ich etwas aus mir gemacht haben. Aber statt mich auf die Prüfung vorzubereiten, die in wenigen Stunden stattfinden sollte, durfte ich nun Jace verbinden. Großartig!

Er spielte nervös mit niedergeschlagenem Blick mit seinen Händen. »Ich will mit dem ganzen Kram wirklich nichts mehr zu tun haben, Danny. Und ich habe nachgedacht.« Er sah kurz zu mir auf, dann wurde sein Blick flackernd und er richtete ihn wieder zu Boden. »Wenn ich nur wieder in die Band könnte …«

»Jace«, mahnte ich.

»Ich weiß, ich weiß. Ich hab’s vermasselt …«

»Du hast es total verbockt«, stellte ich richtig.

»Ja, okay, stimmt. Aber du weißt doch, das einzige Mal, dass ich glücklich war, nachdem Sarah …« Er zuckte zusammen und konnte nicht weitersprechen. Seine gemarterte Seele wand sich auf dem Autositz. Ich runzelte die Stirn. »Das einzige Mal, dass ich glücklich war seit dem Tag, war bei dem Auftritt mit euch.«

Mein Magen drehte sich um, ich erwiderte nichts darauf. Wechselte das Thema. »Wir sollten dich ins Krankenhaus bringen.«

Er riss sein gesundes Auge auf und schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Krankenhäuser.«

»Warum nicht?«

Er stutzte, dann zuckte er die Achseln. »Die Cops könnten mich in die Finger kriegen …«

Ich zog eine Braue hoch. »Sind die Cops denn hinter dir her, Jace?«

Er nickte.

Ich fluchte.

Also war er nicht nur auf der Flucht vor den miesen Typen von der Straße, sondern auch vor jenen, die solche Typen hinter Gitter brachten. Warum bloß fand ich das nicht erstaunlich?

»Was hast du angestellt?«, fragte ich sauer.

»Spielt keine Rolle.« Ich warf ihm einen kalten Blick zu. Er seufzte. »War echt nicht meine Schuld, Danny. Echt nicht. Hör zu. Vor ein paar Wochen wollte Red, dass ich einen Wagen von hier nach dort fahre, mehr nicht. Und ich hab verdammt noch mal nicht gewusst, was drin war.«

»Du hast also Drogen transportiert?«

»Ich hab’s nicht gewusst! Ich schwör’s bei Gott, ich habe das nicht gewusst!«

Was zum Teufel quatschte er da? Hatte er geglaubt, er würde harmlose Zuckerstangen durch die Gegend kutschieren?

Jace fuhr fort. »Jedenfalls haben die Cops mich an einer Tankstelle angehalten. Als ich rauskam, war der Wagen umstellt. Ein Cop hat gesehen, wie ich fortlief, und hat geschrien, ich soll stehen bleiben, aber ich hab bloß gemacht, dass ich fortkam. Hat sich also doch gelohnt, das viele Lauftraining an der Highschool.« Er kicherte in sich hinein.

»Ach, ist das lustig? Findest du das lustig?« Allmählich lief mir die Galle über. »Ich amüsiere mich riesig, Jace!« Er senkte den Kopf. »Wo willst du überhaupt hin?«

»Bring mich zu Mom und Dad«, bat er.

»Das soll wohl ein Scherz sein? Mom hat dich ein ganzes Jahr nicht gesehen, und jetzt willst du als Erstes zu ihr? So wie du zugerichtet bist? Willst du sie umbringen? Und du weißt doch, wie es um Dads Gesundheit steht …«

»Bitte, Danny!«, wimmerte er.

»Mom macht aber um diese Zeit ihren Morgenspaziergang am See …«, warnte ich ihn vor.

Er schniefte und fuhr sich mit den Fingern unter der Nase entlang. »Ich setz mich einfach so lange ins Bootshaus und sehe zu, dass ich sauber werde.« Er schaute aus dem Fenster. »Ich kümmere mich wirklich darum, dass ich clean werde«, flüsterte er.

Als hätte ich das nicht schon oft gehört.

Wir brauchten zwanzig Minuten bis zum Haus meiner Eltern. Sie wohnten an einem See ein paar Meilen außerhalb von Edgewood, Wisconsin. Dad hatte Mom immer ein Haus am See versprochen, und erst vor einigen Jahren war er in der Lage gewesen, es zu kaufen. Das Haus war im Grunde eine renovierungsbedürftige Hütte, aber es war immerhin ihre renovierungsbedürftige Hütte.

Ich parkte hinter dem Bootshaus. Darin lag Dads Boot, für den Winter vertäut. Jace seufzte wieder und dankte mir dafür, dass ich ihn hergebracht hatte. Wir schlichen in das Bootshaus, durch dessen Fenster das Licht des anbrechenden Tages sickerte.

Ich turnte ins Boot und holte ein paar Handtücher aus der Kajüte. Als ich wieder an Deck kam, saß Jace still da und betrachtete seine Stichwunde.

»So schlimm ist es gar nicht«, sagte er, während er die Hand auf die Wunde drückte. Ich holte ein Taschenmesser hervor, schnitt ein Handtuch in Fetzen und drückte es auf den Schnitt. Jace starrte auf das Messer, dann schloss er die Augen. »Dad hat dir sein Messer geschenkt?«

Ich starrte auf die Klinge, ließ es zuschnappen und stopfte es wieder in die Tasche. »Er hat’s mir geliehen.«

»Ich durfte es nicht mal anfassen.«

Mein Blick glitt zu seiner Stichwunde. »Tja, warum wohl, frage ich mich?«

Bevor er antworten konnte, hörten wir draußen einen Schrei. »Was zum Teufel …« Ich stürzte aus dem Bootshaus, den humpelnden Jace dicht auf den Fersen. »Mom!«, schrie ich, als ich den Fremden im roten Kapuzenpulli sah, der meine Mutter von hinten umschlang und eine Waffe auf ihren Rücken richtete.

»Wie haben sie uns nur gefunden?«, murmelte Jace.

Ich drehte mich zu meinem Bruder um. »Du kennst ihn?!«, fragte ich. Voller Ekel.

Und Zorn.

Und Angst.

Hauptsächlich Angst.

Der Fremde sah mit funkelnden Augen zu uns herüber. Ich hätte schwören können, dass er höhnisch grinste.

Grinste, bevor er abdrückte.

Und als Mom fiel, rannte er davon.

Jace’ Stimme stieg in den Himmel empor. Er brüllte voller Zorn und Angst, als er an Moms Seite eilte, doch ich kam ihm zuvor.

»Mom, Mom. Ist nichts passiert.« Ich wandte mich an meinen Bruder und stieß ihn vor die Brust. »Ruf 911.«

Er stand über uns, die Tränen strömten ihm aus den blutunterlaufenen Augen. »Danny, sie ist doch nicht … Sie wird doch nicht …« Er stammelte, und ich hasste ihn dafür, dass er das Gleiche dachte.

Ich griff in meine Tasche, zerrte mein Handy heraus und drückte es ihm in die Hand. »Ruf an!« Ich hielt Mom in meinen Armen.

Dann sah ich zum Haus und erblickte Dads Gesicht in dem Moment, als er begriff, was geschehen war. In dem Moment, als ihm klar wurde, dass er tatsächlich einen Schuss gehört hatte und dass seine Frau tatsächlich am Boden lag, ohne sich zu bewegen. Sein Körper war von seiner Krankheit stark in Mitleidenschaft gezogen, doch jetzt kam er auf uns zugerannt.

»Ja, hallo, unsere Mom … sie ist angeschossen worden!« Als ich hörte, wie Jace es aussprach, kamen auch mir die Tränen.

Ich fuhr Mom zärtlich durchs Haar, während Dad zu uns kam. »Nein … nein … nein«, murmelte er, dann brach er zusammen.

Ich hielt Mom fester. Ich hielt Mom und Dad in meinen Armen. Sie schaute mich mit ihren blauen Augen an, flehte um Antworten auf unbekannte Fragen. »Es wird alles wieder gut. Wird alles wieder gut«, flüsterte ich ihm ins Ohr.

Ich log, und ich belog mich auch selbst. Ich wusste, dass sie es nicht schaffen würde. Irgendetwas in mir sagte unablässig, dass es zu spät sei, dass es keine Hoffnung mehr gäbe. Dennoch konnte ich nicht aufhören, ihr zu versichern, dass sie leben würde. Und ich konnte nicht aufhören zu weinen.

Wird alles wieder gut.

1

ASHLYN

— Gegenwart —

Death isn’t frightening, it isn’t a curse.

I just fucking wish that it would’ve taken me first.

Romeo’s Quest

Ich hatte mich in die hinterste Kirchenbank gesetzt. Ich verabscheute Beerdigungen – aber es wäre ja auch seltsam gewesen, wenn ich sie geliebt hätte. Ich fragte mich, ob es tatsächlich Menschen gab, die so etwas mochten. Menschen, die nur aus dem Grund zu einem Trauergottesdienst gingen, um sich eine krankhafte Unterhaltung zu verschaffen. Die sozusagen ihre Freude daran hatten.

Es geht mir gut.

Wann immer Leute an mir vorbeigingen, hielten sie den Atem an, weil sie mich für Gabby hielten. »Ich bin nicht sie«, flüsterte ich. Dann erhielt ich zur Antwort einen finsteren Blick, bevor sie weitergingen. »Ich bin nicht sie«, murmelte ich noch einmal und rutschte unbehaglich auf der hölzernen Bank herum.

Als kleines Mädchen war ich sehr krank und musste zwischen vier und sechs Jahren immer wieder ins Krankenhaus. Soweit ich es verstanden habe, hatte ich ein Loch im Herzen. Nach zu vielen Operationen und unzähligen Gebeten konnte ich schließlich ein normales Leben führen. Mom hatte damals geglaubt, ich würde sterben, und ich hatte mit der Zeit die Überzeugung gewonnen, dass sie enttäuscht war, Gabby verloren zu haben und nicht mich.

Mom hatte, nachdem Gabbys Erkrankung diagnostiziert war, wieder mit dem Trinken angefangen. Sie tat ihr Bestes, um es vor mir zu verheimlichen, aber einmal war ich in ihr Schlafzimmer geplatzt und hatte sie weinend und zitternd auf dem Bett vorgefunden. Und als ich zu ihr gekrochen war und sie umarmte, hatte ich ihre Whiskyfahne gerochen.

Mom war nie gut mit Problemen klargekommen und hatte in jeder Krise auf den Alkohol zurückgegriffen. Es half auch nicht, dass Gabby und ich während ihrer Entziehungskuren bei Großvater untergebracht waren. Nach dem letzten Entzug hatte sie hoch und heilig geschworen, nun endlich mit dem Trinken aufzuhören.

Mom saß in der ersten Bank, zusammen mit ihrem Freund Jeremy, dem einzigen Menschen, der dafür sorgen konnte, dass sie jeden Tag ordentlich angezogen war. Wir hatten kaum mehr miteinander gesprochen, seit Gabby sich nur noch mit sich selbst beschäftigt hatte – mit dem Sterben und so. Gabby war immer Moms Liebling gewesen. Das war kein Geheimnis. Gabby hatte die gleichen Sachen geliebt, wie zum Beispiel Make-up und Reality TV. Mom und Gabby hatten viel miteinander gelacht und gescherzt, während ich auf der Couch saß und meine Bücher las.

Natürlich behaupten alle Eltern, dass sie kein Kind vorziehen, aber das ist einfach nicht möglich. Vielleicht haben sie ein Kind, das ihnen so sehr gleicht, dass sie schwören, Gott müsse es nach ihrem Ebenbild geschaffen haben. So ein Kind war Gabby für Mom. Und dann ist da noch dieses merkwürdige, aus der Art geschlagene Kind, das zum Spaß Lexika liest, weil »Wörter cool sind«.

Und nun raten Sie mal, wer dieses Kind war …

Mom liebte mich als Tochter, aber im Grunde konnte sie mich nicht leiden. Für mich war das in Ordnung, denn ich liebte sie so sehr, dass es für uns beide reichte.

Jeremy war ein vernünftiger Mann, und ich fragte mich insgeheim, ob er fähig wäre, mir die Mom wiederzugeben, die sie vor Gabbys Krankheit gewesen war. Die Mom, die oft lächelte. Die Mom, die es ertragen konnte, mich anzuschauen. Die Mom, die mich liebte, aber nicht sehr mochte. Diese Mom fehlte mir wirklich sehr.

Ich kratzte an meinem schwarzen Nagellack und seufzte. Der Priester schwadronierte über Gabby, als hätte er sie gekannt. Das hatte er nicht. Wir waren keine eifrigen Kirchgänger gewesen, weshalb es jetzt schon ein wenig dramatisch war, dass wir uns in einer Kirche befanden. Mom pflegte zu sagen, wir trügen den Glauben in uns, und man könne Gott in allem finden, also gäbe es keinen Grund, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Wahrscheinlich war es nur ihre Art zu sagen, dass sie an Sonntagen gern ausschlief.

Ich hielt es keine Sekunde länger in dieser Kirche aus. Für einen Ort des Gebets und des Glaubens war es hier viel zu stickig.

Ich drehte meinen Kopf zum Portal, und in diesem Moment wurde ein weiterer Choral angestimmt. Oh mein Gott. Wie viele Kirchenlieder gibt es eigentlich?! Abrupt stand ich auf und ging vor die Tür, wo mich die Sommerhitze wie ein Schlag traf. Es war heißer als in den vergangenen Jahren. Ein paar Schweißtropfen rannen über meine Stirn, kaum dass ich die Kirche verlassen hatte. Ich zerrte an dem schwarzen Kleid, das ich tragen musste, und versuchte, auf den ungewohnten Absätzen nicht ins Stolpern zu geraten.

Manche könnten es vielleicht seltsam finden, dass ich das Kleid trug, das meine Schwester ausgesucht hatte. Aber so war Gabby eben. Sie war immer schon ein wenig morbid gewesen, hatte schon, bevor sie krank wurde, über ihren Tod gesprochen. Es war ihr ausdrücklicher Wunsch gewesen, dass ich bei ihrer Beerdigung todschick aussehen sollte. Das Kleid saß an der Taille ein bisschen eng, aber ich beklagte mich nicht. Bei wem denn auch?

Da saß ich nun auf der obersten Stufe der Kirchentreppe. Ich drückte meine Oberarme so fest an den Körper, dass es fast schmerzte. Beerdigungen waren stinklangweilig. Ich schaute einer Ameise zu, die über die Stufe krabbelte. Sie wirkte ziemlich benommen, krabbelte planlos vor und zurück, nach rechts und nach links, rauf und runter.

»Tja, wie’s scheint, haben wir eine Menge gemeinsam, Frau Ameise.«

Ich beschattete die Augen mit der Hand und schaute zum blauen Himmel hinauf. Dämlicher blauer Himmel, der Heiterkeit und Glück verhieß! Obwohl ich versuchte, sie abzuwehren, brannte die Sonne auf mich nieder und ließ mich in Scham und Schuld zerfließen.

Mit gesenktem Kopf studierte ich die Zementstufen, malte ziellos Kreise um meine Absätze. Ich war mir beinahe sicher, dass Einsamkeit eine Krankheit war. Eine ansteckende, widerliche Krankheit, die einen langsam und heimtückisch befällt, obwohl man sich so gut wie möglich dagegen wappnet.

»Störe ich?«, sagte eine Stimme hinter mir. Bentleys Stimme.

Ich drehte mich um, und da stand er, mit einer Art Schatzkiste in den Händen. Er lächelte zwar, doch in seinen Augen stand Traurigkeit. Ich klopfte auffordernd auf den Platz neben mir, und er setzte sich. Gabby hatte auch ihn eingekleidet. Bentley trug einen blauen Blazer über seinem verschlissenen, fadenscheinigen Beatles-T-Shirt. Die Leute in der Kirche mochten ihn vielleicht deswegen schief ansehen, aber Bentley war die Meinung anderer egal. Seine einzige Sorge galt einem Mädchen und ihren Nöten.

»Wie geht es dir?« Ich legte ihm die Hand aufs Knie.

Seine blauen Augen suchten meine grünen, und er kicherte leise. Wir beide wussten aber, dass es ein schmerzliches Kichern war. Meine Mundwinkel sanken herab. Der arme Kerl. Bald schon stellte er die Schatzkiste ab und ließ die Schultern hängen. Er schlug die Hände vors Gesicht und zog die Beine an, als ob er sich ganz in sich selbst verkriechen wollte. Ich konnte fast körperlich spüren, wie sein Herz in Stücke ging. Ich hatte Bentley nur einmal vorher weinen sehen, und das war, als er Eintrittskarten für Paul McCartney ergattert hatte. Aber das waren ganz andere Tränen gewesen.

Zu sehen, wie er zusammenbrach, machte mich ganz hilflos. Zu gern hätte ich seinen Schmerz aufgesogen und ins Weltall hinausbefördert, damit er nie wieder darunter zu leiden brauchte.

»Es tut mir so leid, Bentley«, sagte ich leise und legte meine Arme um ihn.

Er schluchzte noch ein paar Mal, dann wischte er sich die Tränen aus den Augen. »Was bin ich für ein Trottel, hier vor dir zusammenzubrechen. Das Letzte, was du gebrauchen kannst. Es tut mir leid, Ashlyn.« Er seufzte tief. Bentley war der netteste Junge, den ich kannte. Es ist schlimm, dass auch die netten Jungs Schmerz empfinden, denn jeder weiß doch, dass ihre Herzen am meisten leiden.

»Brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Ich verschränkte die Hände und legte mein Kinn darauf.

Bentley legte den Kopf schief und stupste meine Schulter an. »Wie geht es dir?«, fragte er mitfühlend. Meine Schwester hätte sich total in ihn verliebt, wenn sie gesehen hätte, wie er sich um mich sorgte. Dort, wo sie jetzt war, grinste sie bestimmt übers ganze Gesicht, während sie mit Tupac und Nemos Mom abhing.

Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich nicht die Einzige war, die einen Verlust erlitten hatte. Bentley hatte Gabby zwar viel bedeutet, aber sie war für ihn alles gewesen. Er war zwei Jahre älter als wir. Wir lernten uns kennen, als Bentley im vorletzten Jahr auf der Highschool war. Gabby war damals in der zweiten, ich in der ersten Klasse, weil ich aus Gesundheitsgründen ein Jahr später eingeschult worden war.

In ein paar Wochen würde Bentley sein zweites Studienjahr beginnen: im Norden, wo er Medizin studierte – eigentlich ironisch, wenn man bedachte, dass er zurzeit an einem gebrochenen Herzen litt, das keine Medizin jemals heilen konnte.

»Ich komm schon klar, Bent.« Das war eine Lüge, wie er sehr wohl wusste, aber es war okay. Er würde nicht weiter in mich dringen. »Hast du Henry gesehen?«, fragte ich und ruckte mit dem Kopf zur Kirche.

»Ja, schon. Wir haben ein bisschen geredet. Hast du schon mit ihm gesprochen?«

»Nein. Und mit Mom auch nicht. Seit Tagen nicht.« Bentley hörte das Beben in meiner Stimme, und er legte einen Arm um meine Taille und zog mich tröstend an sich.

»Sie trauert bloß. Sie meint es nicht böse, da bin ich sicher.«

Ich fuhr mit den Fingern über die Betonstufen, spürte ihre raue Oberfläche. »Ich glaube, sie hätte es lieber gesehen, wenn ich gestorben wäre«, flüsterte ich. Jetzt rann eine Träne über meine Wange. Ich sah Bentley an, der sichtlich mit mir litt. »Sie kann mich nicht einmal anschauen, weil, nun ja … weil eben nur der böse Zwilling überlebt hat.«

»Nein.« Es klang wie ein Befehl. »Ashlyn, an dir ist doch nichts verkehrt!«

»Woher willst du das wissen?«

»Tja …« Er setzte sich gerade hin und grinste mich an wie ein Trottel. »… ich bin eben Arzt. Zumindest hoffentlich irgendwann.« Damit brachte er mich zum Kichern. »Und nur, damit du Bescheid weißt … Als ich das letzte Mal mit Gabby gesprochen habe, hat sie immer wieder gesagt, wie glücklich sie war, dass es nicht dich erwischt hat.«

Ich biss mir in dem Versuch, die Tränen zurückzuhalten, auf die Unterlippe. »Danke, dass du’s mir sagst, Bentley.«

»Jederzeit, Kumpel.« Er umarmte mich noch einmal zum Abschied. »Wobei mir einfällt …« Er griff nach der Schatzkiste, die er auf die Stufen gestellt hatte, und legte sie mir in den Schoß. »Die soll ich dir von Gabby geben. Du sollst sie heute Abend öffnen. Ich weiß nicht, was drin ist. Sie wollte es mir nicht sagen. Sie hat nur gesagt, es sei für dich bestimmt.«

Ich starrte auf die hölzerne Kiste und strich mit den Fingern darüber. Was mochte darin sein? Warum war sie so schwer?

Bentley stand auf und steckte seine Hände in die Taschen. Ich lauschte seinen Schritten, als er sich dem Portal näherte und eine der Türen öffnete. Aus der Kirche klangen die leisen Laute der Trauer, ein unterdrücktes Weinen, das alles nur noch schlimmer machte. Ich sah nicht auf, wusste aber, dass Bentley noch dort stand.

Er räusperte sich. Nach einer Weile sagte er: »Ich wollte sie fragen, ob sie mich heiratet, weißt du?«

Die hölzerne Kiste drückte auf meine Schenkel. Die Sommersonne brannte heiß auf mein Gesicht. Ohne mich umzudrehen, nickte ich. »Ich weiß.«

Er stieß einen schweren Seufzer aus, dann trat er wieder in die Kirche ein. Ich blieb sitzen und flehte stumm die Sonne an, sie möge mich jetzt und hier zu einem Klumpen Nichts zusammenschmelzen. Menschen gingen vorüber, doch niemand blieb stehen. Alle zu sehr mit ihrem Leben beschäftigt, um zu merken, dass meines zum Stillstand gekommen war.

Wieder ging die Kirchentür auf, doch diesmal war es Henry. Er sagte nichts, als er sich setzte, immerhin mit genügend Abstand, sodass ich mich nicht unbehaglich fühlen musste. Er griff in seine Anzugtasche, holte ein Päckchen Zigaretten heraus und steckte sich eine an.

Er blies eine Rauchwolke, und ich betrachtete ihre hypnotisierenden Muster, die sich langsam auflösten.

»Meinst du nicht, dass es reichlich sonderbar wirkt, auf einer Kirchentreppe zu rauchen?«

Henry schnippte Asche fort, bevor er antwortete. »Tja, wenn ich erleben muss, wie die Welt eine meiner Töchter begräbt, dann kann ich wohl auf der Kirchentreppe rauchen und sagen ›Scheiß auf dich, Welt‹. Heute zumindest.«

Ich lachte sarkastisch. »Es kommt mir ein wenig kühn vor, uns als deine Töchter zu bezeichnen, nachdem du achtzehn Jahre lang nur an Geburtstagen angerufen und Geschenkgutscheine geschickt hast.« Er war zur Beerdigung aus Wisconsin gekommen, und ich hatte ihn schon ewig nicht mehr gesehen.

Henry hatte alles darangesetzt, um den Kaffeebecher mit der Aufschrift »Dad ist die Nummer eins« nicht zu verdienen, doch ich hatte gelernt, mich damit abzufinden. Doch dass er ausgerechnet heute gekommen war und den trauernden Vater spielte, kam mir ein wenig theatralisch vor, auch wenn er ganz locker eine Kippe rauchte.

Er seufzte schwer und schwieg. Wir saßen ziemlich lange stumm da und ließen uns anstarren. Lange genug, dass ich mich schuldig zu fühlen begann, weil ich ihn angeblafft hatte.

»Sorry«, murmelte ich und schielte ihn verstohlen an. »Ich hab’s nicht so gemeint.« Ich war mir nicht mal sicher, ob er mir einen Vorwurf daraus machte. Manchmal ist es wohl einfacher, gehässig zu sein.

Schon bald offenbarte er mir den wahren Grund, warum er sich zu mir gesetzt hatte. »Ich hab mit deiner Mom gesprochen. Sie macht gerade eine sehr schwere Zeit durch.« Ich schwieg. Natürlich machte sie eine schwere Zeit durch! Ihre Lieblingstochter war tot! Henry fuhr fort. »Wir waren uns einig, dass es vielleicht am besten für dich wäre, wenn du zu mir ziehst. Du kannst dein Abschlussjahr in Wisconsin machen.«

Jetzt musste ich aber wirklich lachen. »Ja, alles klar, Henry.« Immerhin hatte er sich seinen Sinn für Humor bewahrt. Ein merkwürdiger Humor, aber dennoch witzig. Ich drehte den Kopf in seine Richtung und sah den ernsten Ausdruck in seinen grünen Augen – die er mir und Gabby vererbt hatte. Ich hatte Bauchschmerzen. Tränen stiegen mir in die Augen. »Das war ernst gemeint? Sie will mich nicht mehr bei sich haben?«

»Darum geht es doch nicht …« Seine Stimme zitterte, er hoffte, mich nicht verletzt zu haben.

Doch genau darum ging es. Mom wollte mich nicht mehr. Warum sonst sollte sie mich in das Land von Kühen, Käse und Bier schicken? Ich war mir bewusst, dass wir eine schwere Zeit durchmachten, aber so ist das nun mal bei Todesfällen: Da machen Familien eine schwere Zeit durch. Man geht wie auf Eiern. Man schreit, wenn es sein muss, und bricht unvermittelt in Tränen aus. Man löst sich auf – aber gemeinsam.

Die Magenschmerzen der letzten Wochen meldeten sich erneut, und ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Ich hasste mich für meine Schwäche. Nicht vor Henry. Nicht vor ihm ohnmächtig werden.

Ich kam mühsam auf die Beine, die Schatzkiste unter meinen linken Arm geklemmt. Ich wischte die Rückseite meines Kleides ab, während ich auf die Kirchentür zuging. »Ist schon in Ordnung«, log ich, während mir panische Gedanken betreffs meiner Zukunft durch den Kopf rasten. »Außerdem … wer legt schon Wert darauf, dass man ihn haben will?«

Seit der Beerdigung war eine Woche vergangen. Mom hatte die meiste Zeit bei Jeremy verbracht. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir nicht vorgestellt, die letzten kostbaren Wochen des Sommers allein in der Wohnung zu verbringen und stündlich in Tränen auszubrechen. Es war wirklich erbärmlich.

Andererseits hatte ich in den letzten zehn Minuten nicht geheult. Ein großer Sieg also.

Ich schritt den Korridor entlang und lehnte mich an den Türrahmen unseres einstigen gemeinsamen Schlafzimmers. Da stand sie, auf meiner Kommode: ihre kleine Wunderkiste. Gabbys ganzes Leben, oder das, was sie eines Tages sein wollte, würde darin zu finden sein, dessen war ich sicher. Ob es ein Bauchgefühl war oder vielleicht die außersinnliche Wahrnehmung einer Zwillingsschwester – ich wusste es einfach.

Es war eine schlichte, kleine Schatzkiste aus Holz, und ich hätte sie am Abend nach der Beerdigung öffnen sollen, doch bis jetzt hatte ich sie lediglich angestarrt.

Ich hob die Kiste hoch und entdeckte den Schlüssel, der mit Klebeband auf der Unterseite befestigt war. Ich riss ihn ab und ging mit der Kiste zu dem überbreiten Doppelbett auf der rechten Seite des Zimmers, wobei ich nur einen kurzen Blick auf das andere Bett warf, das auf der linken Seite stand. Ich sank auf die harte Matratze und schob den Schlüssel ins Schloss.

Ich öffnete meine Schatzkiste sehr langsam. Mein angehaltener Atem strömte hinein und auch ein paar Tränen. Hastig wischte ich sie fort und atmete tief durch.

Zwei Sekunden. Ich hatte es gerade mal zwei Sekunden lang geschafft. Doch kein so großer Sieg.

In der Kiste befanden sich absurd viele Briefe. Und darauf eine Handvoll von Gabbys alten Gitarren-Plektren. Sie war eine tolle Musikerin gewesen und wollte mir immer beibringen, ihre verdammte Gitarre zu spielen, aber mir hatten immer nur die Finger wehgetan. Außerdem betrachtete ich Gitarre spielen als Zeitverschwendung, wenn ich stattdessen an meinem Roman arbeiten konnte.

Sofort bekam ich Schuldgefühle, weil ich mir mit der Gitarre keine größere Mühe gegeben hatte, denn Gabby hätte sich sicher Zeit genommen, um mir bei meinem Roman zu helfen, den ich, wie ich inzwischen glaubte, wohl nie zu Ende bringen würde.

In einer Ecke der Kiste lag ein Ring – der Freundschaftsring, den Gabby von Bentley bekommen hatte. Ich nahm ihn und drehte ihn eine Weile in den Händen, dann legte ich ihn zurück. Ich hoffte nur, dass Bentley sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Er war fast wie ein Bruder für mich, und ich wünschte, dass es ihm wieder besser ging und dass er seinen Humor wiederfand.

Blieben noch die Briefe – die vielen, vielen Briefe. Ich zählte mindestens vierzig, alle nummeriert und beschriftet und mit einem Herzaufkleber zugeklebt. Auf dem obersten Umschlag stand: »Lies mich zuerst.« Ich stellte die Kiste auf mein Bett, nahm den Umschlag heraus und riss ihn auf.

Kleine Schwester …

Ich schlug die Hand vor den Mund, während ich nach Luft schnappte und Gabbys Brief anstarrte. Ich fühlte mich hin und her gerissen. Einerseits wollte ich beim Anblick ihrer Handschrift in Tränen ausbrechen, andererseits in Lachen, weil sie mich »kleine Schwester« nannte. Sie war lediglich eine Viertelstunde vor mir geboren worden, musste mich aber ihr Leben lang daran erinnern und hatte mich stets »kleine Schwester« oder »Kid« genannt. Am liebsten hätte ich sofort jeden Brief aus der Kiste verschlungen und ihre Verbundenheit mit mir gespürt.

Lass mich zuerst sagen, dass ich dich liebe. Du bist meine erste und größte Liebe. Ja, ich kann verstehen, dass dir diese Briefe ein bisschen morbid vorkommen, aber carpe diem, nicht wahr? Ich habe Bentley gebeten, dir zu sagen, dass du die Schatzkiste am Abend nach der Beerdigung öffnen sollst, daher weiß ich, dass du wahrscheinlich einen oder zwei Tage gewartet hast.

»Oder sieben«, brummte ich, während sich auf meinem Gesicht ein Grinsen ausbreitete.

Oder sieben. Aber ich hatte das Gefühl, dass so vieles unerledigt geblieben ist. Dass wir so vieles nicht mehr tun können. Es tut mir leid, dass ich bei deiner Abschlussfeier nicht dabei sein kann. Es tut mir leid, dass wir uns an deinem einundzwanzigsten Geburtstag nicht bis zum Anschlag besaufen können. Es tut mir so leid, dass ich nicht da sein werde, um dich nach deiner letzten Enttäuschung in die Arme zu nehmen oder bei deiner tollen Hochzeit deine Brautjungfer zu sein.

Du sollst aber etwas für mich tun, Ash. Und zwar sollst du aufhören, dir die Schuld zu geben. Jetzt! Sofort! Du musst wieder anfangen zu leben. Ich bin schließlich diejenige, die gestorben ist, nicht du. Also habe ich dir auf der nächsten Seite eine Liste der Dinge zusammengestellt, die du unbedingt tun musst, bevor dustirbst. Ja, genau, ich habe diese Liste für dich gemacht, weil du es niemals tun würdest. Jedes Mal, wenn du einen Punkt abgehakt hast, wartet ein Brief auf dich – es wird so sein, als wäre ich immer noch bei dir.

Also lies die Liste. ÖffneKEINESFALLSeinen Brief, bevor du die zugehörige Aufgabe erfüllt hast. Und geh um Himmels unter die Dusche, kämm dir die Haare und leg ein bisschen Make-up auf. Du siehst nämlich echt schrecklich aus, wie eine unheilige Kreuzung zwischen dem Teufel und Bibo.

Es tut mir leid wegen all der Tränen, und es tut mir leid, dass du dich so allein und verloren fühlst. Aber glaube mir …

Du machst das ganz toll, Kid.

Gabrielle

Ich blätterte zur zweiten Seite, zu der »Liste der Dinge, die ich vor meinem Tod noch machen will«. Ich war nicht überrascht, dass manches davon genau dem entsprach, worüber wir ausgiebig geredet hatten: Fallschirmspringen, Shakespeares Gesammelte Werke lesen, sich verlieben, einen Roman veröffentlichen und ihn bei einer fantastischen Signierstunde mit Cupcakes vorstellen, Zwillinge bekommen, mit den falschen Typen ausgehen, sich an der University of Southern California einschreiben. Das waren nur einige der Dinge, von denen ich geträumt hatte. Manche Punkte auf der Liste waren aber eindeutig auf Gabbys Mist gewachsen:

Vergib Henry; weine, weil du glücklich, und lache, weil du traurig bist; betrink dich und tanze auf dem Tresen; gib Bentley den Freundschaftsring zurück; kümmere dich um Mom und stelle die berühmt-berüchtigte Szene aus Titanic nach.

In diesem Moment wurde die Wohnungstür geöffnet, und ich hörte Mom im Wohnzimmer. Ich legte die Briefe rasch in die Kiste zurück und schloss sie ab. Dann ging ich zu Mom. Sie starrte mich lange an. Tränen standen in ihren Augen, und ihre Lippen öffneten sich, als wollte sie mir etwas sagen, aber es kam nichts. Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Es blieb still.

Sie sah so gebrochen aus, so ermattet, so zerschmettert.

»Ich fahre morgen zu Henry«, sagte ich, während ich mit den Füßen auf dem Teppich scharrte. Sie zitterte ein wenig. Ich erwog kurz, meine Worte zurückzunehmen und einfach hierzubleiben. Aber bevor ich dazu kam, machte sie den Mund auf.

»Das ist gut, Ashlyn. Soll Jeremy dich zum Bahnhof fahren?«

Ich schüttelte den Kopf. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen, während ich die Hände zu Fäusten ballte. »Nein. Ich kümmere mich schon darum. Und nur damit du Bescheid weißt: Ich komme nicht zurück.« Meine Stimme brach, aber ich verkniff mir die Tränen. »Niemals. Ich hasse dich, weil du mich im Stich gelassen hast, als ich dich am meisten gebraucht hätte. Das werde ich dir nie verzeihen.«

Mom starrte auf den Boden. Sie ließ die Schultern hängen. Sie sah mich noch ein letztes Mal an, bevor sie sich wieder zur Tür wandte. »Dann gute Reise.«

Und damit ließ sie mich im Stich – wieder einmal.

2

ASHLYN

Always remember our first glance,

And I’ll promise your heart that I’ll be enough.

Romeo’s Quest

Im Handumdrehen war der nächste Tag da. Ich saß auf meinem großen Koffer vor einem Bahnhof. Ich war vorher noch nie mit dem Zug gefahren und fand es daher ziemlich aufregend.

Drei Dinge hatte ich über Züge gelernt. Erstens, wenn der wildfremde Kerl neben dir sabbert und schnarcht, musst du so tun, als würdest du es nicht bemerken. Zweitens, eine Limo im Zug kostet mehr als eine Herde Kühe, und drittens, die Schaffner sehen genauso aus wie in Polar Express – nur dass sie nicht computeranimiert sind.

In Filmen und Büchern waren Züge mir immer irgendwie cooler vorgekommen, in der Wirklichkeit waren sie einfach nur Vehikel, die auf Schienen fuhren. Waggons eben. Der vorderste war die Lokomotive und der hinterste die Kombüse.

Ein Grinsen glitt über mein Gesicht, während ich über das Wort nachsann. Sag es fünfmal hintereinander, ohne in Lachen auszubrechen.

Kombüse.

Kombüse.

Kombüse.

Kombüse.

Gabby.

Oh nein. Ich lachte und weinte gleichzeitig. Alle Wege führten unweigerlich zu meiner Schwester zurück. Die Leute, die vorbeigingen, mussten mich für übergeschnappt halten, weil ich so grundlos lachte. Um ihren neugierigen Blicken zu entgehen, zog ich mein Buch aus der Handtasche und schlug es auf. Menschen können manchmal so voreingenommen sein.

Ich hängte die Handtasche wieder über die Schulter und seufzte. Ich hasste Handtaschen, Gabby hingegen war voll darauf abgefahren. Sie hatte sich ohnehin gern aufgebrezelt und war eine wahre Meisterin darin gewesen. Und ich? Gewiss nicht, aber Gabby hatte immer wieder betont, dass sie mich für wunderschön hielt, also musste es auch ohne Aufbrezeln gehen.

Und wissen Sie, was das Beste an Handtaschen ist? Man kann Bücher hineintun. Ich las gerade Hamlet. Zum fünften Mal in drei Wochen. Gestern Abend hatte ich an der Stelle aufgehört, wo Hamlet Ophelia schreibt, sie solle alles in Zweifel ziehen außer seiner Liebe. Aber das dumme Ding bringt sich später trotzdem um. Das ist der Fluch in den Shakespeare-Tragödien.

Während ich las, beobachtete ich aus dem Augenwinkel einen Mann, der seine Koffer aus dem Bahnhof schleppte. Dann lehnte er sie an die Seitenwand des Gebäudes. Es war irgendwie merkwürdig, ihn als Mann zu bezeichnen, denn so alt war er noch gar nicht. Man brauchte ein Wort für die Jahre dazwischen. Vielleicht Munge? Jann? Janmunge?

Dieser Janmunge hatte im gleichen Waggon wie ich gesessen und war mir sofort aufgefallen. Wie hätte es auch anders sein können? So oft geschah es nicht, dass ich einen Menschen schön fand, aber auf ihn traf das definitiv zu. Er hatte lange – zu lange – Haare. Zumindest hatte ich das gedacht, bis er sich mit der Hand durch seine dichten braunen Haare fuhr, die sich daraufhin glatt an den Kopf schmiegten.

Und ich war knallrot geworden.

Auf der Reise nach Wisconsin hatte er zwei Reihen hinter mir gesessen. Als ich auf die Toilette ging, sah ich, wie er mit den Fingern rhythmisch auf seinen Oberschenkel trommelte und dazu im Takt mit dem Kopf nickte. Vielleicht war er Musiker. Gabby hatte auch immer mit den Füßen gewippt und mit dem Kopf genickt.

Bestimmt war er Musiker.

Er sah, dass ich ihn beobachtete, und als er zu mir aufschaute, erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Ich kam mir dumm vor. Also heftete ich meinen Blick auf den dunkelblauen, kaffeefleckigen Teppichboden und eilte weiter. Seine Augen waren blau und aufmerksam. Eine Sekunde lang hatte ich sie für einen Weg in eine andere Welt gehalten.

Wunderschöne.

Atemberaubende.

Leuchtende.

Blaue Augen.

Ich seufzte.

Vielleicht waren sie ja ein Weg in eine bessere Welt.

Davon abgesehen sollte man in einem Zug niemals die Toilette benutzen. Sie war ziemlich eklig, und ich trat in ein Kaugummi, das jemand ausgespuckt hatte.

Als ich zu meinem Platz zurückging, klopfte mein Herz, denn ich wusste, ich musste wieder an dem Mann mit den schönen Augen vorbei. Mit niedergeschlagenem Blick erreichte ich meinen Platz und atmete erleichtert aus. Doch dann ertappte ich mich dabei, wie ich den Kopf in seine Richtung drehte. Es war eindeutig die Schuld meiner Augen, sie schienen ein Eigenleben zu führen. Der Mann lächelte wieder und nickte mir zu. Ich hingegen lächelte nicht, denn ich war viel zu nervös. Diese blauen Augen machten mich so schrecklich nervös.

Dort, im Zug, hatte ich ihn das letzte Mal gesehen.

Und – jetzt wieder.

Jetzt befand ich mich vor dem Bahnhof. Er stand vor dem Bahnhof. Wir waren vor dem Bahnhof. Und ich warf ihm einen raschen Seitenblick zu. Herzklopfen. Mächtiges Herzklopfen.

Ich spielte die Coole, indem ich meine gelegentlichen Seitenblicke so wirken ließ, als hielte ich an Mr Beautiful Eyes vorbei Ausschau nach Henry. In Wahrheit wollte ich aber nur einige Blicke auf den Janmungen erhaschen, der sich lässig an die Wand des Bahnhofsgebäudes lehnte.

Mein Atem ging rascher. Er sah mich. Ich trappelte ein bisschen mit den Füßen, summte vor mich hin, versuchte cool zu wirken und versagte kläglich dabei. Ich hielt das Buch vor mein Gesicht.

»›Zweifle an der Sonne Klarheit. Zweifle an der Sterne Licht. Zweif’l, ob lügen kann die Wahrheit. Nur an meiner Liebe nicht‹«, zitierte er.

Ich ließ das Buch in den Schoß sinken. Verwirrt schaute ich zu Mr Beautiful Eyes hoch. »Halten Sie den Mund.«

Sein Grinsen verschwand und machte Bedauern Platz. »Oh, tut mir leid. Ich habe bloß gesehen, was Sie da lesen …«

»Hamlet.«

Er strich mit dem Finger über die Oberlippe und trat einen Schritt näher. Klopf, klopf machte mein Herz. »Ja … Hamlet. Verzeihung, ich wollte Sie nicht stören«, entschuldigte er sich mit einer unglaublich sanften Stimme, die so klang wie Honig – wenn Honig sprechen könnte. Eine Entschuldigung war aber eigentlich gar nicht nötig. Denn ich freute mich viel zu sehr, dass es noch andere Menschen auf der Welt gab, die William zitierten.

»Nein. Haben Sie gar nicht. Ich, ich meinte auch nicht Mund halten wie in ›Mund zu und schweigen‹, sondern eher im Sinn von ›Au, verflucht noch eins, Sie können Shakespeare zitieren?!‹ So war es eher gemeint.«

»Haben Sie gerade ›verflucht noch eins‹ gesagt?«

Meine Kehle schnürte sich zu. Ich richtete mich auf. »Nein.«

»Ähm, ich dachte, ich hätte so etwas gehört.«

Wieder lächelte er, und nun merkte ich zum ersten Mal, wie heiß es war. Mindestens 32 Grad. Meine Hände schwitzten. Sogar meine Zehen klebten aneinander. Schweiß rann mir von der Stirn.

Ich sah, wie er den Mund öffnete, und tat dasselbe. Dann schloss ich ihn rasch wieder, denn ich wollte lieber seine Stimme hören.

»Auf der Durchreise oder bleiben Sie?«, fragte er.

Ich blinzelte verwirrt. »Wie?«

Er lachte und nickte kurz. »Sind Sie nur auf der Durchreise oder bleiben Sie in der Stadt?«

»Oh«, erwiderte ich und starrte ihn ein wenig zu lange an. Nun red schon! Sag etwas! »Ich ziehe um. Hierher. Ich ziehe in diese Stadt. Ich bin neu hier.«

Er zog eine Braue hoch, offensichtlich fand er diese unbedeutende Kleinigkeit überaus interessant. »Ach ja? Schön.« Er zog mit der rechten Hand an seinem Koffer und trat noch einen Schritt näher. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, während er mir die Linke hinstreckte. »Dann willkommen in Edgewood, Wisconsin.«

Ich sah auf seine Hand, dann wieder in sein Gesicht. Ich presste mein Buch vor die Brust, legte meine Arme darum. Ich konnte ihm nicht meine verschwitzte Hand geben. »Danke.«

Er seufzte leise, lächelte aber immer noch. »Na schön. War nett, Sie kennenzulernen.« Er zog die Hand zurück und eilte auf ein Taxi zu, das gerade am Bordstein hielt.

Ich räusperte mich. Mein Herz schlug gegen das Buch, in dem Hamlets und Ophelias Geschichte stand, und in meinem Kopf ging alles durcheinander. Meine Füße verlangten, dass ich aufstehen sollte, also sprang ich von meinem Koffer auf – und warf ihn prompt um.

»Sind Sie Musiker?!«, schrie ich dem Janmungen nach, der im Begriff war, in das Taxi zu steigen. Er drehte sich zu mir um.

»Woher wissen Sie das?«

Ich trommelte mit meinen Fingern rhythmisch auf das Buch, so wie er es im Zug getan hatte. »Hab ich mir bloß gedacht.«

Er kniff die Augen zusammen. »Kennen wir uns?«

Ich zog die Nase kraus und schüttelte heftig den Kopf. So heftig, dass mir unter Garantie Schweißtropfen von der Stirn flogen. Ich hoffte nur, dass er es nicht sah.

Nachdenklich grub er die Zähne in die Unterlippe. Ich sah, wie seine Schultern sich unter einem leisen Seufzer hoben und wieder senkten. »Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn.«

Er nickte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Gut. Sie müssen nämlich achtzehn sein, um überhaupt reinzukommen. Sie kriegen einen Stempel, und an der Bar wird noch mal der Ausweis gecheckt, aber zuhören dürfen Sie. Bloß keinen Alkohol bestellen.« Ich legte den Kopf schief und starrte ihn ungläubig an. Er lachte. Oh, was für ein schönes Lachen! »Joe’s Bar, Samstagabend.«

»Was ist Joe’s Bar?«, fragte ich, nicht sicher, ob die Frage ihm galt oder mir oder diesen verdammten Schmetterlingen in mir, die mich in Fetzen rissen.

»Eine … Bar?« Seine Stimme hob sich um eine Oktave, dann lachte er wieder. »Ich spiele mit meiner Band, gegen zehn. Kommen Sie hin. Wird Ihnen bestimmt gefallen.« Und zur Überzeugung schickte er noch ein freundliches Lächeln hinterher. So freundlich, dass ich nervös hustete und mich an der Luft verschluckte.

Er hielt zum Abschied eine Hand hoch und winkte lächelnd. Dann schlug die Wagentür zu, und das Taxi fuhr an.

»Bye«, flüsterte ich dem davonbrausenden Taxi nach. Ich starrte ihm hinterher, bis es um eine Ecke bog und verschwand. Ich schaute auf mein Buch, das ich mit den Händen umklammerte, und musste lächeln. Ich würde es noch einmal von Anfang an lesen.

Gabby hätte dieser merkwürdige, peinliche Augenblick sehr gefallen.

So viel war mir klar.

3

ASHLYN

I’m not going to look back,

I’m not going to cry.

I’m not going to even ask you why.

Romeo’s Quest

Als Henry endlich kam, dröhnte der Motor seines gelben rostigen 88er-Pick-ups, als wollte er jeden Moment explodieren. Der Platz vor dem Bahnhof war voller Familien – Menschen, die sich umarmten, die miteinander weinten und lachten. Menschen, die ihre menschlichen Bindungen pflegten.

Mir war sehr unbehaglich zumute.

Ich saß einsam auf meinem Koffer und hielt Gabbys hölzerne Schatzkiste auf dem Schoß. Ich fuhr mir verlegen durch die Haare. Ich hoffte, diesen Bindungen, nach denen der Rest der Welt so begierig strebte, ausweichen zu können.

In meinem kurzen schwarzen Kleid schwitzte ich mich fast zu Tode, und die Abendhitze der Stadt tat ein Übriges dazu. Ich hatte wirklich nicht erwartet, länger als eine Stunde auf Henry warten zu müssen. Eigentlich hätte ich es besser wissen sollen, aber sei’s drum. Manchmal fragte ich mich, ob ich jemals dazulernen würde.

Ich wartete, bis Henry dicht an den Bordstein herangefahren war, wobei sein Vorderrad über eine leere Wasserflasche rollte. Die Flasche vibrierte unter dem Druck des Reifens, dann sprang der Deckel ab, flog quer über den Bürgersteig und prallte gegen meinen Fuß. Ich stand von dem schicken Trolley mit Blumenmuster auf, den Mom mir zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte, zog den Griff hoch und rollte zu Henrys Truck.

Musste sein Wagen so laut sein?

Henry hüpfte aus dem Pick-up und kam um die Motorhaube herum, um mich zu begrüßen. Sein moosgrünes Hemd hing zur Hälfte aus der Jeans heraus, sein rechter Schuh war offen, und ich konnte an seinem Bart einen schwachen Hauch Tabak riechen, aber ansonsten machte er einen ganz guten Eindruck.

Für den Bruchteil einer Sekunde schien er zu überlegen, ob er mich umarmen sollte, um die gleiche menschliche Bindung wie die anderen Familien zu pflegen, doch als er sah, wie verlegen ich war, besann er sich eines Besseren.

Er lachte leise. »Wer trägt denn im Zug ein Kleid und hohe Absätze?«

»Das sind Gabbys Lieblingssachen.«

Schwer lastete Schweigen auf uns, angefüllt mit Erinnerungen. Henry erging es vermutlich genauso. Unterschiedliche Erinnerungen an ein außergewöhnliches Mädchen.

»Mehr hast du nicht dabei?«, fragte er und deutete auf mein Leben, das ich in den Koffer gepackt hatte. Ich antwortete nicht. Was für eine dämliche Frage! Natürlich war das alles. »Gib mir mal den …« Er trat einen Schritt vor, um mir den Trolley abzunehmen, doch ich ließ ihn nicht los.

»Hab ihn doch schon.«

Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch den grau gesprenkelten Bart. Er sah älter aus, als er sollte, aber das konnte auch an seinen Schuldgefühlen liegen. »Okay.«

Ich warf meinen Koffer auf die Ladefläche des Pick-up und wollte auf der Beifahrerseite einsteigen. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen, wie ich entnervt feststellte. Das sollte mich eigentlich nicht überraschen – Henry war Spezialist für Dinge, die nicht funktionierten.

»Sorry, Kleines. Die Tür macht ’n bisschen Probleme. Du kannst an meiner Seite einsteigen.«

Wieder verdrehte ich entnervt die Augen, ging zur Fahrerseite und kletterte mühsam hinein, wobei ich hoffte, dass man meine Unterwäsche nicht sah.

Wir fuhren schweigend, und ich stellte mir vor, dass Schweigen das beherrschende Element der nächsten Monate sein würde. Verlegenes Schweigen. Seltsame Dialoge. Merkwürdige Begegnungen. Henrys Name mochte zwar auf meiner Geburtsurkunde stehen, aber wenn es darum ging, ein wirklicher Vater zu sein, hatte er sich stets durch Abwesenheit ausgezeichnet.

»Sorry wegen der Hitze. Die verdammte Klimaanlage hat letztes Wochenende den Geist aufgegeben. Hätte nicht gedacht, dass es bei uns so heiß werden kann. Weißt du, dass für Ende der Woche über 37 Grad erwartet werden? Verdammte Erderwärmung«, behauptete Henry. Ich antwortete nicht, was er wohl als Ermunterung nahm, um weitere launige Bemerkungen vom Stapel zu lassen. So war mein Schweigen aber nicht gemeint. Es wäre mir wirklich lieber gewesen, wenn er nicht auf Small Talk gemacht hätte. Ich hasste Small Talk. »Gabby hat erzählt, dass du einen Roman schreibst, ja? Ich hab dich in einen Englisch-Leistungskurs bei einem tollen Lehrer eingeschrieben. Es heißt zwar, wir würden nur die Besten der Besten einstellen, aber du kannst mir glauben, auch bei uns hängen ein paar Nieten herum.« Er lachte über seinen eigenen Witz.

Henry war stellvertretender Schulleiter der Edgewood Highschool, die nach den Ferien meine Schule werden sollte. Die letzten einhundertundachtzig Tage meiner Schullaufbahn würde ich also unter der Ägide meines leiblichen Vaters verbringen, der in dem Schulgebäude die Korridore unsicher machte. Hervorragende Aussichten.

»Das ist mir egal, Henry.«

Er zuckte zusammen, als er die Anrede hörte, aber wie sollte ich ihn sonst nennen? »Dad« kam mir viel zu persönlich vor und »Vater« zu … moralisch. Also würde ich bei Henry bleiben. Ich kurbelte mein Fenster ein kleines Stück herunter, um Luft zu schnappen. Mein neues Leben drohte mich zu überwältigen.

Henry sah mich von der Seite an und räusperte sich. »Deine Mom hat gesagt, dass du schlimme Panikattacken hattest?«

Ich verdrehte in bester Nachahmung eines verängstigten Teenagers die Augen. Im Grunde hatte ich unter Panikattacken gelitten, seit wir von Gabbys Krankheit erfuhren. Aber das ging Henry nichts an.

Aus Verlegenheit wechselte er wieder das Thema. »Wir freuen uns wirklich sehr, dass du zu uns kommst«, betonte er.

Mein Kopf fuhr ruckartig zu ihm herum. Ich starrte ihn fragend an, bis er den Blick wieder auf die Straße richtete. Ich war vor Verwunderung wie erstarrt. »Wer ist wir?«

»Rebecca …«

Rebecca? Wer ist Rebecca?

»… und ihre Kinder«, murmelte er. Sein Räuspern klang unangenehm.

Ich riss vor Erstaunen die Augen auf. »Wie lange wohnt ihr schon zusammen?«

»Seit einer Weile.« Seine Stimme klang einschmeichelnd, damit ich nicht weiter bohrte.

Was Henry wollte, war mir völlig egal. Außerdem wusste ich, dass er log, wenn seine Stimme diesen honigsüßen Ton annahm.

»Ich meine, habt ihr schon zusammengewohnt, bevor du uns dieses Jahr zum Geburtstag angerufen hast – mit drei Tagen Verspätung?« Sein Schweigen war Antwort genug. »Und was war letztes Jahr? Als du gar nicht angerufen hast? Habt ihr da schon zusammengewohnt?«

Leicht aus der Fassung gebracht antwortete Henry: »Ach herrje, Ashlyn. Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Das ist Vergangenheit.«

»Ja, aber eine Vergangenheit, die meine Gegenwart betrifft«, betonte ich, drehte mich wieder nach vorn und starrte auf die Straße.