Deine Zeit läuft ab - Bruno Heini - E-Book

Deine Zeit läuft ab E-Book

Bruno Heini

3,5

Beschreibung

Gangster überfallen die High-Society-Party des Luzerner Juweliers Diethelm. Sie rauben den Gästen Schmuck und Luxusuhren. Da löst sich im Gerangel ein Schuss. Getroffen sinkt die Kellnerin Susa zu Boden. Ist sie nur ein zufälliges Opfer? Da Susas Schwester einen Mordversuch wittert, fleht sie Detektivin Palmer um Hilfe an. Überdies soll Palmer Susas todkrankem Sohn Lenny zu einem Spenderherz verhelfen, denn dessen Vater schlägt ihm jegliche Hilfe ab. Noch ahnt Palmer nicht, welch teuflische Geheimnisse sie lüften wird …

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Cris9

Wenn es nichts besseres gibt...

Zu langatmig und oft zum Teil langweilig... Die Situationen würden zu detailreich beschrieben und zu viel unwichtiges eher Spannung nehmendes drumherum.
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Bruno Heini

Deine Zeit läuft ab

Thriller

Zum Buch

Die Fährte der Killer Der Luzerner Juwelier Diethelm schmeißt eine Party für seine Kunden. Während Gangster die Feier stürmen und den Gästen Schmuck und Luxusuhren rauben, löst sich in einer Rangelei ein Schuss. Getroffen sinkt die Kellnerin Susa zu Boden. Deren Schwester Hannah engagiert daraufhin Detektivin Palmer, denn sie ist davon überzeugt, dass Diethelm absichtlich auf Susa geschossen hat, um sie zu töten. Diethelm und Susa haben einen schwerkranken Sohn, Lenny, für den er den Unterhalt nicht bezahlen will. Susa hat sich für die Party absichtlich als Kellnerin anstellen lassen, um mit Diethelm zu sprechen. Nun soll Palmer Susa vor einem weiteren Angriff beschützen. Darüber hinaus fleht Hannah Palmer an, für Lenny, der an einem Herzfehler leidet, mit Diethelms Geld ein Spenderherz zu organisieren. Denn niemals würde Diethelm seinem verstoßenen Sohn freiwillig helfen. Bei ihren Ermittlungen entdeckt Palmer Hinweise, die sie erschaudern lassen. Als ein Mord geschieht, beginnt der Wettlauf gegen die Zeit.

Bruno Heini lebt mit seiner Frau Judith und den beiden Katern Jimmy und James über den Dächern von Luzern. Er arbeitete erfolgreich als Unternehmer bevor er sich auf das Schreiben von Krimis und Thrillern verlegte. Auf seinen Luzern-Thriller »Teufelssaat« folgten »Engelsknochen« und »Höllenwut«. Nun legt er nach mit »Deine Zeit läuft ab«. Heinis Bücher schaffen es regelmäßig in die Schweizer Taschenbuch-Hitparade.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © jaedo976 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6896-4

 

 

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Der Schrei gellt durch die Gartenparty. Schlagartig verstummt der Small Talk, jedes Lächeln erstarrt. Bewegung kommt in die Festgesellschaft, einzelne Gruppen werden auseinandergetrieben, als maskierte Männer sich zügig unter den Gästen verteilen. Die Männer sind bewaffnet, halten Macheten in den Händen, vor denen die Gäste instinktiv zurückweichen. Bewegungslos verharren die Festbesucher, sehen sich irritiert an. Jemand lacht verunsichert. Eine makabre Showeinlage des Gastgebers? Eine organisierte Überraschung? Jedenfalls scheint der Kellner mit der schwarzen Fliege seine Rolle meisterhaft zu spielen. Scheppernd klatscht sein silbernes Tablett mit den leckeren Häppchen auf die Steinplatten, als es ihm aus der Hand gleitet. Er schmeißt sich hinter das Podest, wobei seine Hüfte eine Tischkante streift. Es klirrt, als die Champagner-Pyramide über ihm zusammenstürzt.

Eine Dame im langen Kleid schlägt sich die Hand vor die Brust, während ihre andere das Handy umklammert. Ihr Kristallglas zersplittert auf dem Naturstein. Der Schaumwein spritzt auf ihre Beine.

Einer der Männer baut sich vor ihr auf.

Ihr Blick hängt an der scharfen Klinge, die auf ihren Hals zielt, ein erster Schrei des Erschreckens scheucht die Gäste auf.

Mit einem Griff entreißt der Unbekannte das Telefon ihren krampfenden Fingern und schmeißt es in einen Stoffbeutel, den er bei sich trägt.

Sie wimmert und blickt ohnmächtig zu ihrem Begleiter. Der postiert sich in seinem Maßanzug vor dem Gangster, stößt ihm die Hand vor die Brust. Adern treten an seinem Hals hervor.

»Halt!«, brüllt er ihm ins Gesicht.

Der Bewaffnete gebietet ihm mit einer energischen Geste zu schweigen.

Aber der elegante Begleiter tritt noch näher und bohrt seinen Blick in die Augen des Vermummten. Er greift sogar nach dessen Maske.

Die Faust des Gangsters trifft seine Kehle.

Der Begleiter sackt auf die Knie und würgt.

Mit einem Griff dreht ihm der Maskierte den Arm auf den Rücken. 

»Noch ein Mucks und ich zerhacke dir die Hand.« Die Sonne blitzt auf der blanken Klinge, als er sie einmal vor dem Gesicht des Mannes herabsausen lässt. Spätestens jetzt scheint jeder zu begreifen, dass hier gerade keine Showeinlage geboten wird, dass gerade das Unvorstellbare geschieht. Der Räuber bückt sich, tastet das Jackett seines Opfers ab und zerrt das Handy aus der Innentasche. »Deine Uhr! Los!«, brüllt er und legt seine Machete an den Hals seines Opfers. Der Begleiter nestelt an seinem Handgelenk. Endlich streckt er ihm seinen goldenen Zeitmesser entgegen. Der Gangster entreißt ihm diesen und wirft ihn in den Beutel. Dann verpasst er dem Mann einen Tritt.

»Genug jetzt!«, entfährt es der Dame. Sie presst ihre Hände an den Mund. In ihren Augen lodert Panik.

Der Gangster starrt sie an.

Tränen quellen aus ihren Augen, die Unterlippe bebt.

Schwungvoll reißt er das Collier von ihrem Hals.

Sie kreischt.

Er klatscht ihr seinen Handrücken auf die Wange.

»O mein Gott«, haucht eine andere Lady.

Der Gangster ruckt seinen Kopf herum.

Trotzig verschränkt sie die Arme vor der Brust.

Einige Schritte, zwei schnelle Bewegungen, und er wiegt ihre mit Juwelen besetzten Ohrstecker in seiner Hand.

Sie schreit auf und umklammert mit den Fingern ihre Ohren.

Der Maskierte wendet sich dem nächsten Paar zu. Nach einem eindeutigen Zeichen mit seiner Waffe hält er der Frau im cremefarbenen Etuikleid den Stoffbeutel entgegen.

Die Dame lässt ihre Brillanten freiwillig in den Sack gleiten und ihr Begleiter seine Platinuhr.

Die Sonne brennt.

Während die Eisskulptur vor sich hin tropft, plätschert sanfte Lounge-Musik aus den Lautsprechern, als ginge nichts Außergewöhnliches über die Bühne.

Da peitscht ein Pistolenschuss über ihre Köpfe.

1

»Das wird doch wohl jetzt kein Problemgespräch?« Palmer lächelte gequält und hob hilflos die Hände. »Ich dachte, wir sind uns einig. Haben Sie jedenfalls gesagt. Zwei, drei Details besprechen, Unterschrift unter den Vertrag, Handschlag, und übernächsten Monat führe ich die Sicherheitsabteilung Ihres Fachmarkts.«

»Ich will ganz ehrlich sein, Frau Palmer. Wie Sie hier eben auf mich zugekommen sind, das wirkte alles andere als sicher und selbstbewusst.« Er schüttelte den Kopf. »Ich suche keinen Matrosen, ich suche einen ersten Offizier, wenn Sie verstehen.«

»Ist doch bloß meine Höhenangst, weiter ist da nichts. Ich habe gezögert, weil Sie hier bei der Glasbrüstung direkt am Abgrund sitzen, hoch über den Dächern von Luzern. Im wievielten Stockwerk liegt diese Bar? Und dann genau an der Kante.« Ihr Blick wanderte langsam von seinem Silberkettchen am Handgelenk zu dem maßgeschneiderten Anzug, den sein gestählter Oberkörper ausfüllte, was deutlich machte, dass er wohl täglich Hanteln stemmte. Eine Locke hatte er so gestylt, dass sie ihm wie zufällig in die Stirn fiel. Im Bereich der Ohren hatte er sich das Haar kurz trimmen lassen, was ihm eine Aura militärischer Autorität verlieh. Allerdings erinnerte sich Palmer, völlig unpassend für diesen Moment, an ihr vorangegangenes Treffen in seinem Büro, bei welchem ihr seine blauen Augen aufgefallen waren, die sie ziemlich humorbefreit und eisig gemustert hatten. Auch war er kleiner gewesen, als sie ihn sich vor dem ersten Treffen vorgestellt hatte.

»Da ist noch etwas anderes«, fuhr er fort. »Wir legen Wert auf Pünktlichkeit.«

»Wie jetzt? Diese zwei Minuten?« Suchend blickte sich Palmer um. »Als ich auf dieses Haus zugegangen bin, habe ich Sie hier auf der Dachterrasse erkannt, wie Sie, die Ellbogen auf das Geländer gestützt, nach unten gesehen haben. Wir haben uns sogar zugewinkt. Deshalb haben Sie garantiert mitbekommen, wie diese alte Dame über den Bordstein gestolpert und direkt vor meinen Füßen hingefallen ist. Sie hat sich die Nase blutig gestoßen und sich wahrscheinlich das Schlüsselbein gebrochen. Ich habe Hilfe organisiert und bin dann sofort zu Ihnen hoch geeilt. Wäre das nicht passiert, ich wäre sogar einige Minuten zu früh hier gewesen.« Angespannt rutschte Palmer zur Sesselkante, wobei sie mit einem Knie aus Versehen so heftig an das Tischchen stieß, dass sein Bierglas tanzte, bevor es kippte und den Inhalt über seine Schuhe ergoss. Er setzte sich auf und tupfte mit der weißen Serviette, die man ihm zu den marinierten Oliven gereicht hatte, theatralisch seine schicken Slipper trocken. Erst dann bemerkte er, dass sein Bier auch in seinen Schoß geschwappt war und es aussah, als hätte es ein kleines Malheur gegeben. Zusammengeknüllt schmiss er den Lappen auf das Tischchen, breitete die Hände aus und schüttelte den Kopf.

In ungläubigem Entsetzen stand Palmers Mund offen, ehe sie die Lippen zusammenkniff.

»Sie haben mir beim letzten Gespräch bestätigt, wie gut meine Fähigkeiten zu Ihren Anforderungen passen. Heute treffen wir uns, um den Vertrag zu unterzeichnen. Und genau das werden wir jetzt tun. Meine Hilfsbereitschaft zählt man normalerweise zu meinen Stärken.« Palmer lächelte angestrengt. Sie wartete, aber der Anzugträger ihr gegenüber rührte sich nicht. »Kommen Sie, die Abendsonne lacht, Sie genießen Ihren Feierabend auf dieser Dachbar. Was wollen Sie mehr? Hier bin ich, Ihre ideale Besetzung. Perfekt ausgebildet, beste Zeugnisse, ausgezeichnete Referenzen. Ich treibe Sport, trinke kaum Alkohol, bin top motiviert. Lassen Sie uns anstoßen auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit.«

»Sie hätten auch den Portier rufen können unten beim Hotel, und dann nichts wie hoch zu mir. Auch er hätte die Ambulanz verständigen können. Von einer Führungskraft erwarte ich, dass sie die Prioritäten richtig zu setzen weiß.« Er hockte sich im Sessel gerade. »Nein, das wird nichts.« Dabei schüttelte er den Kopf und machte eine Geste mit der Hand, als wollte er den Gedanken wie eine lästige Fliege vertreiben. »Sie erscheinen mir zu wenig entschlossen. Eine schlechte Eigenschaft für unseren Führungsjob.«

Palmer zog die Brauen hoch.

»Sie wollen mich testen?« Sie nickte auffallend langsam und blickte ihm schräg ins Gesicht. »Sie machen nur Spaß. Oder?« Palmer lächelte gequält. »Sie haben mir tatsächlich einen Schrecken eingejagt.«

Er schürzte die Lippen.

»Ich muss Ihnen für diesen Job absagen.« Jetzt nickte er, als ob er sich zu seinem Beschluss gratulierte. »Ich habe nichts hinzuzufügen.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst …« Auf einen Schlag verstummten in ihrem Kopf alle Gespräche anderer Gäste, als hätte sich unvermittelt eine graue Wand zwischen ihr und der Außenwelt aufgetürmt. Brust und Hals verengten sich und raubten ihr den Atem. Sie räusperte sich, da ihre Stimme zu versagen drohte. Als sie jedoch den Mund für eine Entgegnung öffnete, kam er ihr zuvor.

»Meine Entscheidung ist unumstößlich.«

Palmers Problem war keineswegs, dass ihr schlagfertige Antworten immer zu spät einfielen, sondern eher, dass sie diese tatsächlich aussprach. Aber jetzt war sie baff. Bis ihr Schock sich halbwegs gelegt hatte, verharrten ihre Hände wie festgeklebt auf dem niedrigen Loungetischchen neben seinem Bierglas, während ihre Gedanken rasten.

Ich organisiere Hilfe für die alte Dame. Und damit soll ich alles vermasselt haben? Das darf doch nicht wahr sein!

Sie reflektierte die ganze Situation noch einmal, versuchte, dabei so selbstkritisch wie möglich zu sein, aber das Ergebnis war dasselbe: Dieser Typ war ein Depp. Sie hatte sich nicht das Geringste vorzuwerfen. Zwar hatte sie sich auf den Job gefreut und auch fest damit gerechnet, jetzt aber würde sie ihn nicht mal mehr antreten, sollte er sie auf den Knien anbetteln.

Seine kraftvolle Stimme holte sie in die Realität zurück.

»Um ehrlich zu sein, war mir von Beginn an nicht ganz wohl, diese Stelle mit einer Frau zu besetzen. Und wie gesagt, kann ich die Sicherheit meiner aufstrebenden Firma keiner zögerlichen Person anvertrauen, die nicht weiß, was in welchem Moment wichtig ist. Vergessen Sie nicht: Wir machen 30 Millionen Umsatz. Nach erst vier Jahren.«

»Ist das gut oder schlecht?«, fragte Palmer, um das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden.

Seine Stirn runzelte sich, und Palmer erkannte, er verstand ihr spitze Bemerkung nicht. Aber er musste bemerkt haben, dass sie dies auf die eine oder andere Art beleidigend gemeint hatte.

»Frau Palmer, Ihr Ton gefällt mir nicht.«

»Dann sind wir ja quitt. Good bye.«

Die zwitschernden Rufe der Schwalben vermochten Palmer nicht wie üblich aufzuheitern. Auch der Mann mit der Grillzange nicht, der ihr neben der Rauchfahne eines Holzkohlegrills von seinem Balkon zuwinkte. Sie war aufgewühlt, ihre Gedanken trieben in alle Richtungen, als sie über die Winkelriedstraße nach Hause marschierte und sich grübelnd zwischen stehenden Fahrzeugen am Bundesplatz hindurchschlängelte Richtung Langensandbrücke.

Wie sie diesen Job gewollt hatte. Unbedingt.

Sie hatte ihn einfach haben müssen.

Ohne Anstellung würde sie bald von Alex’ Großzügigkeit abhängig sein, was für sie nie und nimmer infrage kam. Jobangebote wie dieses, millimetergenau auf ihre Stärken und Interessen zugeschnitten, regneten nicht einfach so rein. Irgendeine Stelle, bei der die Firmen nur einen weiblichen Tanzbären zur guten Wirkung in der Öffentlichkeit suchten, war für sie keine Option. Sie wusste, einen ähnlich guten Job würde sie auf die Schnelle nicht finden. Wie lange würde sie ihre geliebte Wohnung noch halten können? Sie mochte gar nicht daran denken, wie sie den Blick aufs Wasser und all die auf den See hinaus gleitenden Ruderboote vermissen würde. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Nase. Ihre Mundwinkel zuckten, und sie fühlte sich, als hätte ihr jemand in den Magen getreten.

Es krachte, als sie zu Hause mit dem Ellbogen die Tür ins Schloss fallen ließ, dann stapfte sie die Holztreppe hoch und warf das Handy auf die Ablage. Aber sogleich blieb sie wie angewurzelt stehen. Wenn sie den Kühlschrank aufriss, würde ihr abgesehen von ein paar Dosen Bier kalte Leere entgegengähnen. In ihrem aufgewühlten Zustand war sie einfach am Supermarkt vorbei- statt hineinmarschiert, wie sie es sich eigentlich vorgenommen hatte. Von sich selbst genervt, schritt sie ins Wohnzimmer und verpasste dem mit Sand gefüllten Boxsack, der an der Kette friedlich von der Decke hing, eine harte Linke, gefolgt von einem rechten Kniestoß. Dann bedachte sie mit einem Vollristkick auf Kopfhöhe diesen Fachmarktheini von soeben, schließlich deckte sie alle mit einem Schlägegewitter ein, die ihr irgendwann einmal blöd gekommen waren.

Erst kürzlich hatte sie sich entschieden, ihr Training aufzulockern, und hatte ein Jahresabo in einem Fitnesscenter unterschrieben. Diesen Entschluss bereute sie seitdem, denn das ganze Geld dafür war zum Fenster rausgeschmissen, das konnte sie jetzt schon absehen. Sie war all der Gratistippgeber überdrüssig, die an diesen Orten wie aus dem Nichts auftauchten, allen ungefragt ihre Hinweise in die Ohren bliesen und auch gegen spürbaren Widerstand zwangsberieten. Da sie sich damals auch ihre zuweilen deftige Ausdrucksweise abzugewöhnen versucht hatte, ermahnte sie diese Ratgeber anfangs freundlich, sie wolle nichts anderes, als in Ruhe trainieren. Allerdings fruchteten bei den Dreinschwätzern solche Worte nicht, sondern sie nervten Palmer noch heftiger, weshalb sie die Kerle mit alterprobten Ausdrücken aus dem Umfeld von Schließmuskel und Ozonloch zum Teufel schickte.

Zum Abschluss ihres Kurztrainings schoss sie jetzt eine linke Gerade auf den Sandsack, gefolgt von einem rechten Leberhaken, und vollendete ihren Angriff mit einem so heftigen Kniestoß, dass es ihr vorkam, als hüpfte das schwere Ding etwas in die Höhe, um endlich gemütlich von der Kette zu baumeln.

Mit bloßen Fäusten hatte sie auf das abgewetzte Leder gedroschen. Aber der Schmerz in den wunden Knöcheln fühlte sich gut an, auch der Magen quälte sie nicht mehr. Der Länge nach ließ sie sich aufs Sofa fallen, legte den Unterarm über ihre geschlossenen Augen und saugte mehrmals tief Luft ein, um wieder zu Atem zu kommen und einen klaren Kopf zu kriegen. In einer dünnen Bahn rann Schweiß aufs Polster, nicht nur als Folge ihres Wutausbruchs, sondern auch weil die Sommersonne den ganzen Tag über gnadenlos auf das Bootshaus gebrannt und ihre Bude direkt unter dem Dach zu einem stickigen Ofen aufgeheizt hatte.

Aber ihre Gedanken rasten noch immer. Im Gegenteil steigerte sich die finanzielle Misere in ihrer Fantasie höher und höher bis hin zum totalen Ruin. Sie drückte ihr Gesicht ins Kissen, da sich die Sorgen über ihre Unabhängigkeit in ihre Seele fraßen. Nach einigen Momenten strampelte sie sich die Schuhe von den Füßen, drückte sich ein weiches Kissen in den Nacken und tastete nach der Fernbedienung. Um auf andere Gedanken zu kommen, zappte sie sich durch die Radiostationen. Aber keiner der Songs vermochte ihre Aufmerksamkeit länger als einige Sekunden zu fesseln, schließlich schaltete sie das Gerät aus.

Während sie in die Küche schlich, wusste sie, was ihre Stimmung aufheitern würde. Sie schloss die Kühlschranktür mit der Hüfte, zischte ein Bier auf und leerte die Hälfte in einem Zug. Dann schaute sie die Dose in ihrer Hand nachdenklich an und nickte vor sich hin. Schließlich schluckte sie den Inhalt ganz weg, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, drückte die Dose platt und warf sie in die Sammlung unter der Spüle.

Seit einiger Zeit hatte sie es sich angewöhnt, ohne Alkohol einzuschlafen. Jetzt aber überlegte sie kurz, griff zur Flasche auf der Ablage und setzte Johnny Walker an. Ein Fingerbreit musste reichen. Noch während sie durch den Flaschenboden die Deckenlampe betrachtete, wurde ihr klar, ihren Traumjob würde sie nicht auf dem Boden dieser Flasche finden. Aber Johnny begann augenblicklich seine magischen Kräfte zu entfalten, dafür trank sie das Zeug schließlich. Sogleich fühlte es sich an, als hätte sie eine Fackel verschluckt, welche die schlechten Gedanken wegbrannte und die Nervenenden betäubte. Sie genoss, wie sich wohlige Wärme in ihr ausbreitete und der tiefen Enttäuschung dieses Tages etwas von ihrer Kälte nahm. Endlich setzte sie die Flasche ab.

In letzter Zeit hatte sich der Korken immer seltener gelöst, nur dann und wann, bei allergrößter Verzweiflung.

Nun fühlte sie, wie die Pulle ihre Hand abkühlte.

»Was soll’s.«

Mit geübtem Schwung setzte sie die Flasche wieder an.

2

Es klingelte etliche Male. Nach einer kurzen Pause hämmerte jemand mit den Fäusten gegen die Tür.

Die Decke hing größtenteils auf den Boden gestrampelt von der Matratze, Palmer lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, quer und alle viere von sich gestreckt, die nackten Füße über den Bettrand hinaus, als sie mühsam die verklebten Lider aufsperrte. Die linke Hüfte schmerzte, ihre Vernunft war gelähmt. Aber in den tiefsten Winkeln ihres Gehirns verstand sie: Drückt jemand die Glocke und klopft, dann wartet ein Mensch an der Tür und will zu dir.

Shit. Wieso riefen die Leute nicht an, bevor sie vorbeikamen?

Sie zog sich die Decke über den Kopf, am liebsten hätte sie weitergeschlafen. Als ihr dies aber auch nach etlichen Minuten nicht gelang, raffte sie sich auf, obwohl längst niemand mehr die Klingel drückte.

Bezüglich Kater brachte Palmer einiges an Erfahrung mit. Da hatte sie schon Schlimmeres erlebt als heute. Dennoch dröhnte der Kopf, und sie hatte das Gefühl, keine Sekunde geschlafen zu haben. Geträumt hatte sie erst recht nicht, wahrscheinlich wegen des Alkohols, der dafür sorgte, dass man auf tieferer Ebene dämmerte, unterhalb jener, auf der Träume abliefen. Sie spürte, heute würde sie den ganzen Tag über ein oder zwei Schritte neben sich stehen, falls sie nichts dagegen unternahm.

In der Küche warf sie zwei Aspirin ein, neigte ihren Kopf zum Spülbecken und schluckte direkt ab dem Hahn eine gehörige Portion Wasser. Dann genehmigte sie sich einen, nur einen einzigen, dafür großen Schluck Johnny. Dies war das Großartige: Nicht nur das Gift, sondern auch das Gegengift lieferte dieselbe Flasche. Endlich atmete sie tief ein und harrte mit angehaltenem Atem eine ganze Weile aus. Als sie endlich die Luft ausstieß, fühlte sie sich besser. Sie starrte auf den Rest Whiskey in der Flasche. Schließlich gab sie sich einen Ruck, zögerte, nahm einen entschlossenen letzten Schluck und leerte die Flasche in den Ausguss.

Nachdem sie Sachen aus dem Schrank gesucht und ins Bad getragen hatte, schmiss Palmer die getragene Wäsche in die Maschine, wo die Shorts und Shirts anschließend flatschten und patschten, während sie unter der Dusche stand. Das kühle Nass perlte über ihre Haare, sie griff nach dem Limonenduschgel, und der frische Duft arbeitete gegen die Nebel in ihrem Kopf, während sie den Schaum auf sich verteilte. Dann stützte sie sich an der Wand ab und ließ den Wasserstrahl auf ihre Haut prasseln, bis sie sich annähernd wieder wie ein Mensch fühlte.

Sie rubbelte den ganzen Körper trocken und betrachtete sich im Spiegel. Eine Nacht lang hatte sie das Gesicht im Bettzeug vergraben, jetzt zeichneten sich Falten der Textilien auf ihrer Wange ab, welche auch die ausführliche Dusche nicht ganz hatte beseitigen können. Bevor sie in Erwägung ziehen konnte, es mit einer Creme zu versuchen, griff sie zur Zahnbürste und schrubbte sich drei Minuten lang Zähne und Zunge, bis sie sicher war, auch den letzten Rest von Alkoholgeschmack und nächtlichem Absturz besiegt zu haben. Sie öffnete die kleine Tür des Spiegelschranks und wählte unter der ansehnlichen Armee von Mundwassern ihren treuesten Soldaten. Das Zeug brannte mehr als ein Stroh 80 auf Ex und war Palmers Allzweckwaffe für solche Fälle. Mit Zahnhygiene hatte sie einen Spleen. Okay, es gab schlimmere Angewohnheiten, wie sie letzte Nacht eindrücklich bewiesen hatte.

Anschließend wickelte sie noch zwei Kaugummis aus dem Alu und schob sie in den Mund. Zwei, weil ihr gerade Zahlen viel ästhetischer schienen als ungerade. Sie zog sich ein Shirt über den Kopf. Erst auf dem einen, dann auf dem anderen Fuß hüpfend, schlüpfte sie in die sauberen Jeans. Kauend und mit tropfenden Haaren betrat sie die Terrasse und legte beide Hände auf das raue Holz der verwitterten Brüstung. Zum Schutz vor der Morgensonne kniff sie die Augen zusammen und hörte, wie das Wasser glucksend zwischen den Ufersteinen ans Ufer schlug. Ein letzter Rest feuchter Nachtluft strich kühl über ihre nackten Füße.

Sie spürte einen Stich im Herzen, so sehr hatte sie sich auf den neuen Job gefreut. Die Bilder des Gesprächs mit diesem mittelschwer überheblichen Kerl kamen wieder hoch. Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr kam sie zu dem Schluss, dass sie von Anfang an keine Chance gehabt hatte. Dem Mann hatte wohl das eine oder andere an ihr nicht gepasst, irgendwas. Dass sie zwei Minuten zu spät gekommen war, hatte er dann zum Anlass genommen, ihr daraus eine Absage zu basteln. Wenn man länger darüber nachdachte, war es geradezu lächerlich. Er legte angeblich Wert darauf, dass man Wichtiges von Unwichtigem unterschied. Einem Menschen in Not zu helfen oder auf die Minute pünktlich zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen, da gab es eigentlich keinen Diskussionsbedarf. Eigentlich!

Nach etlichen weiteren Momenten der vergeblichen Rückwärtsanalyse mit stets demselben Ergebnis klatschte sie beide Hände flach auf das Holz, zog hörbar die tanggeschwängerte Seeluft ein, marschierte ins Wohnzimmer, griff nach der Fernbedienung und fläzte sich aufs Sofa, nicht ohne ein unterschwelliges Gefühl von Versagen, das sich jetzt für Palmers Geschmack zu energisch meldete. Sie schob es beiseite und konzentrierte sich auf den Bildschirm.

Sogleich knallte die Headline von Tele1 viel zu hell in ihre Augen.

Überfall auf Party!

Palmer war direkt bei den stündlich wiederholten Nachrichten des Vortags gelandet. Die Sprecherin schaffte es nicht, ihre freudige Aufregung im Zaum zu halten, als sie in ernstem Ton erklärte: »Der High-Society-Juwelier Thomas Diethelm ist bekannt für seine extravaganten Sommerpartys für seine Stammkunden. Kriminelle haben die diesjährige Veranstaltung im Schlosshotel Gütsch überfallen und allen Gästen Schmuck und Luxusuhren abgenommen. Auch haben die Täter die Vitrine mit einer millionenteuren Weltneuheit aufgebrochen. Diethelm hat sich zur Wehr gesetzt und nach der Waffe des Angreifers gegriffen. In der Rangelei hat sich ein Schuss gelöst. Eine Kellnerin, die laut Augenzeugen Diethelm zu Hilfe eilen wollte, wurde dabei getroffen. Ärzte kämpfen zurzeit in einer Notoperation um ihr Leben. Die Täter sind mit Motorrädern unerkannt durch den Gütschwald entkommen. Der Einsatz der Polizei wurde erschwert durch ein Fahrzeug, mit dem die Täter die Zufahrt zum Hotel blockiert hatten. Zum Wert der Beute wollten sich weder Diethelm noch die Polizei äußern. Aber dem Vernehmen nach soll der Schaden in die Millionen gehen. Bei ihrem Einsatz hat die Polizei das Gebiet großräumig abgeriegelt, was einen Stau in der gesamten Innenstadt ausgelöst hat. Um zu verhindern, dass jemand den Überfall filmte, haben die Täter die Handys der Besucher eingesammelt. Trotzdem ist es einem Gast gelungen, uns Aufnahmen des Vorfalls zuzuspielen. Bitte entschuldigen Sie die mangelhafte Bildqualität.«

Palmer richtete sich auf, schob die Fernbedienung auf den Sofatisch, stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien ab und starrte gebannt auf die verwackelten Bilder.

Die Kamera schwenkte langsam über den ganzen Hotelgarten mit vielleicht 120 Leuten. Gläser klirrten, Loungemusik plätscherte, eine Dame in langem Abendkleid warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Aus den Gesprächsfetzen verstand man kein Wort. In freudiger Laune tauschten zwei Herren Visitenkarten aus, ein anderer in edlem Zwirn hielt einen imaginären Telefonhörer ans Ohr und signalisierte »ruf mich an« quer durch den ganzen Schlosshof. Die Aufnahme schwenkte weiter zur Security, einem Glatzkopf mit dunkler Sonnenbrille und Knopf im Ohr. Die rechte Hand hielt er um das linke Handgelenk gelegt und blickte starr über die Gesellschaft.

Palmer sah eine Bewegung am Bildrand. Im Hintergrund drängte sich ein schwarz maskierter Mann durch die Gruppe der Gäste. Zwischen den Lachern hörte man erste Schreie, zerbrechendes Glas, eine Männerstimme fluchte. Das Bild schnellte ruckartig zum Himmel, um sich dann in rasendem Tempo um die eigene Achse Richtung Steinboden zu drehen. Dann hüpfte das Gerät offensichtlich über den Untergrund, das Bild wurde schwarz, die Aufnahme stoppte.

Wieder erschien die Sprecherin.

»Der Schwanenplatz in Luzern ist bloß ein kleiner Fleck und trotzdem der Ort, wo weltweit die meisten Luxusuhren verkauft werden. Touristen aus der ganzen Welt, insbesondere Gäste aus China, erstehen hier ihre edlen Zeitmesser in Schweizer Qualität. Denn zusätzlich zu ihrer Uhr erhalten sie nicht nur ein Echtheitszertifikat, sondern auch die Gewähr, dass nicht nur die Uhr, sondern auch das Zertifikat über jeden Zweifel erhaben ist. Diethelm besitzt keines der Geschäfte am Schwanenplatz, sondern arbeitet äußerst erfolgreich mit einem anderen Geschäftsmodell. Er bringt mechanische Luxus-Armbanduhren im Direktverkauf an seine betuchte Klientel. Hierfür empfängt er diese in einem Prunkappartement. Als besondere Aufmerksamkeit überlässt er die Suite seinen Kunden auf Wunsch sogar kostenlos für einige Tage. Und einmal im Jahr begrüßt er den gesamten Kundenkreis aus dem In- und Ausland zu einer rauschenden Party. Unbestätigten Berichten zufolge geht die Polizei zurzeit von fünf schwarz maskierten und bewaffneten Angreifern aus. Unserem Mann vor Ort ist es gelungen, aus der Ferne folgende Szene zu drehen.«

Nun flimmerten unverwackelte Aufnahmen über den Bildschirm. Schaulustige standen unbeteiligt am Absperrband und gafften auf die weiße Schlossanlage. Die Kamera schwenkte zum Rosengarten und zoomte alles so nah, bis man erkennen konnte, wie da und dort Menschen in Schutzanzügen auf dem Boden kauerten und mit Pinzetten jeden kleinsten Dreck eintüteten.

»Thomas Diethelm wollte sich für ein Interview vor der Kamera nicht zur Verfügung stellen. Aber wir konnten ihn kurz per Telefon erreichen. Hörbar geschockt hat er erklärt, die Polizei habe seine Gäste gebeten, ihr bei der Suche nach den Tätern zu helfen und sämtliche Videoaufnahmen zur Verfügung zu stellen.«

Als lediglich noch Aufnahmen des Schlosses aus der Ferne folgten, machte Palmer den Fernseher aus und wunderte sich über die Aggressivität dieser für das beschauliche Luzern außergewöhnlichen Gewalttat.

Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass Whiskey entgegen anderslautende Thesen doch nicht zu den Grundnahrungsmitteln zählte. Zumindest nicht über einen längeren Zeitraum gesehen. Sie rieb sich die Stirn und quälte sich aus ihrer bequemen Position in die Küche. Ohne große Erwartungen zog sie die Kühlschranktür auf, aber wie gestern schon angenommen gab das Sortiment im Inneren abgesehen von zwei restlichen Bierdosen bestenfalls noch eine Bloody Mary her. Keine Milch, Eier schon gar nicht. In der ganzen Küche fand sie weder Kaffee noch Brötchen, nicht mal im Tiefkühler. Ein Verbrechen. Was war nur los mit ihr, dass sie nicht mal ihre Kaffeevorräte im Blick hatte? Dabei war Kaffee eindeutig lebensnotwendig, und Palmer ließ da auch keine anderen Meinungen gelten. Während sie nochmals jeden Schrank öffnete und sogar die Gewürzdosen beiseiteschob in Hoffnung auf eine vergessene Packung des aromatischen Pulvers, fiel ihr ein, dass sie gestern hatte einkaufen wollen. Warum hatte sie sich nicht zusammengerissen und war noch mal losgelaufen? Stattdessen hatte sie sich die Kante gegeben, in Selbstmitleid und Enttäuschung gebadet, wofür ihr das Leben anscheinend heute Morgen obendrauf den Mittelfinger zeigen wollte.

Aber ohne Kaffee ging bei Palmer gar nichts. Wenn er auch keinen Kater vertrieb, immerhin weckte Kaffee den Geist. So behalf sie sich heute mit einem Schwarzteebeutel, den sie vorhin in einer Schublade aufgestöbert hatte. Sie warf ihn in eine Henkeltasse, füllte kaltes Wasser ein, stellte die Tasse in die Mikrowelle und wartete mit wippendem Fuß. Wie üblich stoppte sie das Gerät bei zwei, kurz bevor der Timer ganz runtergezählt hatte, und fühlte sich, als wäre es ihr gelungen, gerade eben noch eine Bombe zu entschärfen. Vorsichtig hob sie die dampfende Tasse heraus und an die Nase. Sie schnaubte angewidert, das Getränk roch nach vier Jahren Küchenschrank, also kippte sie es dem guten alten Johnny hinterher in den Ausguss. Sie warf einen Blick auf die Uhr und dann Richtung Wohnzimmer, aber die Entscheidung war bereits gefallen. Ein Frühstück und vor allem Kaffee am Bahnhofplatz waren es wert, sich aus der Wohnung zu quälen. Danach konnte sie noch das Nötigste einkaufen, was ihr sicher helfen würde, die üblen Gedanken an das gestrige Einstellungsgespräch zu vergessen.

Der Fußmarsch dem Seeufer entlang zum Bahnhofplatz tat ihr gut. Der Geruch von algenbedeckten Steinen und Wasser, vermischt mit der leicht feuchten, herrlich frischen Luft klärte ihren Geist, und die Bewegung baute spürbar die Stresshormone in ihrem Körper ab. Einfach mal eine Weile Abstand von der Tristesse ihrer Wohnung, in der leere Flaschen davon zeugten, dass sie nichts auf die Reihe bekam – ja, das würde ihr guttun. Vielleicht würden ihr so ganz neue Ideen kommen.

Ihre Laune hatte sich deutlich gebessert, als sie sich kurz darauf in der Morgensonne an einen der Bistrotische setzte, die alle schön an der Fassade entlang aufgereiht standen, zur Straße hin ausgerichtet wie zu einer Bühne.

Sie kannte die Bedienung seit Jahren, erhielt deshalb den Espresso bereits serviert, kaum hatte sie sich hingesetzt, unerwarteterweise jedoch begleitet von der Bemerkung, die Haselnussschnecke gehe heute aufs Haus. Palmer nickte zum Dank und lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen.

Sie lehnte sich zurück und zog den geliebten Duft frisch gebrühten Kaffees ein. Anschließend gab sie sich mit geschlossenen Lidern den Sonnenstrahlen hin und gönnte sich bereits mit dem zweiten Bissen das saftige Herz der Haselnussspirale. In diesem Boulevardcafé liebte sie das hektische Treiben vor ihrer Nase. Menschen, die in Wellen aus dem Bahnhof schwappten oder in ihren Wagen über den Platz schossen. Welch ein augenfälliger Kontrast zum gemächlichen Umfeld ihrer Wohnung im Bootshaus des Ruderklubs.

Ein Schatten schob sich vor sie und nahm ihr die Sonne. Palmer hob den Kopf in der Annahme, die Bedienung wäre zurückgekommen, aber dem war nicht so. Sie blinzelte.

»Sie müssen mir helfen«, flehte die unbekannte Frau, die Palmer im Gegenlicht nur schemenhaft erkennen konnte.

»Hallo, die Lady. Danke gut, und Ihnen?« Palmer gönnte sich einen Schluck Espresso und stellte die Tasse auf den Teller zurück.

»Dieser Schweinehund will meine Schwester umbringen.«

Auf dem Weg zum Mund verharrte Palmers Schnecke in der Luft.

»Bedaure, dies zu vernehmen. Aber für Probleme dieser Art ist die Polizei zuständig.« Palmer schob sich den Rest des Gebäcks in den Mund, leckte sich die klebrige Glasur von den Fingern und wischte sich diese an der Innenseite des Hosenbeins trocken, da die Serviette vorher bei einem Windstoß davongeflattert war.

»Das interessiert die Polizei doch gar nicht. Gestern hat mir der Einsatzleiter auf der Hauptwache kurz zugehört und versichert, sie würden in alle Richtungen ermitteln. Heute aber hat er mich nur abgewimmelt. Die sind mit ihren Nachforschungen noch keinen Millimeter weiter.«

»Gute Dame. Will jemand Ihre Schwester umbringen, sind Sie bei mir sicher an der falschen Adresse. Ich bin Warenhausdetektivin.«

Gut, sie wäre eine Warenhausdetektivin gewesen, hätte der Depp mit Anzug und Superman-Haarlocke sie gestern nicht um den fast sicheren neuen Job gebracht. Palmer unterdrückte den Impuls, ihre nun leicht schwitzigen Handflächen nochmals an der Hose abzuwischen.

»Jeder kennt Sie hier. Sie sind Palmer, Sie unterstützen Frauen in Not, wenn ihnen sonst niemand hilft. Die Zeitungen waren voll davon. Mehr als einmal. Durch Rumfragen weiß ich, Sie trinken fast jeden Morgen Ihren Espresso hier.«

»Genau das ist der Punkt. Wiederholt habe ich mich eingemischt und bin dabei fast draufgegangen.« Sie sah der Frau in die Augen. »Nein. Bei allem Verständnis für Ihre Notlage. Ich lasse mich nicht nochmals in irgendeinen traurigen Mist reinziehen, der mich eigentlich nichts angeht. Sie entschuldigen.«

»Sie sind vorsichtig, das verstehe ich.«

Palmer schwieg.

»Aber Sie werden mich nicht los. Ich weiß, Sie werden mir helfen.«

»Sorry, habe leider keine Zeit. Ich muss mir dringend eine neue Arbeitsstelle suchen.«

»Kein Job? Dann haben Sie erst recht Zeit, mir zu helfen. Aus Zeitungsinterviews kenne ich Ihren Ehrenkodex. Sie können einer Frau in Not Ihre Hilfe nicht abschlagen.«

»Sie wissen gar nichts. Ich stecke selber in der Scheiße.« Sie rückte mit dem Stuhl etwas zur Seite und streckte mit geschlossenen Augen das Gesicht in die wärmende Sonne. Als Palmer nach einer Weile die Augen wieder öffnete, stand die Frau noch immer da.

»Sie werden mich nicht los. Das sagte ich doch.«

»Sie stehen da und wollen was von mir, ich weiß nicht mal, was. Aber zwei Dinge weiß ich: Mir dröhnt der Kopf, und seit Sie mich angesprochen haben, wird es schlimmer.«

»Ich heisse Hannah. Hannah Bischof. Ich benötige Ihre Hilfe. Bitte.«

Palmer neigte sich auf ihrem Stuhl nach vorne, um die Frau besser im Blick zu haben. Sie ging auf die 40 zu, wies einen verbitterten Zug um die Mundwinkel auf und Ringe unter den grünen Augen, die aber leuchteten vor Entschlossenheit. Palmer wusste, jede Enttäuschung hinterließ ihre Spuren, und diese Frau sah aus, als hätte sie zahlreiche davon durchlebt. Sie musste etwas kleiner sein als Palmer und halbwegs schlank. Alle Rundungen saßen an den richtigen Stellen, soweit Palmer dies erkennen konnte, denn Hannah trug ein weites, knöchellanges graues Kleid mit roten Blumen drauf, dazu Ledersandalen, von Make-up keine Spur. Der Pagenschnitt ihres dunklen Haars wirkte etwas aus der Mode gekommen, darin zeigte sich das erste Grau.

Hannah machte einen Schritt zur Seite und trat Palmer wieder in die Sonne.

»Gestern haben Kriminelle die Party des Uhrenhändlers Diethelm überfallen. Dabei ist eine Kellnerin niedergeschossen worden. Susa, meine Schwester. Sie liegt im Koma. Die Polizei ist der Ansicht, der Schuss hätte Susa nur versehentlich getroffen. Aber Diethelm, dieser Schweinehund …«, sie lachte abschätzig, »… ich sage Ihnen, das war Absicht.« Ohne ein Wort der Zustimmung oder Aufforderung von Palmer abzuwarten, schob sie sich auf den zweiten Stuhl an Palmers Tisch. »Der ist kein Lämmchen. Fragen Sie mal seine zweite Ex-Frau.«

Palmer hätte gerne wissen wollen, ob es Hannah gewesen war, die heute Morgen bei ihr geklingelt und sie geweckt hatte. Aber sie ließ es bleiben. Ändern konnte sie es eh nicht mehr.

»Hören Sie, das mit Ihrer Schwester tut mir leid. Trotzdem muss ich auf die Polizei verweisen. Eine Frage trotzdem: Wie kommen Sie darauf, Diethelm hätte Ihre Schwester mit Absicht niedergestreckt? Die Medien haben das anders dargestellt. Der Schuss habe sich im Kampf um die Waffe gelöst.« Sogleich hätte sich Palmer ohrfeigen können. Mit dieser simplen Frage hatte sie sich aktiv ins Gespräch eingeklinkt. Nun, sie würde der Frau einige Momente lang ihr Ohr schenken und dann die Unterhaltung anständig beenden.

»Erst hat er meine Schwester geschwängert, dann hat er sie versetzt. Seither ist sie nicht mehr an ihn herangekommen. Er hat jedes Treffen verweigert. Auch will dieser reiche Schweinehund für seinen Sohn keinen Rappen zahlen. Genügend Geld hätte er ja. Und die besten Anwälte. Er sitzt am längeren Hebel, Susa ist zu unbedeutend. Ein Kampf von David gegen Goliath.«

»Um sie tatsächlich mit Absicht abzuknallen, wie hatte er wissen können, auf dieser Party Susa anzutreffen? Eben noch haben Sie gesagt, er wäre ihr strikt aus dem Weg gegangen. Für mich nicht stichhaltig. Und weshalb hätte er sie umnieten sollen? Wenn er für den Sohn nicht zahlen will, müsste er nicht die Mutter, sondern den Sohn umbringen. Aber dann vor all seinen Gästen als Zeugen? Und ins Gefängnis marschieren, nur um keine Alimente zu zahlen? Nein. Glaube ich nicht.«

»Helfen Sie mir, Susa zu beschützen. Diethelm wird den Mordversuch wiederholen. Vorausgesetzt, sie überlebt die Schussverletzung.« Sie biss sich auf die Unterlippe und kämpfte sichtlich mit den Tränen. »Weshalb glaubt mir keiner? Ich bin heute wieder zum Krankenhaus gefahren. Man hat mich nicht zu ihr vorgelassen, sie ist noch immer nicht aufgewacht.« Ein Schluchzen kam aus ihrer Kehle, und Palmer wusste, dass ihre Mauer gleich massiv bröckeln würde. »Und vor der Tür steht nicht mal ein Wachmann. Dabei gibt es doch sicher eine Videoüberwachung, die meine Darstellung bestätigt. Ich sage Ihnen, der wollte sie töten.«

Palmer schloss kurz die Augen.

Großartig.

»Nenn mich Palmer, ich sag’ Hannah.« Sachte legte sie ihre Hand auf Hannahs Unterarm und tätschelte ihn. »Reden tut gut. Aber Hilfe musst du bei der Polizei anfordern.«

Hannah atmete kurz und stoßweise.

»Solange die Polizei keine Indizien für deine Anschuldigungen findet, kannst du von ihr nicht erwarten dazwischenzufahren.«

Mit Daumen und Zeigefinger kniff Hannah die Nasenwurzel zusammen. »Nein, nein, nein«, sagte sie flehend vor sich hin. »Susa hat damals auf Diethelm gesetzt, einen Mann. Was ist dabei herausgekommen? Er hat sie verarscht. Du bist Palmer, du bist eine Frau, die Frauen hilft. Wenn ich auf der Wache aussage, sehe ich schon ihre Gesichter vor mir. Wieder so eine Hysterische, die sich was einbildet. Ja, ich kann hören, was sie denken. Die Männer. Ich werde alles tun, damit Susa überlebt. Und auch Lenny. Er ist 17 und leidet unter einem Vitium Cordis.«

»Was ist das denn?«

»Das ist einer der vielen Wege Gottes, uns zu zeigen, wie sehr er die Menschen liebt.« Sie lachte kurz, es klang fast wie ein Husten. »Lenny leidet an einem angeborenen Herzfehler. Sein Herz-Kreislauf-System ist in seiner Funktion eigeschränkt, versorgt den Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff. Seit Geburt schwächelt er. Ständig ist er müde, jede Tätigkeit ist ihm zu anstrengend. In den letzten Jahren hat sich sein Zustand stetig verschlechtert. Jetzt ist er sogar ans Bett gefesselt. An den meisten Tagen schafft er es nicht mal bis zur Toilette. Und dann hat er überdies noch diese seltene Blutgruppe. Kriegt er nicht bald ein Spenderherz, stirbt er.« Sie krallte die Finger in ihr Kleid und ließ den Kopf sinken.