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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Bist du soweit, Alexander?« fragte Denise von Schoenecker mit dem charmanten Lächeln, das ihr Mann so sehr an ihr liebte. Sie griff nach ihrer Handtasche, die sie neben sich auf den Toilettentisch gelegt hatte. »Seit fünf Minuten stehe ich Gewehr bei Fuß«, antwortete Alexander lachend. »Bevor ihr Frauen so mit eurer Toilette fertig seid…« Vergnügt legte er den Arm um die schlanke Taille seiner schwarzhaarigen Frau und zog sie an sich. »Weißt du, daß ich dich noch genauso liebe wie am ersten Tag?« Zärtlich sah er ihr in die dunklen Augen. »Das will ich auch hoffen«, erwiderte Denise und schmiegte sich an ihn. »Aber ich glaube, es wird Zeit! Vergiß nicht, wir haben nach dem Frühstück ein volles Programm. Wer wollte sich denn Frankfurt von vorn bis hinten ansehen?« »Ach, der Zoo und der Palmengarten können warten«, sagte Alexander. Er seufzte. »Es wurde höchste Zeit, daß wir wieder einmal zusammen wegfahren. So gern ich unsere Kinder habe, ab und zu wünsche ich mir, auf einer einsamen Insel zu leben.« »O du Ärmster!« Denise berührte mit ihren Fingerspitzen leicht seine Haare. Sanft strich sie ihm über die gebräunte Stirn und die Nase. »Ja, bedaure mich nur, Denise«, scherzte Alexander. »Ich bin ein armer geplagter Familienvater, der seine Frau nicht nur mit den eigenen Kindern, sondern auch noch mit mehr als einem Dutzend fremder Rangen teilen muß.« Er nahm Denise erneut in die Arme. »Der einzige Trost, der mir bleibt, ist, daß ich mit der bezauberndsten Frau der Welt verheiratet bin.« »Und ich mit dem besten Mann!« Damit
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2016
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»Bist du soweit, Alexander?« fragte Denise von Schoenecker mit dem charmanten Lächeln, das ihr Mann so sehr an ihr liebte. Sie griff nach ihrer Handtasche, die sie neben sich auf den Toilettentisch gelegt hatte.
»Seit fünf Minuten stehe ich Gewehr bei Fuß«, antwortete Alexander lachend. »Bevor ihr Frauen so mit eurer Toilette fertig seid…« Vergnügt legte er den Arm um die schlanke Taille seiner schwarzhaarigen Frau und zog sie an sich. »Weißt du, daß ich dich noch genauso liebe wie am ersten Tag?« Zärtlich sah er ihr in die dunklen Augen.
»Das will ich auch hoffen«, erwiderte Denise und schmiegte sich an ihn. »Aber ich glaube, es wird Zeit! Vergiß nicht, wir haben nach dem Frühstück ein volles Programm. Wer wollte sich denn Frankfurt von vorn bis hinten ansehen?«
»Ach, der Zoo und der Palmengarten können warten«, sagte Alexander. Er seufzte. »Es wurde höchste Zeit, daß wir wieder einmal zusammen wegfahren. So gern ich unsere Kinder habe, ab und zu wünsche ich mir, auf einer einsamen Insel zu leben.«
»O du Ärmster!« Denise berührte mit ihren Fingerspitzen leicht seine Haare. Sanft strich sie ihm über die gebräunte Stirn und die Nase.
»Ja, bedaure mich nur, Denise«, scherzte Alexander. »Ich bin ein armer geplagter Familienvater, der seine Frau nicht nur mit den eigenen Kindern, sondern auch noch mit mehr als einem Dutzend fremder Rangen teilen muß.« Er nahm Denise erneut in die Arme. »Der einzige Trost, der mir bleibt, ist, daß ich mit der bezauberndsten Frau der Welt verheiratet bin.«
»Und ich mit dem besten Mann!« Damit bot Denise ihm ihre Lippen zu Kuß.
Einige Minuten später verließen die beiden das Hotelzimmer und fuhren mit dem Aufzug zum Frühstücksraum hinunter. Alexander ging einen Schritt voraus und öffnete für seine Frau die breite Schwingtür.
»Immer Kavalier!« scherzte Denise.
»Schließlich weiß ich, was ich meiner Königin schuldig bin«, erwiderte Alexander und hakte Denise unter.
Das Ehepaar von Schoenecker hatte einen kleinen Tisch am Fenster, der bereits gedeckt war. Verführerisch duftete es nach frischen Brötchen und Konfitüre. Kaum hatten die beiden sich hingesetzt, erschien schon eine Kellnerin und brachte ihnen den Kaffee.
»Möchten Sie eine Zeitung?« fragte sie, während sie Alexander Kaffee einschenkte.
»Ja gern!« Alexander sah seine Frau an. »Du hast doch nichts dagegen, daß ich kurz einen Blick in die Zeitung werfe?«
»Natürlich nicht«, antwortete Denise. Sie nahm ein Brötchen aus dem Brotkorb und schnitt es auf.
Die Zeitung ließ nicht lange auf sich warten. »Möchtest du auch ein Stück?« erkundigte sich Alexander. Als seine Frau nickte, gab er ihr den Lokalteil.
Denise überflog die erste Seite, dann blätterte sie um. »Oh, wie furchtbar!« rief sie plötzlich aus. Ihr Blick war auf das Foto eines fast verbrannten Bauernhauses gefallen.
Alexander ließ seine Zeitung sinken. »Was ist furchtbar, Liebling?« fragte er.
»Da hat es gestern abend in der Nähe von Frankfurt einen Großbrand gegeben«, sagte Denise erschüttert. »Auf einem Bauernhof bei Wehrheim. Das Wohngebäude und die Stallungen sind fast vollständig ausgebrannt.«
»Tote?« fragte Alexander.
Denise nickte.
»Das Ehepaar, dem der Hof gehörte. Die dreizehnjährige Tochter ist knapp mit dem Leben davongekommen.« Sie reichte ihrem Mann die Zeitung. »Das arme Mädchen«, meinte sie. »Beide Eltern auf so schreckliche Weise verloren – und auch noch das Zuhause.«
»Es ist wirklich furchtbar«, sagte Alexander, nachdem er den Artikel gelesen hatte. Er legte die Zeitung beiseite. »Es steht nicht drin, ob die Kleine Verwandte hat, die sich um sie kümmern können.«
»Wir könnten uns erkundigen«, meinte Denise sofort.
»Das sollten wir auf jeden Fall«, erklärte Alexander. »Weder der Zoo noch der Palmgarten laufen uns davon. Das Kind ist im Moment wichtiger. Und wenn es keinen Menschen gibt, der sich seiner annehmen kann, bringen wir es nach Sophienlust.«
»Ich bin froh, daß du so denkst«, erwiderte Denise. Sie lächelte vage. »Nicht zu glauben, daß du dich vor noch nicht allzu langer Zeit über die fremden Racker beschwert hast, die deiner Frau die Zeit stehlen.«
»Als ob du nicht wüßtest, wie ich es gemeint habe«, sagte Alexander und ergriff Denises Hand.
Eine Stunde später waren sie auf dem Weg zum Gronmüller-Hof. Noch immer roch es nach Rauch. Denise fröstelte, als sie mit ihrem Mann den Wagen verließ und über den mit Asche und Ruß bedeckten Hof ging. Kopfschüttelnd standen die beiden dann vor dem Gerippe eines Hauses.
»Was tun sie denn hier?«
Denise und Alexander wandten sich um. Ein alter Mann stand hinter ihnen. Er stützte sich auf einen Spaten.
»Gehören Sie zum Hof?« fragte Denise.
Der Mann verneinte. »Mir gehört das Nachbaranwesen, einen Kilometer von hier. Ich habe schon manches erlebt, aber so ein Feuer noch nicht. Es war grauenvoll! Bis die Feuerwehr endlich kam, muß schon das Haus in Flammen gestanden haben. Ich war mit meiner Frau bei Verwandten in Wehrheim. Auf dem Rückweg haben wir es schon von der Straße aus brennen sehen. Der Krankenwagen mit Ruth ist an uns verbeigerast. Als wir zum Hof kamen, wurden gerade ihre Eltern aus dem Haus getragen.«
»Haben die Gronmüllers allein auf dem Hof gelebt?« fragte Alexander von Schoenecker. Er ließ den Blick über die zerstörten Gebäude gleiten.
»Sie haben noch einen Knecht, aber der wohnt bei seinen Leuten im Ort. Er geht jeden Abend um sieben nach Hause.« Johannes Berger seufzte auf. »So kann es gehen«, meinte er. »Die Gronmüllers haben geschuftet und geschuftet, um die Schulden abzuzahlen, die auf dem Hof liegen, und nun ist es aus mit ihnen. Es muß schlimm für die Kleine sein.«
»Hat Ruth Verwandte?« fragte Denise.
»Eine Tante, die Schwester ihres Vaters. Elisabeth Kayser heißt sie. Wenn mich nicht alles täuscht, lebt sie mit ihrer Familie irgendwo in Bayern. Sie hat seinerzeit einen reichen Bauern geheiratet. Der Gronmüller hat sich nicht gut mit seinem Schwager verstanden.«
»Wissen Sie, wohin Ruth gebracht wurde?« erkundigte sich Alexander.
Der Alte hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Warum wollen Sie das eigentlich alles wissen?« fragte er mißtrauisch. »Sind Sie etwa von der Zeitung?«
»Nein, wir kommen nicht von einer Zeitung«, sagte Denise. »Wir machen in Frankfurt Urlaub und haben heute morgen zufällig von dem Brand gelesen. Ich leite in Wildmoos bei Maibach ein Kinderheim.«
»Und da denken Sie, die Ruth können Sie mitnehmen«, meinte der Alte. Er runzelte empört die Stirn. »Geht es Ihrem Heim so schlecht, daß Sie sich die Kinder zusammensuchen müssen? Wenn Sie meinen, die Kaysers zahlen was, damit Sie ihnen das Kind vom Hals schaffen, dann irren Sie sich. Der Kayser sieht auf den Pfennig. Der nimmt das Kind lieber selbst, als daß er auch nur eine Mark für Ruth ausgibt.«
»In Sophienlust nehmen wir auch Kinder auf, deren Eltern oder Verwandte nicht für den Unterhalt aufkommen können«, erklärte Denise von Schoenecker geduldig. »Wenn ein Kind in Not ist, helfen wir.«
»Ach, so ist das! Bitte, entschuldigen Sie!« Johannes Berger stützte sich wieder auf seinen Spaten. »Bei Ihnen wäre Ruth wahrscheinlich besser aufgehoben als bei ihrer Tante. Sie wird kein leichtes Leben dort haben.« Müde strich er sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Man hat sie ins Sankt Katharinenhospital nach Frankfurt gebracht«, sagte er. »Wenn Sie zu ihr gehen, bestellen Sie ihr bitte viele Grüße vom Berger Johannes.«
»Das werden wir tun«, versprach Denise.
»Ach ja, und sagen Sie ihr, daß ich vorläufig für Tamira sorge.«
»Wer ist Tamira?« Alexander hob den Kopf.
»Ihre Stute. Ruth hat sie von ihren Eltern zum sechsten Geburtstag bekommen. Die beiden sind unzertrennlich.« Ein Funken Humor trat in
seine Augen, als er fortfuhr: »Hoffentlich sind Sie in Ihrem Kinderheim auch auf vierbeinige Zöglinge eingerichtet.«
»Wir haben selbst Pferde«, erwiderte Alexander.
»Dann scheint Sie der Himmel geschickt zu haben«, meinte der Alte. Er tippte an seine Mütze und marschierte zu den Ställen.
*
Norbert Kayser trat abrupt auf die Bremse seines Fiats. »Himmel noch mal!« fluchte er halblaut. Er kurbelte das Seitenfenster herab. »Was meinen Sie, wo Sie jetzt wären, wenn ich nicht so schnell gehalten hätte!« rief er dem jungen Mädchen zu, das die Straße überquerte. »Schon mal was von Zebrastreifen gehört?«
Das Mädchen wollte zunächst weitergehen, doch dann drehte es sich um und trat an den Wagen. »Tut mir leid. Ich war ganz im Gedanken. Ich hatte Sie nicht gesehen.« Um Verzeihung bittend lächelte Anne Haag ihm zu.
Norberts Zorn verrauchte. Er konnte sich diesem Lächeln nicht entziehen. »Schon gut«, meinte er besänftigt. »Kann ich Sie irgendwo absetzten? Ich nehme Sie gern mit, wenn Sie es eilig haben. Gut gefahren ist immer noch besser, als schlecht gelaufen. Und ich habe nichts Besonderes vor.«
»Danke, aber ich steige nicht zu fremden Männern in den Wagen«, erwiderte Anne Haag. »Auch wenn Sie besonders nett sind«, fügte sie hinzu.
»Da kann man nichts machen!« Norbert zuckte die Achseln. Das Mädchen gefiel ihm. Er wäre gern mit ihm bekannt geworden. »Einen schönen Tag noch«, wünschte er.
»Danke, Wiedersehen!« Anne richtete sich auf. Dann blickte sie nach rechts und links und überquerte rasch die Straße. Vom Bürgersteig aus blickte sie zurück. Der blaue Fiat fuhr gerade an und war Sekunden später ihren Blicken entschwunden.
Norbert Kayser dachte schon lange nicht mehr an das Mädchen, das ihm fast in den Wagen gelaufen war, als er sich durch den Münchener Stadtverkehr zum Englischen Garten kämpfte. Dort parkte er den Fiat zwischen zwei großen Wagen, nahm seine Kollegmappe vom Rücksitz und schloß den Wagen ab. Das Wetter war wie geschaffen, um im Park zu sitzen und zu lernen. An so einem Tag wurde ihm seine Studentenbude einfach zu klein.
Mit der Kollegmappe unter dem Arm betrat er den Englischen Garten. Zielsicher steuerte er eine etwas abseits stehende Bank an. Hier saß er gewöhnlich, wenn das Wetter es zuließ. Er warf noch einen kurzen Blick in die mitgebrachte Zeitung, dann widmete er sich ganz seinen Büchern.
Es wurde Mittag, bis Norbert Kayser seine Arbeitshefte zuschlug und wieder in die Kollegmappe steckte. Er war ein ganzes Stück weitergekommen. Zufrieden stülpte er die Kappe auf den Kugelschreiber und ließ ihn ebenfalls in die Mappe fallen. Er wollte gerade aufstehen, als er Anne sah.
»Hallo!« rief er und winkte.
Anne Haag schrak zusammen. Dann lachte sie, eine Hand auf die Brust gepreßt. »Haben Sie mich aber jetzt erschreckt«, sagte sie. Unbefangen trat sie zur Bank.
»Sie scheinen ständig in Gedanken zu sein«, meinte Norbert und stand auf. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen? Ich habe in meinem Wagen eine ganze Thermosflasche voll.«
»Und ich kann Brezeln beisteuern«, sagte Anne. Sie wies auf den Beutel, den sie in der linken Hand hielt.
»Wunderbar!« Norbert machte eine übertriebene Verbeugung. »Aber zunächst stelle ich mich am besten mal vor«, erklärte er. »Gestatten, Norbert Kayser, Student der Tiermedizin im letzten Semenster!«
»Angenehm!« Anne reichte ihm die Hand. »Ich heiße Anne Haag und bin zur Zeit in München auf Urlaub«, sagte sie. »Eigentlich komme ich aus Schleswig-Holstein.«
»Das hört man an der Sprache«, erwiderte Norbert. Er drückte die Hand des jungen Mädchens. Anne hatte schwarze schulterlange Haare und sehr dunkle ausdrucksvolle Augen. Er schätzte sie auf etwas vierundzwanzig.
»Zufrieden!« fragte Anne mit einem reizenden Lächeln.
»Entschuldigung, ich hätte Sie nicht so anstarren dürfen«, sagte Norbert. »Wenn Sie hier warten, hole ich den Kaffee. Sie werden doch warten?«
»Ganz bestimmt. Wer läßt sich schon eine Tasse Kaffee entgehen?« konterte Anne und setzte sich auf die Bank.
Es dauerte nicht lange, bis Norbert zurückkam. Vergnügt schwenkte er die Thermosflasche in der Luft. »Hier ist das Corpus delicti!« rief er, als er in Annes Nähe kam.
»Passen Sie auf, daß Ihnen die Thermosflasche nicht aus der Hand rutscht«, warnte Anne. »Ich würde es Ihnen nicht verzeihen, wenn Sie mir erst Kaffee versprechen und mich dann verdursten lassen würden.«
»Keine Angst, ich bin in Erster Hilfe ausgebildet. Ich würde Sie mit Freuden vor dem Verdursten retten.« Norbert setzte sich auf die Bank und schraubte den Becher der Thermosflasche ab. Er drückte ihn Anne in die Hand, nahm aus seiner Pullovertasche ein flaches Etui. Als er es aufklappte, erwies es sich als Trinkbecher. »Der kluge Mann baut vor«, meinte er.
»Wie kann man nur so selbstgefällig sein?« fragte Anne mit einem amüsierten Lächeln.
»Auf den Mund gefallen sind Sie auch nicht«, lobte Norbert und schenkte ihr Kaffee ein. »Ich sehe, wir werden wunderbar miteinander auskommen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Zum Beispiel morgen, wenn wir nach Hellabrunn fahren. Ich möchte Ihnen meinen Lieblingsaffen zeigen.« Norbert goß Kaffee in seinen zusammenklappbaren Becher.
»Wer sagt Ihnen, daß ich morgen nicht schon etwas vorhabe?« fragte Anne. In ihren Augen blitzte der Schalk.
»Das weiß ich. Man lernt schließlich nicht jeden Tag so einen netten jungen Mann kennen wie mich«, behauptete Norbert. Er schlug sich gegen die Brust. »Das klingt zwar wieder nach Eigenlob, ist aber die reine Wahrheit.«
Anne hielt ihm die Tüte mit den Brezeln hin. »Essen Sie lieber etwas, sonst verschlimmert sich Ihr Zustand womöglich noch. Ich würde eindeutig Hungerphantasien diagnostizieren.«
Lachend griff Norbert in die Tüte und nahm sich eine Brezel. »Anne, Sie gefallen mir!« sagte er aufrichtig und nannte sie einfach bei ihrem Vornamen. »Ganz im Ernst, haben Sie für morgen schon etwas vor?«
»Nein«, erwiderte das junge Mädchen und fügte hinzu: »Norbert!« Über die Kaffeebecher hinweg trafen sich ihre Augen.
*
Obwohl es Samstag war, hatten sich Denise und Alexander von Schoenecker mit der zuständigen Sachbearbeiterin des Jugendamtes in Verbindung setzen können. Der gute Ruf von Sophienlust war bis nach Frankfurt gedrungen, so daß sie keine Schwierigkeiten gehabt hatten, die Erlaubnis zu bekommen, Ruth Gronmüller im Krankenhaus zu besuchen und auch die Ärzte um Auskunft zu bitten.
Es war vierzehn Uhr, als die beiden auf den Parkplatz des Krankenhauses einbogen. Sie hatten für Ruth Süßigkeiten und Blumen mitgebracht. Dr. Günther, der von der Sachbearbeiterin des Jugendamtes benachrichtigt worden war, erwartete sie bereits in seinem Sprechzimmer.
»Ruth hat einen schweren Schock«, sagte er, nachdem er den Besuchern in seinem Sprechzimmer Platz angeboten hatte. »Sie reagiert kaum auf uns. Sie liegt nur da und schaut zur Decke empor. Von sich aus würde sie nicht einmal essen und trinken.«
»Hat sie schwere Brandverletzungen?« fragte Denise.
»Zum Glück nicht«, erwiderte Dr. Günther. »Ruth hielt sich, als der Brand ausbrach, bei ihrer Stute auf der Koppel auf. Als sie zurückkam und das Feuer sah, stürzte sie ins Haus, um ihre Eltern herauszuholen. Wie man mir berichtete, ging das so schnell, daß keiner sie daran hindern konnte. Kurz vor der Treppe wurde sie von einem herabfallenden Balken getroffen.«
»Und sie weiß, daß ihre Eltern tot sind?« fragte Alexander erschüttert.
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen«, antwortete er. »Ich habe mit ihr nicht darüber gesprochen, aber ich glaube, sie fühlt es instinktiv. Sie hat bis jetzt noch nicht nach ihren Eltern gefragt.«
»Das arme Kind!« meine Denise mitleidig. »Haben sich ihre Verwandten schon gemeldet?«
»Ich habe heute morgen mit ihnen telefoniert«, sagte Dr. Günther. »Sie werden noch heute nachmittag herkommen. Frau Kayser fragte mich, wie lange wir Ruth hierbehalten könnten. Ihr Mann und sie wären sich noch nicht darüber im klaren, ob ihre Nichte bei ihnen besser aufgehoben wäre als in einem Waisenhaus. Ich hatte nicht den Eindruck, als ob Ruth bei ihnen die Hilfe finden könnte, die sie in der nächsten Zeit brauchen wird.«
»Wir wären jederzeit bereit, Ruth in Sophienlust aufzunehmen«, antwortete Denise. »Gewöhnlich ist das Kinderheim zwar bis zum letzten Platz belegt, aber es gibt immer noch eine Möglichkeit, um Notfälle unterzubringen.«
Ruth Gronmüller lag in einem Einzelzimmer. Sie wandte nicht den Kopf zur Tür, als sie deren Öffnen hörte. Blicklos starrte sie zur weißen Decke empor, völlig gleichgültig gegen ihre Umgebung.
»Ruth, da ist Besuch für dich«, sagte Dr. Günther. Er trat an das Bett der Dreizehnjährigen und strich leicht über ihren rechten Arm. Der linke war bis zum Ellbogen herauf verbunden. Als das Mädchen nicht reagierte, fuhr der Arzt fort: »Es sind Herr und Frau von Schoenecker. Sie sind extra gekommen, um dir eine Freude zu machen. Schau nur, was für herrliche Narzissen sie dir mitgebracht haben.«
Demonstrativ wandte Ruth den Kopf zum Fenster.
»Sie können ruhig gehen«, raunte Denise dem Arzt zu.
»Wie Sie meinen!« Nach einem letzten Blick auf das Mädchen, verließ Dr. Günther das Zimmer.
Denise legte die Blumen und die Süßigkeiten auf den Nachttisch. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ans Bett. »Mein Mann und ich waren bei Tamira«, sagte sie. »Es geht ihr gut.«
Jetzt drehte Ruth sich um. In ihren blauen Augen standen Tränen. »Meine Eltern, sind sie tot?« flüsterte sie fast lautlos.
»Ja«, antwortete Denise leise. Mitleidig berührte sie die schulterlangen dunklen Haare des Mädchens.
»Verbrannt?« fragte Ruth. Sie schauerte zusammen.
»Nein«, erwiderte Denise. »Sie haben nicht lange leiden müssen. Der Rauch war schneller als das Feuer. Sie sind erstickt.« Sanft umfaßte sie Ruths rechte Hand. »Sie würden sich freuen, wenn sie wüßten, daß du mit dem Leben davongekommen bist.«
»Ich möchte nur nochmal nach Tamira sehen«, sagte Ruth und starrte wieder zur Decke empor. »Sie hat was mit dem linken Vorderhuf.«
»Euer Nachbar hat sie zu sich genommen. Ich soll dir von ihm viele Grüße bestellen. Und er läßt dir ausrichten, daß er gut für Tamira sorgen wird, bis du wieder selbst dazu in der Lage bist.«
Ruth reagierte nicht mehr. Sie schloß die Augen. Ihr Kopf sank zur Seite.
»Schläft sie?« Alexander von Schoenecker trat neben seine Frau.
»Ich glaube nicht!« Denise sah zu ihm auf. Sie wollte etwas sagen, doch in diesem Moment wurde hinter ihnen die Tür geöffnet. Automatisch wandten sie sich beide um.
Ein etwas fünfzig Jahre alter, korpulenter Mann mit fettigen blonden Haaren und harten blauen Augen trat ins Zimmer. Ihm folgte eine um wenige Jahre jüngere Frau. Sie war schmal gebaut und wirkte so unscheinbar, daß man sie neben ihrem Mann beinahe übersehen konnte. Die braunen Haare trug sie in einen strengen Knoten geschlungen.
