Demnächst in Tokio - Katharina Seewald - E-Book

Demnächst in Tokio E-Book

Katharina Seewald

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Beschreibung

"Liebe in Zeiten des Nationalsozialismus: Eine Amour fou vor exotischer Kulisse. Keine Widerworte: Elisabeth heiratet Ernst! Unbekannterweise. Die 18-jährige Elisabeth, behütet und aus gutem Hause, macht sich 1934 ins fremde Japan auf, um ihren Ehemann zu treffen: Ernst Wilhelm, 39, Diplomat in Tokio, der mit der Heirat seinen Posten im diplomatischen Dienst des Deutschen Reichs sichern will. Kaum reicht Elisabeths Fantasie, sich die Hochzeitsnacht mit einem gestandenen Mann vorzustellen. Umso erleichterter ist sie, als Ernst freundlich auf Distanz geht. Doch als Diplomatengattin findet sie sich auch unter Menschen wieder, deren Handeln und Gefühle sie nicht durchschaut. Während die Nazifizierung in der Botschaft weiter voranschreitet, gibt es auf einmal Heimlichkeiten und Getuschel. Warum wird Ernst vom japanischen Geheimdienst beobachtet? Ist sein Freund Alexander ein Spion? Sucht er deshalb die Nähe zu Ernst? Und wie soll Elisabeth damit umgehen, dass ihr Herz für den falschen Mann schlägt? Mit historischer Präzision und viel psychologischem Gespür zeichnet Katharina Seewald in Demnächst in Tokio die fesselnde Geschichte einer Ménage à trois in Zeiten des Nationalsozialismus."

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1. eBook-Ausgabe 2017

© 22017 Europa Verlag GmbH & Co. KG,

Berlin • München • Zürich • WienUmschlaggestaltung: Hauptmann & KompanieWerbeagentur, Zürich, unter Verwendung zweier Fotos von© Collaboration JS/Arcangel und Stephen Mulcaney/ArcangelLektorat: Caroline DraegerLayout & Satz: Danai Afrati & Robert Gigler, München

Konvertierung: Brockhaus/CommissionePub-ISBN: 978-3-95890-146-9ePDF-ISBN: 978-3-95890-147-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

Für meine Töchter

»Da ist ein Land der Lebenden und der Toten,und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe,das einzig Bleibende,der einzige Sinn.«

THORNTON WILDER(Die Brücke von San Luis Rey)

› Prolog ‹

Der Kessel verschluckt sich fast an seinem eigenen Pfeifen. Schon zum zweiten Mal in dieser Woche steht die ganze Küche unter Dampf. Beide Topflappen übereinandergelegt, schiebt sie das schwere, schwappende Ding vorsichtig auf die andere Platte. Den Herd ausschalten, sagt sie sich. Sie sollte sich doch lieber angewöhnen, daneben stehen zu bleiben, bis das Wasser kocht. Nicht, dass sie neuerdings vergesslich wäre, es sind nur diese kleinen Dinge, die gewohnheitsmäßig funktionieren. Da muss sie die Sinne an die Leine nehmen, sonst gehen sie spazieren.

Hadere nicht! Hadern macht hässlich. Dieser Spruch! Seit über siebzig Jahren haftet er ihr im Gehirn. Er stammt von ihrem Vater. Auf dem Weg zum Standesamt hat er ihn ihr gesagt. Höchste Zeit, ihn zu vergessen, den Vater und den Spruch! Herrgott, sie ist jetzt fünfundneunzig! Ihr Kinn geht trotzig in die Höhe, als sie das kleine Fenster kippt. Sie gießt etwas Wasser in die Kanne und lässt sie lange kreisen, um die Wärme in den Händen zu genießen. Heute nimmt sie den Darjeeling, die blonde Sorte in der Mitte auf dem Bord. Durch die beschlagene Scheibe sieht sie Professor Diefenbach auf das Haus zueilen. Er ist zu früh. Ihr bleibt noch eine halbe Stunde, hetzen muss sie nicht.

Gerade hat sie aufgegossen, da schrillt das Telefon so garstig, wie es eben schrillen kann, ein Geräusch, das sie doch jedes Mal zusammenfahren lässt. Sie mochte sie nicht haben, diese Krachmaschine, doch ihr Schwiegersohn bestand darauf, die Extraglocke zu montieren. Als Mahnmal ihrer Schwerhörigkeit prangt sie nun in ihrer ganzen Hässlichkeit über dem Telefontisch auf der Tapete. Schneeweißes Plastik auf cremefarbener Seide. Was schert den jungen Mann die Schönheit? Er meint es gut. Sie weiß.

»Hallo?« Eine weibliche Stimme schält sich aus dem Knirschen in der Leitung.

»Ja, bitte?« Es ist und bleibt ihr fremd, dieses Hallo. Sie mag es nicht. »Elisabeth von Traunstein am Apparat.«

»Das weiß ich doch, Mama.« Ein helles Lachen folgt den Worten.

»Kind! Wie schön, dass du anrufst.«

»Ich muss dir was sagen.«

»Es ist doch nichts passiert?« Um auf den Schlag gefasst zu sein, drückt sie den Rücken durch.

»Mama, was du gleich wieder denkst! Nein, es ist nur …«

Sie spürt das Zögern ihrer Tochter. Es wird nichts Gutes kommen.

»Ich weiß, du hast es nicht so gerne, wenn ich längere Zeit nicht da bin. Aber …«

»Aber, Kind?« Ihre Stimme hört sich härter an, als sie es will.

»Ich muss verreisen. Ich habe einen Auftrag. Aber du wirst staunen, wenn ich dir sage, wohin es diesmal geht.«

»Du wirst mich jetzt nicht raten lassen. Du weißt, ich kann das gar nicht lustig finden.«

»Ach, Mama. Sei doch nicht so streng. Ich fliege nach Japan. Morgen.«

»Nach Japan?!« Plötzlich rauscht das Blut in ihren Ohren wie Wasser durch ein Schleusentor. Mein Gott, wie lange das nun her ist, denkt sie, während sie sich lieber setzt. Von 1934 bis 1942 war sie mit ihrem Mann in Tokio, Ernst Wilhelm war dort erst Militärattaché und später Botschafter. Als wäre es gestern, sieht sie sich plötzlich wieder in der Auffahrt zur Botschaft stehen, an diesem einen Tag im Herbst. Der Ahorn war wie ein Meer aus Flammen. »Die Hortensien haben jetzt ihre schönste Zeit. Aber sag, was willst du denn in Japan?«

»Ich soll auf die Schnelle einen Artikel schreiben. Wir haben einen Interviewtermin ergattert, der eigentlich unmöglich ist. Ein Wunder, ehrlich! Der Mann ist so diskret! Leonora meint, als halbe Japanerin wäre ich die ideale Frau für diesen Job. Ausgerechnet ich! Du weißt ja, was ich von deinem Asienwahn halte.«

»Asienwahn? Manchmal verstehe ich dich nicht. Sag mir lieber, wohin genau du fliegst.«

»Erst nach Tokio und dann in irgend so ein Seebad weiter südlich. Irgendwas mit A. Ate … Ata …«

»Mein Gott, Atami!« Wie in einem Film sieht Elisabeth plötzlich die alten Bilder wieder vor sich. Im Sommer, wenn sie in Akiya waren, sahen sie auf diese Stadt hinüber. Wie viele Male sie dort draußen saßen, vor den Schattenhäusern, auf deren Dächern das Moos in dicken Polstern wuchs. Die Wehmut treibt ihr einen Stich ins Herz. Sie liebte dieses diffuse Licht, das sich morgens durch die papierbespannten Türen schlich, als würde es fürchten, sie zu stören.

»Seid ihr da etwa auch gewesen, Papa und du?«

»In einer kleinen Bucht am Ufer gegenüber von Atami hatten wir ein Sommerhaus.« Ihre Finger greifen nach dem Taschentuch in ihrem Ärmel und kneten es zu einem Ball. »Ernst Wilhelm hatte meistens viel zu tun. Ich war sehr oft alleine dort. Außer natürlich …« Sie holt Luft, als wäre ihr gerade wieder eingefallen, dass der Mensch auch atmen muss. Ihr Blick geht zu dem Sammelsurium von kleinen Silberrahmen, die sich auf ihrem Schreibtisch reihen wie Spielzeughäuser einer kleinen Stadt. Bei einem bleibt er hängen. »Außer wenn abends Alexander kam.« Wie im Dunkeln tastet ihre Stimme nach dem Klang. Kaum, dass der Satz gesagt ist, will sie ihn wieder schlucken.

»Alexander? Wer ist das denn?«

»Ach, Kind.« Wie konnte sie? Wie konnte sie den Namen sagen?

»Erzähl schon, Mama.«

»Weißt du Liebes, es gibt Dinge …« Sie betrachtet ihre Hand, als könnte sie dort die Worte finden, um dies alles zu erklären, aber was sie sieht, sind nur die Altersspuren, die Rillen an den Nägeln. Seit Jahren sind die anderen tot. »So etwas kann man nicht in ein paar Sätzen sagen. Am Telefon schon gar nicht.«

»Dann reden wir ein andermal, versprochen? Mir fehlt jetzt sowieso die Zeit. Ich muss dringend los! Meine ganzen Unterlagen sind noch in der Redaktion. Nach München, um diese Zeit, du glaubst nicht, wie mir graut. Wenn ich zurück bin, muss ich auch noch packen.«

»Siehst du, Liebes.« Elisabeth wischt sich die Tränen von den Wangen. »Dann halte ich dich nicht länger auf. Gute Reise, Kind, pass auf dich auf. Hab eine wunderbare Zeit in Japan.«

› 1 ‹

Mit einem Flüstern gleitet die breite, goldene Feder des Füllers über das Papier, ganz leicht im Aufstrich und etwas fester im Abstrich. »Meine liebe Karoline!« Langsam führt Elisabeth die Löschpapierwalze über die blaue Tinte, zieht den Bogen kopfüber ein und drückt mehrmals gegen den Hebel, bis die Anrede über dem chromglänzenden Lineal zu schweben beginnt. Dann setzt sie die Brille ab und reibt sich die Augen.

Ernst Wilhelm haben sie 1982 zu Grabe getragen. Fast dreißig Jahre ist das her. In der ersten Zeit nach seinem Tod hat sie in Gedanken hundertfach an ihre Tochter geschrieben, um ihr alles zu erklären, in immer neuen Varianten. Selbst bei scheußlichstem Wetter lief sie stundenlang durch die Landschaft, an der Leitzach entlang, um den Seeberg, auf dem Bahndamm Richtung Geitau – nicht irr vor Trauer, wie im Dorf gemunkelt wurde. Wütend war sie auf ihn! Wie konnte er so lange schweigen? Wie besessen war sie von der Idee, wenigstens ihrer Tochter alles zu erklären. Sie wollte sich nicht schuldig machen, so wie er. Nicht noch mehr schuldig machen. Nicht dass Ernst Wilhelms Bett leer blieb, raubte ihr nachts den Schlaf, sondern die krampfhafte Suche nach Worten. Den richtigen Worten, die sie niemals fand. Bis sie es aufgab.

»Meine liebe Karoline!«

Sie hält mit dem kleinen Finger die Umschalttaste gedrückt.

Ich habe so lange geschwiegen, weil …

Du darfst mich nicht verdammen … uns! nicht verdammen. Ich bin es schließlich nicht allein gewesen!

Sie lässt die Hände sinken. Ist es überhaupt eine Frage von Schuld?

Kann sie sich auf das Schicksal berufen?

Darauf, dass es eine andere Zeit war?

Wie um die Fragen in ihren Gedanken abzuzählen, lässt sie die Perlen ihrer Kette eine nach der anderen durch die Finger gleiten. Ernst Wilhelm hat sie ihr zu ihrem ersten Hochzeitstag im Mikimoto Pearl Store in Tokio auf der Ginza gekauft. Die eine schwarze kam später hinzu. Sie ist größer und von Ishigaki, einer der Ryukyu-Inseln. Okinawa, wie man heute dazu sagt. Wie sie zu ihr kam, ist Teil der Geschichte.

Sie könnte die Hälfte verschweigen.

Vom Leben an der Botschaft erzählen. Den Konzerten, den Bällen. Vom Tee auf der Terrasse des Hotels Imperial. Von den Schattenhäusern und ihrem traumhaften Blick. Alexander könnte irgendwer sein.

Über den Rand ihrer Brille wandert ihr Blick zum Fenster. Ein böiger Wind schüttelt die Zweige der Akazie und sprüht ein wahlloses Muster aus Blattfetzen und Regentropfen an ihre frisch geputzten Scheiben.

Nur, dass er nicht irgendwer ist. Nicht für sie. Und nicht für Karoline.

Halb zwölf. Schon wieder geht es auf Mittag zu.

Wie an jenem Tag, damals. Ihre Fingerkuppen tasten sich langsam über die feinen Knötchen im Stoff ihres Rockes, als wollten sie eine Botschaft in Brailleschrift entschlüsseln.

Sie trug ein beiges Kleid mit winzigen blauen Blüten. So mädchenhaft. Vergissmeinnicht.

Natürlich! Ihr Rücken spannt sich, sodass sie plötzlich kerzengerade sitzt. Auf einmal weiß sie, wo sie beginnen muss.

Wo sonst?

Es ist eine dieser Geschichten, die man nur auf eine Weise erzählen kann: von Anfang an. Und alles begann an einem ganz normalen Sommertag im Jahr nach Hitlers Machtergreifung.

ISchicksalswende

› 1 ‹

Liebe Karoline,

endlich habe ich mich durchgerungen, dir von den Dingen zu erzählen, die mir seit Jahren auf der Seele brennen. Ich weiß nicht, ob mein Mut reicht, wenn ich nicht gleich ins kalte Wasser springe. Darum kein weiteres Wort vorab.

Es gibt Tage, die über Menschenschicksale entscheiden. Der 26. Juni 1934 war ein solcher Tag für mich. Es fehlten noch drei Monate und, wie wir sagten, einmal Schlafen zu meinem neunzehnten Geburtstag. Es ging auf Mittag zu. Der Tisch war schon gedeckt. Abgesehen davon, dass ich auch die tiefen Teller herausgesucht hatte, war es ein Dienstag wie jeder andere. Vom Vortag war etwas Rindsbrühe übrig geblieben, Mutter hatte dazu einen Eierstich gemacht. Eine Suppe vorweg gab es sonst nur an Sonn- und Feiertagen. Vater würde sich freuen, so hofften wir. Wir taten gut daran, ihn bei Laune zu halten.

Er kam stets pünktlich mit dem Glockenschlag um halb eins für eine Dreiviertelstunde zum Essen aus »seiner« Firma nach Hause – zu Fuß, denn das Hauptgebäude der Tuchfabrik und Großschneiderei, in der er als Büroleiter tätig war, lag nur ein paar Minuten die Straße entlang.

Die Kartoffeln waren gekocht und geschält, die Zwiebeln gehackt und in der Pfanne glasig gedünstet, die Fleischreste fein säuberlich in Streifen und der Schnittlauch in Röllchen geschnitten. Drei verklepperte Eier standen, schon gesalzen, in einer kleinen Schüssel bereit.

Es würde nicht lange dauern, das Bauernfrühstück auf den Tisch zu bringen. Wenn wir uns mit dem Frischmachen beeilten, blieb uns eine gute halbe Stunde Zeit. In weniger als drei Wochen fand in Tante Aglaias Schule ein Konzert statt, bei dem ich singen sollte. Wir mussten dringend üben.

An Tante Aglaia wirst du dich nicht erinnern, mein Kontakt zu ihr ist abgerissen, bevor du auf die Welt gekommen bist. Sie war Mutters einzige und deutlich ältere Schwester und, das lässt sich mit Fug und Recht behaupten, zugleich unsere Wohltäterin. Ihr früh verstorbener Mann, ein Schweizer Fabrikant, hatte ihr ein großzügiges Vermögen hinterlassen, das es ihr ermöglichte, nicht nur eine in der damaligen Zeit für eine Frau ungewöhnlich unabhängige Existenz zu führen, sondern sich auch ihren Traum zu verwirklichen. Sie war kaum ein Jahr verwitwet, als sie vom Zürichsee nach München zog und zwei Straßen von unserer Wohnung entfernt in den Räumen einer ehemaligen Knopfmanufaktur ein privates Lyzeum für Mädchen gründete. Dort führte sie ein strenges Regiment, doch sie war eine gute Seele. Ich verdankte ihr meine höhere Schulbildung, die mir Vater sonst nie zugebilligt hätte – allein wegen des Schulgelds nicht. Und meine Mutter hatte dort eine Anstellung als Musiklehrerin, die sie selbstredend nur ausüben durfte, wenn weder Vater noch der Haushalt unter ihren aushäusigen Verpflichtungen litten.

Mein Abschluss lag ein Jahr zurück. Seither machte ich mich im Sekretariat und mit allgemeinen Hilfsdiensten nützlich, in dem sehnlichsten Wunsch, ab dem Herbst das im Aufbau befindliche Lehrerinnenseminar besuchen zu dürfen. Noch war Vater dagegen. Zu viel Bildung mache eine Frau zur alten Jungfer, weil kein Mann sie mehr ertragen könne, war seine Ansicht. Man sähe es an Tante Aglaia, die er – nicht einmal hinter vorgehaltener Hand – wahlweise als säbelschwingenden Dragoner, bissige Gans oder aufgetakelte Fregatte bezeichnete, Letzteres wohl im Hinblick auf ihre zugegebenermaßen etwas ausgefallene, orientalisch inspirierte Kleidung. Ich liebte sie innig. Sie war meine Hoffnung. Denn auch wenn er sie hasste, er fürchtete sie.

Im Hassen war er ohnehin groß. Selbst unsere Musik saß ihm wie ein Dorn im Fleisch. Nicht, dass er generell etwas gegen das Singen gehabt hätte. Fahnen- und Heimatlieder hatten das Zeug, ihm Wasser in die Augen zu treiben. Das deutsche Kunstlied jedoch … Geklimper und Geplärr. Ihm Derartiges zu Gehör zu bringen war unter Strafe verboten. Noch wusste er nichts von dem geplanten Konzert. Auch darum schlichen wir auf leisen Sohlen.

Als sich Mutter auf den Klavierschemel setzte, hielt ich bereits an meinem üblichen Platz am Fenster das Notenblatt in der Hand, obwohl ich es längst nicht mehr brauchte. Hoffnung hieß das Lied, der Text von Schiller, von Schubert vertont. Ich sang es im Schlaf, doch mit Inbrunst: »Es reden und träumen die Menschen viel von bessern und künftigen Tagen.«

Mein Blick ging hinunter zur Straße. Ein Trupp SA-Männer strebte Richtung Karolinenplatz, nicht mehr als eine Handvoll, doch der Hall ihrer genagelten Stiefel war durch die geschlossenen Scheiben zu hören. Ellie, die Milchfrau, war auf Beobachtungsposten im Eingang ihres Ladens, die Arme vor dem Latz ihrer Schürze verschränkt, und schaute ihnen nach. Herr Reichholdshagen, der pensionierte Oberstleutnant von gegenüber, führte wie stets um diese Zeit seinen Dackel aus. Er hatte einen Bauch wie ein Fass und ruderte beim Gehen mit den Armen.

»Du bist nicht bei der Sache! Du lässt die Silben schleifen.« Bei Mutter hörte sich selbst ein Tadel so freundlich an wie eine Einladung zum Tee. »Ver-be-he-sse-he-rung«, sang sie leise mit ihrer klaren, hellen Stimme und markierte das Staccato mit der erhobenen Hand.

Ich wiederholte.

Sie nickte.

Eben hatte es noch geregnet, doch der Wind hatte aufgefrischt und trieb die Wolken auseinander wie ein bellender Hund eine Herde von Schafen. Schon ließen sich die ersten Sonnenstrahlen wieder blicken, doch Frau Schwarz, die ewig nörgelnde Witwe aus dem Parterre, kämpfte noch mit ihrem Schirm. Aprilwetter im Juni. Es lag ein Gefühl von Aufbruch in der Luft. Ich nahm es als Omen. Aber was es auch war, es kam doch nicht, wie ich dachte.

»Und was die innere Stimme spricht, das täuscht die hoffende Seele nicht«, sang ich, während ich zusah, wie die Schwarz von ihrem Schirm fast fortgetragen wurde, mit rutschenden Strümpfen. Jetzt ließ sie ihn los! Er war frei. Er flog. Ich feixte.

In diesem Moment sah ich ihn kommen: Vater. Ohne unsere Nachbarin eines Blickes zu würdigen, stürmte er an ihr vorbei, dass die Rockschöße wehten. Der leere Ärmel auf seiner linken Seite war ihm aus der Tasche gerutscht und flatterte im Wind. Er rannte sonst nie, schon gar nicht ohne Kopfbedeckung. Wo, bitte, war sein Hut?

Ich hielt mich an der Fensterbank. Ich sah, dass er lachte.

»Was ist denn mit dir?«, hörte ich Mutter sagen. »Du bist ja kreidebleich, Kind.« Sie trat neben mich.

Schweigend deutete ich auf die Straße.

Ihr stockte der Atem. Sie griff nach meiner Hand. Wir waren wie erstarrt. Dann riss sie sich plötzlich los und lief in die Küche. »Ob er befördert worden ist?«, hörte ich sie murmeln, bevor sie mit dem Topfdeckel zu klappern begann.

Seit ich denken konnte, verging kaum ein Tag, an dem Vater nicht davon redete, von seinem Chef eines Tages zum Nachfolger gekürt zu werden. Er rechnete sich gute Chancen aus. Nicht nur, dass er in Verdun unter ihm diente und sich, wie er zu sagen pflegte, »für ihn und das Vaterland den Arm abschießen ließ«. Der Sohn des alten Herrn zeigte zudem wenig Interesse an der Firma. Wie es hieß, »vergnügte« er sich lieber »in der hohen Politik«, noch dazu auf einer gänzlich falschen Seite: Als Vertrauensmann »dieses unseligen Herrn von Schleicher« war er mehrfach mit kritischen Äußerungen gegen den Führer unangenehm in Erscheinung getreten, und dessen glühendster Verfechter war mein Vater.

Ich selbst hatte den »Junior«, wie man ihn nannte, kaum je zu Gesicht bekommen. Einzig bei der alljährlich für die Belegschaft und ihre Familien abgehaltenen Nikolausfeier nahm er den Platz neben seinen Eltern ein, während der heilige Mann mit dem langen Bart den Kindern im Saal mit der Rute drohte. Er war einer dieser Männer, die zeitlebens wie mittleren Alters wirken, sein Gesicht so glatt und wächsern wie das des Rauschgoldengels, den wir um diese Zeit alle Jahre wieder vom Dachboden holten und neben die Krippe stellten. Doch mehr hatte er nicht mit ihm gemein. Sein Kopf war kantig wie ein Koffer und zu wuchtig für seinen Körper, der zwar groß war, aber ohne Substanz. Wie angeschraubt schien er ihm auf den Schultern zu sitzen. Was nützte ihm sein ganzes Geld, wenn er so aussah!

»Steh nicht da wie ein Stock«, rief Mutter aus der Küche. »Pack das Notenblatt weg! Und den Klavierdeckel! Vergiss nicht, ihn zu schließen!«

Vaters Schlüssel im Schloss.

»Frauen«, rief er, noch im Flur. Er rang nach Luft. »Lasst alles liegen und stehen! Zieht euch an!«

Als wäre es heute, sehe ich Mutter in der Küchentür stehen, wie sie mich unter hochgezogenen Augenbrauen fragend anschaut, während sie sich die Hände an ihrer karierten Schürze abwischt. Der Schreck steht ihr ins Gesicht geschrieben. Wenn ich es recht bedenke, war es das letzte Mal, dass wir uns so Auge in Auge gegenüberstanden, in diesem stillen, ängstlichen Austausch.

› 2 ‹

Als ich keine zehn Minuten später im ewig dämmrigen Schlafzimmer meiner Eltern in den Spiegel des dunklen Eichenschrankes starrte, fühlte ich mich, wie sich jemand fühlen muss, der aus großer Höhe in den Abgrund gestoßen wird und nach dem Aufschlagen feststellt, dass er noch lebt: Die Knochen mögen heil gelandet sein, aber die Seele stürzt tiefer und tiefer.

Ich war mir so fremd. Ich trug Mutters kastanienbraunes Schneiderkostüm mit dem breiten Revers. Die Schulterpolster überragten seitlich den Spiegel. Die Kordel des Knebelverschlusses vorne an der Taille war doppelt um die Rosettenknöpfe geschlungen, um der Jacke etwas von ihrer Weite zu nehmen. Um die Spitze der Pumps auszufüllen, lag je ein Watteröllchen vor meinen Zehen in der Rundung.

»Ich werde endlich Kompagnon«, hörte ich Vater nebenan sagen. Noch durch die geschlossene Tür konnte ich sehen, wie sich seine Brust vor Stolz wölbte.

»Aber sie ist doch erst achtzehn.« Mutters Stimme vibrierte. Nicht, dass sie geschluchzt hätte, aber ich wusste, dass sie weinte.

»Er hat gesagt, er wird uns die kleine Villa geben. Die kleine Villa, Thalia! Du wirst natürlich nicht mehr arbeiten gehen.«

»Aber das Aufgebot! Man muss doch vierzehn Tage …«

»Pah!«, fuhr Vater ihr über den Mund. »In den Kreisen, in denen wir uns ab sofort bewegen, findet sich für solche Kleinigkeiten immer eine Lösung. Falls es dich beruhigt: In diesem Fall ist sie schon gefunden.«

Ich hörte, wie die Lehne von Vaters Sessel quietschte; dann seine sich nähernden Schritte über die Dielen zur Tür.

»Bist du so weit?« Er zischte das »Bist« unter dem Adolf-Bart hervor, den er neuerdings trug. Wie ein Riese baute er sich vor mir auf, trotz seiner Schmächtigkeit. Sein schütteres Haar war, wie damals üblich, bis weit über die Ohren hinauf kurz geschoren. Nur eine lange blonde Strähne klebte ihm quer über der hohen Stirn. Seine Augen glühten im Triumph des frisch errungenen Sieges. »Gleich ist der Wagen hier! Er schickt den Horch!«

Lächelnd trat er noch einen Schritt näher. Ich wich instinktiv zurück, doch er griff mit seiner einen Hand nach meiner Schulter. Den leeren Ärmel hatte Mutter ihm trotz aller Aufregung längst wieder ordentlich in die Tasche gesteckt. Er schaute mir in die Augen.

»Na, na, na, Fräulein«, sagte er und legte mir den Zeigefinger unter das Kinn. Ich verharrte mit dem Rücken so dicht am Schrank, dass die Türe knarrte. »Wer wird denn da weinen? Du wirst mir noch dankbar sein, hörst du! Und außerdem, wenn du lächelst bist du schöner!«

Er zog das Taschentuch aus seiner Einstecktasche, entfaltete es schnalzend und tupfte mir die Augen ab.

»Vater, ich … « Im verblassten Muster des dünn getretenen Bettvorlegers suchte ich nach Worten. Anstelle meines Magens hatte ich eine kalte Faust im Bauch. »Ich kenne ihn nicht, diesen Mann. Ich will ihn nicht. Bloß weil er der Sohn deines Chefs ist.« Jetzt sprudelten die Worte aus mir heraus. »Er ist hässlich. Er hat einen Kopf wie ein Hackklotz. Er ist doch bald so alt wie du! Du kannst mich doch nicht mit ihm verheiraten!«

»Kann ich nicht?« Er lachte. Seine Pupillen waren wie Einserschrot.

»Warum heute? Warum jetzt?« Meine Stimme überschlug sich.

»Ich sage Nein! Ich mache das nicht!«

Wie eine Geißel schnalzte seine Hand und traf mich im Gesicht. »Ich dulde keine Widerworte. Nicht in dieser Angelegenheit!«

Als ob er je in irgendeiner Angelegenheit auch nur ein einziges Widerwort geduldet hätte. »Ich bin achtzehn Jahre alt, Vater!« In Erwartung des nächsten Schlags zog ich den Nacken ein, doch diesmal packte er mich von hinten am Hals wie eine Katze ihr Junges. Er hatte so viel Kraft in dieser einen Hand. Der Schmerz bohrte sich mir wie ein Messer ins Hirn, aber ich krümmte mich nicht.

»Du tust, was ich dir sage!« Er kam so dicht an mich heran, dass ich die Säure in seinem Atem roch. »Haben wir uns verstanden, Fräulein?«

»Der Wagen ist da.« Ich hatte Mutter nicht kommen hören. Sie huschte so leise, als würde sie über dem Boden schweben. »Er steht schon unten vor dem Haus.«

Im selben Moment schellte es.

»Dass du deiner Mutter nachher keine Schande machst!« Ein letztes Mal rammte Vater mir Daumen und Zeigefinger im Nacken unter den Schädel. »Dass du dich benimmst, Fräulein!« Dann ließ er mich los.

Ich hörte Mutters Stimme an der Tür, so zaghaft, dass ich nicht verstehen konnte, was sie sagte.

»Guten Tag, Frau Weber.« Eine tiefe Männerstimme.

»Herr von Traunstein!« Das war Vater. »Sie persönlich! Welche Ehre. Ich dachte, Sie schicken den Chauffeur! Elisabeth!«

»Gleich«, rief ich.

Mir war übel. Ich atmete tief durch und hielt mir die Wange. Schon halb an der Tür, drehte ich mich noch einmal um und trat an Vaters Seite des Bettes. Mit der Spitze von Mutters Pumps zog ich seine ausgetretenen karierten Filzpantoffeln unter dem geblümten Bettüberwurf hervor, sammelte allen Speichel, den ich im Mund noch finden konnte, bückte mich und spuckte erst in den linken, dann in den rechten je einen kleinen schleimigen Klecks. Es waren nicht mehr als ein paar schaumige Bläschen. Sie schimmerten feucht im trüben Licht.

»Elisabeth! Wo bleibst du denn?«

»Ich komme ja schon, Vater.«

› 3 ‹

Das Standesamt befand sich in einem Seitentrakt von Schloss Nymphenburg, den wir durch einen unscheinbaren Nebeneingang betraten. Der Chauffeur hielt uns den Schlag auf. Er hatte einen schmalen Streifen Wagenschmiere an seinem weißen Handschuh. Herr von Traunstein wartete schon draußen auf dem Trottoir. Von irgendwoher war seine Gattin dazugekommen, ich sah sie neben ihm stehen, eine gedrungene Gestalt im hellgrauen Kostüm, halslos wie ihr Sohn, aber mit umso mehr Kinn, einen Fuchspelz mitsamt Kopf, Schwanz und Pfoten über den Schultern. In ihrer Miene lag etwas Kriegerisches. Wie eine Waffe hielt sie den zugeklappten Regenschirm vor sich und reichte ihn dem Fahrer.

Ob es dieser Anblick war? Vielleicht. Bis dahin war ich vor Schock wie gelähmt gewesen. Aber auf einmal sträubte sich alles in mir. Ich wollte das nicht! Meine Gedanken fingen zu rasen an. Weglaufen, dachte ich. Aber es gab keinen Ausweg. Ich war gefangen. Ein Sträfling in Ketten, mit eiserner Kugel am Bein.

Ich erinnere mich, wie ich einfach sitzen blieb, als würde ich am Leder kleben.

»Darf ich bitten, Fräulein!« Vater streckte mir lächelnd die Hand entgegen.

Einen Moment lang starrte ich ihn schweigend an, das rechte Unterlid zuckte. Der Kiefer mahlte. Ich zählte bis fünf. So lange ließ ich ihn warten, doch ich wusste, ich hatte verloren. Niemand kam gegen ihn an.

Als ich ausstieg, schaute Mutter zu Boden. Sie mied meinen Blick.

»Gestatten«, sagte der alte Herr von Traunstein mit einer knappen Verbeugung in unsere Richtung und rauschte vorneweg. Seine Gattin hielt er am Ellenbogen. Während wir die Treppe in den ersten Stock hinaufstiegen, klammerte ich mich an Mutters Arm. Ich hatte das Gefühl, in den geliehenen Pumps zu schwimmen. Die Absätze erschienen mir unerhört hoch. Vor meinen Augen schwangen die Klauen von Frau von Traunsteins Pelz wie zwei Pendel. Ich schwankte und schwitzte.

Der Handlauf des Geländers war glatt und kühl. Wie gern wäre ich stehen geblieben, hätte die Stirn daraufgelegt, einen Moment nur. Doch Vater bildete die Nachhut. Energisch schob mich seine Hand voran.

Oben an der Treppe wartete Ernst Wilhelm auf uns. Er war in Uniform. Ihn dort oben stehen zu sehen trieb mir die Röte ins Gesicht. Unwillkürlich tat ich einen Schritt zurück. Wäre Vater nicht hinter mir gewesen, ich wäre ins Leere getreten.

Man führte uns in ein Vorzimmer zu zwei weiteren, ebenfalls uniformierten Männern, unseren Trauzeugen, wie sich zeigte: Oberstleutnant von Almsbrunn und ein Major Diefenbach. An Letzteren habe ich keine Erinnerung, an von Almsbrunn schon, denn an seinem Anblick hielt ich mich fest wie an einem Anker. Er war schlank, groß und außerordentlich gut aussehend. Die hohen Wangenknochen gaben seinen Zügen etwas Elegantes, fast weiblich Schönes. Seine Augen waren haselnussbraun. Als er sich vor mir verbeugte und mir die Hand küsste – nie zuvor war jemand auf die Idee gekommen, mir Backfisch die Hand zu küssen –, schoss mir das Blut erneut in die Wangen. Mit weichen Knien stellte ich mir in meinem kleinen Mädchenherzen vor, dass das alles hier um ihn ginge und nicht um den von-Traunstein-Sohn. Ich wusste, ich würde ihn nie wiedersehen, diesen jungen Mann, wie sollte ich auch, doch er geisterte noch lange durch meine Träume.

Erst nachdem mich die beiden Herren begrüßt hatten, trat Ernst Wilhelm vor mich hin und reichte mir die Hand. Sie war so eiskalt wie die meine. Ich spürte es durch den Handschuh hindurch, den auszuziehen ich vergessen hatte.

»Wir wurden einander bereits vorgestellt«, sagte er knapp und warf mir einen kurzen Blick zu.

Ich nickte. Ich hatte die Sprache verloren.

Dann flog die Tür auf. Ein kleiner, etwas dicklicher Herr im Stresemann trat zu uns heraus. Mit ausgestreckter Hand und einem Lächeln auf den Lippen eilte er auf die von Traunsteins zu. Vater ließ Mutter und mich stehen, um sich neben sie zu stellen, als wäre er ein armer Verwandter, der auf seine kleine Chance wartet, selbst ein wenig groß herauszukommen. Eine Frau in grauem Rock und weißer Bluse führte uns ins Trauzimmer.

Dieser Saal mit seinen matt schimmernden gelblichen Tapeten, groß wie die Aula in unserer Schule, ließ mich im Inneren schrumpfen. Ich war aus meiner Welt kaum je herausgekommen. Was kannte ich schon außer der elterlichen Wohnung, der Schule und dem etwas außerhalb von Zürich am See gelegenen Haus von Tante Aglaia, in dem wir im Sommer die Ferien verbrachten?

Üppige himmelblaue Vorhänge rahmten die deckenhohen Fenster. Das Parkett hatte einen leicht rötlichen Schimmer und roch frisch gebohnert. Mit der Autorität eines Hausherrn schritt der Standesbeamte um sein Pult herum und deutete auf eine Reihe von passend blau bezogenen Stühlen.

Ich fühlte, wie sich mir ein Arm unter den Ellbogen schob. Der Gedanke, dass es Vater sei, ließ mich erstarren, doch es war Frau von Traunstein. Sie tätschelte mir die Hand.

»Ich danke dir, Kind«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang ganz anders als erwartet. Samtig. Rauchig. »Ich werde dir das nie vergessen! Und wenn du einmal etwas brauchst, dann lass es mich wissen. Du hast etwas gut bei mir.«

Ich schaute sie erschrocken an. Sie schien es nicht zu merken, denn ihr Blick glitt mehrmals prüfend an mir herauf und herunter. Nach kurzem Zögern streifte sie sich den Fuchs von den Schultern und legte ihn mir um.

»Besser.« Sie nickte zufrieden und führte mich zu einem der beiden verschnörkelten Sessel, die vor der Stuhlreihe aufgestellt waren. Dort nahm ich neben Ernst Wilhelm Platz.

Ich kann grübeln, wie ich will, aber von dem, was dann kam, habe ich nichts im Gedächtnis, kein einziges Wort, kein Bild, nichts. Es ist, als hätte jemand diese Akte meiner Lebensgeschichte aus dem Archiv entfernt und vernichtet. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, wie ich »Ja« sagte.

Natürlich, ich weiß, dass der Ring, den mir Ernst Wilhelm über den Finger streifte, viel zu weit war, aber nur, weil wir ihn später ändern ließen. Auch dass mir der seine aus der Hand fiel, das hat mir Schwiegermamá später erzählt. Es war Vater, der ihn aufhob und ihn mir wieder reichte. Es bot sich an. Er saß hinter mir.

Draußen vor der Tür wartete ein Fotograf, an ihn erinnere ich mich wieder. Er war einer dieser vom Krieg schwer gezeichneten Männer, wie man sie damals des Öfteren sah. Ihm saß der Schreck noch in den Augen, die aufgerissen waren wie von einem, der in jedem Augenblick den Tod erwartet. In seinem viel zu weiten Kragen wirkte sein Hals so mager wie von einem Huhn. Ich sehe ihn vor mir, wie er zappelt, wie seine Hände fahrig in die Gegend zeigen, um uns zu dirigieren, obwohl mein Gefühl mir sagt, dass ich doch gar nicht da war, nicht vor einer Kameralinse, nicht in diesem Kleid!

»Machen Sie schnell«, befahl Herr von Traunstein, der nun mein Schwiegervater war. Da hatte Schwiegermamá mich bereits »an den Haken genommen«, wie sie zu sagen pflegte.

»Ernst Wilhelm«, mahnte der alte Herr, kaum dass das Bild im Kasten war, und zog mit besorgter Miene seine Taschenuhr aus der Weste. »Es wird Zeit.«

»Ja, Vater.« Ernst Wilhelm zögerte. »Ich danke Ihnen. Für alles.« Ich weiß nicht, ob er mich dabei ansah, ich konnte den Blick nicht heben, ihm nicht in die Augen blicken.

»Mutter. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen …« Seine Stimme kippte, wie die eines jungen Burschen im Stimmbruch.

»Los, Junge!« Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Keine Zeit für Sentimentalitäten!«

Schon zur Tür gewandt, schaute Ernst Wilhelm noch einmal zurück, als hätte er sich plötzlich meiner erinnert. »Wir …« Zum ersten Mal schauten wir uns direkt an. So nah war er, dass ich den Schweiß auf seiner Lippe sah. Einen Moment machte er Anstalten, nach meiner Hand zu greifen, doch dann nickte er nur. »Auf bald«, sagte er mit einem tiefen Seufzen. »So Gott will, sehen wir uns demnächst in Tokio.«

Ich vergaß zu atmen.

Dann hörte ich von irgendwo dreimal eine Kirchturmuhr schlagen, und alles strebte zur Tür.

› 4 ‹

Fast auf den Tag genau zwei Monate später, am 24. August 1934, schritten meine Schwiegermutter und ich unter dem imposanten Dach des Berliner Bahnhofs Friedrichstraße, das sich wie eine riesige geschweifte Klammer über die Bahnsteige spannte. So unglaublich mir der Gedanke erschien: Ich fuhr tatsächlich nach Japan.

Mit viel Glück und ausgezeichneten Beziehungen war es der Familie von Traunstein gelungen, Ernst Wilhelm an der Botschaft in Tokio eine Stellung als Militärattaché zu verschaffen und ihn so, wie ich heute weiß, daheim aus der Schusslinie zu bringen. Dazubleiben hätte ihn das Leben gekostet. Doch ich ahnte nichts von solchen Dingen, mit meinen nicht ganz neunzehn Jahren verstand ich nichts von Politik.

Ich erfuhr lediglich, dass seine Berufung ein Glücksfall gewesen sei, eine rare Gelegenheit zum Einstieg in den diplomatischen Dienst. Darum auch die übereilte Ehe, ich mag bis heute nicht von Hochzeit sprechen. Junggesellen sah man nicht gern in diesen Kreisen. Ein gestandener Mann war ein verheirateter Mann. Es hieß also handeln. Die Zeit war knapp. Der Posten war zum 1. August vakant und durfte nicht unbesetzt bleiben.

Und alles war gut gegangen. Eine Woche vor dem avisierten Termin, am 21. Juli, kabelte Ernst Wilhelm aus Tokio. Abends gaben meine Schwiegereltern ihm zu Ehren einen kleinen Empfang. Hölzern wie ein Kleiderständer, stand ich fein herausgeputzt im nagelneuen Cocktailkleid in der Bibliothek des Herrenhauses und stieß mit Sekt an, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich war plötzlich wer. Die junge Frau von Traunstein.

Und nun war es also so weit. Wir waren in der Hauptstadt. Ich war tatsächlich in der Hauptstadt! Allein die Fahrt dorthin war mir wie eine Reise um die halbe Welt erschienen. Was Entfernung wirklich heißt, hatte ich erst noch zu lernen. »Berlin-Marienburg-Königsberg-Insterburg-Eydtkuhnen« prangte in beängstigender Klarheit auf dem kleinen weiß emaillierten Einsteckschild an der Tür des Zuges, der neben uns am Bahnsteig hielt. Wortlos schauten wir zu, wie der wohlbeleibte Gepäckträger mit Kaiser-Wilhelm-Bart und vom Suff aufgequollener Nase meinen Koffer in den Wagen der Preußischen Ostbahn hievte, sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte, meinen Hutkoffer dazustellte und ächzend hinterherstieg. Die Lokomotive fauchte ungeduldig und hüllte uns in ihre Schwaden ein. Es roch nach Maschinenöl und Kohlenruß. Tauben schwirrten über unseren Köpfen.

»Also dann, Goldstück. Dass du mir heil ankommst!« Meine Schwiegermutter seufzte. »Mamá« nannte ich sie auf ihren Wunsch hin, mit Betonung auf dem zweiten A wie im Französischen, »weil es vornehmer klingt und nichts extra kostet«. Mich nannte sie vom ersten Tage an ihr Goldstück. Seit wir am Zug waren, lag ihre Hand auf der meinen. Als mochte sie mich nicht loslassen.

»Ich danke Ihnen. Für alles.« Ich hatte mir fest vorgenommen, mir beim Lebewohlsagen keine kindische Blöße zu geben. Mamá sollte stolz auf mich sein. Noch im Standesamt hatte sie mich unter ihre Fittiche genommen und sich mit Wonne in die Aufgabe gestürzt, aus dem schlichten Ding, das ich war, so etwas wie eine Dame zu machen. Nicht ein Kleidungsstück an meinem Leib war von früher, nicht die Strümpfe, nicht der Schlüpfer. Wie schon den ganzen Morgen über, wanderte mein Blick auch jetzt zu meinen Schuhen. Sie waren aus zartgrauem Leder, und zwei zierliche Riemchen spannten sich in elegantem Bogen über meinen schmalen Rist. Meine Füße sahen nicht wie meine eigenen aus.

»Ach, Kind!« Mamá nestelte das Taschentuch aus ihrem Ärmel. »Glaube mir, ich lasse dich nicht gerne fahren. Es sind schwere Zeiten.« Nie habe ich sie tatsächlich weinen sehen, aber seit Tagen waren ihre Augen gerötet.

Der Schaffner ging am Zug entlang und knallte die ersten Türen zu. »Einsteigen, bitte!« Er hatte die knatternde Stimme des Führers.

»Wo bleibt Richard nur? Er wollte doch nur ein paar Illustrierte besorgen!« Mamá trat im Gedränge auf dem Bahnsteig einen Schritt zurück, dann einen zur Seite, um zwischen den Reisenden und der Schar derer, die zum Abschiednehmen gekommen waren, einen Blick Richtung Treppe zu werfen.

Richard war ihr Neffe. Wir hatten die letzten Tage vor meiner Abreise im Haus von Tante Hanni, Mamás Schwester, in Berlin-Charlottenburg zugebracht, und er war uns während dieser Zeit – wohl auf Betreiben seiner Mutter hin, was er uns jedoch nie spüren ließ – ein aufmerksamer männlicher Begleiter gewesen, wann immer wir das Haus verließen. Er war ein Sonderling, der noch bei den Eltern wohnte, ein blasser Stubenhocker und Bücherwurm von etwa dreißig Jahren. Doch er war freundlich. Ich mochte ihn gern und fragte mich im Stillen, warum das Schicksal mich nicht ihm zur Frau gegeben hatte. Er war nicht hübsch. Er war kein Traum von einem Mann. Aber er war liebenswert. Und deutlich jünger als Ernst Wilhelm, zumal sein zarter Teint ihm etwas Knabenhaftes gab.

»Du wirst nicht auf ihn warten können.« Sie drückte mir noch einmal die Hand.

Ich nickte tapfer. Doch als ich mich anschickte einzusteigen, wurde es mir plötzlich schwer ums Herz. Ich glaube, als ich die eisernen Stufen erklomm, wog es mehr als mein gesamtes Gepäck einschließlich der Überseekiste, die zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg nach Japan war. Nach Japan! Erst jetzt wurde mir vollends die Ungeheuerlichkeit des Planes bewusst. Das ganze Ausmaß dieses Abschieds ließ mich um Atem ringen. Mir war, als stünde ich an einer Klippe, und alle wussten, dass ich springen musste.

Im Gang stehend, wandte ich mich noch einmal um. »Passen Sie mir bitte auf meine Mutter auf?« Sie hatte so geschluchzt am Tag meiner Abfahrt, dass mich mein Gewissen plagte. Ich hätte sie vorher doch noch öfter besuchen sollen, aber die acht Wochen im Hause der von Traunsteins waren ein einziger atemloser Rausch von Besorgungen und Anproben, buchstäblich Hunderten von Anproben, gewesen. Jetzt weinte ich doch.

»Kommen Sie, Elisabeth!« Fräulein Degenhardts Kopf tauchte im Abteilfenster auf. Fräulein Degenhardt war meine Reisegefährtin. »Weinen können Sie später, wenn Sie hier drinnen sitzen!«

Mamá hatte darauf bestanden, mich höchstpersönlich bis nach Berlin zu begleiten, um mein Wohl in die treuen Hände von Fräulein Degenhardt zu legen. Sie war eine weitläufige Verwandte und seit Jahren in einer Missionsstation im Osten Chinas tätig. Im Frühjahr war sie in die Heimat gekommen, um ihre alten Eltern noch einmal zu sehen. Sie wäre nicht so lange geblieben, hätten die von Traunsteins sie nicht gebeten zu warten, bis ich meine Dokumente beieinanderhatte, um mich mit auf diese unfassbar weite Reise zu nehmen.

Als uns Fräulein Degenhardt tags zuvor in Charlottenburg ihre Aufwartung machte, dachte ich einen Moment, ich hätte etwas falsch verstanden, denn ihr bodenlanges schwarzes Kleid sah wie eine Soutane aus. Um ein Haar hätte ich zu ihr »Herr Pfarrer« gesagt, und einem Reflex folgend knickste ich. Sie trug ihr wollgraues Haar straff nach hinten frisiert, sodass es wie mit Pomade angelegt wirkte. Das Auffälligste an ihr aber war ihr markantes Kinn, das meinen Blick so magisch anzog, dass ich Mühe hatte, es nicht anzustarren. Nun sollten wir gemeinsam über den ostpreußischen Korridor nach Moskau reisen und von dort aus weiter mit der Transsibirischen Eisenbahn bis Wladiwostok, wo mich Fräulein Degenhardt an Bord der Fähre nach dem japanischen Hafen von Yokohama an der Bucht von Tokio bringen würde. Dort sollte Ernst Wilhelm mich erwarten.

»Zurrrücktreten von der Bahnsteigkante!« Der Schaffner warf die letzte Tür ins Schloss.

»Da ist er ja!«, rief ich, im offenen Fenster lehnend. Mit seinen dünnen, langen Beinen lief Richard im dichter werdenden Lokomotivenqualm den Bahnsteig entlang wie ein Storch im Nebel. Um Atem ringend, reichte er mir ein Bündel Illustrierte und eine Schachtel Konfekt durchs Fenster. Es zischte und dampfte. Rußflocken tanzten in der Luft.

»Gute Reise!«, rief er. Ich las ihm die Worte mehr von den Lippen ab, so laut war das Getöse. Schnaufend setzte sich die Lokomotive in Bewegung.

Auch Mamá rief etwas und ließ ihr Taschentuch wehen.

Ich nickte und winkte und schluckte schwer und vergaß, mich für das Besorgte zu bedanken.

»Der Ruß!«, sagte Fräulein Degenhardt mit ihrer rauen, tiefen Stimme, sodass ich mich beeilte, das Fenster zu schließen. Doch ich blieb stehen, mit der Stirn an der Scheibe, um zuzuschauen, wie die beiden kleiner wurden – ein Punkt und ein Strich, dann verschwanden auch die.

Den Namen des Flusses, den wir nach der Ausfahrt aus der Halle überquerten, den kannte ich noch: die Spree. Das Wasser funkelte. Es war ein sonniger Tag. Parkanlagen. Der Reichstag mit seiner verkohlten Kuppel. Straßenfluchten. Eine belebte Allee. In einem Hof sah ich eine Frau beim Teppichklopfen. Auf einem Fensterbrett saß eine getigerte Katze mit weißem Latz und leckte sich die Pfote. Vor der Brandmauer eines mehrstöckigen Hauses balancierten zwei Männer in Arbeitskitteln auf einem Gerüst aus Leitern und pinselten an einem Hakenkreuz.

Ich hörte, wie sich Fräulein Degenhardt an ihrem Gepäck zu schaffen machte. Sie ließ die Kofferschließen schnappen. »Können Sie stricken?«, fragte sie.

Ich wandte mich zu ihr um, nickte höflich und setzte mich schweigend.

› 5 ‹

Zweieinhalb Tage waren es bis Moskau. Fünfzehn bis Wladiwostok. Die längste Bahnfahrt meines Lebens lag vor mir.

Wir hatten Berlin noch nicht hinter uns gelassen. Vor dem Fenster zogen die tristen Fassaden von immer ärmlicheren Vierteln an uns vorüber, als mir Fräulein Degenhardt den ersten Strang des wollweißen Garnes reichte, von dem ihr Koffer überquoll. Sie musterte mich mit dem gleichen Misstrauen wie meine Mutter einen Korb voll Zwetschgen auf dem Markt, wenn sie fürchtete, dass der Wurm drin war.

Eine neue Flut von Tränen stieg in mir auf, doch wenn ich eines von Vater gelernt hatte, dann nur nach innen zu weinen. Ich putzte mir die Nase, löste die Verschlingung, streifte mir die Wolle in die Winkel zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt sie meiner Begleiterin hin und lächelte zaghaft. Sie war jetzt der einzige Mensch, den ich noch kannte, wenn man von kennen reden kann. Ihre Lippen waren wie Gardinen gefältelt. Sie durchtrennte die Knoten und fing an zu wickeln. Das Garn war weicher, als es aussah, und glitt mir geschmeidig durch die Hände. Den dunklen Sprengseln nach zu urteilen hatten auch ein paar schwarze Schafe ihren Pelz dafür gegeben.

»Socken«, sagte sie, während sie den sechsten Knäuel zu den anderen legte. Es waren dicke, ebenmäßige Bälle, doch in ihren Händen wirkten sie klein. »So.« Mit der Handspanne deutete sie mir die gewünschte Länge an.

Zwölf Zentimeter, schätzte ich. Kindergröße. Ich schaute sie fragend an, doch statt einer Erklärung gab sie mir ein Dreieinhalber-Nadelspiel. Ich streifte den Gummiring ab und schlug die ersten Maschen an.

Irgendwo zwischen Hangelsberg und Fürstenwalde trockneten die ärgsten Tränen. Froh, nicht reden zu müssen, und dankbar für die Alltäglichkeit des Tuns, lauschte ich auf das Rattern der Räder unter mir und das Klicken der Nadeln. Ich ließ die Gedanken ziehen wie die Wolken am Himmel, wie die vorbeifliegende Landschaft. Die Wut auf den Vater. Die Angst um die Mutter. Das Grauen vor dem, was auf mich zukam und von dem ich nichts wusste. Nichts. Fichtenwälder. Berkenbrück. Jacobsdorf. Wir hatten das Abteil für uns.

In Frankfurt an der Oder sah ich einen Mann auf dem Bahnsteig stehen, dem ein Arm fehlte wie meinem Vater, doch darauf beschränkte sich die Ähnlichkeit. Bei ihm war es der andere, der rechte. Außerdem erinnerte er mich an »diesen unseligen Herrn von Schleicher«, über den er sich, wie es nun aussah, zu Recht so echauffiert hatte. Der gleiche Schnauzbart, das gleiche gutmütige Onkelgesicht.

Noch keine Woche lebte ich im Hause von Traunstein, als sein Foto auf dem Titelblatt des Völkischen Beobachters prangte. Ein Vaterlandsverräter sei er. Schwiegervater hatte uns den Bericht am Frühstückstisch vorgelesen, blass, mit bebender Stimme, was die Kaffeetasse in Mamás Hand so zum Zittern brachte, dass sie sie abstellen musste. Es habe eine Verschwörung gegeben, einen Putschversuch. Von Schleicher sei einer der führenden Köpfe gewesen. Der Name Röhm fiel und der von vielen anderen, Strasser, von Kahr, von Bredow, die ich, bis auf Röhm natürlich, denn der war SA-Chef, allesamt nur vage kannte.

Ich war so ahnungslos in allem, mit meinen achtzehn Jahren! Heute weiß ich, dass die nationalsozialistische Elite in der Woche vor meiner »Eheschließung« hinter den Kulissen eifrig die Strippen für eine große Säuberungsaktion gezogen hatte, an denen sie auch mich – nebenbei und selbst von ihnen unbemerkt – wie eine Marionette führten. Aber damals?

Man erfand die Mär von dem geplanten Umsturz aus dem Umfeld von Ernst Röhm, um Hitlers Macht zu sichern. Binnen Tagen wurden in der, wie sie später heißen sollte, »Nacht der langen Messer« an die neunzig unliebsame Personen beseitigt, darunter eben auch von Schleicher, der des Führers Vorgänger im Amt des Reichskanzlers gewesen war. Ernst Wilhelms Name war mit auf der Liste der zum Abschuss freigegebenen Männer. Dem Einfluss der Familie war es zu verdanken, dass man sie vor der Gefahr mit knappster Frist im Voraus gewarnt und Ernst Wilhelms Ausreise ermöglicht hatte.

Ja, heute weiß ich, dass man Ernst Wilhelm in aller Eile einen Auslandsposten im diplomatischen Dienst verschaffte, weil dieser noch nicht vollends gleichgeschaltet war. Ernst Wilhelm war vom Tod bedroht! Und natürlich hatte niemand ein Wort gesagt. Eines aber war dieser Lösung noch im Weg gewesen: dass er mit neununddreißig Jahren keine Frau an seiner Seite hatte. »Späte« Junggesellen waren generell suspekt. Unmöglich konnte er als solcher den vom Außenamt gestellten Anforderungen an Form und Anstand in einem Diplomatenposten genügen. Was lag da näher, als in der prekären Lage einem ehrgeizigen Mitarbeiter des von Traunsteinschen Unternehmens ein Angebot zu unterbreiten: meinem Vater! Träte seine Tochter, also ich!, noch am selben Tag mit dem Junior vor den Traualtar, bekäme er, der Vater, den vakant gewordenen Nachfolgerposten und obendrein die kleine Villa auf dem Firmenareal. Darum also fand ich mich im Kostüm und den zu großen Schuhen meiner Mutter vor dem Standesbeamten wieder – neben einem viel zu alten Mann, den ich nur vom Sehen bei der Firmenweihnacht kannte.

Aber keiner redete mit mir und erklärte mir die Gründe. Ich pflückte mir das Wissen um die Zusammenhänge einzeln wie bunte Blütenstängel von der Blumenwiese meines neuen Lebens und brauchte Jahre, sie zu einem Strauß zu fügen. Als ich ihn dann endlich, wie ich meinte, »fertig« in der Vase vor mir stehen sah und mich an seiner Wirkung freute, musste ich erkennen, dass ein paar große Rispen fehlten. Am Ende sah dann alles doch noch einmal völlig anders aus.

»Aber Ernst Wilhelm!«, entfuhr es mir, der damals noch so Ahnungslosen, an jenem Tag im Speisezimmer meiner Schwiegereltern. Ich war zu Tode erschrocken. »Er verkehrte doch auch in diesen Kreisen.« Vater hatte es so oft gesagt.

»Ernst Wilhelm hat mit diesen Leuten nichts zu tun!« Mein Schwiegervater, kreidebleich im Gesicht, blaffte mich an, dass ich zusammenfuhr, und warf mir einen vernichtenden Blick zu.

»Verzeihen Sie«, beeilte ich mich zu sagen, doch ich wusste, dass er nicht die Wahrheit sprach. »Ich dachte nur …«

»Mädchen sollten nicht denken, Elisabeth.« In seiner Stimme meinte ich die gleiche plötzliche Milde zu spüren wie bei Vater, wenn es gleich knallte. »Wie heißt es noch so schön? Mädchen, die denken, und Hähnen, die krähen, soll man beizeiten die Hälse umdrehen?« Er lachte über seinen eigenen Witz.

»Ich bitte dich, Theodor! Mach Elisabeth keine Angst.« Mit dem Frühstücksmesser in der Hand schaute Mamá ihn drohend an. »Und außerdem heißt es ›pfeifen‹.« Sie köpfte ihr Ei.

Als sich Wochen nach von Schleichers Tod der Zug mit einem Ruck in Bewegung setzte, kreuzte mein Blick einen Moment lang den dieses fremden Mannes, der ihm doch so ähnlich sah. Er hob den Hut und schenkte mir ein Lächeln. Mit einem kleinen Nicken erwiderte ich den Gruß. Was konnte er schon für von Schleicher? Ich mochte diese Freundlichkeit, mir einfach so Adieu zu sagen. Vater tat es nicht! Eine halbe Stunde vor meiner Abreise aus München hatte er vom Büro aus telefonieren und mir sagen lassen, dass er zu beschäftigt sei.

Während ich die Maschen für die Ferse meines ersten Strumpfes teilte, keimte plötzlich eine heimliche Freude in mir auf. Etwas Gutes hatte diese Ehe: Ich war von diesem Tyrannen befreit!

Lieber Gott, betete ich im Stillen. Bitte mach, dass Mutter seine Launenhaftigkeit nun nicht doppelt zu spüren bekommt. Bitte, halt über sie deine schützende Hand.

In Dirschau vernähte ich die Fäden an meinem ersten Paar Socken. Fräulein Degenhardt strickte bereits am Bündchen von Strumpf Nummer drei.

In Marienburg überquerten wir einen Fluss namens Nogat, der mich an Richards Konfekt erinnerte. Ich löste die Schleife und reichte Fräulein Degenhardt die Schachtel hin. Schweigend genossen wir je eine der köstlichen Pralinen in kleinen Bissen. Als ich sie schloss, dachte ich an Mutter, die jetzt Kisten packte.

An Tante Aglaia. Hoffentlich würde sie Sorge tragen, dass er Mutter nicht wegschloss. Wenn sie nicht arbeiten dürfte, das wäre ihr Tod.

»Was machst du für ein Gesicht?«, fragte Fräulein Degenhardt und reichte mir ein Butterbrot. »Danken wir Gott, dass wir bald aus diesem Land heraus sind.«

Der Schaffner kam, um die Sitze zu Betten umzubauen. Nachdem er gegangen war, blieb ich noch eine Weile auf dem Gang, das Fenster einen Spaltbreit geöffnet, doch die Luft roch nach Kohlen und Qualm. Am Morgen darauf tranken wir im Speisewagen einen schalen Kaffee. In Eydtkuhnen, an der russischen Grenze, wurden die Räder des Zuges gewechselt, denn die Strecke hatte von nun an eine breitere Spur. Wir aßen die ersten Blinis, gekauft von einem Händler am Perron. Sie waren köstlich.

Kurz vor Moskau hatte ich mein viertes Paar fertig. Fräulein Degenhardt war auf der Hälfte des fünften. Ich beschloss, mich zu sputen. Wir stachen unsere Nadeln tief in die Knäuel und packten zusammen. Es ging zur Transsibirischen Eisenbahn.

Als uns der Provodnik, ein drahtiger, sehr blonder Mann mit hängenden Lidern, wenig später die Türe zu dem Abteil aufhielt, in dem wir ganz Russland bis an die pazifische Küste durchqueren sollten, zog sich mir der Magen zusammen, so intensiv hing der Geruch von menschlichen Ausdünstungen und Reinigungsmitteln, von allerlei Verschüttetem und Essensgerüchen, von Maschinenfett und Staub, Staub, Staub in den gepolsterten Sitzen. Noch einmal bäumte ich mich innerlich auf. Gern wäre ich stehen geblieben wie ein störrischer Esel, noch lieber hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht, doch ich setzte mich stumm.

Wir waren noch nicht aus dem Bahnhof heraus, da schnippte Fräulein Degenhardt die Kofferschließen auf und brachte das Strickzeug zum Vorschein. Rückblickend betrachtet, glaube ich, die Normalität dieses Aktes hat mir die Nerven gerettet. Wir saßen bequem wie in einem Salon, so breit waren die Wagen in Russland. Bis kurz vor Wladiwostok klapperten, nein flogen unsere Nadeln, als wollten wir über die endlose Strecke von Berlin weg quer durch die unfassbaren Weiten Russlands ein einziges Band von Maschen bis ganz nach Osten zum Pazifik spannen.

Schon bald wurden mir das Ruckeln und Rattern der Räder zu einem zweiten Herzschlag, der in mir weiterpochte, selbst wenn wir, was vielleicht zwei- oder dreimal am Tag geschah, in eine Station einliefen und uns auf dem Perron die Beine vertraten oder uns bei den Händlern mit Essen versorgten. Meine Kleider, ja ich selbst, alles fing an, wie der Zug zu riechen, aber es machte mir nichts. Fünfzehn Tage lang lebte ich in diesem Abteil mit seinen dunkel getäfelten Wänden und den erstaunlich weichen Polstern wie in einem Schneckenhaus.Tagsüber war es ein Salon mit Aussichtsfenster, und abends, wenn der Provodnik mit tausendfach geübtem Griff die Lehnen von den Wänden klappte und die Laken spannte, wurde es zu einem Nachtquartier mit zwei richtig guten Betten, die weitaus bequemer waren als die schmale Pritsche, die ich von zu Hause kannte.

Zwar saß mir Fräulein Degenhardt von frühmorgens bis spätabends kerzengerade gegenüber, in ihrem schwarzen, bis zum Kinn hinauf mit kleinen stoffüberzogenen Knöpfen geschlossenen Kleid; die Stirnfalten senkrecht, wenn sie Maschen zählte, und quer, wenn sie strickte; das dünne Haar straff über die Kopfhaut gezogen wie einen Helm. Doch mit meinen Gedanken war ich allein. Nie habe ich einen Menschen erlebt, der so still war wie sie. Nicht nur, dass sie nur das Nötigste sprach. Sie hustete nicht, sie schnäuzte sich nicht, sie schnaufte nicht, sie schnarchte nicht. Selbst eine Katze war lauter.

Und so spie mein Hirn ungestört Tagträume aus wie das schwarze Ungetüm von Lokomotive ihre Dampfwolken in den Himmel blies. Dass ich mit Oberstleutnant von Almsbrunn noch vor dem Jawort geflohen und jetzt mit ihm auf dieser Reise wäre, war eine meiner liebsten Fantasien. Er sei nur in den Rauchsalon gegangen. Gleich käme er wieder. In solchen Momenten fing mein Herz an höherzuschlagen, und ich starrte lange auf die Tür.

Einmal schreckte ich im Morgengrauen mit der jähen Angst aus dem Schlaf, ich würde Ernst Wilhelm, wenn er mich abholen käme, nicht wiedererkennen. Sosehr ich mich mühte, ich vermochte nicht, seine Gesichtszüge in mir heraufzubeschwören. Die Erinnerung war einfach weg. Dann wiederum plagten mich unvermittelt in mir hochschwappende Wellen der Furcht, er sei verhaftet worden; man habe ihn erschossen wie von Schleicher. War er nun in diesem Zirkel oder nicht? Was, wenn ja? War er dann in Japan sicher?

Weite. Dieser Staub! Um seinetwillen mussten die Fenster geschlossen bleiben, sodass wir im Abteil schmorten wie Hühnchen im Ofen. Doch es half nichts, er knirschte zwischen den Zähnen. Ich trank Tee, der ebenfalls irgendwie staubig roch. Während meine Hände blindlings Masche um Masche über die Nadeln gleiten ließen, zog es meinen Blick wie magisch aus dem Fenster, stets in dem Gefühl, dass da draußen irgendetwas passieren müsse. Dass ein Reh aus dem Wald trete, ein Vogel auffliege. Doch es passierte nichts. Ich freute mich schon, wenn ich Birken sah. Sie waren heller, als ich sie kannte, silbriger. In kleinen Hainen erhoben sie sich vor der schwarzen Wand aus Fichten, am helllichten Tag wie vom Vollmond beschienen.

Und es gab andere kleine Freuden: die Dörrpflaumen, die Fräulein Degenhardt täglich frisch einweichte, und den Erfolg, den sie brachten. Die Blinis, die sie für uns an den Bahnhöfen kaufte. Dass sie in ihrer Umsicht einen Stöpsel für das Becken in dem Waschraum dabeihatte, den wir uns mit den Fahrgästen des angrenzenden Abteils teilten, zwei Journalisten aus England, die wohl nicht zuletzt wegen der Ehrfurcht gebietenden Präsenz meiner Reisegefährtin respektvollen Abstand zu uns hielten.

»Fräulein Degenhardt?«, fragte ich eines Abends, als wir nach einem Aufenthalt an einer namenlosen Siedlung gerade unsere Plätze eingenommen hatten. Ich erschrak über meine eigene Stimme, so lange hatte ich geschwiegen. »Kennen Sie eigentlich Ernst Wilhelm?«

Mit einem Garnstück band sie zwei fertige Socken zusammen und legte sie zu den anderen Paaren. Sie sah nicht aus, als wollte sie reden.

»Gab es eine andere Frau? Eine, die er liebte? Die ihn verschmähte? Die starb? Er ist neununddreißig, Fräulein Degenhardt. Es muss doch einen Grund geben, dass er nicht früher geheiratet hat.«

Etwas langsamer als gewöhnlich griff sie nach ihren Nadeln, ließ sie wieder sinken und fasste sich ans Kinn wie nach einem Frühstückshörnchen. Eine lange Weile saß sie da und schaute unverwandt zum Fenster hinaus. Dann fing sie an, Maschen aufzuschlagen. »Elisabeth«, sagte sie, auf ihrer Stirn die steilen Falten. »Elisabeth, Sie denken zu viel.«

Ich schaute in den violetten Himmel, bis der Provodnik kam, um unsere Betten zu richten. Wieder war ein Tag vergangen. Am nächsten Morgen fiel mir beim Waschen auf, dass mir am rechten Zeigefinger eine kleine, längliche Schwiele gewachsen war, an der Stelle, über die die Wolle glitt. Es war eines dieser Zeichen, die uns die ewig gleichbleibende Landschaft versagte – ein Zeichen, dass sich etwas änderte und dass die Zeit verging. Auch die Gesichter der Händler an den Bahnsteigen wurden breiter, die Augen schmaler. Die Frauen hatten schönes Haar, pechschwarz und zu dicken Zöpfen geflochten. Von Tag zu Tag wurde es früher hell, wir reisten mit Moskauer Zeit der Sonne entgegen. Wenn wir sie abends hinter uns ließen, starrte mir aus den dunklen Fenstern mein eigenes grübelndes Gesicht entgegen. Es wurde spitzer und spitzer.

»Er ist nicht unrecht«, sagte Fräulein Degenhardt eines Morgens in das Schweigen hinein. Wir tranken gerade unseren Tee. »Schon als Kind war er sanfter als andere Jungen.«

Mein Mund ging auf, ich hatte plötzlich tausend Fragen, doch sie hob die Hand wie ein Polizist auf der Kreuzung. Das Zeichen zum Stillsein.

Der Baikalsee. Die schiere Größe. Nebelschwaden trieben über dem Wasser wie Gespenster, Vorboten des nahenden Herbstes. Kein Wind warf eine Welle auf. Im Schleichgang, als dürften wir den schlafenden Riesen nicht wecken, zuckelten und ruckelten wir an seinem Ufer vorbei, ich weiß nicht mehr wie lange. Auch weiß ich nicht mehr, wann sich unter das unvergessliche Aroma der kleinen, wilden Zwetschgen, die man uns an Bahnhöfen durch die Abteilfenster reichte, ein süßlich strenger Geruch zu mischen begann, der bald alles durchdrang – der Gestank des Kameldungs, den die Leute als Material zum Heizen an die Böschungen des Gleisbetts zum Trocknen in die Sonne legten.

Inmitten der sich ständig wandelnden Fremdheit ergaben die Reisenden der ersten Klasse ein beinahe vertrautes Bild, das sich – von der Form der Kopfbedeckung einmal abgesehen – kaum von denen in der Heimat zu unterscheiden schien. Wie anders hingegen das Volk, das bei jedem Halt mit einer ranzig-tranigen Wolke von ungewaschenen Körpern und Kleidern aus den preiswerteren Enden des Zuges zu quellen schien. Gesichter waren darunter wie Knecht-Ruprecht-Masken, zum Fürchten selbst manche der Frauen. Einmal waren es Kerle mit ellenbreiten Schnurrbärten, ein andermal Männer mit Turbanen und im leuchtend blauen Kaftan, der ihnen bis zu den Knien reichte. Schwer wie Kohlensäcke quollen ihnen dicke Bäuche über die tief sitzenden Gürtel hervor.

In Harbin drängten sich chinesische Händler auf dem Bahnsteig, mit flachen Hüten, viel zu kurzen Hosen und unerhört langen Fingernägeln, krumm wie Türkensäbel und von gelblichem Braun.

Irgendwann, ich hatte längst aufgehört, damit zu rechnen – irgendwann war es so weit. Der Provodnik ging von Abteil zu Abteil. »Noch eine halbe Stunde bis Wladiwostok.«

Schnell zog ich den Faden durch die letzte Masche an der Spitze, schnitt ihn ab, vernähte ihn mit flinken Fingern, schnürte die beiden fertigen Socken zusammen und hielt sie triumphierend hoch. Mein dreiundzwanzigstes Paar! Fräulein Degenhardt fehlten noch fünf Zentimeter. Ich hatte gewonnen. Sie lächelte, zum ersten Mal auf dieser Reise.

»Für wen sind die Strümpfe?«, fragte ich.

»Die Kinder im Waisenhaus.« Und für einen Moment war ihre raue Stimme weich wie Honigmilch.

Ich nickte. In diesem Augenblick wünschte ich mir, dass irgendetwas den Zug aufhalten würde. Dass ein Hindernis uns die Schienen verlegte; oder besser noch, dass wir von einer Weiche auf eine andere Strecke gelenkt würden, die ins Nirgendwo führte. Dass ich ewig so weiterreisen könnte, strickend, schweigend, bloß um nicht anzukommen.

In nicht einmal einer Stunde würde Fräulein Degenhardt mich zur Fähre bringen. Zwei Tage und zwei Nächte würde ich an Bord des Schiffes von Wladiwostok nach Yokohama sein.

Und was dann?

IIHoffnung

› 1 ‹

Glaub mir, Karoline, mein Liebes, zwei Tage und zwei Nächte sind eine lange Zeit, wenn du sie an Bord eines Dampfers verbringst, auf dem kein Mensch deine Sprache spricht. In Ermangelung eines geeigneteren Begleiters hatte Fräulein Degenhardt mich in die Obhut eines japanischen Stewards übergeben, der eifrig nickte und sich noch eifriger verbeugte, als sie mich ihm anvertraute. Ich hatte nicht geahnt, dass sie Japanisch sprach. Der junge Mann wies mir mit Gesten, aber ohne Worte, den Weg in die Kabine und sorgte auch dafür, dass mein Gepäck dort zu mir fand. Er war sehr höflich, doch wenn er kam und nach mir schaute, wirkte er nicht minder kalt und unnahbar als die weiß gestrichenen Eisenwände dieses Schiffes. Wie das Salz an deren Oberfläche nagte, fraß sich ihm die Akne in die Wangen. Da wir uns nicht verständigen konnten, schauten wir uns nickend an – er mit großem Ernst und ich mit meinem besten künstlich aufgesetzten Sonntagslächeln. Ich war froh, wenn er verschwand.

Unter den Passagieren bildeten wir Europäer eine kleine Minderheit. Vielleicht ein Dutzend Engländer war mit an Bord und ebenso viele Franzosen, die wohl angesichts der Fremdheit der Umgebung im Schutze ihrer eigenen Leute blieben, als lebten sie in einem Ei. Sie schienen mich nicht sehen zu können, selbst wenn ihr Blick mich traf.

So war ich denn umringt von lauter Asiaten. Inmitten dieser seltsamen Menschen in ihren noch seltsameren Trachten und Gewändern fühlte ich mich nicht weniger entwurzelt, als wäre ich mit unbekanntem Ziel in einem Raumschiff durchs Weltall geflogen. Stunde um Stunde starrte ich dem Kielwasser nach, das die Fähre hinter sich herzog wie die Brautschleppe, die ich nie getragen hatte. Je mehr von ihr hinter dem Horizont versank, desto schwerer wurde mein Herz. Ich war noch nie so sehr allein gewesen.

Am Quai in Wladiwostok hatte ich Fräulein Degenhardt bis auf wenige Scheine den Rest meines Reisegelds für ihr Kinderheim geben wollen. Es war kein kleiner Betrag, wir waren sehr sparsam gewesen. Doch nach einem misstrauischen Blick in die umstehende Menge – sie hatte wohl Angst vor Dieben – schloss sie meine Finger schnell um den Umschlag, legte ihre großen, warmen Hände darüber und hielt mir die längste ihrer wenigen Reden. Ihre tiefe Stimme verlor dabei abermals die Rauheit. »Sei nicht dumm, Elisabeth. Behalte es. Solange du Geld hast, bist du frei, deine eigenen Wege zu gehen.«