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Deutschland ist eine Demokratie. Doch was heißt das eigentlich für jede*n Einzelne*n von uns? In diesem Buch werden Themen wie Teilhabe am politischen Geschehen und Meinungsfreiheit ebenso erörtert wie freie Wahlen und die Funktion eines Parlaments. Dabei geht es auch immer um einen Blick in Vergangenheit und Zukunft: Wie wurde die deutsche Demokratie das, was sie heute ist? Wie sahen die Ideen bedeutender Demokrat*innen aus und was haben sie bewirkt? Und ist die Demokratie gerade tatsächlich in Gefahr? Das Buch zeigt Möglichkeiten auf, wie es jungen Menschen gelingen kann, sie zu schützen. Carlsen Klartext - Komplexe und aktuelle Zusammenhänge, verständlich erklärt.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Deutschland ist eine Demokratie. Doch was bedeutet das überhaupt, für jede und jeden von uns? Wann nennen wir etwas demokratisch und wann nicht? Woran erkennen wir freie und faire Wahlen? Und wie sieht eigentlich die Arbeit unserer Abgeordneten im Bundestag aus? Der Journalist Jan Ludwig hat dabei immer auch Vergangenheit und Zukunft im Blick: Wie wurde unsere Demokratie das, was sie heute ist? Und was bringt sie in Gefahr? Dieses Buch zeigt auf, wie es gerade jungen Menschen gelingen kann, unsere Demokratie zu stärken.
Carlsen Klartext – Komplexe und aktuelle Zusammenhänge, verständlich erklärt.
Buch lesen
Quellen
Vita
Cover
Über das Buch
Wohin soll es gehen?
Einleitung
Kapitel 1 – Woran man Demokratien erkennt
Demokratie vs. Diktatur – Vertrauen gegen Angst
Kapitel 2 – Im Supermarkt und auf der Straße I: Wo uns Demokratie im Alltag begegnet
Demokratie global …
… und Demokratie lokal
Was also tun?
Kapitel 3 – Von der Agora zum Wahl-O-Mat: Eine kurze Geschichte der Demokratie
Die Demokratie in der Antike
Die Demokratie in Mittelalter und Früher Neuzeit
Die Demokratie in der Moderne
Kapitel 4 – Die Macht der drei Gewalten: Wie eine Demokratie aufgebaut ist
Exekutive: Die ausführende Gewalt
Das höchste Amt im Staat
Andere Länder, andere Systeme
Direkte Demokratie: Das Beispiel Schweiz
Legislative: Die gesetzgebende Gewalt
Die Woche eines Bundestagsabgeordneten
Die Opposition: Mehr als einfach nur dagegen sein
Lobbyismus und Korruption
Judikative: Die richtende Gewalt
Am Rande des Rechtsstaats
Kapitel 5 – Einmal kreuzweise: Wie Wahlen funktionieren
Zahlen nach Wahlen
Wahlsysteme im Überblick
Mit Wahlschein zur Scheinwahl
Was eine Wahl demokratisch macht …
… und was eine Wahl undemokratisch macht
Keine halben Sachen mehr: die Einführung des Frauenwahlrechts
Kurioses rund um Wahlen in aller Welt
Kapitel 6 – Die vierte Gewalt: Warum freie Medien unerlässlich sind
Demokratie digital: Internet und Social Media
Der Kampf gegen Fakes
Kapitel 7 – Sechs Zutaten für eine funktionierende Demokratie
Gleichheit und Solidarität
Vertrauen und Misstrauen
Sicherheit und Freiheit
Kapitel 8 – Im Supermarkt und auf der Straße II: Wie Probleme demokratisch gelöst werden
Demokratie global …
… und Demokratie lokal
Kapitel 9 – Wie man Argumenten gegen die Demokratie begegnet
Behauptung: »Demokratien sind langsamer.«
Behauptung: »Demokratien sind zerbrechlich(er).«
Behauptung: »Demokratie oder Diktatur: So anders sind die doch nicht.«
Kapitel 10 – Was Demokratien gefährdet – und wie man sie schützen kann
Klimakrise
Desinteresse
Machtmissbrauch und Machtkonzentration
Populismus
Extremismus und Terrorismus
Kapitel 11 – Wie Demokratien untergehen
Kapitel 12 – Wie du dich in der Demokratie engagieren kannst
Auf eine Demo gehen
Wählen gehen
Als Wahlhelfer melden
Einen Abgeordneten im Parlament besuchen
In einem Jugendbeirat aktiv werden
An einem EU-Jugendseminar teilnehmen
Bei einem UN-Planspiel mitmachen
In eine Partei oder deren Jugendverband eintreten
Schöffe werden
Einen Verein gründen
Nicht schweigen und widersprechen
Schlussgedanken
Quellen
Jan Ludwig
Impressum
Es klingt, als wäre dieses Land besonders demokratisch: Alle Bürgerinnen und Bürger genießen Meinungsfreiheit, heißt es in Artikel 67 der Verfassung. Sie dürfen frei reisen, verspricht Artikel 75. Eine Volksversammlung erlässt Gesetze, behauptet Artikel 91.1
Eine Demokratie, wie man sie sich wünscht? Von wegen. Was hier beschrieben wird, ist das Land Nordkorea, eine der brutalsten Diktaturen der Welt. Nirgends werden Menschen so sehr in ihrer Freiheit beschränkt wie in dem Staat am östlichen Rand Asiens. Vielen Menschen in Nordkorea fehlt es an allem – von genügend Essen2 bis zum Internetzugang.3 Das Regime lässt die Bevölkerung leiden und isoliert sie von der Außenwelt.4 »Demokratische Volksrepublik Korea«: So heißt das Land offiziell, und schon der Name ist eine Lüge.
Dieses Buch beginnt mit einem kurzen Ausflug nach Nordkorea, weil es heute viele Länder, Parteien und selbst Terrorgruppen gibt, die sich zwar demokratisch nennen. Sie sind es aber nicht.
Aber was genau macht dann eine Demokratie aus? Wann nennen wir etwas demokratisch und wann nicht? Sind echte Demokratien einfach alle Länder, in denen gewählt wird? Und sind Wahlen immer demokratische Entscheidungen? Warum nennen wir dann manche Entscheidungen gewählter Regierungen undemokratisch? Und ist die Demokratie überhaupt die beste aller Regierungsformen?
All diese Fragen werden in diesem Buch behandelt. Es geht um Stimmzettel ohne Kästchen zum Ankreuzen, um TikTok und Volksentscheide, um Populismus, Tempo 30 und die Bundeswehr. Es wird erklärt, warum Abgeordnete im Bundestag oft nicht an ihrem Platz sitzen und was Schokolade mit Demokratie zu tun hat.
Eine Demokratie, so viel sei schon verraten, ist in jedem Fall mehr als Parlamentssitze, Gerichtsgebäude und Wahlkabinen. Demokratie wird nur dann zu einer, wenn sie auch gelebt wird. In diesem Buch werden deshalb auch Menschen vorgestellt, die sich für die Demokratie eingesetzt haben. Es sind Menschen aus der Vergangenheit und der Gegenwart, Erwachsene und Jugendliche, aus deutschsprachigen Ländern und dem Rest der Welt. Unter diesen »Gesichtern der Demokratie« sind Menschen, die nicht geschwiegen haben, als demokratische Werte verraten wurden, die ihre Freiheit aufs Spiel setzen oder gar ihr Leben, die den Hass überwanden und demokratische Brücken bauen. Wie sie das taten, erfahrt ihr in diesem Buch.
Was bedeutet das eigentlich: Demokratie? Im Alltag haben wir eine ziemlich gute Vorstellung davon, was wir demokratisch finden und was nicht. »Demokratie ist, wenn alle mitbestimmen dürfen« – diesen Satz hört man oft, auch von Kindern.5
So definiert, ist Demokratie also einfach ein anderes Wort für Mitbestimmung. Diese Art von Demokratie begegnet uns an vielen Orten im Alltag. Zum Beispiel in der Schule, wenn die Klassensprecher gewählt werden. In der Stadt, wenn die Hauptstraße wegen einer Demo gesperrt ist. Oder im Verein, wenn ein neuer Vorstand gesucht wird. Immer will eine Gruppe von Menschen – Schülerinnen und Schüler, Demonstranten, Vereinsmitglieder – mitentscheiden, was getan wird und was nicht.
Auch beim Sport gibt es demokratische Mitbestimmung. Spielergewerkschaften setzen sich im Fußball oder Handball dafür ein, dass alle fair behandelt werden, auch in den unteren Ligen. Und selbst in der Wirtschaft gibt es demokratische Strukturen. In großen Unternehmen passen gewählte Betriebsräte auf, dass niemand ausgebeutet wird. In einer funktionierenden Demokratie gibt es diese Mitbestimmung auch in der Politik, auf allen politischen Ebenen: vom Gemeinderat bis zum Bundestag.
Das Gegenstück zur Demokratie ist die Diktatur. In dieser Regierungsform gibt es kaum oder gar keine echte Mitbestimmung. Entschieden wird von oben herab. Widerspruch wird unterdrückt, oft sogar gewaltsam. Ein anderes Wort für Diktatur ist »Autokratie«, was wörtlich »Selbstherrschaft« bedeutet. Diktatoren üben ihre Macht unbeschränkt aus, denn anders als in einer Demokratie regiert das Volk nicht oder nur sehr begrenzt mit.6 Manchmal werden Diktaturen auch als »autoritäre Systeme« bezeichnet. Damit wird betont, dass ein Machthaber die demokratische Konkurrenz einschränkt oder nicht zulässt.7
Zwischen einer perfekten Demokratie und einer voll ausgeprägten Diktatur gibt es natürlich Abstufungen. Und die kann man tatsächlich messen. Die Rechercheabteilung EIU der britischen Mediengruppe »The Economist Group«, das Institut V-Dem im schwedischen Göteborg und andere bewerten anhand verschiedener Merkmale, wie demokratisch die Länder der Welt sind.8 Dabei prüfen sie zum Beispiel:
– Gibt es ein frei gewähltes Parlament?
– Kann die Justiz frei von staatlichem Druck Urteile fällen?
– Können Medien frei arbeiten?
– Ist das Internet frei nutzbar, oder gibt es eine weitreichende staatliche Zensur?
– Gibt es wirksame Gesetze gegen Korruption?
– Wie hoch sind die Chancen der politischen Konkurrenten, bei der nächsten Wahl Stimmen zu gewinnen oder sogar an die Macht zu kommen?
In Einzelheiten unterscheiden sich diese Ranglisten. Aber die Tendenz ist klar. An der Spitze der Rankings stehen Demokratien wie Norwegen und die Schweiz, am unteren Ende Länder wie Nordkorea, China und Afghanistan. Deutschland landet in den Top 20.
In Demokratien leben Menschen im Durchschnitt länger9, sie sind glücklicher10 und wohlhabender.11 Demokratien führen auch fast nie Krieg gegeneinander. Und doch leben weniger als die Hälfte der Menschen auf der Welt in einer Demokratie.12 Umso wichtiger ist es, den Wert der demokratischen Errungenschaften zu schätzen und die Demokratie zu schützen.
Stell dir vor, du wachst morgens an deinem 18. Geburtstag auf. Woran denkst du als Erstes? Vermutlich an Geschenke, klar. Vom Staat bekämst du auch etwas, nämlich das Recht zu wählen – jedenfalls in fast allen Demokratien der Welt. Aber nicht in China. Dort würdest du nie deine Stimme für den Präsidenten abgeben können, denn es gibt keine landesweiten, freien Wahlen.13 Sicher würdest du dich auch auf Glückwünsche freuen, bei Instagram, WhatsApp oder Facebook. In China könntest du da lange warten: Dort sind alle drei Dienste von der staatlichen Zensurbehörde gesperrt.14
Stell dir nun vor, du müsstest am Tag nach deinem Geburtstag eine Prüfung schreiben, du wärst aber nicht gut vorbereitet, denn die Party ging lang. Schnell noch mal bei Wikipedia nachlesen? Keine Chance. Die Website ist in China gesperrt.15 Aber wenigstens ein Chatbot mit künstlicher Intelligenz wird doch helfen, oder? In China könntest du es mit ERNIE probieren, so heißt das chinesische Gegenstück zu ChatGPT.16
Aber wehe, du bereitest dich auf ein Referat in Geschichte vor und fragst den KI-Chatbot danach, was am 4. Juni 1989 in Peking geschah. »Wechsle das Thema und fang noch mal neu an«, würde dir das Programm antworten. Der Grund: Die chinesische Armee schoss damals auf Demonstranten, Hunderte oder vielleicht sogar Tausende Menschen wurden getötet. Genau weiß man es nicht, weil das Thema in China tabu ist. So tabu, dass selbst Chatbots zensiert programmiert werden. Diktaturen sperren Menschen ein – und die Wirklichkeit aus.
Zum Glück war all das für dich nur ein Albtraum, denn wenn du dieses Buch gerade liest, lebst du wahrscheinlich in einer Demokratie. Für 18-jährige Chinesinnen und Chinesen ist all das leider Alltag.17
Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Diktatur ist die friedliche Übertragung der Macht. Die Erlaubnis, uns zu regieren, verleihen wir in einer Demokratie immer nur auf Zeit. Den Bundestag wählen wir alle vier Jahre, eine Bürgermeisterwahl findet alle fünf bis zehn Jahre statt. In demokratischen Wahlen gibt es immer Verlierer und Gewinner. Die Unterlegenen müssen ihre Macht abgeben, leben aber sonst danach ein normales Leben. Sie können darauf vertrauen, dass ihnen der Staat und ihre politischen Konkurrenten nichts antun.
Anders in einer Diktatur: Eine friedliche Übertragung der Macht – gegen den Willen des Herrschers – ist in der Regel nicht möglich. Diktatoren herrschen oft so lange, bis sie ihre Macht an einen ausgesuchten Nachfolger übertragen, eines natürlichen Todes sterben – oder getötet werden. Der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi wurde 2011 von Aufständischen umgebracht. Der irakische Machthaber Saddam Hussein wurde nach dem Einmarsch der USA 2003 gestürzt, später von Irakern zum Tode verurteilt und gehängt. Während der rumänischen Revolution im Jahr 1989 wurde der diktatorisch regierende Nicolae Ceauşescu nach einem kurzen Schauprozess vor einem sogenannten Standgericht zusammen mit seiner Frau erschossen. Die Aufzählung könnte man fortsetzen. Die Diktatoren anderer Regime landeten oft im Gefängnis oder flohen aus ihrem Land, um sich anderswo zu verstecken.
Diktatoren leben gefährlich, schon während ihrer Amtszeit, aber auch danach. Ihr ganzes System beruht auf Angst. Diktatoren haben Angst vor einem Putsch des Militärs, sie haben Angst vor Konkurrenten aus den eigenen Reihen oder vor einem Aufstand des Volkes. Normale Bürgerinnen und Bürger fürchten sich wiederum vor dem Staat, der Polizei, den Gerichten, dem Geheimdienst. In Diktaturen werden Menschen willkürlich festgenommen und verurteilt, gefoltert oder sogar umgebracht. Und der Geheimdienst? Fürchtet sich oft vor sich selbst. Manchmal bespitzelt er sogar Mitglieder der eigenen Regierung, wie in der DDR geschehen.18
Eine Diktatur funktioniert dann am besten, wenn alle sich voreinander fürchten. Bis zum Irrsinn betrieben hat das Josef Stalin, der in der Sowjetunion von 1924 bis 1953 herrschte. Aus Angst ließ Stalin nicht nur politische Gegner, sondern auch einen Großteil seiner Generäle, eigene Parteikollegen und sogar seinen Arzt verhaften, foltern, ins Lager bringen oder erschießen. Seine Angst könnte ihm sogar das Leben gekostet haben. Denn als Stalin im März 1953 einen Schlaganfall erlitt, traute sich lange niemand, ihn zu wecken oder schnell einen Arzt zu rufen. Sein Umfeld fürchtete, Stalin könnte sich wegen falscher Behandlung an ihnen rächen.19 Die Angst der Diktatoren kann also tödlich sein.
Während eine Diktatur auf Angst gründet, beruht eine Demokratie ganz wesentlich auf Vertrauen: Vertrauen in den Staat, Vertrauen in die Regierung, Vertrauen in die Zivilgesellschaft, Vertrauen in Medien. Minderheiten in der Bevölkerung vertrauen darauf, dass sie von Gesetzen geschützt werden. Die Opposition weiß, dass sie bei den nächsten Wahlen wieder antreten kann und keine Verfolgung fürchten muss. Und der Staat vertraut auch seinen Bürgerinnen und Bürgern.
Das Vertrauen ist in einer Demokratie aber nicht grenzenlos. Auch ein gesundes Misstrauen gehört dazu. Die Aufteilung staatlicher Macht in eine Regierung, ein Parlament und ein Justizsystem ist zum Beispiel eine Form von permanentem Misstrauen. Machtübertragung? Ja, bitte! Aber bitte nicht zu viel Macht auf einmal. Und vor allem nicht auf Dauer. Falls sich zum Beispiel Politiker als korrupt herausstellen oder auch nur der Verdacht besteht, verlieren sie oft ihr Amt. Deshalb haben Politikerinnen und Politiker auch in einer Demokratie Angst, zumindest an einem Tag: Am Wahlabend fürchten sie, ihr Amt zu verlieren oder keinen Sitz mehr im Parlament zu bekommen.
Würde sie noch in Deutschland wohnen, wäre Maria Kalesnikawa heute in Freiheit. Sie könnte weiter Querflöte spielen, so, wie sie es viele Jahre lang getan hat. Aber Kalesnikawa lebt nicht mehr in Stuttgart, wo sie studiert und gearbeitet hat. Die Musikerin ging zurück nach Belarus, in ihr Heimatland, um etwas zu verändern. Denn dort herrscht seit rund drei Jahrzehnten Alexander Lukaschenko wie ein Diktator.
Im Jahr 2020, einige Monate vor der Präsidentschaftswahl in Belarus, fing Maria Kalesnikawa an, sich politisch zu engagieren: für ein freies, demokratisches Belarus. Sie leitete das Wahlkampfteam für einen Gegenkandidaten zu Machthaber Lukaschenko.20 Doch der Kandidat wurde verhaftet. Genauso wie andere, die bei den Wahlen antreten wollten.21 Was dann geschah, war für Belarus historisch: Zum ersten Mal taten sich drei Politikerinnen der Opposition, eine davon Kalesnikawa, zusammen. Gemeinsam kämpften sie gegen Lukaschenko, stellvertretend für die inhaftierten Kandidaten.22 Kalesnikawas Markenzeichen: das Herz-Symbol, geformt aus ihren Fingern.23
Doch die Wahlen in Belarus im Sommer 2020 waren weder fair noch frei. Am Wahltag selbst wurde die Auszählung gefälscht.24 Am Ende hieß der angebliche Sieger wieder: Alexander Lukaschenko.
Hunderttausende protestierten in den Tagen nach der gefälschten Wahl auf den Straßen des Landes. Polizeikräfte knüppelten die Demonstrierenden nieder, schossen sogar mit scharfer Munition. Zehntausende wurden festgenommen. Wenige Wochen danach wurde Kalesnikawa auf der Straße entführt. Lukaschenkos Schergen versuchten, sie gewaltsam aus dem Land zu werfen. Sie fuhren sie bis an die Grenze zur Ukraine. Dort angekommen, zerriss Kalesnikawa ihren Pass – und konnte so nicht mehr die Grenze passieren.25 Sie wollte in ihrem Geburtsland Belarus bleiben, schließlich war das auch ihr Land.
Ihren Widerstand, ihren Willen, im Land zu bleiben, bezahlte Kalesnikawa mit einem hohen Preis. In einem Schauprozess wurde sie zu elf Jahren Haft verurteilt, unter anderem wegen »Gefährdung der nationalen Sicherheit«.26 Seither sitzt sie im Gefängnis, lange sogar in Isolationshaft. Aus der Gefangenschaft heraus hat sie seit Monaten keinen Kontakt zu ihren Angehörigen. Sie verlor 15 Kilo Gewicht und wurde wegen eines Magengeschwürs notoperiert.27
Geschichten wie die von Maria Kalesnikawa gibt es in Belarus zuhauf. Rund 1400 politische Gefangene hat das Regime in seiner Gewalt.28 Für Kalesnikawa erheben jetzt andere ihre Stimme, darunter ihre Schwester Tatsiana. Sie wohnt im Exil. Wo immer Tatsiana im Namen ihrer Schwester öffentlich auftritt, bei Preisverleihungen, Demonstrationen oder Filmvorführungen, trägt sie ein Foto von Maria in den Händen. Darunter der Hashtag #FreeKalesnikava. Hat Tatsiana beide Hände frei, macht sie die Geste ihrer Schwester: ein Herz.
Demokratie setzt also voraus, dass Menschen mitbestimmen können. Leider ist das nicht immer und überall der Fall. Die folgenden zwei Beispiele zeigen, wie Menschen, die mit den Zuständen unzufrieden waren, mehr Mitbestimmung einforderten.
Wusstest du, dass in Schokolade oft Kinderarbeit steckt? Seit Jahrzehnten prangern internationale Organisationen das an. Kakao wächst auf Plantagen, vor allem in Ghana und der Elfenbeinküste. Dort arbeiten mehr als 1,5 Millionen Kinder.29 Ein Großteil von ihnen schuftet unter gefährlichen Bedingungen: Sie versprühen Pestizide ohne Schutzkleidung, hantieren mit Macheten oder tragen die schweren Säcke mit Kakaobohnen. Und da sie so viel arbeiten, können sie nicht zur Schule gehen, obwohl jedes Kind ein Recht auf Bildung hat.30
Die Kakaobauern sind oft so arm, dass sie Kinder auf den Plantagen beschäftigen. Von dem, was wir für eine Tafel Schokolade bezahlen, kommen nur ein paar Cent bei den Bauern an.31 Die großen Schokoladenkonzerne haben sich zwar vor mehr als 20 Jahren dazu verpflichtet, die Kinderarbeit zu überwinden. Aber seither ist viel zu wenig passiert. Die Kinder von damals haben heute selbst Kinder, die vielleicht wieder in den Kakaoplantagen arbeiten.
Bestimmt hast du schon mal ein Verkehrsschild gesehen, auf dem »Freiwillig 30« zu lesen ist. Vielleicht hängt sogar eines in der Straße, in der du wohnst, vielleicht auch vor dem Schwimmbad oder dem Kino. Hast du dich mal gefragt, warum dort der Zusatz »Freiwillig« steht – und nicht einfach nur eine 30? Warum wird das nicht gesetzlich geregelt, wie sonst so vieles in Deutschland?
Die Antwort ist einfach: Weil es verboten ist. Dörfer und Städte dürfen nicht immer selbst entscheiden, welches Tempolimit auf ihren Straßen gilt.32 Laut Straßenverkehrsordnung gilt ein Tempolimit von 50 km/h in Ortschaften.33 Ausnahmen an größeren Straßen gibt es nur wenige, etwa vor Schulen.34 Auch wo es viele Unfälle gab oder die Gesundheit der Anwohner gefährdet ist, darf Tempo 30 eingeführt werden. Die »Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs«35 muss gewährleistet sein. So will es wörtlich das Gesetz. Oder anders gesagt: Im Zweifel für das Auto.
Reguläre Schilder dürfen die Gemeinden also nicht einfach so aufstellen. Deshalb hängen manche Privatpersonen Schilder auf, die man einfach googeln und ausdrucken kann: »Freiwillig 30 – der Kinder wegen« oder »Freiwillig 30 – wegen uns«, in Gelb gehalten, mit Kindern drauf. Doch diese Schilder sind juristisch ein bisschen heikel.36 Den amtlichen Verkehrszeichen dürfen sie nämlich nicht zu ähnlich sehen. Auf vielen Straßen in Deutschland brettern also weiterhin Lastwagen und Autos mit 50 km/h durch die Stadt. Für viele Anwohner an Hauptstraßen ist das nervig. Und vor allem für Kinder auch gefährlich.
Diese beiden Fälle zeigen, wie oft uns Politik im Alltag begegnet. Was das Ganze mit Demokratie zu tun hat? Sehr viel! In der Demokratie ist das ganz Große oft mit dem ganz Kleinen verbunden. In der Demokratie haben wir Einfluss auf das, was passiert. Wir können uns jeden Tag entscheiden, etwas zu tun, was die Welt ein bisschen demokratischer macht. Und genau das ist hier auch passiert: Sowohl bei der Schokolade als auch bei Tempo 30 wurden in den vergangenen Jahren viele Menschen aktiv. Sie setzten sich auf ganz verschiedene Weise dafür ein, die Welt zu verändern, im Kleinen wie im Großen.
Wenn du magst, kannst du ein bisschen schummeln und bis Kapitel 8 vorblättern. Dort wird beschrieben, wie die Probleme demokratisch angegangen wurden, und welche Gruppe welchen Hebel ansetzte, um den Stein ins Rollen zu bringen. Oder aber du liest erst mal in diesem Buch nach, wie eine Demokratie funktioniert. Du hast also – wie könnte es in einem Buch über Demokratie auch anders sein – die Wahl!
Mit einem Haufen Scherben fing alles an. Zu Tausenden versammelten sich die männlichen Bürger von Athen auf der Agora, dem staubigen Marktplatz der Stadt. Sie kamen, um zu wählen. Papier war im 5. Jahrhundert vor Christus noch nicht erfunden, Pergament zu teuer. Also nahmen die Athener Tonscherben in die Hand und ritzten einen Namen in die Scherbe. Oder besser: ließen ritzen, denn einige von ihnen konnten weder lesen noch schreiben. Die Scherben wurden anschließend gesammelt und gezählt. Dann wurde das Ergebnis verkündet.
Das antike Athen gilt als Musterbeispiel einer frühen Demokratie.37 Schon damals, vor rund 2500 Jahren, gab es Beamte, die die Stadt verwalteten, es gab Richter, es gab eine Volksversammlung.38