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Ende des siebzehnten Jahrhunderts besiedelten die sogenannten Donauschwaben die pannonische Tiefebene. In beinahe zwei Jahrhunderten bewirtschafteten sie das Land und brachten es zur Blüte. Noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurden jedoch fast alle deutschstämmigen Bürger im Kollektiv zu Kriegsverbrechern erklärt, enteignet und verfolgt. Marlenes Vater wurde damals in ein russisches Arbeitslager verschleppt, sie, ihre Mutter und Großmutter kamen in ein serbisches Internierungslager, wo sie Hunger und der Gewalt der serbischen Partisanen ausgesetzt waren, bis ihnen nach zwei Jahren Gefangenschaft die Flucht nach Österreich gelang. Siebzig Jahre nach diesen Ereignissen erreicht ein Brief aus Serbien die heute achtzigjährige Marlene. Dieser Brief ist für Marlene Anlass, mit ihrer Tochter Klara eine Reise ins Gebiet der Vojvodina zu unternehmen, um die Orte ihrer Vergangenheit zu besuchen. Die Geschichte dieser Reise in die Vergangenheit ist die Erinnerung an das vergessene, vielfach verdrängte Schicksal der Donauschwaben im ehemaligen Jugoslawien in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel einer von Zehntausenden unschuldigen Familien, die mit der sich abzeichnenden Niederlage des Dritten Reiches zur kriminellen Minorität erklärt wurden und ihren Anspruch verloren, im sozialistisch-föderativen Jugoslawien zu bleiben. Das Buch erzählt von einer Versöhnung zwischen Menschen, die einander nie gehasst haben, von einer Wiederbegegnung, die Jahrzehnte früher hätte stattfinden sollen und die nun, im Lebenswinter der Protagonistinnen, umso wertvoller wird.
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Seitenzahl: 377
Veröffentlichungsjahr: 2016
Cover
Impressum
Autorin und Klappentext
Titelseite
Buchanfang
Literaturverweise und Danksagung
Leseproben
Corinna Antelmann - Hinter die Zeit
Corinna Antelmann - VIER
Jürgen Bauer - Das Fenster zur Welt
Jürgen Bauer - Was wir fürchten
Isabella Feimer - Der afghanische Koch
Isabella Feimer - Zeit etwas Sonderbares
Gudrun Büchler- Unter dem Apfelbaum
Tobias Sommer - Jagen 135
Sabine Hunziker - Flieger stören Langschläfer
Gabriele Vasak, Den Dritten das Brot
© 2016, Septime Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Zeus E. Jungrecht
Umschlag: Jürgen Schütz
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: 978-3-903061-40-8
Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN: 978-3-902711-55-7
www.septime-verlag.at
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Gabriele Vasak
wurde 1963 in Wien geboren. Sie arbeitet als freie Journalistin und Schriftstellerin. Von ihr erschienen bislang mehrere Romane, Sachbücher und Lyrikbände. Zuletzt der Roman Sowieso allein (2009) und der Lyrikband Dunkelweiß: Über die vermeintliche Liebe (2012). Für ihren Artikel »Kleine Welt«, eine literarische Skizze über Demenz, erhielt sie 2009 den »Prälat-Leopold-Ungar-Journalistinnen-Anerkennungspreis«. Den Dritten das Brot ist Gabriele Vasaks erster Roman bei Septime.
Klappentext:
Ende des siebzehnten Jahrhunderts besiedelten die sogenannten Donauschwaben die pannonische Tiefebene. In beinahe zwei Jahrhunderten bewirtschafteten sie das Land und brachten es zur Blüte. Noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurden jedoch fast alle deutschstämmigen Bürger im Kollektiv zu Kriegsverbrechern erklärt, enteignet und verfolgt.
Marlenes Vater wurde damals in ein russisches Arbeitslager verschleppt, sie, ihre Mutter und Großmutter kamen in ein serbisches Internierungslager, wo sie Hunger und der Gewalt der serbischen Partisanen ausgesetzt waren, bis ihnen nach zwei Jahren Gefangenschaft die Flucht nach Österreich gelang. Siebzig Jahre nach diesen Ereignissen erreicht ein Brief aus Serbien die heute achtzigjährige Marlene. Dieser Brief ist für Marlene Anlass, mit ihrer Tochter Klara eine Reise ins Gebiet der Vojvodina zu unternehmen, um die Orte ihrer Vergangenheit zu besuchen.
Die Geschichte dieser Reise in die Vergangenheit ist die Erinnerung an das vergessene, vielfach verdrängte Schicksal der Donauschwaben im ehemaligen Jugoslawien in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel einer von Zehntausenden unschuldigen Familien, die mit der sich abzeichnenden Niederlage des Dritten Reiches zur kriminellen Minorität erklärt wurden und ihren Anspruch verloren, im sozialistisch-föderativen Jugoslawien zu bleiben.
Das Buch erzählt von einer Versöhnung zwischen Menschen, die einander nie gehasst haben, von einer Wiederbegegnung, die Jahrzehnte früher hätte stattfinden sollen und die nun, im Lebenswinter der Protagonistinnen, umso wertvoller wird.
Gabriele Vasak
Den Dritten das Brot
Roman | Septime Verlag
Für meine Mutter
1
Die Nacht war sternenlos, der Knall gegen die Stoßstange dumpf, die Blutspritzer auf der Windschutzscheibe spärlich, ein Hundeleben in Serbien ist schnell zu Ende, ein Menschenleben auch. War es zumindest vor siebzig Jahren, als Klaras Urgroßmutter im Alter von achtundfünfzig Jahren in einem serbischen Internierungslager starb wie eine kranke Fliege – verhungert und liegen gelassen im Dreck, dann weggeräumt und verscharrt in einem Massengrab, dachte Klara, als sie die unbedeutende Irritation des Fahrens wahrnahm. Alles in Ordnung, Mama?, fragte sie schnell, doch sie überlegte keinen Moment lang stehen zu bleiben, ihre Mutter und sie allein unterwegs in dieser pechschwarzen Nacht in einem Land, das sie bisher nur von deren Erzählungen und aus Zeitungsberichten über die Jugoslawienkriege kannte, ein Land, das ihr fremd war und dem sie sich trotzdem verbunden fühlte, zumindest seit jener Zeit, da die Mutter zu sprechen begonnen hatte, Jahrzehnte, nachdem alles passiert war, erst, nachdem der Brief gekommen war.
Jener Brief einer gewissen Vera war in Mamas Leben gefallen wie ein Stein in ruhig dahinfließendes Gewässer, darin war die Rede von Gemälden, Nippes und Porzellan, die Klaras Großmutter im Jahr 1945 bei Veras Eltern untergebracht hatte, Dinge, die, wie Vera schrieb, man zwar entbehren kann, die aber das Leben schöner machen, Dinge, die sie nach all den Jahren der Familie, der sie gehörten, zurückgeben wollte, nachdem sie nach langen, intensiven Recherchen den nunmehrigen Wohnort und die genaue Adresse von Klaras Mutter in Wien ausfindig gemacht hatte.
Penibel waren in dem Schreiben jene Gegenstände aufgelistet, die Vera, nachdem ihre Mutter gestorben war, weiter sorgsam aufbewahrt hatte, als Eigentum einer Familie, die allein ihrer Herkunft wegen beraubt, verfolgt und in Lager gesteckt worden war.
Warum hatte Mama, die all das als Kind von neun, zehn, elf Jahren erfahren hatte, so viele Jahre nie darüber geredet, überlegte Klara, sie erinnerte sich nur daran, dass die Mutter ihr kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag wortlos einen Bericht überreicht hatte, den sie selbst im Alter von dreizehn Jahren über die scheinbar unaussprechlichen Ereignisse in der Vojvodina während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst hatte.
Die Gräuel dieser Zeit in jenem Land waren darin in nüchterner Sprache beschrieben, die Mutter nannte auch Zahlen und Fakten, woher sie all diese Informationen hatte und was in ihr selbst vorgegangen sein mochte, während sie darüber schrieb, war Klara ein Rätsel. Sie jedenfalls hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur gewusst, dass Mamas aus Deutschland stammende Vorfahren zu Zeiten Maria Theresias in das Gebiet des heutigen Serbien ausgewandert, die Familie seitdem in der Vojvodina ansässig und ehemals sehr begütert gewesen war, und es sie im Zuge der Kriegswirren nach Österreich verschlagen hatte.
Mit diesem trockenen Bericht, der wohl auch eine Art Initiationsgeschenk der Mutter an sie gewesen sein mochte, hatte sie erst erfahren, dass im November 1944 auf Beschluss der Kommandantur der Volksbefreiungsarmee alle in Jugoslawien lebenden Menschen deutscher Volkszugehörigkeit zu Volksfeinden erklärt worden waren, Feinden, denen die jugoslawische Staatsbürgerschaft entzogen wurde und die alle Rechte verloren, Feinden, deren gesamter Besitz vom Staat beschlagnahmt wurde, Feinden, die ob all dessen nicht einmal Gerichte zu ihrem Schutz anrufen durften, so die Worte der Mutter in ihrem Bericht, die sie wohl irgendwo nachgeschlagen haben musste.
Warum es so weit gekommen war, stand nicht in dem Bericht, wozu auch, dachte Klara, das Grauen hatte die stets unbescholtene Familie wohl wie aus dem Nichts heraus überfallen, geradeso wie die verschiedenen Staatsangehörigkeiten, die sie im Laufe ihres Lebens in der Vojvodina und später in Österreich sozusagen verpasst bekommen hatten. Klaras Mutter war seit 1952 Österreicherin, zuvor war sie Bürgerin ungeklärter Staatsbürgerschaft gewesen, in der Vojvodina hingegen einmal Serbin, dann Ungarin, dann wieder Serbin, dann staatenlos. Als Kind, das sie damals war, mochte sie das vermutlich nicht berührt haben, wie aber war es für ihre Mutter und ihren Vater gewesen, die gut betuchten Druckereibesitzer, die im Völkergemisch ihrer Lebenswelt mit allen Volksgruppen immer gut ausgekommen waren, mit ihnen auch gute Geschäfte gemacht, Feste gefeiert hatten, zu Hochzeiten und Begräbnissen gegangen waren? Ein Leben in prunkendem Wohlstand, weitgehend sorgenfrei und glücklich wohl, dann der Knall, scheinbar aus dem Nichts, und der Vater von den Russen in ein Arbeitslager verschleppt, die Mutter und ihre Tochter wie Tiere ins Lager getrieben, mit nichts außer einem Rucksack und ihren Leben, dann nur noch Hunger und Angst.
Ängstlich war Mama auch jetzt, da sie auf dem Weg nach Sombor durch die Nacht fuhren, Klara wusste, dass der Zwischenfall mit dem streunenden Hund sie beunruhigt hatte, doch es war nicht nur oder eigentlich nicht das, was ihre Angst hervorgeholt hatte, die Mutter brauchte keinen Anlass für Angst, Angst schlummerte immer in ihr, begleitete sie stets auf all ihren Wegen, brach ungefiltert hervor, wenn sie Uniformierten begegnete, und seien es Parkwächter.
Obwohl die serbischen Grenzwächter Klaras Wagen desinteressiert durchgewinkt hatten, war Mama neben ihr der Schweiß ausgebrochen, ihre Hände hatten gezittert, ihre Stimme war brüchig geworden, erst ein paar Dutzend Kilometer nach der serbischen Grenze, als sie Cevapcici essen gegangen waren und Klara der Mutter ein Glas Bier dazu aufgedrängt hatte, hatte sie sich wieder beruhigt, jetzt auf der Fahrt durch die schwarze Nacht, in der es zu regnen begann, saß sie verkrampft auf ihrem Beifahrersitz, starrte stumm ins Draußen, während der Wagen nun in die Stadt einfuhr.
Die anbrechende Nacht hing über den Häusern und der breiten, von Bäumen gesäumten Straße, in deren regennassem Asphalt, schwach die Lichter der Laternen spiegelten. Klara lenkte den Wagen sicher durch die menschenleere Stadt, über ihr brannte schwach die Innenraumbeleuchtung, in deren Licht die Mutter den Faltplan der Stadt las, hinter den schwarzen Silhouetten der Bäume tauchte eine beleuchtete Kirche auf, groß ragte sie in den Himmel, sie waren schon ganz in der Nähe ihres Hotels, noch zwei Gassen links, eine rechts, dann waren sie vor dem vielstöckigen Komplex eines hässlichen Hotelbaus aus den Siebziger Jahren angelangt, sie krochen aus der Enge des Wagens, die Luft war feucht, obwohl es nicht mehr regnete, es dampfte schwül.
2
Die feuchtwarme Luft schlug Marlene heftig entgegen, von irgendwoher kam sie das Gefühl an, das zu kennen, sie atmete tief ein, um sich genauer zu erinnern, doch ihr blieb nicht viel Zeit, Klara drängte an die Hotelrezeption.
Dort sprach niemand mehr Deutsch, auch nicht Englisch, doch Marlene kannte noch ein paar Brocken Serbisch, so wurden ihnen die Zimmerschlüssel freundlich überreicht, sie brachten ihr Gepäck hinauf, verabredeten sich für ein paar Minuten später im Speisesaal des Hotels, wo sie noch etwas trinken und ausspannen wollten.
Marlene fragte sich, wo sie hier angekommen waren, war das ihre alte Heimat, und hatte sie wirklich siebzig Jahre benötigt, um dieses Unterfangen eines Wiedersehens jener Gegend, in der sie geboren und aufgewachsen war, zu wagen? Vielleicht hätte sie es früher getan, wenn, ja, wenn was, … Sie verwarf den Gedanken, beschloss, glücklich und froh darüber zu sein, dass Klara sie gefragt hatte, ob sie diese Reise unternehmen wollte, und wenn sie auch heimlich davon geträumt hatte, so hätte sie ihre Tochter nie darauf angesprochen, sie schon gar nicht dazu gedrängt, Marlene drängte niemandem ihre Geschichte auf, wie sie überhaupt nie von sich selbst sprach, sondern sich immer dem Gegenüber und dessen Interessen anpasste, das war ihr im Lauf der Zeit zur Natur geworden, und so empfand sie auch jetzt so etwas wie schlechtes Gewissen, weil Klara nun mit ihr und in ihrem Interesse in Serbien unterwegs war, in diesem heißen August, in diesem vielleicht noch immer oder schon wieder gefährlichen Land mit seiner scheinbar unbegrenzten Weite, einer Weite, die sie aus den Tiefen ihres Inneren heraus liebte, einer Weite, die sie in Österreich manchmal vermisste.
Wie immer wenn Marlene ausging, machte sie sich zurecht und tupfte sie sich ein paar Tropfen Parfum hinter die Ohren, fuhr dann mit dem Lift in die Hotelhalle, wo Klara schon auf sie wartete, sie gingen in den Speisesaal, eine riesige, mit Kronleuchtern hell erleuchtete Halle, kaum jemand saß an den zahlreichen, weiß gedeckten Tischen, auf einem kleinen Podest in der hinteren Ecke spielte eine Musikkapelle ein traditionelles jugoslawisches Volkslied, der Geiger hob seinen Bogen, als sie den Saal betraten.
Marlenes Herz wurde freudig-unruhig, Za jedan čas radosti hiljadu dana – Für eine Stunde tausend Tage – spielten die in rot-schwarz-weiße Tracht gekleideten Musiker, tausend Tage ihres Lebens hätte sie gegeben für eine einzige Stunde noch mit ihrem Vater, diesem zärtlichen Mann, der nie ein scharfes Wort an sie gerichtet hatte und der mit einem Schlag für immer fort gewesen war.
An einem trüben Weihnachtstag, sie hatte im Esszimmer gerade mit Puppen gespielt, kam der Befehl, ihr Vater sollte sich am nächsten Tag um sechs Uhr abends in der russischen Kommandantur einfinden. Der Weisung waren keine weiteren Erklärungen beigefügt, der Vater hatte ihr unweigerlich Folge zu leisten gehabt. Marlene wusste noch, als wäre es gestern gewesen, wie sie sich schreiend und weinend an seine Hosenbeine gehängt hatte, um ihn aufzuhalten, die Mutter hatte zu beschwichtigen versucht, er komme bald wieder, der Vater mit einem Koffer im Türrahmen, die Augen hinter den dicken Brillengläsern ganz klein.
Tatsächlich war er wenig später zurückgekommen, weil man ihn als Fachmann in seiner ehemals ihm gehörigen, inzwischen verstaatlichten Druckerei brauchte, doch er blieb nur einige Tage, danach holte man ihn wieder, schickte ihn abermals zurück, noch ein drittes Mal, dann kam er nicht mehr. Drei Jahre später hatten sie die Nachricht von seinem Tod erhalten, er war als einer der Ersten im November 1945 in russischer Gefangenschaft gestorben, an Fleckfieber, wie es hieß.
Tot, der Vater tot, tot, weil seine eigenen Landsleute gefordert hatten, dass er wie alle anderen Deutschsprachigen auch zu gehen habe, dann, als es zu spät gewesen war für alles andere. Längst war die Bevölkerung der Batschka und des Banat aufgefordert worden, das Land, das ihre Vorfahren urbar gemacht hatten, zu verlassen, und es waren vielleicht die Klügeren oder Vorausschauenderen gewesen, die ihre Koffer gepackt hatten und gegangen waren, Marlenes Familie hatte es nicht getan. Auch heute wusste sie noch nicht, ob ihre Eltern sich der Gefahr, in der sie sich befanden, nicht bewusst waren oder ob sie ihren großen Besitz nicht aufgeben wollten, oder vielleicht war es auch so gewesen, dass sie dieses Land, in dem sie immer glücklich gewesen waren, nicht verlassen wollten, weil sie ihre Heimat liebten, weil sie ihre Verwandten und Freunde dort hatten, weil sie in diesem Land verwurzelt waren.
Mag sein, dass auch ihr Entschluss, im Oktober 1944, als die Auswanderungen immer häufiger wurden, doch zu gehen, halbherzig war, jedenfalls war dann, als ihre Sachen gepackt bereit standen, der Traktor, der ihren Transport anführen sollte, nicht gekommen.
Marlene, deren Hände wieder zu zittern begonnen hatten, strich sich nervös eine Haarsträhne aus der Stirn, eigentlich wollte sie über all das nicht mehr nachdenken, gar nicht nachdenken, so wie sie ihr Leben lang alles daran gesetzt hatte, darüber nicht nachdenken zu müssen, nachdem es ihr gelungen war, in Österreich mit dem Mann, den sie kennen und lieben gelernt hatte, ein neues Leben aufzubauen und mit dem Haus im Grünen Wiens und ihrer Tochter, die sie liebte, ein neues kleines Paradies zu schaffen.
Nein, Marlene war nie unzufrieden gewesen mit dem bescheidenen Wohlstand, in dem sie in ihrer neuen Heimat mit ihrer Familie lebte, sie hatte nie mit Wehmut zurückgeblickt und daran gedacht, in welch großem, herrschaftlichem Haus mit Bediensteten sie als Kind gewohnt hatte, hatte nie bedauert, dass ihre Mutter, die alles überlebt hatte, nicht mehr der großen Druckerei vorstand.
Die Hotelkapelle spielte wieder ein Lied, das Marlene kannte, leise begann sie die Melodie mitzusummen, aus den Tiefen ihrer Erinnerung tauchten langsam auch dazu gehörige serbische Wörter auf, die sie längst vergessen geglaubt hatte, was wäre, wenn sie hier bliebe, mit Klara, wenn ihr Mann nachkäme, sie alle ihr Leben hier weiterlebten, unter der Sonne des Südens, könnte Gregor sich an dieses Land gewöhnen, es sich aneignen? Wäre er bereit, seine Heimat zu verlassen, sein wohlgeordnetes Leben aufzugeben, um in der Fremde heimisch zu werden zu versuchen, würde er das Klima vertragen, würden sie die Leute ertragen, die nicht mehr die Leute waren, die früher hier gelebt hatten und auch nicht deren Nachfahren? Was würde aus ihnen werden in einem Land, das auch nach dem Weltkrieg von Krieg geschüttelt und zerrüttet war, wäre es möglich, sich hier eine neue Existenz aufzubauen?
Marlene schüttelte heftig den Kopf, so als könnte sie damit auch ihre Gedanken abschütteln, sie versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, was lag näher als Klara zu beobachten, die leidenschaftlich an einer Zigarette zog, jetzt warf sie ihr aus ihren hellgrünen Augen einen vielsagenden Blick zu, wandte sich rasch an einen vorbeieilenden Kellner, bestellte zwei Slivovitz, die tranken sie in einem Zug aus, morgen würden nach Hodschag fahren, den Ort, in dem Marlene geboren und aufgewachsen war, nur dass es nun Odzači hieß.
3
Flach war das Land, durch das sie fuhren, weit und eben, darüber hing ein mächtiger Himmel mit traumbildhaften Quellwolken, mitten in der Ödnis stand ab und zu ein Baum und vereinzelt kleine Häuschen, wie hingemalt, die Augustsonne brannte heiß vom Himmel.
Zeit ihres Lebens war Klara Berge, Wälder und Hügel der österreichischen Landschaft gewohnt, diese unbegrenzte Weite war ihr fremd und unheimlich, und die Dörfer, die sie auf ihrem Weg in den Geburtsort ihrer Mutter passierten, empfand sie als bedrückend. Da war nichts vom quellenden Reichtum, von dem Mama aus früheren Zeiten erzählt hatte, nur die bunten Farben, mit denen in manchen Orten die Fassaden der Häuser gestrichen waren, sprachen vielleicht vom Versuch, wieder so etwas wie Freude in das kriegsgeschüttelte Land zu bringen.
Klara fuhr bedächtig und langsam, sie wollte, dass die Mutter alles ganz genau sehen könne, und sie würde jederzeit stehenbleiben, wenn sie das wollte, aber wollte sie das?
Mama las die kyrillisch geschriebenen Ortsschilder laut vor, auf den Feldern stand der fast verbrannte Mais und immer wieder liefen herrenlose Hunde über die Felder oder querten die Landstraße, in der Ferne tauchte eine Reihe einfach hingezimmerter Verkaufsstände am Straßenrand auf, in denen bunt gekleidete Marketender Früchte und Gemüse feilboten.
Hier wolle sie stehenbleiben, sagte die Mutter unvermittelt, Klara bremste den Wagen ein, fuhr im Schritttempo an den Straßenrand, Mama war schon draußen, ging nicht, sondern lief zum nächstgelegenen Verkaufsstand, war schon im radebrechenden Gespräch mit einer Gemüsehändlerin, die Tomaten und Paprika, Pfefferoni, Pfirsiche und Melonen in leuchtenden Farben anbot, die Mutter ließ sich zwei Säcke voll mit Gemüse und Obst einpacken, als sie wieder im Auto saßen, begann sie begeistert davon zu reden, dass sie zu Hause echtes serbisches Letscho einkochen und Marmelade machen würde, sodass man etwas von zu Hause zu essen hätte.
Klara dachte daran, dass das Gemüse und Obst in den drei Tagen, die sie noch hier wären, verderben würde, in der Tat war die herrschende Hitze gewaltig, hing bestimmend über dem Land, über den trostlosen Dörfern, kein Mensch wagte sich auf die Straße, nur ganz selten einmal sah man alte Frauen mit Kopftuch im Schatten vor ihren Häusern sitzen. Zwischen den Dörfern lag end– und hügellose Weite, Felder so weit das Auge reichte, Mais und Weizen, hellgrün bis an die Linie des Horizonts, über dem ein weißblauer Himmel schwebte. Dann wieder Ortschaften, aus denen Armut und Verfall atmete. Freilaufende Hunde, die die Autos ankläfften, Menschen in armseliger Kleidung, Häuser, die grau und bröckelig mit blinden Fensterscheiben am Wegrand standen.
Sie passierten mehrere solcher Dörfer, dann sahen sie das Ortsschild von Odzači, jenem Städtchen im Bezirk Zapadna Backa, das nur etwa zehn Kilometer von der Donau entfernt war, und in dem Marlene vor mehr als siebzig Jahren gelebt hatte und zur Schule gegangen war, Klara drosselte die Geschwindigkeit des Wagens, fuhr langsam ein. Auch hier verfallende Häuser, Hunde, eine Atmosphäre von Verlorenheit, Aussterben, Ausweglosigkeit, Tod. Wo war die prachtvolle Stadt, von der Mama erzählt hatte, wo die glamourösen Straßenzüge, wo das herrliche Land, das ihre Vorfahren fruchtbar zu machen gekommen waren? Klara parkte den Wagen in einer kleinen Gasse nahe dem Zentrum, sie stiegen aus, wieder die feuchte, schwüle Hitze, die sie jetzt schon kannten.
4
Einen Augenblick lang hatte Marlene ein Gefühl von Heimkommen, auf der Fahrt hatte sie vor sich hingeträumt, all die ehemaligen Freunde, Bekannten und Geschäftspartner ihrer Eltern wären auf den Straßen von Odzači, wenn sie dort ankämen, sie würden sie fürstlich begrüßen mit Hochrufen für eine der angesehensten Familien des Ortes, würden ihnen ihre Häuser öffnen, sie einladen zu Speis und Trank und Feier, und ein Wunder hätte bewirkt, dass ihr Elternhaus noch stand, daneben das Geschäft und unweit davon die Druckerei, und alle würden sagen, sie hätten nur darauf gewartet, dass sie endlich zurückkämen, um Haus und Besitz wieder zu übernehmen, um wieder die angesehensten Bürger des Städtchens zu sein, um mit ihren jetzigen Familien die Geschäfte ihrer verstorbenen Eltern weiterzuführen, um das glückliche Leben weiterzuleben, das sie dort geführt hatten, und Marlene sah sich in dem exklusiven Papiergeschäft ihrer Eltern mit den feinen Ledermappen und den edlen Füllfedern und dem Papier in allen Stärken und Farben, und sie sah ihren Mann Gregor als den Geschäftsführer der Druckerei und Klara und sie im großen Bürgerhaus, das sie führen würde wie früher ihre Eltern, sie würde zu Festen und Feiern laden, und die Musik würde aufspielen und die unverwechselbar traurigschönen Melodien würden erklingen, und … der Vater tot, verschleppt in ein Arbeitslager, elendig gestorben nach wenigen Monaten.
Mit einem Mal war das Fest in Marlenes Kopf verblasen. Alles war lächerlich klein, einzig der Turm der Kirche ragte noch immer majestätisch in den Himmel, doch selbst er erschien ihr nun viel kleiner und niedriger als in ihrer Erinnerung und was alles andere betraf, so war nichts mehr so wie es gewesen war. Dass ihr Elternhaus und die Druckerei nicht mehr standen, hatte sie gewusst, aber als sie jetzt ihre Schritte in jene Gasse lenkten, die für sie mit unvergesslichen Kindheitserinnerungen verbunden war, schlug ihr Herz bis in den Hals und fiel kurz danach in die tiefsten Tiefen ihres Leibes, als ihr das Leben bestätigte, dass das Haus nicht mehr existierte. Der langgezogene, weitläufige Bürgerbau war abgerissen worden, an seiner Stelle stand nun eine hässliche dreistöckige Mietskaserne, die Fassade war grau und blätterte ab, schäbige Gardinen verdeckten nur teilweise die Armseligkeit der Behausungen hinter den kleinen Fensterscheiben, die mehr Gucklöcher aus Gefängnissen als Fenster zur Welt zu sein schienen.
Das Haus ihrer Kindheit war voll Wärme gewesen, Marlene hatte die dicken, weichen Teppiche auf den Holzböden und die Ölgemälde an den Wänden geliebt, ihr eigenes Zimmer war ganz in Rosa gehalten gewesen mit vielen Rüschen und Borten und einem richtigen Himmelbett, ihre Eltern hatten das Anwesen mit Liebe eingerichtet, alles hatte trotz der Größe des Hauses einen heimeligen Geist geatmet, sie hatte sich dort so geborgen gefühlt wie später nie mehr in ihrem Leben, doch dann waren die Männer in Uniformen gekommen, dann, als die Abwanderungen der in Odzači ansässigen Deutschen abgeschlossen waren und es keine Möglichkeit mehr gab wegzukommen, durchzogen Partisanen aus der Gegend von Sombor das Städtchen und die anderen Ortschaften der Batschka. Sie nahmen Einquartierungen vor, alle Deutschen mussten Russen und Partisanen in ihre Häuser aufnehmen, in Marlenes Elternhaus bewohnten nun zwei Serben, die im Finanzamt und im Gemeindehaus arbeiteten, und ein Russe, der jetzt der Druckerei von Marlenes Eltern vorstand, zwei Zimmer neben der Kanzlei des Vaters, so hatten sie Glück im Unglück gehabt, dass kein Militär bei ihnen einquartiert worden war. Wenig später wurde eine Volkszählung durchgeführt, jeder musste Nationalität und Muttersprache angeben, auf den Feldern stand noch der hohe Mais, also wurden die Deutschen zu landwirtschaftlichen Arbeiten herangezogen – so hatte Marlene es in ihrem Bericht notiert.
Heute fragte sie sich, warum sie diesen Bericht geschrieben hatte, den sie niemandem als ihrer Mutter, später dann Gregor und Klara zu lesen gegeben hatte, sie fragte sich auch, was sie als Kind von dreizehn Jahren dazu gebracht hatte, sich dann, wenn ihre Schulaufgaben erledigt waren und sie längst Freundinnen treffen oder in einem Buch schmökern hätte können, doch an den Küchentisch zu setzen, um aufzuschreiben, was in jener Zeit geschehen war, nachdem sie wieder und wieder die Mutter nach Zahlen und Fakten zu den grauenhaften Begebenheiten befragt hatte. Ja, sie hatte damals keine Freundinnen gehabt, mit denen sie sich hätte vergnügen können, aber warum war der Sog der Bücherwelt, in die sie später eingetaucht war, nicht stärker gewesen als diese erwachsene Ernsthaftigkeit, die sie angetrieben hatte zu schreiben? Marlene wusste es nicht, doch sie wusste noch genau, in welch elender Stimmung sie gewesen war, als sie den Abschnitt über jenen trüben Nebeltag im November 1944 verfasst hatte.
Es war ein Donnerstag gewesen, da sich Partisanentrupps in den frühen Vormittagsstunden mit Namenslisten versehen auf den Weg gemacht hatten, alle Männer, deren Namen auf den Listen standen, mitzunehmen – zu mehrtägigen Gleisarbeiten, wie es hieß, es waren 183 Menschen, die in ein leerstehendes Haus gebracht wurden, sich dort in Sechserreihen aufstellen mussten und kein Wort mehr sagen durften, bis gegen zwei Uhr nachmittags etwa dreißig junge, kräftige Männer unter ihnen ausgewählt und an den südwestlichen Ortsausgang geführt wurden. Etwa zwanzig Meter hinter einem steinernen Wegekreuz wurde ihnen ein Geviert von zwölf mal fünf Metern vorgemessen, dort hatten sie eine über zwei Meter tiefe Grube auszuheben, als sie damit fertig waren, setzte die Dämmerung ein, im Zwielicht der hereinfallenden Nacht wurden sie erschlagen und in das Massengrab geworfen.
Später, gegen elf Uhr nachts mussten sich die noch im Haus Verbliebenen nackt ausziehen, sie wurden in Gruppen aneinandergefesselt, aus dem Haus zum Ortsausgang geführt, danach wurden sie einzeln an die für sie ausgehobene Grube gezerrt, erschlagen und ebenfalls in das Massengrab geworfen. Unter den 183 waren auch zwei Frauen gewesen, die stellvertretend für ihre Männer, die sich vor den Häschern versteckt hatten, ermordet wurden. Das verlassene Haus, in dem nur die Kleider der Getöteten zurückgeblieben waren, wurde gesperrt, der Zutritt zum Massengrab durch Wachposten verwehrt. Am nächsten Tag zog das etwa vierzig Mann starke Partisanenkommando weiter ins benachbarte Dorf, wo sie 243 weitere Männer deutscher Volkszugehörigkeit töteten.
So war es wieder und wieder hinter vorgehaltener Hand erzählt worden, so hatte Marlene es niedergeschrieben, doch warum hatte sie nichts von der dumpfen Stille erzählt, die danach über dem Dorf gehangen war, von den Überlebenden, die ihre Häuser tagelang nicht verlassen hatten, von denen, die es doch taten, aus welchen Gründen immer tun mussten, und die dann so schnell wie möglich an die Hauswände gedrückt entlanghuschten wie Schatten? Vielleicht war es aber das Wissen um diese Dinge, das sie dazu brachte, sich jeden Tag versichern zu müssen, dass ihre Lieben noch lebten, dachte Marlene, die jetzt vor dem hässlichen, dreistöckigen Mietshaus mit den kleinen Fenstern und der bröckeligen Fassade stand und daran zu zweifeln begann, dass hier wirklich einmal ihr Elternhaus gestanden war, dieses luxuriöse Haus mit dem schönen, großen Wohnzimmer, in dem auch das Ölbild eines alten Mannes mit Pfeife hing, das ihr immer so gefallen hatte, und in dem der große, weiche Fauteuil stand, in dem Marlenes Großmutter stets gesessen war, neben sich das Radio, das immer eingeschaltet blieb, wenn die Großmutter sich an ihrem Lieblingsplatz eingerichtet hatte, einem Platz, von dem aus sie auch Gratulanten zu ihrem Geburtstag und Namenstag empfangen hatte, da waren nicht nur die befreundeten, angesehen Bürger des Dorfs gekommen, sondern auch alle Arbeiter der Druckerei, und wenn sie der Hausherrin ihre guten Wünsche überbracht hatten, hatte die Großmutter ihnen einen Schnaps ausgeschenkt, jene Großmutter, die zudem die Herrin der Weingärten der Familie war, jene Großmutter, die auch den großzügigen Mahlzeiten im Esszimmer vorstand, jene Großmutter, die später im Lager so elend erkrankt, gestorben und in einem Massengrab verscharrt worden war.
Marlene ertrug es nicht mehr, vor diesem hässlichen Haus zu stehen, sie bat Klara, sie mögen doch zur Kirche gehen, die stand, im Gegensatz zum Rest des Dorfes, prächtig renoviert in der Mitte der Ortschaft, nur wenige Meter von ihrem ehemaligen Elternhaus entfernt. Das Eingangstor war beinahe so groß, wie Marlene es in Erinnerung hatte. Da waren die Bänke, in denen sie mit ihren Eltern gesessen war, meist ziemlich weit hinten, und sie dachte daran, wie sie unzählige Male unablässig mit dem Fingernagel in dem Holz der Bank hin- und hergefahren war, um eine Spur zu hinterlassen, wenn ihr langweilig gewesen war, dann hatte ihr die Mutter immer auf die Finger geklopft, Marlene suchte in den Bänken nach einer Spur ihrer Kinderfingernägel, aber sie fand keine. Vorne, im linken Seitenschiff der Kirche stand noch der Marienaltar, den sie so geliebt hatte und der im Mai immer festlich geschmückt gewesen war mit Blumen und zahllosen Kerzen. So einen Altar hatten sie auch zu Hause gehabt, mit einer Marienfigur aus Porzellan, und auch sie hatten ihn im Mai geschmückt. Marlene hatte die Blumen dafür aussuchen dürfen, und eines Tages hatte ihr das Kindermädchen eine kleine porzellanene Marienfigur geschenkt, das war eines der schönsten Geschenke, die sie je bekommen hatte, und sie wünschte, sie hätte diese Madonna noch.
Marlene trat wieder aus der Kirche heraus, stand jetzt auf der Straße, die einmal eine Lehmstraße gewesen war und in Sommern wie diesem stets gestaubt hatte, wenn die Bauern mit ihren Pferdewägen von der Feldarbeit zurückkamen. Jeden Abend waren die Straßen gespritzt worden, das Wasser hatte sich mit dem Lehm zu einem ganz eigenartigen, unverwechselbaren Geruch verbunden, Marlene meinte, diesen Geruch noch in der Nase zu spüren, nahm jetzt den Weg zum Schulgebäude, das ganz in der Nähe der Kirche noch stand, aber keine Schule mehr beherbergte.
Die Kirchturmuhr schlug vier Uhr nachmittags an, Hitze lag über dem kleinen Städtchen, kein Windchen regte sich, Marlene fühlte sich müde, erschöpft, wollte sich hinsetzen und etwas trinken. Sie suchten nach einem Café, fanden aber nur eine heruntergekommene, kleine Bar, bestellten Cola, sprachen kaum etwas, die sengende Hitze drang auch in die kleine, dunkle Bar, Marlene spürte ihre Bluse an ihrem Leib kleben, ja, das hier war der Süden, aus dem sie kam.
5
Die Kisten mit Marlenes Sachen standen längst bereit, Vera kühlte noch rasch Limonade ein, lief dann in die Bäckerei, um die vorbestellten Kiflice und Pogagice zu holen, danach sollte sich noch ein Besuch beim Friseur ausgehen, sie warf einen Blick in den Spiegel und fand sich alt, ihr Haar war völlig ergraut, die Tage, da man ihr nachgeschaut hatte, waren lange vorbei. Fast so lange vorbei und nahezu vergessen wie die Zeit in Odzači, damals, als das Dorf noch Hodschag hieß und eine blühende Ortschaft war, zum allergrößten Teil von Deutschen bewohnt, die den Ort auch groß gemacht hatten. Die sogenannten Donauschwaben waren fleißig, das hat man immer schon gesagt, dachte Vera, und sie für ihren Teil konnte dem zustimmen, denn sie hatte nicht nur Marlenes großes Elternhaus gekannt, sondern war auch in anderen deutschen Häusern ein und ausgegangen und hatte den Wohlstand, in dem die Deutschen lebten, bewundert, und die dörfliche Eleganz, die vielen von ihnen eigen war, hatte ihr ebenso gefallen wie ihre Art sich zu amüsieren.
Im Prunksaal des Hotels der Familie Kainz waren die Feste gefeiert worden, wie sie fielen. Vera dachte daran, wie sie sich als Kind manchmal dort hineingeschlichen und unter einem der langen, weiß gedeckten Tische versteckt hatte, wenn man eine Gesellschaft gab, ihr hatten die Frauen mit den schönen Kleidern und den wassergewellten Frisuren und die Männer in den Anzügen, die oft auch Strohhüte trugen, gefallen, und wenn sie ihre Lieder gesungen hatten, war sie gebannt in ihrem Versteck gesessen oder hatte leise mitgesummt, und ganz besonders geliebt hatte sie das feine Klirren der Gläser, wenn sie alle miteinander auf was auch immer anstießen.
Odzači war zu dieser Zeit wohl so etwas wie ein Vorzeigedorf, obwohl es nicht groß war, hatte es eine große katholische Kirche gegeben, ein Kloster, drei Schulen, einen Kindergarten, ein Hotel, zwei Apotheken, eine Handvoll Ärzte, sieben Gasthäuser, einen Fotografen, einen Musikinstrumentenrestaurator und sogar ein Schwimmbad, zwei Kinos, einen Fußball-, einen Tennis- und einen Reitklub; nicht zu vergessen exklusive Geschäfte wie das Papiergeschäft der Druckerei oder den Juwelier und ein Lederwarengeschäft, aus dem es herrlich duftete. Als kleines Mädchen war Vera oft hineingegangen, nur um an den Koffern, Taschen und Geldbörsen schnuppern zu können, und noch heute liebte sie den Geruch von echtem Leder ebenso wie den von frisch bedrucktem Papier, wie sie ihn in der Druckerei von Marlenes Vater kennengelernt hatte. Das unverwechselbare Aroma von Hanf hingegen, das oft aus der Fabrik der Bachers geströmt war, mochte sie nicht, aber, und so ehrlich muss man sein, ohne die Bachers hätte man in Odzači vielleicht heute noch keine asphaltierten Straßen und sicher keine Eisenbahn.
So war auch der schnurgerade Verlauf der Straßen des Orts, die einen schachbrettartigen Gesamtgrundriss hatten, den Kolonisten zu verdanken, der Grundriss war schon im 18. Jahrhundert von kaiserlichen Ingenieuren der Habsburger geplant und dann exakt ausgeführt worden, und so war der Ort auch heute noch durch ebendiese schnurgeraden, zu beiden Seiten mit Maulbeerbäumen bepflanzten, sich rechtwinkelig schneidenden Straßen durchschnitten. Veras Mutter hatte dieses perfekte Quadrat geliebt, und später, als sie nach Novi Sad gezogen waren, hatte sie ständig über die dort oft krumm verlaufenden Gässchen gemeckert und sich nach der Ordnung ihrer alten Heimat gesehnt, wo, wer auch immer vor sein Haus trat, nach rechts und links bis zum Ortsende schauen konnte.
Die Häuser der Deutschen waren groß und respekteinflößend gewesen, sie hatten es verstanden, sie mit Liebe und Stil einzurichten und die Vorgärten üppig mit Blumen zu schmücken. Der Rosengarten der Frau Brunner hatte nicht nur Stockrosen in allen Farben, sondern sogar buntschillernde, auf Holzstangen steckende Glaskugeln dazwischen getragen, und Vera wusste noch ganz genau, wie gern sie sich als kleines Mädchen in dem färbigen Glas, das ihr Gesicht zu fantastischen Masken verzerrte, gespiegelt hatte. Die Wohnung ihrer Eltern hingegen war klein und beengt gewesen, als kleiner Gerichtsvollzieher hatte ihr Vater nicht viel verdient, und so war sie oft und gern bei Marlene gewesen, in ihrem schönen Haus mit den vielen Zimmern, den stets auf Hochglanz polierten Möbeln, den gefirnissten Ölbildern an den Wänden, dem schönen Porzellan und der Couch, die es damals sonst nirgendwo gegeben hatte und auf der sie mit Marlene so gern auf und ab gesprungen war. Vor Veras innerem Auge tauchten jetzt die Porzellanfiguren aus dem Wohnzimmer der Eltern ihrer Freundin auf. Oft hatten sie sie aus den Regalen genommen, ihnen Namen und Lebensgeschichten gegeben, sie auf dem gewienerten Holz des Bodens herumgeschoben, und da war dann auch dieser kleine Engel mit rotem Kleid und weißen Flügeln und einer winzigen weißen Kerze in der Hand gewesen, der hatte es ihr im Besonderen angetan gehabt. Das Figürchen war nicht größer als vielleicht zehn Zentimeter und der Faltenwurf seines roten Kleidchens exakt ausgestaltet. Sie hatte es geliebt, ebendiesem Faltenwurf im Porzellan nachzuspüren, und dass das Kleid rot war, hatte ihr ebenso gefallen wie es sie ein wenig beunruhigt hatte. Marlene und sie hatten die Figur den Engel im Blutkleid genannt, und Vera hatte ihn so sehr für sich allein besitzen wollen, dass sie Marlene ihre geliebte kleine Mundharmonika zum Tausch dafür angeboten hatte. Sie war überglücklich gewesen, als sie ihn zuletzt bekommen hatte, hatte den Engel daheim auf das Regal über ihrem Bett gestellt und immer dafür gesorgt, dass sein Platz sauber und schön war. Jahre später – sie wusste nicht warum – hatte sie die Figur ihrer Klavierlehrerin geschenkt, und sie hatte einen Platz auf ihrem schwarzen Flügel bekommen, so war es ihr immerhin möglich gewesen, sie jedes Mal, wenn sie Klavierunterricht hatte, wieder sehen zu können. Das aber hatte ein Ende gehabt, als Frau Eisenmann ebenso verschwand wie Marlenes Vater, der nach Russland verschleppt worden war, deren Mutter, die vor ihrer Lagerinternierung noch ein paar dieser Dinge, die das Leben schöner machen, bei ihnen untergebracht hatte, und Marlene natürlich, die eines Tages für immer weg gewesen war und von der sie nie wieder etwas gehört hatte.
An das, was dem Verschwinden der Familie unmittelbar vorausgegangen war, konnte Vera sich nicht erinnern, wohl aber daran, wie ihr Haus dann zunächst von Leuten aus der Umgebung geplündert worden war, im Weinkeller hatten sie die Fässer aufgebrochen, sodass der Wein in Strömen herausfloss und die Plünderer bis zu den Knien im Alkohol standen. Später waren alle Maschinen der Druckerei und alles Hausgerät weggebracht, in Magazinen gesammelt und auf Revers an Partisanen und serbische Zivilisten weitergegeben worden. Die Möbel waren eines Tages auf einen großen Lastwagen aufgeladen worden, und es hatte geheißen, dass ein Offizier aus Belgrad sie sich genommen hatte. In das Haus selbst waren Leute eingezogen, die Vera nicht kannte, die Kommunisten hatten sie dorthin geschickt, und später waren alle enteigneten Häuser zu Spottpreisen an jene, die nun darin wohnten, verkauft worden. Auch Veras Familie war ein enteignetes Haus zugeteilt worden, und sie hatten eine Zeitlang darin gewohnt, doch als es zum billigen Verkauf frei gewesen war, hatte ihr Vater dieses Angebot – wie manche andere auch – abgelehnt, und sie waren zu dritt in eine winzige Zweizimmerwohnung gezogen. Der Vater, der schon unter der ungarischen Besatzung – der Sprache wegen – nicht arbeiten hatte dürfen, war nun als kleiner Beamter erst recht nicht gefragt gewesen, denn Beamte sollte es im neuen Staat nicht mehr geben. Als die Kommunisten kamen, hatten sie die Schreibmaschinen aus dem Fenstern der Schreibstuben geworfen, hatten Papiere verbrannt, und wenn einer nur das Wort Kultur ausgesprochen hatte, hatten sie ihm mit der Pistole gedroht. Auch viele reiche Serben, die man beschuldigte, mit dem deutschen Okkupator und Feind kollaboriert zu haben, waren enteignet worden, nicht wenige von ihnen ohne Gerichtsverfahren nächtens erschossen …
Heute versuchte man, das aufzudecken und die Nachkommen dieser Menschen zu rehabilitieren, dachte Vera und versuchte, die Gedanken an diese Zeit in ihrem Kopf wieder dorthin zu verfrachten, wo sie ihrer Meinung hingehörten, jetzt ging es um Marlenes Besuch, um ihrer beider Begegnung, um die paar schönen Stücke, die Marlenes Mutter bei ihr untergebracht hatte, die sollte die neue Familie ihrer Freundin jetzt zurückbekommen, das hatte sie sich vorgenommen seit dem Tag, da sie meinte verstanden zu haben, was passiert war, obwohl es nicht zu verstehen war.
Ob Marlene wohl noch wusste, was sie damals als Kind im Auftrag ihrer Mutter im Schutz der dunklen Nacht in die kleine Wohnung ihrer serbischen Nachbarn transportiert hat? Würde sie sich erinnern an das Bild des alten Dedas mit der Pfeife im Mund, an die hübsche Porzellantänzerin im grünen Kleid, an all die anderen schönen Bilder und Figuren, mit denen Veras Mutter später ihre Wohnung geschmückt hatte und die von jenen, die sie besuchen kamen, immer besonders bewundert worden waren?
Vera wusste nicht warum, aber ihre Mutter hatte nie mit jemandem darüber geredet, woher diese Dinge kamen, hatte ihren Gästen nie gesagt, dass die Bilder und Teppiche und das Porzellan, das so viele anstaunten, nicht ihr gehörten. Später, als sie die schrecklichen politischen Zusammenhänge zu verstehen begonnen hatte, war es Vera peinlich gewesen, sie hatte sich für ihre Mutter geschämt, und sie hatte Sorge und Angst gehabt, dass die anderen denken könnten, sie hätten die Dinge geplündert, und auf eine seltsame Art hatte sie begonnen, die schönen kleinen Gegenstände zu hassen, das hatte sich wieder geändert, als ihre Mutter gestorben war. Schon sehr bald nach ihrem Tod hatte sie die Bilder, die Teppiche und das Porzellan wieder mit anderen Augen sehen können, sie hatte jedes einzelne Stück ganz genau betrachtet und hatte an Marlene gedacht, an ihre elegante Mutter, ihren sanften Vater mit den dicken Brillengläsern, völlig neidlos, sie wusste, dass diese Menschen nichts Schlimmes getan hatten, und dass das Unrecht, das ihnen widerfahren war, nie wieder gut zu machen war, und zum ersten Mal seit den Vorfällen jener Zeit, die zu diesem Zeitpunkt schon mehr als vierzig Jahre zurücklagen, hatte sie darüber weinen können, sie hatte um Marlene geweint, um ihre anderen deutschen Freunde, um das Städtchen ihrer Kindheit, das sie mit ihren Eltern bald nach den schrecklichen Ereignissen verlassen hatte, und als sie nicht mehr weinen hatte können, war ihr klar gewesen, dass sie – wie auch immer – ausfindig machen musste, ob Marlene noch lebte, und wenn, so dass sie ihr diese Erinnerungsstücke an ihre alte Heimat unbedingt zurückgeben musste.
So war sie das erste Mal wieder nach langer, langer Zeit nach Odzači gefahren, um ihre Spuren zu suchen, sie hatte Angst davor gehabt, das Dorf ihrer Kindheit wiederzusehen, und diese Angst war berechtigt, denn sie hatte einen heruntergekommenen, trostlosen Ort vorgefunden, in dem die Menschen gedrückt in den Straßen herumschlichen, es gab keine Blumenpracht mehr, von den alten deutschen Bürgerhäusern, die noch standen, blätterte der Putz ab, auf vielen Häuserwänden fanden sich gesprayte Graffitis, die Fußballklubs bejubelten, doch den Fußballklub des alten Odzači gab es ebenso wenig mehr wie die Bürgerschule, das Hotel, die großen Gasthäuser, die Apotheken, die Kinos, den Juwelier und das Lederwarengeschäft, und man hörte kein einziges deutsches Wort.
Auch das Haus, in dem Marlene gelebt hatte, stand nicht mehr, aber Vera hatte nicht aufgeben wollen, zumal sie auch gehört hatte, dass die Miss Vojvodina von 1931, die aus Odzači stammte und einen Ungarn geheiratet hatte und deshalb nicht verfolgt worden war, vielleicht noch dort lebte, und so hatte sie an die Tür ihres alten Bürgerhauses geklopft, und eine alte, hässlich gewordene Frau hatte ihr geöffnet. Katica, so nannte sie sich nun, wusste aber nichts über das Schicksal von Marlenes Familie, aber sie hatte ihr geraten, den Uhrmacher Vogrinc zu besuchen, der ein Stückweit außerhalb von Odzači lebte und Kontakte zu ehemaligen Landsleuten in Österreich und Deutschland hatte, so hatte sie sich die Adresse des Herrn Vogrinc aufschreiben lassen, war zum Bahnhof gegangen und nach Novi Sad zurückgefahren. Am nächsten Tag hatte sie Franc Vogrinc geschrieben, seine Antwort hatte ihr die Gewissheit gebracht, dass Marlene noch lebte, mit Ehemann und Tochter in Österreich, in Wien.
Danach hatte sie an ihre Kinderfreundin geschrieben, doch es waren noch viele Monate vergangen, bevor sie den Brief abschickte, all die Schrecken der vergangenen Zeiten hatten wieder begonnen sie zu quälen, auch jene, die ihre eigene Familie betroffen hatten, in ihren Träumen waren ihr die Partisanen, die Russen, die Ungarn, die Kroaten in ihren Uniformen und mit ihren Gewehren erschienen, sie hatte Schüsse gehört und Schreie, Blut war von den Wänden ihrer Wohnung in Novi Sad geflossen, und wenn der Nachtalb vorbei war, hatte sie tagsüber stundenlang darüber nachgegrübelt, ob sie wirklich so alte Wunden aufreißen sollte, sie hatte sich gefragt, ob sie das Recht dazu hätte, Marlene aus ihrem vermutlich wieder geordnetem Leben aufzustören, sie hatte überlegt, ob ihre Freundin überhaupt noch irgendetwas von damals wissen wollte, ob sie jemals wieder dahin zurückkommen wollte, wo ihr so viel Leid widerfahren war, und die Zeit war vergangen, aber die Gedanken an Marlene und die Wertgegenstände ihrer Familie hatten sie nicht losgelassen, und erst nachdem sie den Brief wohl ein Dutzendmal umgeschrieben hatte, war sie endlich zur Post gegangen und hatte ihn abgeschickt.
6
Klara sog kaltes Cola durch den Strohhalm in ihren Mund, die Eiswürfel klirrten im Glas, das nicht ganz sauber aussah, sie dachte an ihre vor zehn Jahren verstorbene Großmutter, die hier als Großgrundbesitzerin gelebt hatte, deren Vorfahren im achtzehnten Jahrhundert unter unvorstellbaren Bedingungen mit dem Schiff aus Deutschland über die Donau bis ins ungarische Apatin gereist waren, um in einem neuen Land ein neues Leben zu beginnen, aus welchen Gründen war unbekannt, jedenfalls aber war ihnen von der österreichischen Regierung, die diese Schwabenzüge veranlasst hatte, großzügige Unterstützung bei der Urbarmachung des brachliegenden Landes zugesichert worden, doch der Beginn musste mehr als schwierig gewesen sein, das Land schlammig, unzugänglich, schwer zu bebauen, doch die Siedler fleißig und unbeirrbar, so wohl auch Klaras Vorfahren, die aus dem deutschen Schwarzwald gekommen waren und die jedenfalls nach Generationen erheblichen Reichtum angehäuft hatten.
Den Ersten der Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot, so hatte ein alter Siedlerspruch gelautet, den Klaras Großmutter öfters zitiert hatte, diese Frau, die mitten aus Wohlstand und Harmonie ins Elend eines Konzentrationslagers gerissen worden war, eine Frau, die in dieser Situation ihr bis dahin unbekannte Kräfte in sich bewegt hatte, um die Schläge, die Demütigungen und den subtilen Terror der ständigen Angstmache zu ertragen, eine Frau, die ihre eigenen Ängste vor ihrer Tochter verborgen hatte, versucht hatte, ihr inmitten des Lagerwahnsinns noch ein Gefühl von Kindersicherheit zu geben, eine Frau, die schlussendlich sogar die Flucht mit Kind aus dem Land, in dem man sie nicht mehr wollte, gewagt hatte, eine Frau, deren Kräfte von all dem wohl aufgebraucht waren, als Klara sie als ihre immer ängstliche, um alles besorgte Großmutter, die ständig den Rat und die Unterstützung anderer brauchte, kennenlernte.
Klara hatte ihre Großmutter nie wirklich verstanden, es hatte sie irritiert, dass sie – so wie jetzt Mama mit ihr – jeden Tag mehrmals mit ihrer Tochter telefoniert, alles, aber auch alles, was die täglichen Kleinigkeiten betraf, mit ihr besprochen, nie aber ein Wort über ihre Vergangenheit verloren hatte. Manche der Traditionen aus der alten Heimat hingegen hatte sie hochgehalten, gerne hatte sie etwa Kuchen nach den alten Rezepten gebacken, und sie hatte Kontakt zu anderen, nach Österreich oder Deutschland geflüchteten Landsleuten gehalten, war zu den offiziellen Treffen der heimatvertriebenen Deutschen in Wien gegangen, Treffen, zu denen sie anfangs auch Mama und Papa begleitet hatten, doch Klaras Vater hatte das bald abgelehnt, er mochte die vielen Ewiggestrigen dort und ihre politischen Ansichten nicht, dann hatte auch Mama aufgehört, zu diesen Treffen zu gehen, Klara wusste oder spürte aber, dass sie das nicht gerne aufgab, denn die Mutter hatte den Tratsch, der bei diesen Zusammenkünften stattfand, immer geliebt, dort hatte sie so leicht wie nirgendwo anders erfahren, was aus wem aus der alten Heimat geworden war, wer gestorben, verheiratet, geschieden war und was das Schicksal sonst noch für die ehemaligen Bewohner aus der Batschka in Österreich bereit hielt. Das und die sentimentalen Heimatlieder, die sie dann sangen und die Mama nicht vergessen wollte, ja, und das Eintauchen in das seltsame Sprachgemisch der ehemaligen Siedler, das alles fehlte ihr, aber wie so oft in ihrem Leben hatte sie sich auch dabei zurückgenommen, und Klara konnte sich nicht erinnern, dass sie in den letzten Jahren noch einmal bei einem solchen Treffen gewesen war.