Den Sommer im Ohr - Caleb Azumah Nelson - E-Book

Den Sommer im Ohr E-Book

Caleb Azumah Nelson

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Beschreibung

Das Einzige, was Stephens Probleme lösen kann, ist Tanzen. Tanzen in der Kirche, wenn die schimmernden Schwarzen Hände zum Lobpreis erhoben werden. Tanzen mit seinen Freunden irgendwo in einem Keller, während der Bass wummert. Tanzen mit seiner besten Freundin Del, die ihn kennt wie niemand sonst, so eng, dass sich fast ihre Köpfe berühren.  Stephen mag seinen Glauben verloren haben, aber er glaubt an den Rhythmus. Aber was passiert, wenn die Musik verklingt? Wie geht es mit ihnen allen weiter, nach ihrem Abschluss, wenn sich alles verändert? Was kann ihnen Halt geben außerhalb ihrer kleinen Welt in Peckham, London, die ihnen vertraut ist?  Als sein Vater so alt war wie Stephen, war er schon aus Ghana nach London gezogen. »Ich bin nicht in dieses Land gekommen, damit meine Kinder ihre Zeit verschwenden«, sagt er. Wie viel von der Geschichte seiner Eltern gehört zu Stephen? Kann er sich etwas aufbauen, das ihm allein gehört? Anhand von drei Sommern, in denen Stephen von London nach Ghana reist und wieder zurück, erzählt der gefeierte Autor Caleb Azumah Nelson von den Welten, die wir uns selbst erschaffen, den Welten, in denen wir leben, tanzen und lieben.  

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Seitenzahl: 332

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Caleb Azumah Nelson

Den Sommer im Ohr

Roman

Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner

Kampa

Für Mum und Pops,

für J und J,

für Es,

meine kleine Welt

Black faith still can’t be washed away.

Solange

From my heart, that’s the making of me.

Dave

Erster TeilZwei junge Menschen im Sommer

2010

1

Da Tanzen wohl das Einzige ist, was die meisten unserer Probleme lösen kann, ist es nur logisch, dass der Pfarrer uns, die Gemeinde, nachdem die schimmernden Schwarzen Hände zum Lobpreis erhoben wurden, hier zum Gebet einlud und wir diesem Gebet Raum gaben, uns erlaubten, die Höhen und Tiefen unseres Wesens zu erforschen, Dinge zu sagen, die ehrlich und wahrhaftig waren, ja geradezu göttlich. Wir erlaubten uns, zu jemandem zu sprechen, der sowohl wir selbst ist als auch die Person, die wir sein wollen, wir erlaubten uns, leise zu sprechen, waren bereit, das Bedürfnis nach Sicherheit aufzugeben und zu fragen: Wann haben wir uns das letzte Mal so hingegeben? Wann waren wir das letzte Mal so offen? Und ehe wir nach einer Antwort suchen können, setzt das Schlagzeug ein, plötzlich und bestimmt. Gefolgt von einer fetten Bassline, die einen im Innersten trifft. Der Pianist spielt nie gehörte Akkorde von irgendwo aus der Seele. Und noch bevor das Intro zu Ende ist, zaubert der Chor sich auf die Bühne; ein Mikro in der Hand und ein Grinsen, als die Leiterin nach vorn kommt und ihr Gebet singt: I’m trading my sorrows, I’m trading my shame. Sie singt diese Worte, weil sie weiß, dass wir, die wir in diesem Raum sind, wahrscheinlich sowohl Kummer als auch Scham kennen. Wir kennen den Tod in all seinen Facetten, wollen aber alle unbedingt am Leben bleiben. Und da Tanzen wohl das Einzige ist, was die meisten unserer Probleme lösen kann, verwandeln wir unsere Trauer in Bewegung. Wir durchbrechen die Reihen, drängen durch die Gänge nach vorn, bis vor die Bühne, hinein in den Raum.

Ein Stück weiter, zwischen den anderen, sehe ich meinen Vater, er bewegt sich frei und locker, rudert mit den Armen. Er winkt mit einem Taschentuch, hält es hoch wie ein Leuchtfeuer, als wollte er sagen: Ich bin hier. Er macht immer weiter, und dann sehen wir ihn langsamer werden, als suchte er nach einem Teil von sich. Er sieht sich nach meiner Mutter um, entdeckt sie und gibt ihr ein Zeichen. Sie winkt ab, aber er lässt sich nicht abwimmeln, bahnt sich den Weg zurück zu uns, lockt sie aus der Reihe, sie umarmen sich zärtlich mit ihren weichen Händen, er zieht sie zu sich ran, hält die Lippen an ihr Ohr, Hier bist du sicher, nicht nur in diesem Haus, in dieser Kirche, sondern in seinen Armen. Ich sehe meine Eltern an und stelle fest, dass eine Welt aus zwei Menschen bestehen kann, in einem Raum, in dem sie nichts erklären müssen. Wo sie sich schön fühlen können. Wo sie sich vielleicht frei fühlen.

Ich stupse Raymond an. Wir lachen, ein fröhliches, brüderliches Lachen. Ich weiß, dass er, wie ich, täglich mit dem Glauben hadert, dass er sich seine Kirche woanders bauen musste, um sich selbst zu erkennen. Beide machen wir dieselbe kleine Bewegung, ein schneller Wechselschritt auf der Stelle, denn die Musik ist ja trotz allem unbestreitbar. Ich habe mich immer nur in der Musik erkannt, zwischen den Tönen, wo Worte nicht ausreichen, aber vielleicht die Drums für uns sprechen, für das, was wir im Herzen tragen. In diesem Moment, während der Loop von vorn anfängt, die Musik Fahrt aufnimmt, über den Taumel hinaus sich der Ekstase nähert, das Gebet zum Höhenflug ansetzt, I’m trading my sorrows, I’m trading my shame, würde ich Raymond am liebsten wieder anstupsen, ihm sagen: Ich wünschte, wir könnten immer so offen sein, uns auch nur annähernd so frei fühlen. Ich bin nicht sicher, ob ich die Worte fände. Aber da Tanzen wohl das Einzige ist, was die meisten unserer Probleme lösen kann, ist es nur logisch, dass, als unsere Eltern uns ein Zeichen geben, wir zu ihnen gehen.

 

Lange nach dem Gottesdienst, nachdem der Tag seinen Glanz verloren hat und die Sonne nur noch milde schimmert, fahren wir zu Uncle T, der uns hilft, seine Boxen vorsichtig auf Raymonds Rücksitz zu legen, und uns zeigt, wie man ein Kabel mit der Zange abschneidet, mit den Zähnen abisoliert und in den Lautsprecher fummelt. Seine Warnung, sie ja heil wiederzubringen, ist nur noch ein fernes Echo, während wir weiter Richtung Walworth Road zu Tej fahren. Als wir den Wagen parken, sehe ich Adeline, Del. Ich kenne sie schon so lange, dass ich weiß, wie sich das Licht um ihren Hals legt, ich kenne ihren Rhythmus, selbst wenn sie sich nicht bewegt, also gehe ich auf sie zu, lasse ein Lächeln aus meinem tiefsten Inneren steigen, lasse unsere Wangen in einer zärtlichen Umarmung aufeinandertreffen und frage sie, als wir uns voneinander lösen: Wann haben wir das das letzte Mal gemacht? Bevor sie sagen kann: Ist noch gar nicht lange her, dass wir gefeiert haben, schwingt Tejs Tür auf, und kurz darauf sind wir nicht mehr allein oder zu zweit, sondern viele. Und dann sind wir schon vollkommen ins Gespräch vertieft, erlauben uns, Dinge zu sagen, die ehrlich und wahrhaftig sind, ja geradezu göttlich. Von drinnen hören wir Musik, die wir kennen, wir durchbrechen die Grenzen der Wohnung, drängen in den Garten, nach vorn, bis vor die Anlage, hinein in den Raum, in den Händen Plastikbecher, hoch über unseren Köpfen, wie Leuchtfeuer, als wollten wir sagen: Wir sind hier. Viele von uns glauben nur noch an Rhythmus. Wir glauben daran, dass ein Vier-Minuten-Stück die Zeit bis zur Unkenntlichkeit dehnen kann, jede Sekunde eine Ewigkeit. Als Charmz’ »Buy Out Da Bar« noch mal läuft, ist das eine eigene Form von Nostalgie, ein Gebet, der Wunsch, die Person zu sein, die man gerade eben noch war, und ich denke, ich wünschte, wir könnten immer so offen sein, in einer zärtlichen Bewegung, Schulter an Schulter, Herz an Herz, energy energy, gimme that energy energy.

Wir denken jetzt schon wehmütig an gestern, also legt Del ein paar Grime-Nummern auf. »Too Many Man«, »I Spy«, »21 Seconds«. Als Nächstes läuft »Pow«, die Kick-Drum startet, plötzlich und bestimmt. Gefolgt von einer fetten Bassline, die einen im Innersten trifft. Gespenstische Akkorde hallen durch den Garten. Noch bevor das Intro zu Ende ist, steht Raymond neben mir und ruft: Noch mal von vorn. Es bleibt keine Zeit für das, was ich ihm sagen will, der Song geht wieder los, das Intro, nackt und ohne Worte, gibt uns Raum. Die Tanzfläche lichtet sich, nackt und ohne Körper, um uns bildet sich ein Kreis, etwas ergreift Besitz von Raymond und mir, während wir den Rand immer weiter nach außen an die Grenzen des Gartens drücken. Ich will hier nur erklären, was es bedeutet, mittendrin in einem Moshpit zu stecken: eine kleine, wunderschöne Welt mitten im Chaos, frei, zwischen rudernden Gliedmaßen und mitgebrüllten Textzeilen. Dann, nach der fünften oder sechsten Wiederholung, können wir nicht mehr und verschwinden in die Nacht. Zu viert laufen wir durch die Walworth Road, auf der Suche nach etwas zu essen. Und dann sind wir bei Bagel King, dem einzigen Laden, den wir kennen, der immer aufhat. Dann legt Raymond mir den Arm um die Schulter, hält den Mund an mein Ohr und sagt: Alles klar, Mann, und ich nicke in den Raum, den er mir gibt. Dann ein Arm, der sich von hinten um mich legt, und ich weiß, das ist Del. Wir kennen uns schon so lange, dass sie weiß, wie sich das Licht um meinen Hals legt, sie kennt meinen Rhythmus, selbst wenn ich mich nicht bewege. Dann, a cappella und Handylautsprecher und, da Tanzen wohl das Einzige ist, was die meisten unserer Probleme lösen kann, ein schneller Wechselschritt auf dem Bürgersteig.

Dann, viel zu früh, ist es Zeit auseinanderzugehen. Wer zusammen ist, verschwindet in die Nacht und rückt noch näher zusammen. Wer allein ist, sehnt sich nach einem Knie an Knie auf der Fahrt nach Hause, einer flüchtigen Berührung in der Tür, einer Einladung auf eine Party. Wir sind jung, oft fällt es uns schwer zu sagen, was wir brauchen, aber im Grunde wünschen wir uns doch alle Nähe.

Daran denke ich, als Del und ich mit dem Nachtbus zurück nach Peckham fahren – Raymond ist in der Nacht verschwunden, wir sind also nur noch zu zweit. Sie schläft, ihre weiche Wange liegt an meiner Schulter. Aus dem Bus raus, die Straße runter, ein warmes Licht an ihrer Tür, wie ein Leuchtfeuer. So still war es den ganzen Abend nicht. Ich sehe sie an. Stecke die Hände in die Taschen, sehe weg in Richtung Boden und dann verstohlen wieder zu ihr hoch. Sie lächelt über meine Schüchternheit, ich lächele zurück. Wenn ich mit ihr zusammen bin, weiß ich, dass eine Welt aus zwei Menschen bestehen kann, in einem Raum, in dem wir nichts erklären müssen. Wo wir uns schön fühlen können. Wo wir uns vielleicht frei fühlen.

Dels Lippen landen kurz auf meiner Wange, wir umarmen uns. Wir verabschieden uns nicht – wir kennen den Tod in all seinen Facetten, und sich verabschieden klingt wie ein Ende –, stattdessen halten wir, nach der Umarmung, kurz die Fäuste aneinander, dazu ein Bis dann, weniger ein Abschied, eher das Versprechen, am Leben zu bleiben.

2

Ein paar Stunden später schiebt sich ein Sonnenstrahl durch einen Spalt im Vorhang. Es ist zu früh, das weiß ich, noch bevor ich auf die Uhr sehe. Rays Bett ist leer und ungemacht. Ich muss zur Arbeit und raffe mich auf. Die Welt schwankt kurz, richtet sich dann aber wieder. Ray liegt unten auf dem Sofa, in der Hand eine Flasche Bier, als hätte die Party nie aufgehört.

»Bisschen früh für Bier«, sage ich.

»Und du, bisschen spät aufgewacht, was?«

»Touché. Wo ist Mum?«

»Weg.«

»Und Dad?«

»Weg.«

Im Fernsehen laufen Fußball-Highlights. Ich weiß, dass Ray mit mir reden kann oder Fußball gucken, aber nicht beides gleichzeitig, also spare ich mir die Mühe, gehe in die Küche und sehe nach, was im Kühlschrank ist. In den meisten Tupperware-Dosen ist Essen, für das Mum wahrscheinlich lange in der Küche stand, schwere Gerichte, die das Haus den ganzen Tag mit Sehnsucht erfüllen, die man oft einfach so herunterschlingt, bis man halb besinnungslos dasitzt und nur noch sagen kann, wie fantastisch es geschmeckt hat. Da ich in so einem Zustand nicht arbeiten kann, suche ich nach etwas Leichterem. In der Kühlschranktür entdecke ich eine braune Tüte und darin zwei Teigtaschen. Ich mache sie warm und lege sie auf Teller, eine für mich, eine für Ray. Als ich zurückkomme, schwingt er die Beine vom Sofa und macht mir Platz. Wir essen schnell, sie sind noch zu heiß, aber egal.

»Was hast du heute vor?«

Ray schüttelt den Kopf und zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht geh ich zu Deb.«

»Deb? Du meinst Tej?«

»Nee, die ist nicht gut auf mich zu sprechen.«

»Warum?«

»Weil ich mich noch mit Deb treffe.«

»Du suchst aber auch Ärger, Mann.«

»Ich? Auf keinen Fall.« Er grinst, lässt sich zurück ins Sofa sinken und gähnt laut. »Und du?«

»Arbeiten. Übrigens, du musst mir einen Gefallen tun.«

»Falls es um Geld geht, ich hab keins.«

»Nein. Du musst mir deinen Anzug leihen. Für den Abschlussball.«

Ray verzieht das Gesicht. »Der ist heute, ernsthaft?«

»Yep.«

Ray verwandelt sich in unseren Vater, er drückt die Brust raus und erklärt mit tiefer, fester Stimme:

»Ihr jungen Leute mit eurem Lastminute.com-Leben!«

Angespornt durch mein Lachen stimmt er den Lieblingsmonolog unseres Vaters an: »In eurem Alter habe ich …« In meinem Alter, mit achtzehn, war Pops schon von Accra nach London gezogen und hatte angefangen, sich so etwas wie ein neues Leben aufzubauen, was er uns oft und gern wissen lässt. Raymond dreht immer mehr auf, in Ton, Gesten und auch inhaltlich, bis wir uns beide wegschmeißen vor Lachen und dann allmählich verstummen, ohne dass es peinlich ist. Von draußen hören wir Getrappel, aufprallende Bälle, Kinder auf dem Weg in den Park, wo sie die Sommertage verbringen. Ray nimmt einen Schluck aus seiner Flasche, überlegt kurz und fragt dann: »Gehst du mit Del hin?«

»Es ist nicht so, wie du denkst.«

»Schon klar.«

Del und ich kennen uns von klein auf, noch bevor unsere Väter in die Gold Coast Bar gingen und Spirituosen tranken, pur, in der Hoffnung, in ihrem Übermut etwas Spirituelles zu finden, sich selbst zu finden. Wir kennen uns auf eine Art, die nichts damit zu tun hat, dass man jemanden in einem Raum sieht, ein kurzes verschämtes Lächeln austauscht, vielleicht desinteressiert tut und wartet, dass der oder die andere kommt, oder einen Freund bittet, einen vorzustellen. Wir haben Zeit. Mehr als zehn Jahre sind vergangen seit dem Schulausflug zum Bauernhof, als ich meine Lunchbox im Bus liegen ließ. Ich schämte mich zu sehr, um etwas zu sagen. Wir waren nicht befreundet, aber sie hatte gemerkt, wie peinlich es mir war, als alle anderen ihre Sandwiches auspackten. Ich hab was übrig, flüsterte sie – ihr Vater hatte immer Angst, ihr nicht genug mitzugeben –, und dann setzten wir uns nebeneinander, als hätten wir das schon tausendmal gemacht, und sie packte ihre Lunchbox aus, mit einem Sandwich, ein bisschen Obst und einem Donut für jeden.

Wir vertrauen einander, nach all der Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Als Kinder – wenn wir uns auf dem Spielplatz hin- und hergejagt haben, immer wieder dieselbe Strecke, bis uns die Beine nicht mehr trugen. Als Teenager – wenn wir ins Zentrum fuhren, ihr tiefes Lachen das Rückgrat unserer Tage, vom Marble Arch zum Oxford Circus und weiter bis zum St. James’s Park. Del war die Seele der Gruppe. Sie hielt alles zusammen, es sei denn, sie hatte keine Lust. Dann trennten wir uns auf ein Geheimzeichen, das wir irgendwann ihr doppeltes Blinzeln nannten – sie kann nicht zwinkern, nur beide Augen zukneifen –, von den anderen, fuhren zurück nach Peckham und spielten im Bus Spiele, um unsere müden Körper wach zu halten. Heute sehen wir uns wann immer möglich, weil es sich leicht anfühlt, weil wir es wollen und weil wir es können. Wenn ihre Tante nicht da ist, stöbern wir oft in den Platten ihres Vaters. Wir kennen uns schon so lange, dass ich weiß, welches Album wann bei ihr am besten funktioniert: Bill Withers’ Justments, weil es so zärtlich ist, Bitches Brew, weil es so schön frei und so mutig ist, Curtis, wenn sie sich bewegen muss. Wir kennen uns schon so lange, dass ich sofort merke, wenn ihr eine bestimmte Sequenz oder Phrase besonders gefällt, weil ihre Züge dann vor Begeisterung weicher werden. Wir kennen uns schon so lange, dass ich nicht weiß, wie ich dieses Kennen nennen soll.

»Aber dann sei nicht sauer, wenn jemand anders es bei ihr versucht. Ich sag ja nur. Wenn du es nicht tust, muss ich sie wohl mal ansprechen.«

Ich verkrampfe, noch bevor ich etwas sagen kann.

»Siehst du? Warte nicht zu lange, Bro. Ihr jungen Leute mit eurem Lastminute.com. Willst du ein Bier?«

»Nee, danke.« Ray lässt mich kurz allein mit meinen Gefühlen. Als er zurückkommt, mit einem Bier für sich und einem Saft für mich, zeigt er auf den Bildschirm und erzählt mir, welche Chancen die ghanaische Nationalmannschaft bei der bevorstehenden Weltmeisterschaft hat. Ich nicke, versuche zuzuhören, schweife mit den Gedanken aber immer wieder ab. Ich stelle mir vor, bei Del zu sein, eine Platte läuft, etwas Langsames, Warmes. Aber Ray mit seiner Energie, die jeden Raum füllt, holt mich zurück, brüllt, als im Fernsehen ein Tor fällt, und erklärt mir, wie es dazu gekommen ist.

Mir wird bewusst, dass meine Zeit mit ihm begrenzt ist. Es ist Sommer, bald ist September, und dann beginnt mein Studium. Er bleibt, ich gehe. Ich beuge mich vor und stelle Fragen. Ich jubele mit. Ich frage ihn über seine Liebesabenteuer aus, lache, weil die Geschichten so absurd sind. Ich aale mich im Glanze meines großen Bruders.

3

Weil Sommer ist und wir bis September jung sind, bin ich nicht der Einzige, der spät aufsteht. Während ich durch die Siedlung laufe, sehe ich einen Mann, der mein Spiegelbild sein könnte, vorsichtig die Tür schließen und zusammenzucken, als sie mit einem Klacken zugeht. Er sieht, dass ich ihn sehe, und zuckt mit den Schultern, bevor er den Kragen seiner Hemdjacke zurechtrückt und leicht nach vorn geneigt davonschwingt. Ich folge ihm, vorbei an ein paar Jungs, die in einer Unterführung an der Wand lehnen und laut überlegen, was sie heute Abend anstellen sollen. Einer will unbedingt auf eine Party in Deptford. Sie sticheln ihn, bis er mit der Sprache rausrückt: Sein Schwarm wird da sein, und er hofft, sie endlich anzusprechen. Rufe aus dem Chor: »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Weil Sommer ist und wir bis September jung sind, tun sie alles für ihre Brüder, ob blutsverwandt oder nicht. Weiter, vorbei am Sportplatz, wo die Fußballer schon früh das kleine Spielfeld eingenommen haben und ein junger Mann den Ball so vollkommen beherrscht, als gehöre er ihm und nur ihm. Vorbei an Uncle T, wo, weil Sommer ist, Dub an den Scheiben rüttelt und ein Pfiff durch das geöffnete Fenster dringt. Ich sehe seine weichen Dreadlocks, zum Dutt hochgesteckt, darunter ein freundliches Gesicht und ein Mund voller Gold. Er singt Bob Marleys »Waiting in Vain« wie für eine Geliebte in der Abenddämmerung, aber ich weiß, dass er allein ist. Ich hebe die Hand zum Gruß, er grüßt zurück, und in dem Moment schieben sich Erinnerung, Bild und Möglichkeit übereinander: Uncle T, der für eine ferne Geliebte singt; mein Vater in seinen Zwanzigern, der überlegt, in welcher Ecke von London er feiern gehen soll, um sich frei zu fühlen; ich in ein paar Jahren, wie ich versuche, nicht an die Tür einer Fremden zu klopfen, mit der ich durch die Nacht gezogen bin. Was wird aus der Zeit, wenn der Sommer da ist?

*

Auntie Yaa hat mit Sicherheit den größten afrokaribischen Laden in Peckham, vielleicht in ganz Südlondon. An der Ecke Rye Lane und Peckham High Street, gleich neben der Bücherhalle, gibt es alles, was die Menschen brauchen, die sich hier, weit weg von der Heimat, eine Existenz aufbauen wollen. Süßkartoffeln, Kochbananen, Kenkey und Fufu-Brei, Auberginen, Okra und Scotch Bonnets, kistenweise getrockneten Fisch und Supermalt. Für Auntie, wie für die meisten von uns, sind Lebensmittel nicht nur Nahrung, sondern Erinnerung, Nostalgie, eine Möglichkeit, die Sehnsucht zu stillen. Sie kümmert sich auch darum, wenn man ein Stück vom neuen Leben nach Hause schicken will. Dorcas, eine Stammkundin, schickt ihrer Schwester in Ghana jeden Monat eine Packung Weetabix, Ingwerplätzchen und Tetley Tea. Dorcas sagt, sie sei immer verantwortlich für die Einkäufe gewesen und hoffe, es fühle sich an, als wäre sie nie weggegangen. Bevor sie das Paket zuklebt, legt sie noch ein Foto von sich auf das Essen, damit ihre Schwester von ihrem Lächeln begrüßt wird.

An der Tür steht meistens Uncle T, der mit niemandem blutsverwandt ist, aber doch mit allen verbunden. Er ist ein fröhlicher Mann mittleren Alters und trägt eine Pilotenbrille mit Fensterglas. Mir war nie klar, ob er offiziell dort arbeitet, jedenfalls ist er nachmittags immer mit irgendwas zugange, zeigt den Kunden die Ware, lacht. Gegen Abend sieht man ihn dann mit einem Guinness in der Hand. Ich würde sagen, er ist so was wie der Security-Mann, aber das eine Mal, als er einschreiten wollte, als Rays Freund Koby atemlos in den Laden gerannt kam, um sich zu verstecken, und ein paar Minuten später mehrere Jungs reinkamen und wollten, dass wir Koby auslieferten, baute Uncle sich zwar vor ihnen auf, wurde aber von Auntie weggeschickt. Als Erstes fragte sie die Jungen, wer ihre Eltern waren. Dann wollte sie wissen, wer was in der Schule machte und wer beim Fußball am Wochenende das entscheidende Tor geschossen hatte. Auntie fand, Wut sei ein berechtigtes Gefühl, aber oft fehlgeleitet, und diese Fehlleitung sei schuld daran, dass der Tod, den wir in all seinen Facetten kannten, sich weiterverbreitete, und diese Fehlleitung hatte vor allem damit zu tun, dass es keinen Raum gab. Sie hielt also kurz Hof und schickte sie dann nach Hause, mit Sheabutter für die Haare und Fleischpasteten gegen den Hunger.

 

Ich stehe hinterm Tresen, als Del hereingewankt kommt. Sie lehnt ihren Kontrabass an eine freie Stelle an der Wand und bahnt sich ihren Weg durch das Labyrinth aus Tischen in Richtung Tresen. Eine Kette mit einem kleinen Anhänger – der ihrem Vater gehört hat – baumelt an ihrem Hals. Das Licht hat ihre Augen geweitet, ein leises Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. Sie ist wunderschön. Ich will ihr das sagen, habe es aber außer in Liedern und Filmen noch nie ausgesprochen gehört. Trotzdem fühle ich mich ihr gerade näher, vielleicht weil ich mich mir selbst näher fühle und mir bewusster ist, was ich für sie empfinde.

Offenbar starre ich sie an, denn sie sagt: »Was?«

»Nichts.«

Sie hakt nicht nach und setzt sich an den Tresen. Ich öffne eine Flasche Fanta, gieße die Hälfte in ein Glas mit Eis. Sie nimmt einen großen Schluck, dreht sich dann auf ihrem Sitz um und sieht den Laden jetzt so, wie ich ihn sehe. Ein Pärchen, das nur Augen füreinander hat, verschränkt die Hände ineinander auf dem Tisch, ein anderes Paar spielt Karten, eine Frau schreibt etwas in ein Notizbuch. Im Hintergrund läuft »Peace On Earth« von Ebo Taylor.

»Was glaubst du, was da los ist?«, frage ich leise.

»Er hat Scheiße gebaut, und sie hat ihm endlich verziehen.«

»Woher weißt du, dass er es war?«

»Weil es immer er ist. Nimm’s nicht persönlich. Ist einfach so.«

»Wenn du meinst. Und die anderen?«

»Das sind Freunde. Ziehen wahrscheinlich gerade zusammen. Wer gewinnt, kriegt das größere Zimmer. Und die Frau … schreibt eine Geschichte.«

»Worüber?«

»Zwei junge Menschen im Sommer.«

»Könnten wir sein.«

»Vielleicht. Aber im Sommer sind alle Menschen jünger.« Sie dreht sich zu mir um. Im selben Augenblick kommt Auntie Yaa von hinten, und ich bin kurz vergessen. Sie begrüßen sich wie Schwestern, halten einander das Gesicht in ihren weichen Händen. Auntie Yaa hat ihre Eltern auf ähnliche Weise verloren wie Del, eine Mutter, die die Geburt nicht überlebt hatte, ein Vater, der so lange durchhielt, wie er konnte, aber irgendwann den Kampf gegen den Spiegel verlor. Auntie Yaa und Del verbindet etwas, das ich nie wirklich begreifen werde.

»Wie geht es dir?«

»Gut, danke, Auntie.«

»Hast du schon was gehört?«

»Noch nicht.«

»Kommt schon noch.«

Del und ich lassen den Kopf sinken. Wir haben uns beide an der Musikhochschule beworben. Selbst bei einem Studiendarlehen geht das nur mit einem Stipendium, was mit jedem Tag, der vergeht, unwahrscheinlicher wird. Es gibt gerade mal eine Handvoll. Außerdem hat es etwas Willkürliches, ein paar Leute darüber entscheiden zu lassen, ob wir gut genug sind, wenn wir bislang doch ganz auf unser Gefühl vertraut haben.

Del und ich jammen meistens abends und am Wochenende mit ein paar anderen. Seit ein paar Jahren machen wir das jetzt. Angeblich spielen wir Jazz, aber wenn man uns fragt, was das bedeutet, würden wir wahrscheinlich aufeinander zeigen, mit den Schultern zucken und grinsen. Nicht dass wir es nicht wüssten, wir wissen nur nicht, wie wir es erklären sollen, diese seltsame Ausdrucksform der Improvisation, wenn wir uns ins Unbekannte legen. Meistens fängt Theo an, mit einem schnellen, bestimmten Beat, damit alle wissen, dass es losgeht. Dann kommt Del mit Basstönen so fett wie Mauern, sodass ein Raum entsteht, in dem wir uns bewegen können, und in dieses Haus schleiche ich mich dann mit meiner Trompete. Wir treffen uns, wo immer es gerade geht: in Proberäumen in der Schule, in Studios, für die uns jemand den Schlüssel zusteckt, oder, normalerweise, bei jemandem in der Küche oder Garage. Einmal haben wir uns in zwei Autos gequetscht und sind ein Stück weiter Richtung Süden zum Beckenham Place Park gefahren. Das Gelände schien sich endlos zu erstrecken. Es war Frühling, überall erblühte neues Leben. Alles war möglich. Wir schleppten unsere Instrumente in ein Waldstück, bildeten einen Kreis und schickten Sounds in die Bäume. Bevor wir anfingen, stellte jemand ein Aufnahmegerät in die Mitte, nicht weil wir dachten, wir würden uns später nicht daran erinnern, sondern weil wir es nicht vergessen wollten.

Irgendwann rutschte mein Finger weg und produzierte einen merkwürdigen Ton. Der Fehler blieb nicht unbemerkt, aber wir machten weiter. Ich war dankbar für die Freiheit, an diesem Ort sein und einen Fehler machen zu dürfen. Dafür, dass dieser Fehler im richtigen Ohr vielleicht sogar schön klang. Dass Del mit ihrem Bassspiel darauf reagierte. Dass die anderen folgten und sich auf das Neue, Unbekannte einließen. In dem Moment stellte ich fest, dass ich mich nur in der Musik wirklich erkannte. In der Stille, in der Freiheit, der Hingabe.

Als wir danach zu unseren Autos trotteten, verausgabt und doch so erfüllt, fielen Sätze wie »Ich wusste gar nicht, dass ich genau das brauchte« oder »Das war eine spirituelle Erfahrung«. Wir – Del und ich – versuchen seitdem, an dieses Spirituelle anzuknüpfen, optimistisch zu sein, zu glauben. Aber das Warten fällt uns schwer. Vor allem wenn wir am Ende womöglich getrennte Wege gehen, ein Thema, das wir nie angeschnitten haben, weil wir immer davon ausgingen, dass wir irgendwie zusammenbleiben. Keiner von uns will sich die Frage stellen, was passiert, wenn diese letzten Schul- und Sommertage die letzten sind, in denen wir uns nahe sein können.

Als wüsste sie, was in uns vorgeht, sagt Auntie Yaa: »Das Warten wird sich lohnen.« Dann schlurft sie davon. Del sieht auf die Uhr.

»Ich mach mich besser auf den Weg.«

»Schon?«

»Ich bin noch mit Theo und den anderen zum Jammen verabreden. Wollte dich nur kurz sehen.«

»Warte!«

»Ja?«

»Weißt … weißt du schon, mit wem du zum Abschlussball gehst?«

»Ähm …« Sie senkt den Blick. Sie überlegt, wie sie es sagen soll. Mir bricht ein bisschen das Herz.

»Dich hat schon jemand gefragt«, sage ich, kein Vorwurf, aber eine Tatsache.

»Ja. Johnny. Gestern.« Johnny, ein Gitarrist, der regelmäßig mit uns spielt. Diese intimen Momente mit ihm geteilt zu haben macht es irgendwie noch schwieriger für mich, aber das sage ich Del nicht. Was gibt es überhaupt zu sagen? »Kein Problem«, sage ich.

»Ich dachte nur, weil du nicht gefragt hast, dass du vielleicht andere Pläne hast …«

»Ja, nein … ähm …« Ich zucke mit den Schultern. Wir können uns beide nicht in die Augen sehen.

»Außerdem bedeutet es ja auch nichts, oder?«

»Nein.« Ich frage mich, ob wir das wirklich glauben. Wieder eine Pause, die uns beiden nicht gefällt. Del lenkt ab.

»Das wird bestimmt nett. Du schuldest mir sowieso noch einen Tanz.«

»Hä?«

»Bei der Hochzeit von deinem Cousin? Du hast dich geweigert, mit mir zu tanzen.«

»Ich hab mich nicht geweigert, ich war zu betrunken.«

»Egal.« Sie atmet lange aus, als hätte sie gar nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hat. »Ich, äh …« Sie blickt zu Boden und dann zu mir. »Wir sehen uns später.«

»Ja.« Ich nicke. »Bis dann.«

Sie dreht sich um und holt ihren Kontrabass. Bevor sie geht, winkt sie noch mal kurz. Ich schaue in den Spiegel neben der Bar und frage mich, ob er eine Antwort für mich hat. Etwas hat sich verändert zwischen uns, vielleicht war es auch schon immer da, und wir haben uns erst jetzt entschieden, es zu sehen.

4

»Ich hab doch gesagt, du sollst nicht so lange warten.« Raymond richtet mir den Kragen und die Krawatte. Ich stoße einen tiefen Seufzer aus. Es fühlt sich an, als hätte ich etwas verloren. Ray geht nicht darauf ein und versucht, mich auf andere Gedanken zu bringen. »Egal, Bro. Abschlussball! Komm mir nicht nach Hause, bevor du« – er zählt es an den Fingern ab – »betrunken bist, jemanden geküsst hast oder beides.«

 

Mein Freund Nam hört von seinem Date, dass die Mädchen sich vorher treffen, also kommt er bei mir vorbei. Er lädt Jeremiah ein, ich lade Jimmy ein. Die beiden laden Tony und Kwame ein. Kurz darauf sitzt in meinem Wohnzimmer eine Gruppe von Jungs an der Schwelle zum Erwachsensein, noch nicht ganz da, aber irgendwo dazwischen, an einem Ort, an dem alles möglich scheint. Wir machen Witze über Jeremiahs lila Samtanzug und dass Kwame seinen Afro zu Zöpfen geflochten hat. Wir genießen die Aufregung und kämpfen gegen die Nervosität an. Mein Vater bringt uns Bier, das sind die Momente, in denen er aufblüht, wenn er sich um andere kümmern kann. Er hockt auf der Sofakante, einen eigenen, stärkeren Drink in der Hand, und erzählt Geschichten von Partys in seinen Zwanzigern, Nächte, die nie zu enden schienen.

 

Mum bittet uns zusammenzurücken, damit sie uns fotografieren kann. Ich frage mich, was sie in diesem Moment sieht, was sie auf Zelluloid bannen will, was sie wohl festhalten möchte. Ich weiß, dass sie achtzehn war, so alt wie ich jetzt, als sie nach London kam. Ich frage mich, ob es die Sehnsucht nach einer Zeit ist, die meine Eltern nie erlebt haben, diese unbeschwerte Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein, die für sie nicht stattfand, weil sie Verantwortung übernehmen mussten.

 

Pops kennt jemanden bei einem Taxiunternehmen, er bestellt einen Wagen, in den wir alle reinpassen. Als wir aufbrechen, drückt er mir einen Zwanziger in die Hand. Mum steht in der Tür, hält sich die Hände ans Gesicht und lächelt. Während das Taxi durch London gleitet, sehen wir Unmengen von Menschen aus den Pubs und Bars strömen, sich für Konzerte anstellen oder einfach irgendwo hinlaufen. Diese Energie ist schwer zu ignorieren, und auch ich, der ich eher ruhig bin, kann mich ihr kaum entziehen. Als wir nach Central London kommen, läuft im Radio Choice FM, wir sind laut und ausgelassen, fühlen uns toll und lauschen dem DJ, der uns zurück in die Neunziger entführt, Garage, Musik, auf die unsere Väter schwören. »A Little Bit of Luck« geht in »Booo!« über. Als zum dritten Mal Craig Davids »Re-Rewind« läuft, hält es uns nicht mehr auf den Sitzen, und wir rufen dem DJ zu, der uns nicht hören kann: Spiel es noch mal, spiel es noch mal.

 

Wir steigen aus und folgen dem Menschenstrom und der Musik, derselbe aufwühlende Sound, dieselbe pulsierende Energie wie im Taxi. Aus dem Fahrstuhl treten wir in einen großen Saal, wo der DJ, den wir sofort entdecken, das Gesicht konzentriert verzerrt, versucht, »Party Hard« in »Migraine Skank« übergehen zu lassen. Ein paar Wochen davor haben Ray und ich, wie immer wieder mal, bis in die frühen Morgenstunden Musik gehört. Er hat mir einen neunminütigen Song von DJ Gregory vorgespielt. Der Sound war unverkennbar: Daher kamen der treibende Beat und die Bassline von »Migraine Skank«. Raymond erklärte mir etwas, das ich schon wusste, aber nicht ausdrücken konnte: dass, wenn man etwas sampelt, man nicht einfach nur die Sounds wiederverwendet, sondern auch ein Feeling. Man greift die Atmosphäre auf, die bei der Aufnahme im Raum war, beziehungsweise was die Künstler während des Schöpfungsprozesses bewegt hat. Wenn ich jetzt also Gracious Ks Text höre und dabei der Track von DJ Gregory mitschwingt, diesen herrlichen Loop, der einen immer tiefer hineinzieht, und dieses Gefühl sich mit der pulsierenden Energie im Raum verbindet, den Schreien und dem Jubel, dem Stampfen der Füße, dem unwiderstehlichen Drang, sich zu bewegen, dann spüre ich, wie der Geist sich aus dem Körper lösen will. Das ist pure Freude in all ihren Facetten.

 

Irgendwo zwischen »Next Hype« und »Talkin’ the Hardest« frage ich Nam, wo die Toiletten sind. Er zeigt auf eine Tür. Im Gang ist eine Schlange. Ein Schild verweist auf eine andere, ein Stockwerk tiefer, ich folge ihm vertrauensvoll und verirre mich. Ich will gerade umkehren …

»Hey.«

Wenige Meter entfernt steht Del. Ich versuche, cool zu bleiben, verhaspele mich und habe einen Knoten in der Zunge, sodass mir kein vernünftiges Wort über die Lippen kommt. Von oben hören wir beharrlich die Kick-Drum, das Schnarren einer Bassline und das Geschrei von der Tanzfläche. Ich weiß nicht, wie ich mich in solchen Momenten verhalten soll, wenn die Magie der Worte sich nicht offenbart, aber mit Del fiel es mir immer leichter. Ich sehe sie an, und sie sieht mich an. Erinnerung, Bild und Möglichkeit schieben sich übereinander. Wir existieren nicht nur in diesem Moment, sondern in all denen, die wir zusammen verbracht haben, all denen, die vielleicht noch kommen. Nur wir beide hier in diesem Gang. Niemand kommt, niemand geht.

Nach einer Weile greift sie nach meinem Hemdkragen und zieht ihn runter, rückt ihn zurecht, glättet ihn mit ihrer zarten Hand. Sie steht ganz nah vor mir, so nah wie es nur geht, ihre Hand gleitet von meiner Schulter auf meine Brust. Außer uns ist niemand hier. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, weiß aber nicht, was. Sie beugt sich noch ein Stück vor, wie um besser zu hören, was ich nicht sage.

»He, he!«

Wir lösen uns voneinander. Ein paar Leute kommen den Gang entlang und jubeln über eine soeben entdeckte Flasche Schnaps. Als sie bei uns sind, hakt Lucy sich bei Del unter und fordert sie auf mitzukommen. Del grinst mich schief an, fast entschuldigend. Ihre Hand sinkt weiter runter, ihre Finger streifen meine, drücken sie, dann ist sie weg.

 

Gegen Mitternacht nähert sich die Party ihrem Ende, die Gefühle liegen blank, manche fangen an zu weinen. Wir kennen uns seit fast sieben Jahren. Das hier ist alles, was wir kennen. Wir halten uns, die Musik geht aus, das Licht geht an. Wir sehen uns, sehen uns, wie wir wirklich sind, mit unserem ganzen Leben in diesem seltsam traurigen Moment. Wir halten uns weiter, Köpfe in Hemden vergraben, Hände, die nach Unterarmen greifen, versprechen, von uns hören zu lassen, in Kontakt zu bleiben. Versprechen, dass zwischen uns nichts als Liebe ist.

Es gibt den Wunsch weiterzufeiern, irgendwo die nächste Party zu starten, aber als wir mit dem Fahrstuhl runterfahren, habe ich das Gefühl, dass die Nacht zu Ende ist. Wir strömen auf die Straße, halten die Arme hoch, während ein schwarzes Taxi nach dem anderen an uns vorbeirauscht. Schließlich bleibt eins stehen, dann noch eins. Ich sehe Del mit ihrem Date reden. Es ist das erste Mal, dass ich sie an dem Abend zusammen sehe. Er sagt etwas, und sie schüttelt den Kopf. Er tritt auf sie zu, und sie tritt einen Schritt zurück und hält die Hände hoch. Noch ein Taxi hält, ich winke es ran. Nam taucht neben mir auf, steigt ein, dann Jimmy und Delilah. Zwei Plätze sind noch frei. Ich wage es.

»Wer will noch nach Peckham?«, rufe ich.

»Ich«, sagt Del, die etwas in meiner Stimme erkennt. Ich halte ihr die Tür auf. Zu fünft quetschen wir uns rein, legen zusammen, um zurück in unsere kleine Welt zu kommen. Ich sitze Del gegenüber. Es könnten genauso gut nur wie beide im Taxi sitzen. Als stünden wir wieder dort im Gang, sähen uns offen und ehrlich an, eingeschlossen in diesem seltsam traurigen Moment, weil wir wissen, dass trotz des Versprechens, von uns hören zu lassen, in Kontakt zu bleiben, sich alles ändern wird.

 

Das Taxi hält an der Ecke Peckham Rye. Wir sind alle so müde, dass das Verabschieden schnell geht. Del und ich laufen Richtung Commercial Way. In der Rye Lane tobt noch das Leben, die Leute trinken in Gruppen auf der Straße, unterwegs zu einer Party oder nach Hause, überlegen, ob sie noch woanders hingehen sollen. Wir laufen weiter, durch eine Wohngegend, um uns herum wird es ruhiger. Irgendwann berühren sich unsere Hände, ich hab sie schon unzählige Male nach Hause gebracht, aber noch nie haben wir dabei Händchen gehalten. Nachdem unsere Finger ineinander verschränkt sind, lasse ich nicht mehr los. Ich spiele mit dem Gedanken, stehen zu bleiben und mich ihr zuzuwenden, in der Hoffnung, dass sie sich mir zuwendet, dass sie mir noch mal die Hand auf die Brust legt und fühlt, wie mein Herz rast, dass ich nicht mehr für mich behalten muss, was ich für sie empfinde, weil sie spüren wird, dass …

»Da sind wir«, sagt sie.

»Ah ja«, antworte ich. »So sieht’s aus.«

Ein schiefes Lächeln. »Du schuldest mir noch den Tanz.«

»Hier?«

»Warum nicht?«

»Warum nicht«, sage ich. »Ähm … wo ist die Musik?«

»Oh … na ja, normalerweise würde ich dich reinbitten, aber du kennst ja meine Tante …«

»Sag nichts.« Ich will den Moment nicht kaputt machen. Also hole ich mein Handy raus und scrolle durch die wenigen Songs, die darauf sind. »If I Ain’t Got You« schallt leise durch die Nacht. Del tut erst desinteressiert, schüttelt den Kopf und beißt sich auf die Lippe. Sie ist schüchtern, ich auch, aber die Musik hält uns zusammen. Ich strecke die Hand aus, sie sieht sie mit großen Augen an, lange genug, dass mein Herzschlag mir in den Ohren dröhnt. Lange genug, um darüber nachzudenken, ob sie sie nehmen wird. Und dann tut sie es, Hand in Hand kommen wir uns näher, bis ihr Kopf auf meiner Brust liegt. Sie sieht zu mir hoch, ihr Blick ist direkt. Ein schneller Wechselschritt. Alles andere spielt keine Rolle mehr.

5

»Wir haben uns am Strand kennengelernt«, sagt Mum, bevor sie wieder in den Spiegel sieht.

Es ist Sonntagnachmittag, der Tag nach dem Abschlussball. Ich habe den ganzen Vormittag geschlafen und bin erst aufgewacht, als meine Eltern aus der Kirche kamen und anfingen, laut Gospelmusik zu hören. Der Tag fühlt sich planlos an, es gibt nichts, was ich tun müsste. Diese Woche geht die Schule zu Ende, ich muss also nichts mehr vorbereiten. Ich laufe durchs Haus, von Zimmer zu Zimmer, suche nach einer Aufgabe, etwas, das mich von der Erinnerung an letzte Nacht ablenkt, an Del und mich, Hand in Hand vor ihrer Tür, ihr Kopf an meiner Brust, ein schneller Wechselschritt. Ich suche nach Zerstreuung, aus Angst, an nichts anderes mehr denken zu können. In der Küche schmort das Fleisch und duftet süß, der Jollof-Reis kocht langsam vor sich hin. Weiter in mein Zimmer, wo mein Handy liegt, keine neuen Nachrichten. Dann in den Vorratsraum – in Wirklichkeit ein kleiner Schrank, in den wir alles schmeißen, was nirgendwo anders hingehört –, und da sehe ich im Licht, das durch die Tür fällt, ein Foto liegen. Die Ränder sind leicht abgeknickt. Ein Gruppenfoto, aufgenommen am Strand. Alles Teenager. Einige davon erkenne ich: meinen Onkel David, Uncle Kweku, Auntie Georgina, Auntie Rebecca, Auntie Comfort, Uncle James. Und, vertrauter miteinander als der Rest, als hätten sie ihre eigene kleine Welt, Mum und Pops.

Mum ist im Schlafzimmer. Für sie ist der Sonntag nicht nur dem Glauben gewidmet. Unter der Woche arbeitet sie Vollzeit am Empfang einer Schule in Bermondsey, passt auf die Kinder auf und macht oft Überstunden. An den Sonntagen kommt sie mal zur Ruhe und kann sich um sich selbst kümmern.

Als ich reinkomme, trägt sie ein gemustertes Tuch um den Kopf. Sie hat sich gerade die Haare gewaschen und will sie jetzt einölen. Vorn guckt eine graue Strähne hervor. Durch das Fenster, wie Fernsehen ohne Ton, sehe ich Raymond und Pops beim Autowaschen. Die beiden sind ins Gespräch vertieft, Raymond zeigt auf Pops, dann auf sich und klopft sich dabei auf die Brust. Pops nickt. Ich halte Mum das Foto hin, aber sie schaut in den Spiegel, lässt mich zappeln, bis ich sie bitte weiterzuerzählen.

An Sommertagen, erklärt sie, stiegen sie, ihre Brüder und Schwestern, ein paar Freunde und Verwandte in einen Tro tro und fuhren zum Labadi Beach, wo aus einem Ghettoblaster Sound über den Sand schallte und der Sommer die Zeit vergessen ließ. Die Tage vergingen so schnell, aber unter den richtigen Umständen konnten sie sich auch unendlich in die Länge ziehen. Der Strand war einer dieser Orte, die Männer führten sich auf wie kleine Jungen, sie turnten durch den Sand, waren noch schüchtern, lachten und taten, als sähen sie uns nicht.

»An dem Tag«, sagt sie und zeigt auf das Foto, »spielten sie Fußball. Dein Vater war eindeutig einer der Besten, und das wusste er auch. Er zog eine Show ab, aber das machte er gut. Er war wie ein Tänzer. Dieser Rhythmus.