Den Sommer kannst du auch nicht aufhalten - Dimitri Verhulst - E-Book

Den Sommer kannst du auch nicht aufhalten E-Book

Dimitri Verhulst

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Beschreibung

Können wir vermeiden, was nicht aufzuhalten ist? Pierre konnte es nicht. Er konnte der Leidenschaft und vor allem der Liebe nicht entkommen. Aber Pierre kann und will davon erzählen. Und so schenkt er dem behinderten Sonny zum 16. Geburtstag bei einem Trip in die Provence die Geschichte der wildzärtlichen und alles ändernden Liebe zu dessen Mutter und reist mit ihm dabei an die Ränder des Lebens. Gefühlvoll und provokant – mal überbordend, mal frech im Ton erzählt Dimitri Verhulst die schmerzlich-schöne Gesichte einer wilden tiefen Liebe und nimmt uns dabei mit auf einen Road Trip durch die Schönheit der Provence und das Leben selbst.

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DIMITRI VERHULST

Den Sommer kannstdu auchnicht aufhalten

Aus dem Niederländischenvon Rainer Kersten

J’aime l’homme incertain de ses fins

comme l’est,

en avril, l’arbre fruitier.

Ich liebe den Menschen,

der – dem Obstbaum gleich im April –

ungewiss ist über sein Wohin und Wozu.

René Char

Pierre liebte endlos lange, in gewisser Weise kontemplative Autofahrten allein, also war es kein Beinbruch, dass sein Passagier während dieser – dem Navi zufolge – zehnstündigen Fahrt in die Provence ein schweigsamer, vegetativer Idiot war.

Sonny hieß sein stiller Reisegefährte. Er war fünfzehn, fast sechzehn, und roch durchdringend nach Talkumpuder und Krankenhaus. Sonny. Ein super Name für einen geistig Behinderten, fand Pierre. Keine Ahnung, was die Mutter sich dabei gedacht hatte, ihrem Sprössling ausgerechnet diesen Namen zu geben. Sonny – aus welcher Wühlkiste mit Kindervornamen mochte sie ihn gefischt haben? Na, auf jeden Fall klang der Name sehr sohnig.

Und «vegetativer Idiot»? Nun ja, das Etikett, das er diesem Produkt eines reichlich schieläugigen Schöpfers damit verpasste, war vielleicht nicht das wissenschaftlich korrekteste. Wenn es überhaupt eine Bezeichnung für diesen ganz speziellen Fall gab. Außer ab und zu einem spastischen Zucken des Kopfes oder des astdürren Armes zeigte der Junge nur wenig Bewegung. Auch wäre es ein Euphemismus gewesen zu sagen, sein Wortschatz sei bloß etwas kleiner als jener der meisten anderen Witzfiguren, mit denen zusammen er den Fußboden seiner Pflegeeinrichtung vollsabberte: In Wahrheit sprach er nämlich überhaupt nicht. Ein paar Urlaute stieß er aus, okay, ein wenig Geächz und Gestöhn, aber stets zurückhaltend und manierlich. Und auch das Sabbern betrieb er eigentlich eher minimalistisch. Hin und wieder etwas schäumender Speichel auf den fleischlosen Lippen, wie bei einem fachmännisch zubereiteten Latte Macchiato, schockierender wurde es nie.

Auch Lachen, dieses von den Göttern den meisten Armen im Geiste zum Trost verliehene Geschenk, gehörte nicht zum Repertoire seines Körpers. Ebenso wenig wie Weinen. Nie verrieten seine Augen irgendeine Emotion. Ein Junge, der, wenn überhaupt etwas in ihm vorging, dies gut zu verbergen wusste.

Weniger als ein Affe – eine Pflanze, das war er. Eine Pflanze jedoch, der zu festen Uhrzeiten etwas in den Rachen gestopft werden musste. Manchmal fragte man sich, warum, denn die Nahrung verließ ihn in Gestalt von Substanzen, die den Beruf eines Krankenpflegers auf keinen Fall überbezahlt machten.

Vegetativer Idiot … Diejenige, die Pierre auf die passende, korrekte Bezeichnung für diesen besonderen Fall hätte hinweisen können, lebte nicht mehr.

Aber, ach, was spielte das noch für eine Rolle?

Sonnys Krankheit hieß eben «Sonny». Ganz einfach. Pierres Krankheit hieß «Pierre». Und so weiter. Zu guter Letzt leiden wir alle an uns selbst.

Natürlich war es Sonny vollkommen schnuppe, unter welcher Überschrift seine Sammlung von Abweichungen im medizinischen Lehrbuch geführt wurde. So wie auch sein Name ihn vollkommen kaltließ. Ob er je eine Verbindung zwischen sich und dieser Lautfolge hergestellt hatte, war äußerst fragwürdig. Er reagierte nicht, wenn man ihn rief, was sonst doch der dümmste Hund fertigbringt und angeblich auch eine seltene Zwerghamsterart. Also hatte Pierre seinen Reisegefährten schon immer mit dem Ersten und Dümmsten angesprochen, was ihm gerade in den Sinn kam. Die Namen von Topfpflanzen hatte er irgendwann als zynisch verworfen, wenn auch mit gewissem Bedauern, denn auf Latein klangen sie durchaus poetisch: Rhododendron japonicum. Arthrocereus glaziovii. Maxillaria tenuifolia. Wie auch immer: Mittlerweile befand Pierre sich in einer Phase, in der er seinen Begleiter mit Namen von Komponisten bedachte. Das brachte etwas Abwechslung in die Sache.

Am Morgen hatte er Sonny in seiner Pflegeeinrichtung abgeholt. Das war nichts Ungewöhnliches, Pierre war ein guter Bekannter von Sonnys Mutter, ein guter Bekannter gewesen, müsste man sagen, und hatte den armen Tropf bereits öfter aus seinem tristen Kerker befreit. Er fuhr mit ihm in den Stadtpark, schob den stummen Jungen im Rollstuhl dort um den Teich, umgeben von Schwärmen frisch gebackener Mütter, die alle genau dasselbe taten wie er, nur mit Kinderwagen. Er zeigte Sonny die quakenden Enten und fütterte sie – zu seiner Unterhaltung oder zumindest in der vagen Hoffnung darauf – mit Brot, obwohl ein Schild das den Parkbesuchern ausdrücklich verbot und mit «behördlichen Sanktionen» drohte, sollten Zuwiderhandelnde sich von dem einfachen Verbot nicht abhalten lassen.

Brotreste hatte Pierre immer. Das Alleinsein war seinem Appetit nicht zuträglich. Bis er zu Hause ein halbes Brot aufgegessen hatte, war die andere Hälfte hart genug für den städtischen Vogelbestand. Hatten die Enten sich lärmend gütlich getan, schlurfte er ins Parkrestaurant, stellte den Rollstuhl neben sich an den Tisch, bestellte ein Glas Rotwein, einen einfachen Château Migräne, und einen Teller mit jenem gastronomischen Müll, der diese Art Etablissements immer wieder zu einem unvergesslichen Erlebnis macht. Lustlos in seinem Fraß rührend, schaute er Sonny an und sagte: «Schön, dass du mir so nette Gesellschaft leistest, Mozart. So schmeckt das Essen viel besser. Mein Untergewicht ist dir zu großem Dank verpflichtet.»

Nach einigen Monaten kannten die regelmäßigen Parkbesucher – die Mütter mit ihren Kinderwägen, die ihre Schnauzer spazieren führenden Rentner, die noch unsicher aneinander herumfummelnden Teenager, die Gesundheitsgurus im Laufdress – dieses bizarre Duo aus junggebliebenem Sechziger und seinem unglücklichen Begleiter. («Junggebliebener Sechziger», so nannte man das heutzutage.) Sie gehörten zur geheimen Gemeinschaft des Stadtparks, wie sie überall auf der Welt aus denselben Kategorien von Leuten besteht. In den Blicken der anderen erkannte er Mitleid und Bewunderung ob seiner ungeheuren Selbstaufopferung. Gern hätte man ihn gefragt, ob dieser Fabrikationsfehler der Natur sein Sohn oder sein Enkel sei und warum sich niemals die Mutter im Park blicken ließ. Eine gewisse Scheu jedoch hielt sie davon ab.

Im Heim war man überglücklich, wenn Pierre das Pflegepersonal für zwei kurze Stunden entlastete. Nie genug Leute. Pisse, Kacke und Pillen beanspruchten den Löwenanteil des Zeitkontingents; für das Schenken von Zuwendung war man fast ausschließlich auf ehrenamtliche Helfer angewiesen.

«Bis nachher, Sonny – viel Spaß!», hatte der Pfleger gerufen, als er ihnen am Morgen zum Abschied zuwinkte. Ein sympathischer junger Bursche mit dem kompletten Satz olympischer Ringe im Ohr, einem japanischen – oder chinesischen – Schriftzeichen am Unterarm und einem Unterlippenpiercing. Wahrscheinlich steckte unter seiner Kleidung noch ein halber Eisenwarenladen. Womöglich blieb er wegen seines magnetischen Intimschmucks regelmäßig mit dem Gemächt am Kühlschrank oder dem Grillrost hängen. Aber vor allem, und das war das Wichtigste, besaß er eine unglaubliche Energie und einen noch unglaublicheren Optimismus, der ihn seit nunmehr über fünf Jahren davor bewahrte, seinen Job einfach hinzuschmeißen. «Bis nachher!»

Der junge Pfleger konnte nicht wissen, dass Pierre heute mit Sonny nicht in den Park gehen würde. Ja, nicht einmal vorhatte, mit ihm zurückzukommen. Pierre wollte ihn mitnehmen – oder entführen, wenn sich das Wort in diesem Zusammenhang nicht so geschwollen anhörte –, und zwar in die Provence. Dort würde er Sonny einen ganz bestimmten Berg hochwuchten und ihm gewisse Dinge erzählen. Dinge. Eine Mär von zwei Liebenden als Gutenachtgeschichte. Weil ihm das auf der Seele lag. Weil es sein musste. Ein narratives Klistier sozusagen. Außerdem würde Sonny in kaum vierundzwanzig Stunden entgegen aller medizinischen Vorhersagen seinen sechzehnten Geburtstag feiern, und Pierre war kein besseres Geschenk eingefallen als eine Geschichte. Und dann – weiter wusste Pierre auch nicht. Er hatte keinen Plan. Alles war offen. Er konnte Sonny den Berg hinunterstoßen, zusammen mit ihm in die Tiefe taumeln. Oder sie konnten sich eine andere Fortsetzung ausdenken. Jeder dieser Optionen sah er gelassen entgegen.

Seit die Europäische Union den freien Verkehr von Waren und Menschen ermöglichte, konnte man ungestört einen Behinderten über die Grenze schmuggeln. Pierre konnte sich noch an Zeiten erinnern, in denen man sich schon mit einer Kiste Wein oder einer Stange Zigaretten nur schwitzend am Zoll vorbeimogelte. Dieses alte Europa steckte ihm noch in den Knochen, und so spürte er eine Brise der Erleichterung durch sein Gemüt wehen, als er die demontierten Schlagbäume zum Land von Käse und Wein, von Schnecken, Rillette, Camembert, Champagner und Austern, von Louis-Ferdinand Céline, politischer Debattiersucht, von stöhnenden Sängerinnen, niederträchtiger Größe, von Alain Bashung, Petanque und Pastis überquert hatte. Frankreich hatte schon immer die Gabe besessen, ihn ganz einfach glücklich zu machen. Er war ein Dummkopf, dass er nie dort gelebt hatte.

Sein Smartphone schmetterte triumphierend mehrere Tuschs: die Tarife fürs Telefonieren und Simsen im Ausland. Sie waren in Frankreich, jetzt konnte nichts mehr schiefgehen.

Pierre war schon immer ein Mensch fester Rituale gewesen, ein sentimentales Weichei, und so hupte er kurz, als sie die Grenze passiert hatten, und schob eine silberne Scheibe in den CD-Player: La nuit je mens.

«Hey, Chopin, kennst du das hier? Alain Bashung. Einsame Spitze!»

Chopin schien wenig beeindruckt.

«Weißt du, als ich das erste Mal mit deiner Mutter hier war, hatte ich die CD auch dabei. Wir waren unterwegs nach Boulogne-sur-Mer. Es war eine spontane Eingebung. ‹Was wollen wir machen?›, hatte ich gefragt, und wie aus der Pistole geschossen hatte sie geantwortet: ‹Nach Boulogne-sur-Mer, Austern essen und Champagner trinken!› Wir zögerten keinen Moment. In solchen Dingen zögerten wir nie. Innerhalb einer Minute saßen wir im Auto. Auch wenn es bessere Orte gab, um Austern zu essen, Boulogne-sur-Mer sollte es werden – und fertig. Das schönste aller hässlichen Seebäder. Deine Mutter war die erste und einzige Frau in meinem Leben, die meine Liebe zu überhöhter Geschwindigkeit teilte. Das Einzige, worauf sie an diesem Morgen bestand, war, ans Steuer zu dürfen, weil sie selbst unheimlich gern fuhr. Am liebsten mitten in der Nacht, hatte sie mir erklärt, über stockfinstere Straßen, wenn die hypnotisierenden weißen Streifen auf dem Asphalt wild unter dem Wagen hindurchjagten. Sie fuhr übrigens überhaupt nicht schlecht. Soll ich dir was verraten? Sie konnte zehnmal besser einparken als ich! So was wäre den meisten Männern wohl peinlich, mir aber nicht. Ich war stolz auf ihr Einparktalent. Und da, vor der Fahrt nach Boulogne-sur-Mer, vereinbarten wir feierlich, dass nachts von nun an immer sie fahren sollte. Das war für mich ein gutes Verhandlungsergebnis, weil meine Augen und meine Reflexe im Dunkeln nichts taugen. Du wirst es noch merken, wenn wir heute Abend die letzten Kilometer hinter uns bringen … Ob sie Alain Bashung wirklich mochte, habe ich nie herausbekommen. Aber sie sang seine Cover-Versionen mit. Que reste-t-il de nos amours, Les amants d’un jour. Klassiker des französischen Chansons, die jeder kennt, ohne zu wissen, woher. Wir sangen. Zusammen. Sie wie ein Vögelchen, ich wie eine Waschtrommel. Ich war die Leichtigkeit in Person an dem Tag – längst über Vierzig, lieber Brahms, aber zum ersten Mal sah ich von der französischen Küste aus die weißen Kliffs von Dover. Es war herrlich … Drei Flaschen Champagner haben wir an dem Abend geköpft. Bubbles, no Troubles. Austern konnten wir nicht finden.»

Hatte Pierre die Geschichte schon einmal erzählt? Sich selbst tausend Male, aber soweit er sich erinnern konnte, nie einem Dritten. Auch wenn ihm klar war, dass es mit Sonny als Zuhörer darauf hinauslief, dass er sie sich nun zum tausendundersten Mal selbst erzählte.

Ein paar Kilometer und einen ersten Blitzer später murmelte er vor sich hin: «Que reste-t-il de nos amours?» Dann schwieg er und genoss die flüchtigen Gedanken, die ihm von irgendwoher durch den Kopf gingen, ausgelöst von der Fahrt über die schnurgerade Autobahn. Mein Gott, wie er diese langen Fahrten liebte! Das träumerische Padam-Padam bei jedem Passieren einer Fuge im Straßenbelag. Padam, padam, padam. Des toujours qu’on achète au rabais.

Sein Telefon meldete sich. Auf dem Display die Nummer des Heims. Dort machte man sich langsam Sorgen, wo der Patient blieb. Sie würden es den ganzen Nachmittag und Abend sicher weiter versuchen.

«Stellen wir das Ding einfach aus!»

War es schlimm, dass Sonny der Obhut der Pflegeeinrichtung für ein Weilchen entfloh? Pierre wusste, dass der Junge regelmäßig Pillen bekam. Aber ob der pharmazeutische Plunder nun wirklich etwas bewirkte und ob Sonny nicht einfach ohne auskäme? So oder so: Pierre hatte keine Medikamente dabei. Und auch keine Windeln.

Ob sie Sonnys Windelgröße im Tankstellen-Shop hätten? Vermutlich nicht. Inkontinente Lastwagenfahrer waren selten. Vorläufig jedoch roch es im Wagen noch nicht alarmierend. Aber da Vorbeugen ja bekanntlich besser ist als Heilen, würde Pierre an der nächsten Tankstelle einen kurzen Sanitätsstopp einlegen. Außerdem war es höchste Zeit für einen Kaffee. Das Auto hatte übrigens auch Durst, die Anzeige verlangte sehnlichst nach einem Schluck Diesel.

«Was meinst du, Strawinsky, wollen wir uns kurz die Beine vertreten?»