Den Sturm ernten - Phil Klay - E-Book

Den Sturm ernten E-Book

Phil Klay

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Beschreibung

Phil Klay verwandelt seine Erfahrungen als US-Marine in eine weltumspannende Geschichte des Krieges. Er legt ein brillantes erzählerisches Zeugnis ab von den Verheerungskräften der Zivilisation, von Liebe und Hass, Schuld und Stolz in einer globalisierten Welt.

Am Ende zählt nur eins: auf der richtigen Seite stehen. Doch für die vier Menschen in dieser Geschichte, alle aus Idealismus an einen Ort der Gewalt im kolumbianischen Dschungel gekommen, ist die Grenze zwischen Gut und Böse längst verronnen. Sie setzen ihr Leben ein – als Mitglied der US-Special-Forces, als Journalistin, Patriot, Paramilitär –, sie kämpfen um das Schicksal eines Landes, dessen Fundamente abgetragen wurden, von falschen Freunden in Washington, den Drogen, jahrzehntelangen Heilsversprechen. Und sie suchen mit aller Kraft Antworten auf eine Frage: Was heilt die Wunden der Geschichte, was lässt den Schmerz vergessen und an das Gute glauben?

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Seitenzahl: 650

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Titel

Phil Klay

Den Sturm ernten

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer

Suhrkamp

Widmung

Für Jessica, meine große Liebe, und für unsere Kinder, Adrian Felipe und Marcos Andres

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

I

1

ABEL1986-1999

2

Lisette2015

3

Abel1999

4

Lisette2015

5

Abel1999-2001

6

Lisette2015

7

Abel2001-2002

8

Lisette2015

II

1

Mason2004-2005

2

Juan Pablo2016

3

Mason2005

4

Juan Pablo2015-2016

5

Mason2006

6

Juan Pablo2015-2016

7

Mason2007

8

Juan Pablo1987-2005

III

1

2

3

4

5

6

7

8

IV

Danksagung

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

I

berichte treulich, wie wir für das Gemeinwohl metzelnSeamus Heaney, »Verwandtschaft«

1

ABEL1986-1999

Mein Dorf befand sich auf einem kleinen Hügel am Fluss, an dessen Ufern nichts als Sand lag. Mittags musste man schnell gehen, um sich nicht die Füße zu verbrennen, aber wenn es regnete, machte das Hochwasser unsere Hauptstraße zu Schlamm. Wir Kinder liefen dann alle nach draußen, rutschten herum und schubsten einander, spielten im Matsch, bevor die Sonne ihn hart werden ließ und der Wind ihn als Staub davontrug.

Von diesem Teil meines Lebens zu reden ist, als spräche ich von einem anderen Menschen, von der Figur einer Geschichte, einem Jungen mit einem Vater, einer Mutter und drei Schwestern, eine hübsch, eine klug und eine gemein. Einem Großvater, der zu viel trank und alle beim Domino schlug. Einem Lehrer, der glaubte, der Junge habe Talent. Einem Pfarrer, der ihn für gottlos hielt. Von Freunden und Klassenkameraden und Feinden und Mädchen, die er mit immer größerem Staunen beobachtete, wie Jimena, die dichte Locken und helle Haut hatte und von einem der örtlichen Guerilleros schwanger wurde. Die meisten glauben, ein Mensch sei das, was man in Fleisch und Blut herumlaufen sieht, aber das ist dumm. Knochen und Fleisch und Blut existieren, aber existieren heißt nicht leben; Knochen, Fleisch und Blut allein machen nicht den Menschen aus. Ein Mensch entsteht, wenn es eine Familie gibt, ein Dorf, einen Ort, an dem die Leute einen kennen. Wo jeder, der einen kennt, einen kleinen, unsichtbaren Spiegel hält, und jeder einzelne Spiegel von Verwandten, Freunden und Feinden ein anderes Bild zurückwirft. Der eine Spiegel zeigt den lieben, dicken Jungen, der ich für meine Mutter war. Ein anderer den kleinen Racker, den mein Vater kannte. Wieder ein anderer zeigt die fürchterliche Nervensäge, die ich für Gustavo war. Ein Mensch entsteht, wenn sich all diese Spiegelungen um einen Körper versammeln. Aber was passiert, wenn einem jeder dieser Menschen einer nach dem anderen genommen wird? Ganz einfach. Der Mensch stirbt. Und Knochen und Fleisch und Blut existieren weiter, wandeln auf Erden, als gäbe es den Menschen noch, obwohl Gott und die Engel wissen, dass es nicht so ist.

Also sprechen wir nicht von dem Jungen, als wären er und ich derselbe Mensch anstatt zweier Fremder, von denen der eine vor der Verbrennung mit diesem Körper herumlief und der andere danach. Sprechen wir von diesem Jungen, dessen Erinnerungen und Gesicht ich teile, wie von dem toten Kind, das er ist. Nennen wir ihn Abelito.

Abelito war ein beliebter, dicker Junge. Jeden Tag ging er zu Fuß ins Nachbardorf zur Schule der Männer aus Amerika, die den Kindern Mathematik und Lesen beibrachten, ihnen aber auch von der persönlichen Beziehung zu Jesus erzählten und von einer Gruppe Pfarrer, die Jesuiten hießen und die Bibel gestohlen hätten, um die Worte zu ändern, damit die Menschen dem Teufel in die Arme liefen. Der HERR werde obsiegen und uns erretten, wenn wir nur glaubten, sagten sie, und dieses Glauben sei ein Augenblick, in dem es vom Himmel herniederstrahlte und wir wüssten, dass wir erlöst seien. Mona, die gemeine Schwester, sagte, sie sei errettet und es sei wunder-wunderschön, aber dass Abelito dies selbst nicht spüre, bedeute, er komme in die Hölle. Zwei Wochen später ging seine Mutter mit ihm ins übernächste Dorf zur Beichte, und als Abelito Pater Eustacio von Monas Errettung erzählte, hatte der alte Pfarrer das Gesicht verzogen und all das dumm genannt, denn nur ein grausamer Gott würde auf eine so alberne Art und Weise verdammen und erretten, und Gott sei nicht grausam, sondern in Wahrheit gewaltige, furchteinflößende Liebe. Dann holte er den kleinen Jungen aus dem Beichtstuhl und zeigte ihm den Haut-und-Knochen-Jesus über dem Altar, einen leidenden Christus aus Holz mit in Qualen verkrampften Muskeln und einer blutigen Wunde in der Seite, die aufklaffte, als wollte sie einen verschlingen. Abelito hatte Albträume von diesem Bildnis, aber Pater Eustacio sagte, er solle sich das Leiden anschauen und darin die Liebe Gottes sehen, der Seinem Sohn so etwas angetan hatte. Gott ist Liebe, sagte Pater Eustacio, und Er verteilt keine Errettung, damit man sie sich wie eine Krone aufsetzt. Und Abelito sagte, Also ist meine Schwester gar nicht errettet? Und Pater Eustacio sagte, Nein, was Abelito sehr froh stimmte. Und von dem Tag an nickte Abelito zwar, wenn die Missionare vom persönlichen Jesus erzählten, der zu ihnen kommen und sie wiedergeboren machen würde, aber insgeheim wusste er, dass er dem furchterregenden Christus von Cunaviche treu bleiben würde.

An manchen Tagen nahm Abelitos Großvater ihn und seine schlaue Schwester Maria mit und zeigte ihnen, wie man Boote aus Chachajo schnitzt, einem guten, harten Holz, aus dem auch die besten Kreisel waren, und dann setzten sie sie in den Fluss und schauten ihnen hinterher, wie sie flussabwärts trieben. Abelitos Großvater sagte, alles Wasser fließe zum Ozean, und eines Tages werde er selbst zum Sterben dorthin gehen, wo am Ende alles ankommt.

Maria schnitzte ihre Boote aus Balsa, das einfacher zu bearbeiten ist, aber Abelito nahm lieber das härtere Holz, weil er wollte, dass seine Boote den Ozean erreichten. Abelitos Großvater war weit gereist und erzählte ihm wundersame Geschichten über die Gegenden weit, weit flussabwärts, jenseits der Berge und bis in die Küstenregionen, wo die Leute faul und dumm seien und ein Spanisch sprächen, das klang, als hätten sie Kieselsteine im Mund, wo es Schlangen gebe, die mit einem Biss einen Ochsen töten könnten, und Menschen mit pechschwarzer Haut und noch viele andere erstaunliche Dinge.

Den Tod lernte Abelito kennen, als Marta, seine schöne Schwester, krank wurde und weder der Pfarrer noch die Missionare sie retten konnten, weil sie mit dem bösen Blick belegt worden war. Nach ihrem Tod gab Abelitos Vater den Kindern Armbänder, in die ein winziges Holzkreuz eingewoben war. Es wird euch beschützen, sagte er. Damals verstand Abelito nicht, warum irgendjemand einen anderen mit dem bösen Blick belegen sollte, besonders jemanden wie Marta, die so schön war, dass es immer alle erwähnten, was für ein schönes Kind. Wenn Abelito durchs Dorf ging, schaute er den alten Frauen tief in die Augen, um zu sehen, ob sie gut oder böse waren, aber er konnte es nie erkennen und sich schlicht nicht vorstellen, wie irgendjemand Freude daran haben konnte, Kinder zu töten.

Abelitos Vater spielte gern Spiele mit seinen Kindern. Eins davon hieß »Bär«; dabei stand er bedrohlich brummend am Fluss, und die Kinder mussten heranlaufen, um ihn zu kitzeln, und wen er erwischte, den warf er ins Wasser. Ein anderes war »Pferd«, dabei kletterten sie ihm auf den Rücken und er rannte wiehernd die Straße entlang. Abelito spielte auch Cinco Huecos mit den anderen Kindern von Sona. Sie zeichneten mit einem Stock ein großes Quadrat auf die Straße und dann kleinere Quadrate hinein. Jedes Kind schrieb einen kleinen Buchstaben in sein Quadrat. Ein A für Abelito. M für Maria, die überhaupt nicht gut in dem Spiel war. F für Franklin, der stark und geschickt war und gerne prahlte und die anderen Kinder verhöhnte, bevor er den Ball warf. Dann drehten sie sich um, in der einen Hand einen Ball, in der anderen ein Stöckchen, und sie warfen sich das Stöckchen über die Schulter. Wenn es in ihrem Quadrat landete, versuchten sie, die anderen mit dem Ball abzuwerfen. Ich weiß nicht mehr, wer es sich ausgedacht hatte, aber es war Abelitos Lieblingsspiel. Manchmal kamen Männer auf Motorrädern vorbeigefahren, und die Reifen machten ihre Quadrate kaputt, aber die Kinder durften nichts sagen und nicht mal böse schauen, weil ihre Eltern ihnen gesagt hatten, dass die Männer zu den Paracos gehörten.

Noch besser als die Spiele gefiel es Abelito aber, mit seinem Vater an ihrem Haus zu arbeiten. Seit Abelito denken konnte, werkelten sie daran. Als er gerade laufen konnte, hatte er seinem Vater zugesehen, wie er einen kleinen Fleck Dschungel freihackte. Hier kocht deine Mutter dann, hatte er gesagt und auf eine Ecke am Boden gezeigt. Und hier schlafen deine Schwestern und du.

Dann hatte er Stein für Stein eine Wand gebaut. Wann immer er Geld hatte, kaufte er einen billigen Sack Zement, und die Kinder halfen ihm beim Anrühren, bevor er Ziegel formte und damit den Grundriss legte. Aus Jungen werden Männer, wenn sie mit ihren Vätern arbeiten, und aus Mädchen werden Frauen, wenn sie das Feuer hüten, aber in Abelitos Familie halfen sie alle ihrem Vater mit dem Haus, Brüder wie Schwestern. Anfangs ging es langsam voran, aber schon als Abelitos Vater das große Zimmer fertig hatte, zogen sie alle ein, damit sie keine Miete mehr zahlen mussten. Denn nun hatte Abelitos Vater mehr Geld für Zement, und es ging schneller voran.

Etwa zu der Zeit, als sie die Küche fertig hatten, öffnete die Schule der Missionare, und Abelitos Eltern schickten ihn und seine Schwestern hin, damit sie Bildung genossen. Abelitos erstes Jahr dort war auch das Jahr, in dem viele Leichen den Fluss hinabtrieben und die Schule für einen Monat schloss und Abelitos Vater nicht mehr mit seinen Kindern Bär spielte. Dann kamen keine Leichen mehr, und die Kinder sahen immer weniger Paracos, und die Schule öffnete wieder.

Als Abelito acht war, sah er seine ersten Guerilleros. Das waren die Männer, die die Paracos angeblich bekämpften. Er war mit seinem Vater im Boot unterwegs, als sie eine Gruppe von zehn Männern und vier Frauen auf der anderen Seite sahen. Sie trugen Uniformen und lange Gewehre, wie Abelito sie noch nie gesehen hatte. Sie winkten Abelitos Vater heran und sagten ihm, er solle sie auf die andere Seite bringen, was er dann auch tat. Als sie weg waren, erklärte sein Vater ihm: »Wenn bewaffnete Männer etwas von dir verlangen, geht es nicht um einen Gefallen. Dann gehorchst du einfach.«

Der Anführer der Guerilla wurde der Zimmermann genannt, nach Josef von Nazareth, und man sagte, der Name rühre von seiner Barmherzigkeit gegenüber den Kindern her, die er zu Waisen machte. Er töte niemals Kinder, hieß es, auch wenn er das Risiko einging, dass sie auf Rache sannen. Und manchmal gab er als große Geste den Kindern einen Teil des Geldes, das er ihren Eltern geraubt hatte. Es gebe schlimmere Guerilleros als den Zimmermann, sagten die Leute, und man könne sich glücklich schätzen, dass Gott bloß ihn als Fluch in den Dschungel rund um das Dorf geschickt hatte.

Am Josefstag kam er ins Dorf und hatte viele Flaschen Aguardiente dabei und auch Guerilleros mit Gitarren und Trommeln. Abelitos Vater brachte Abelito mit, und auch wenn Abelitos Vater dem Zimmermann aufmerksam zuhörte, ließ er kein Aguardiente an seine Lippen kommen.

Der Zimmermann war groß und hatte ein raues Gesicht, löchrig wie Bimsstein, gegerbt von einem Leben immer unterwegs von einem Ort zum anderen, vom Schlafen in Guerilla-Lagern und ohne wahres Zuhause. Es war ein ernstes Gesicht, eines, das Abelito beeindruckend fand, bewundernswert. Er fragte sich, wie es sein mochte, ein Leben zu führen, das einem so ein Gesicht einbrachte.

Der Zimmermann sagte, er kämpfe für die Wahrheit. Er sagte, die Menschen verdienten Respekt. Jeder Bezirk solle ein Gesundheitszentrum haben, jede Stadt ein Krankenhaus. Die Leute sollten ihr Land selbst besitzen und die Kinder die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Alles solle kostenlos sein und die Regierung solle uns Arbeit geben. Dann stand eine Guerillera auf. Sie war groß und sehr hellhäutig, das schwarze Haar trug sie in einem Knoten, und ihr Blick war wütend. Sie erzählte davon, dass ihre Mutter sich nach dem Tod ihres Vaters mit einem Mann eingelassen hatte, der sie jede Nacht missbrauchte. Das habe sie hingenommen, bis ihre jüngere Schwester ihre erste Periode hatte, dann habe sie keine Wahl mehr gehabt. Sie habe dem Mann ein Messer in den Hals gerammt und sei fortgegangen, um sich der Guerilla anzuschließen, und die Revolution sei ihre Mutter und ihr Vater geworden. Die Revolution, sagte sie, sei eine wahre Mutter, ein wahrer Vater. Sie habe ihr Tausende Brüder und Schwestern gegeben. Dann sang sie ein Lied mit einer Stimme, die viele Jahre lieblicher war als ihr Blick. Die Leute tranken, und die Guerilleros sangen noch mehr Lieder, und Abelito beschloss, dass ihm die Guerilla viel besser gefiel als die Paracos, die ihm immer die Partien Cinco Huecos verdorben hatten. Später spielte er mit seinem Freund Franklin Guerilla. Und der stets forsche Franklin spielte den Zimmermann, der grausame, aber gerechte Urteile vollstreckte.

Einen Monat später kehrte die Guerilla wieder ins Dorf zurück und nahm Alfredo mit, der vier Jahre älter war als Abelito, und Matías, der drei Jahre älter war, damit sie sich der Revolution anschlossen. Das hier sei ein Paraco-Dorf, sagten sie, deshalb müsse es eine neue »Impfung« bezahlen, wie sie die Steuer nannten, die sie der Bevölkerung auferlegten. Sie waren viel wütender als beim letzten Mal, und niemand wusste so recht, warum. Manche gaben dem Schlachter Marcos Ardila die Schuld, da er noch Verbindungen zu den Paramilitärs habe. Andere dagegen schoben sie auf Chepe, den Barbesitzer. Wer auch immer sie trug, der Preis waren die Kinder, die sie mitnahmen. Auch Abelito hätten sie mitgenommen, aber sie ließen ihn, weil er eine Schwuchtel sei, wie sie sagten. Es geschah so:

Abelito spielte mit seiner schlauen Schwester Maria, als die Guerilla die Straße entlangkam. Der große, dünne Alfredo, der immer kränkelte, und der kleine, hässliche Matías, der stets freundlich war, folgten ihnen mit großen, ängstlichen Augen. Maria lief fort und versteckte sich, aber Abelito war neugierig und blieb. Die bewaffneten Männer umringten ihn. Willst du dich der Revolution anschließen? Abelito schaute Alfredo und Matías an, die ihre Füße anstarrten und die Tränen zurückhielten.

Einer der Guerilleros nahm eine Granate von seiner Weste und fragte Abelito, ob er wisse, was das sei. Abelito sagte ja. Der Guerillero gab sie ihm und sagte: »Zieh den Splint und wirf. Zeig uns, dass du ein Mann bist.«

Abelito fing an zu weinen, und der Mann sagte: »Schaut mal, eine kleine Schwuchtel.« Und sie alle lachten, alle Guerilleros außer Alfredo und Matías. Die Guerilleros hatten alle Augen wie flache Steine, bis auf den Anführer, dessen Augen waren wie scharfe, kleine Messer. »Wirf schon, los!«, brüllte der Guerillero. Aber Abelito stand bloß mit der Granate da und weinte, bis sie ihm der Anführer wieder abnahm und sagte: »Geh nach Hause zu deiner Mama, du kleine Schwuchtel.«

Schwach wie er war, lief Abelito wirklich zu seiner Mutter. Er hätte den Splint ziehen und die Granate wie bei Cinco Huecos werfen sollen, lässig und so kurz, dass sie ihn und die Guerilleros und all ihre wertlosen zukünftigen Spiele auslöschte.

Aber er tat es nicht, und als die Guerilla die vollständige Kontrolle über die Dörfer rundum hatte und als die Paras nur noch eine Erinnerung waren, brachte die Guerilla die Paisas, und das nächste Spiel begann.

Die Paisas kamen mit Koffern und Samen und dem Versprechen eines neuen Geschäfts ins Dorf, nämlich des Koka-Geschäfts, bei dem die Dorfbewohner gar nicht verlieren könnten. Viele waren begeistert – sie pflanzten, ernteten, arbeiteten und verdienten Geld. Die Paisas zahlten, was sie versprochen hatten, und zwar pünktlich. Und die Dorfbewohner und die Paisas zahlten der Guerilla das Impfgeld.

Mutter und Vater stritten während dieser Zeit. Vater wollte Geld verdienen, aber Mutter fand es zu gefährlich. Ein hässliches Geschäft. Großvater hatte ihr schlimme Geschichten davon erzählt. Schließlich beteiligte sich die Familie nicht an dem Geschäft, das so vielen um sie herum Radios, neue Kleider und vieles andere einbrachte. Aber sie waren glücklich.

Das ging zwei Jahre lang so, und in dieser Zeit veränderte sich die Gegend am Fluss. Großvater beschwerte sich, dass die Dörfer kaum noch mehr als Bars mit einer Straße in der Mitte waren und dass aus den kleinen Mädchen nicht mehr als Huren geworden war. Mutter sagte, er könne sich doch freuen – nun könne er sich betrinken, wo er wolle, und nicht mehr nur vor Abelito und seinen Schwestern.

Es gab Wahlen und nach den Wahlen Schüsse, und die Hälfte des Nachbardorfes floh. Die Paisas kamen mit bewaffneten Männern und waren sehr wütend. Sie sagten, sie würden nun nur noch soundso viel für Koka bezahlen und nicht mehr. Sie sagten, die Dörfer hier seien alle vom Paramilitär verseucht, also habe die Guerilla die Steuern angehoben, um für all den Ärger aufzukommen, den die Leute hier machten.

Franklins Bruder Santiago, der vier Jahre älter war als Abelito und gut rechnen konnte, erzählte, er sei mit seinem Vater flussabwärts gefahren, und dort hätte man mehr für Koka bezahlt. Wenn sie hier so viel zahlten, und so viel in Camaguan, dann zahlen sie in Cúcuta noch eine ganze Menge mehr, hatte er überschlagen, also müssten die Paisas ihnen doch eigentlich viel mehr geben, mehr sogar, als sie früher gezahlt hatten. Er ging in den Dschungel und beschwerte sich beim Zimmermann, und der Zimmermann gab ihm eine Ohrfeige und sagte ihm, sie wüssten, dass das hier ein Paraco-Dorf sei und er aus einer Paraco-Familie komme, also solle er gefälligst die Klappe halten. Dann verprügelte die Guerilla ihn so schlimm, dass er nicht mehr nach Hause laufen konnte, also musste man seinen Vater und seinen Bruder ins Guerilla-Lager rufen, damit sie ihn forttrugen. Zwei Tage später kamen die Paisas wieder, gingen zu ihm nach Hause, zerrten ihn auf den Dorfplatz und erklärten allen, er sei ein Feind des Volkes. In der nächsten Woche kam seine Leiche ganz aufgedunsen den Fluss herabgetrieben, und das Dorf trauerte, und Pater Eustacio kam aus Cunaviche zur Beerdigung. Franklin erzählte allen, er werde seinen Bruder rächen, aber keiner glaubte ihm. Sein Geprahle wurde traurig und ziellos.

Eine Zeit großer Angst begann. Ohne Vorwarnung schloss die Schule der Evangelikalen. Maria erzählte Abelito, die Guerilla habe die Lehrer mitgenommen und zahlen lassen oder halte sie im Dschungel fest, bis sie zahlten. Sie sagte, jeder in Kolumbien müsse der Guerilla das monatliche Impfgeld bezahlen, vor allem die Reichen, und wenn jemand nicht zahle, müsse er ins Gefängnis, bis gezahlt werde. Aber die Guerilla habe keine Gefängnisse, erklärte sie, also hätten sie Abelitos Lehrer in den dichtesten Teil des Dschungels mitgenommen, wo es Sechs-Meter-Anakondas gebe, die Menschen bei lebendigem Leib verschlängen, und sie um den Hals an Bäume gekettet. Sie sagte, dort würden sie bleiben, mit der Kette um den Hals, bis das Geld aus Amerika sie freikaufe oder sie sterben. Aber nach einer Weile wurde auch das normal, und die Leute arbeiteten, ohne zu klagen, für weniger Geld und die Angst war nur noch im Hintergrund wie die Sommerhitze, etwas, was man wahrnimmt, worüber man sich manchmal ärgert, aber von dem man nicht erwartet, dass es sich ändert.

Als er dreizehn wurde, fing Abelito an, auf den Kokafeldern zu arbeiten; das war gute, harte Arbeit. In demselben Jahr schwängerte einer der Paisas Abelitos gemeine Schwester Mona. Als Abelitos Vater das hörte, wollte er sie verprügeln, konnte aber nicht die Hand gegen sie erheben, also tat es die Mutter an seiner Stelle mit einer Rute. Die ganze Familie wurde tieftraurig. Als sie den Paisa fragten, ob er Mona heiraten werde, lachte er nur, und niemand traute sich, etwas zu antworten. Mona sagte, es sei besser so. Den Namen des Mannes sprach sie nie aus, sie nannte ihn nur »das Schwein« und schwor, sie würde sich das Baby lieber selbst aus dem Bauch schneiden, als mit ihm verheiratet zu sein.

Abelito war darauf gefasst, dass das Leben sich änderte, dass seine Schwester ein Kind zur Welt brachte und er seinen Eltern und ihr mit dem Kind helfen würde, aber für die Dorfbewohner änderte sich alles noch viel schneller, als Franklin endlich den Mut fand, den er seit Jahren gesucht hatte.

Der Zimmermann schlief mit vielen der Mädchen im Dorf, aber vor allem mit Jimena. Sie war fünfzehn und hatte schon ein Kind von ihm bekommen. Franklin wartete, bis der Zimmermann wieder einmal zu ihr kam. Er folgte ihm und erwischte ihn allein mit Jimena, die sehr schön und sehr schüchtern war, die immer freundlich zu Abelito gewesen war und die er liebte. Franklin rammte ihnen sein Messer überall hinein, in den Hals, die Arme, die Hände und den Kopf. Franklin erzählte mir, er habe dem Zimmermann die Zunge herausschneiden wollen, die Zunge, die den Paisas vom Plan seines Bruders erzählt hatte, aber als er die Leiche umgedreht und das Gesicht gesehen habe, habe er Angst bekommen und sei davongelaufen.

Nur einer von hundert wehrt sich gegen einen wahren Killer, so wie Franklin es getan hat. Aber auch Franklin hatte nur genug Mut, um es einmal zu tun. Er floh, und seine ganze Familie floh mit ihm, während der Rest des Dorfes wartete wie ein Schwein auf das Messer.

2

Lisette2015

Es fing nicht erst mit den Bombenanschlägen an. Das soll heißen, Kabul war zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr Kabul. Früher gab es hier Tausende von uns Westlern, hauptsächlich Soldaten und Militär-Dienstleister, aber auch Leute von Hilfsorganisationen, Missionare, Abenteurer, Diplomaten und Journalisten wie ich, die hier ein Zeichen setzen oder viel Geld verdienen wollten, im »guten Krieg«, Afghanistan, im Gegensatz zum »dummen Krieg«, Irak. Das Geld, das wir mitbrachten, hielt alles am Laufen in unserem Kabul, dem Kabul der Westler, der Stadt in der Stadt, die sich normale Afghanen nicht leisten konnten oder zu der sie schlicht und einfach keinen Zutritt hatten. Man nannte es die Kabubble, und die Kabubble hieß importierte Steaks im Boccaccio, geschmuggeltes Heineken an der Flower Street und Dachgarten-Partys mit Blick auf die Lichter, die jeden Abend die Berghänge rund um die Stadt hinaufkriechen. Sie war ein Ort, an dem man sich entspannen und trinken konnte, an dem man Fremden die Lügengeschichten erzählen konnte, die man sich auch selbst erzählte, warum man dort war, was man tat und was man damit bewirkte.

All das war 2015 schon lange vorbei. Die Truppenzahlen waren von ihrem Höhepunkt um hunderttausend auf unter zehntausend gesunken, und sosehr sich all die selbstgerechten europäischen Entwicklungshelfer und zweiundzwanzigjährigen Journalistinnen, die »dem afghanischen Volk eine Stimme geben« wollten, für einen Truppenabzug starkmachten, fiel mir doch auf, wie sich auch ihre Reihen lichteten, als die amerikanischen Soldaten weniger wurden. Man sah in den Tagen lange nicht mehr so viele Korrespondenten, NGO-Koordinatoren oder auch schwerbewaffnete weiße Typen mit Cargohose auf der Street 15. »Das Blatt hat sich gewendet«, hatte Obama 2012 verkündet. Genau.

Dann, früh am Morgen, Anfang August, eine Explosion. Wir hören es im Büro wummern, die Fensterrahmen klappern, und Aasif, einer meiner afghanischen Kollegen, schaut mich hoffnungsvoll an und sagt: »Vielleicht jagt das Militär ein Waffenversteck hoch?« Es ist acht Uhr dreißig, ich habe noch keinen Kaffee getrunken, und keiner von uns hat große Lust, raus an einen Anschlagsort zu rasen und Leichen und Verletzte zu zählen.

Wir laufen beide die Treppe hoch aufs Dach. Ein paar Jahre vorher wäre da schon alles voller Fotografen und Kameraleute gewesen, die auf den schwarzen Rauch draufhalten und Wetten abschließen, was es getroffen hat. Wenn das Ganze überhaupt mal jemandem wichtig war, dann damals. 2015 dagegen interessiert man sich allgemein weniger für irgendwelche Explosionen in Kabul. Die Büros sind leer, und als wir raus aufs Dach kommen, steht da nur Omar, knipst lustlos Fotos und nuckelt an einem winzigen Zigarettenstummel. Wie alt Omar genau ist, weiß ich nicht – am 11. September war er noch ein kleiner Junge, also ist er wohl gerade Anfang zwanzig, aber er macht einen auf abgebrühter Zyniker. »Groß, vielleicht sogar verdammt groß«, sagte er. »Aber zu früh für die große Laufkundschaft, also würde ich sagen« – er begutachtet die Szene mit geschultem Auge – »zehn Tote.« So redet Omar, wenn er nüchtern ist. Betrunken habe ich ihn über solche Sachen weinen sehen, auch idealistisch von seiner Arbeit reden hören, dass er der Welt das Leid seines Landes vor Augen führt. Dann ist er allen ein bisschen peinlich.

Als er seine Verwandten angerufen hat, ob es allen gutgeht, sagt Aasif, er fährt raus an den Schauplatz. Ich nehme an, dass Bob von mir den Alert erwartet, also gehe ich runter und rufe das Pressebüro vom Militär an. Sie sagen, dass es keine kontrollierte Sprengung gegeben habe, können aber auch keine Explosion bestätigen, also schreibe ich: »Hörbare Explosion in afghanischer Hauptstadt. Rauchfahne sichtbar.« Ich lese einmal drüber, zweimal, klicke senden.

Nicht allzu viele Informationen, aber zwei Minuten später, als ich gerade am zweiten Absatz der Eilmeldung sitze, kommt Bob mit einem Becher Kaffee aus dem hinteren Büro und sagt: »Du warst zwei Sekunden schneller als die AP.« Er stellt mir den Kaffee hin, meine Belohnung.

Ich trinke einen Schluck, schreibe den letzten Absatz fertig, insgesamt 125 Wörter und schicke ab. Vier Minuten von Anfang bis Ende. Ganz okay.

Jetzt geht die Arbeit los. Aasif ist schon unterwegs zum Schauplatz – er hat ein Motorrad, also kommt er viel besser durch den Kabuler Verkehr als wir anderen, die auf Taxis oder den Agenturwagen angewiesen sind. Bob lässt mich schreiben und setzt Denise an die Telefone. Denise ist dreiundzwanzig, sieht eher unauffällig aus, aber sie ist so viel jünger als ich, dass sich, selbst wenn wir zusammen unterwegs sind und obwohl ich weiß, dass ich was hermache, wenn ich es darauf anlege, und sie ihr Kopftuch bindet wie die letzte Pennerin, die Männer nach ihr umdrehen. Für einen bestimmten Typ Mann ist sie unwiderstehlich, nämlich für den, der sich noch nicht ganz sicher ist, dass er sich mit seiner Zeit in Afghanistan seine Männlichkeit bewiesen hat, und der insgeheim schreckliche Angst vor dem Tod hat, gegen die er nur ankommt, wenn er junge Frauen vögelt. »Paniksex«, nennt meine Freundin Cynthia das, und wir machen uns beide ein bisschen Sorgen, dass er für uns einfach nicht mehr denselben Reiz hat wie früher. »Ich will mindestens so lebendig sein wie der Pöbel«, zitieren wir Frank O’Hara. Aber wir sind einfach nicht mehr allzu lebendig und wissen nicht mal so recht, ob wir es noch sein wollen. Denn wir verachten die Denises dieser Welt genauso wie unser jüngeres Ich und die Männer, die sie vögeln.

»Können wir es selten nennen?«, fragt Denise ein bisschen zögerlich.

»Wann war denn die letzte?« Bob lehrt nach der sokratischen Methode.

»Vor drei Wochen«, sage ich.

»Zählt das als selten?«, fragt Bob.

»Für ein Kriegsgebiet?«, fragt Denise.

»Kabul ist kein Kriegsgebiet«, sage ich. »Beim letzten Anschlag hat es fünf Tote gegeben …«

»Mit wie vielen Toten wäre Kabul denn nicht mehr sicher?«, fragt Bob.

»Mal zum Vergleich – ist die Mordrate von Kabul schlimmer als die von New Orleans?«, fragt Denise.

»Ist New Orleans denn sicher?«

Aasif ruft an, die Bombe ist in der Nähe des Innenministeriums hochgegangen, oder sogar direkt am Innenministerium; die Polizei lässt ihn nicht durch, aber er hat einen Ladenbesitzer überredet, ihn aufs Dach zu lassen, und Omar macht Fotos der Zerstörung, hoffentlich bekommt er etwas Kunstvolles hin, etwas so Schönes, dass es verbreitet wird, dass es den Leuten diese Gewalt nahebringt und wenigstens einen gewissen Eindruck im Bewusstsein der Allgemeinheit hinterlässt. Die demokratische Öffentlichkeit verlässt sich auf die furchtlose Wahrheitssuche der freien Presse, um mit knallharten Fakten die Phrasendrescherei der Politik zu entlarven und informierte Entscheidungen treffen zu können. Das ist natürlich nach vierzehn Jahren in diesem Krieg bisher noch nicht passiert, aber vielleicht klappt es damit ja doch noch irgendwann mal.

Denise kriegt jemanden am örtlichen Krankenhaus dazu, ihr sieben Tote zu bestätigen, aber wir wissen nicht, wer die Toten sind, und das ist wichtig. Wenn es afghanische Einsatzkräfte sind, stellt ISAF es als gute Neuigkeiten hin. Afghanen, die tapfer ihr Land verteidigen und es vor größerem Unheil schützen. Aber falls die Bombe irgendwo im Innenministerium hochgegangen ist, lässt das die Kabuler Führung schwach aussehen, hoffnungslos unterwandert. Wenn es ein ziviles Anschlagsziel war, tja, dann ist es bloß noch ein Datenpunkt, dass die Taliban nun dazu übergegangen sind, unschuldige Afghanen zu töten. Die afghanische Regierung gibt eine Erklärung ab, in der sie die Schuld irgendwie Pakistan zuschiebt. Das US-Militär sagt, an dem Anschlag sehe man die wachsende Verzweiflung der Taliban, was auch immer das heißen soll.

Bob macht seinen Computer an und zeigt mir einen Twitter-Dialog zwischen @ISAFmedia und den Taliban. »Das Endergebnis steht fest. Die Frage ist nur, wie lange wollen die Terroristen noch unschuldige Afghanen in Gefahr bringen?«, tweetet die ISAF. Und ein selbsternannter Sprecher der Taliban antwortet: »Ihr brngt sie seit 10 J ›in Gefahr‹. Äschrt gnze Dörfr ein. ›Gefahr‹ seid ihr.«

»Schwach«, sage ich.

Ich schaue auf die Uhr. Ich muss an den Anschlagsort, bevor die Polizei alles aufgeräumt hat, um ein bisschen »Farbe« reinzukriegen: ein frisch verwaistes Kind, das weint und hilflos nach seinen Eltern sucht, den grünen Pick-up, mit dem die Verletzten ins Krankenhaus gefahren werden, die Glasscherben und zerstörten Obststände, Geschäfte, Existenzen, Leben. Omars Fotos werden helfen … nicht nur die, die wir rausgeben – Omar macht auch immer ein paar rein dokumentarische Aufnahmen, damit wir solche nüchternen Einzelheiten haben, die auf dem Bild selbst nicht nach viel aussehen, die Story aber knackig machen, wie bei dem letzten Anschlag der ältere Paschtune, der mit blutenden Armen seinen Mantel über die Leiche einer Frau hielt, um sie zu verhüllen. Man muss irgendein Detail finden, das vielleicht jemanden, einen Leser, der morgens seinen Kaffee trinkt und sein hartgekochtes Ei isst und gleich schnell los zur Arbeit muss, das diesen Menschen innehalten und nachdenken lässt. Das ist unter anderem deshalb schwierig, weil solche Details mich selbst immer seltener zum Nachdenken bringen. Als ich gerade hier angekommen war, kochte ich vor Wut darüber, wie gleichgültig den meisten Leuten zu Hause die afghanischen Toten waren. So viele Menschen, die leiden und sterben und in diesem brutalen Land mit unglaublichem Mut ums Überleben kämpfen, einem Mut, der einen zumindest für ein paar Jahre bestärken kann. Ich glaube nicht, dass ich dieses Gefühl jemals wiederbekomme. Das geht mir in der letzten Zeit immer wieder durch den Kopf, wenn ich im Bett liege und einschlafen will: Ich bin kaputt, ich bin kaputt, und ich weiß nicht, wie ich jemals das Loch stopfen kann, das ich mir in die Seele geschnitten habe.

Und dann höre ich das viel lautere Wummern der zweiten Bombe.

3

Abel1999

Als sie kamen, war Abelito mit seinem Vater im Boot unterwegs. »Schnell!«, rief Vater. Er schob Abelito unter den Sitz und warf Lappen und Netze über ihn, und der Gestank von abgestandenem Flusswasser unten im Rumpf stieg Abelito in die Nase. Sein Körper schaute zum Teil unter dem Sitz hervor. So war er doch bestimmt vor niemandem versteckt. Aber sein Vater zeichnete schnell einen Schutzkreis mit dem Zeige- und dem Mittelfinger und schloss ihn mit dem Kreuzzeichen ab, und Abelito wurde unsichtbar. Die Guerillas riefen nach seinem Vater, und wie immer gehorchte er.

»Alle müssen kommen«, sagten sie. »Für die Gerechtigkeit des Volkes.«

Jemand lachte. Es war ein grausames Lachen. Oder ein nervöses. Oder beides.

Vater sagte nichts, aber Abelito spürte das Boot schaukeln, dann zog Vater es an Land, und er hörte den Guerillero sagen: »Brauchst es nicht festzubinden.«

Abelito hörte es ans Holz klopfen. Die Fingerknöchel seines Vaters schlugen viermal an den Rumpf. »Hab dich lieb«, sagten sie. Die muffige Luft füllte seine Lunge, das eigene Herzklopfen seine Ohren, ein gewaltiges Pochen, als wäre sein Herz größer und stärker geworden, um gegen seine Feigheit zu protestieren. Das Boot schaukelte wieder, als Vater es losließ, und die Strömung zog daran, bis es sich vom Ufer löste. Abelito spürte, wie er flussabwärts trieb, in Richtung all der Orte, von denen ihm sein Großvater erzählt hatte, an die er aber nicht mehr wollte.

Gerechtigkeit, hatte der Guerillero gesagt. Abelito wusste, dass das eine Hinrichtung bedeutete, aber wessen? Sicher hatte es niemand gewagt, etwas wegen Franklin zu sagen – von Bösem sprechen hieß Böses heraufbeschwören. Die Guerillas wussten nur, dass die Paramilitärschweine in diesem Paramilitärdorf den Zimmermann umgebracht hatten, einen anständigen, gütigen Mann, der stets Erbarmen mit den Waisenkindern gehabt hatte, dessen Eltern er tötete. Schlimmer noch, sie hatten seine schwangere Geliebte umgebracht, was nicht nur ein Verbrechen gegen Menschen war, nicht nur ein Verrat an der Revolution, sondern eine Sünde vor Gott.

Ich habe schon viel zu lange darüber nachgedacht, ob Abelito seine Familie irgendwie hätte retten können. Das sind dumme Gedanken. Er hätte bestenfalls mit ihnen sterben können, doch dazu fehlte ihm der Mut.

Stattdessen kroch Abelito aus seinem Versteck und lenkte das Boot krank vor Sorge nach Cunaviche. Der Ort war voller verängstigter und wütender Leute. Ein Mann mit zerrissenem Hemd und getrockneten Blutspritzern um das linke Auge brüllte auf eine Gruppe Frauen mit gesenkten Köpfen ein. Zwei alte Indios, die Abelito aus dem Nachbardorf kannte, saßen an der Straße mit schweren Säcken neben sich auf der Erde, aus denen oben Verpflegung und Pfannen und Werkzeuge hervorquollen. Manche Leute trugen ihre Habseligkeiten in Lakenbündeln, andere hatten ihren Haushalt kreuz und quer auf Karren geworfen, sie wirkten gehetzt, liefen hierhin und dorthin, wollten weg, wussten aber nicht, wohin, trugen ihr ganzes Leben auf dem Rücken oder schleiften es hinter sich her wie Packesel. Abelito rannte zur Kirche, aber vor der Tür war nur noch mehr Chaos, noch mehr gehetzte Leute, noch mehr Wut.

»Bestien!«, schrie eine Frau. Er hörte Wehklagen. Der Himmel war strahlend blau und verspottete die Erde. Abelito drängelte sich nach drinnen. Dort waren noch mehr Leute, mehr Geschrei, eine etwa kreisförmige Ansammlung beim Altar, unter dem Christus. Abelito wusste nicht, was er sonst tun, wohin er sonst gehen sollte, also schob er sich weiter nach vorne durch. Die Augen des Christus folgten ihm und nur ihm, sie ignorierten die ganze Menschenmenge, und die Wunde in dessen Seite schien nicht mehr zu klaffen, zu verschlingen, sondern mit den Leuten auf der Straße zu schreien. Abelito drängelte sich durch den Kreis aus Männern und Frauen und verstand erst nicht, was er sah. Eine alte Frau, auf Händen und Knien, schrubbte den Boden.

»Pater Eustacio hat ein dummes Spiel gespielt«, sagte ein Mann. »Und er hat verloren.«

Sie putzte irgendeine Flüssigkeit weg, die auf dem Kirchenboden verschüttet worden war. Nur wegen Abelitos Dummheit, seiner Kindlichkeit trotz allem, trotz jedem Grund, ein Mann zu sein, konnte er nicht erkennen, welche zähe Flüssigkeit dort auf dem Boden verspritzt worden war, deren entsetzlicher Umriss langsam verschwand, während die alte Frau sich auf allen vieren vorarbeitete, mit Lappen wischte, die Flüssigkeit im Halbkreis mitschleifte, dass es einen einfarbigen Regenbogen gab.

»Er hatte keine Wahl«, sagte ein anderer Mann. »Hätte er nicht mit der Guerilla zusammengearbeitet …«

»Sie haben ihn kastriert und ausbluten lassen. Warum tut man einem Pfarrer so etwas an?«

»Die Paras sind gern überdeutlich.«

»Die Paras?«, fragte Abelito, und seine Stimme überraschte ihn. »Aber …«

Niemand beachtete ihn. Er sah wieder die alte Frau an, die sich durch den Fleck arbeitete. Blut, dachte Abelito. Blut. Er schämte sich. Die Wunde des Christus schrie. Er drängelte sich wieder aus der Menschenmenge und lief durch die Hintertür aus der Kirche. Eine Schwere hing über dem Dorf. Flussabwärts war die Straße voller Leute, die mit ihren Taschen und Karren fortgingen. Flussaufwärts war sie voller Leute, die mit ihren Taschen und Karren herankamen.

Pater Eustacio ist tot, dachte er. Der Gedanke beruhigte ihn. Die Schwere ließ nach. Du musst nach Hause gehen, sagte ihm eine Stimme. Es war der Urinstinkt, der Vögel und andere Tiere zurück in ihr Nest ruft, in ihren Bau, der sie einen gestürzten Ast suchen lässt oder einen Felsen, unter dem sie sterben können, um den Tod nicht im Freien zu lassen.

Abelito ging gegen den Strom der Leute, die nach Cunaviche kamen, man warf ihm schiefe Blicke zu, und eine Motilonin warnte ihn. »Die Paras«, sagte sie. Das ergab für Abelito keinen Sinn, es war doch immer die Guerilla, die Guerilla. In seinem Dorf hatte man seit Jahren keine Paras mehr gesehen.

Oder etwa doch? Damals hatte Abelito keine klare Vorstellung von den Gruppen, die rund um sein Dorf agierten. Paracos und Guerilla und Narcos und Banditen und Polizei und Soldaten und auch kleinere Gruppen, lokale Milizen der Motilonen oder anderer Indios. Und es gab verschiedene Sorten Guerilla und verschiedene Sorten Paracos und verschiedene Sorten Narcos. Er wusste, dass die Guerilla den Kommunismus wollte. Er wusste, dass die Paracos die Guerillas töten wollten. Er wusste, dass die Narcos Coca wollten. Aber er wusste auch, dass sie manchmal zusammenarbeiteten. Manchmal kooperierten sogar die Paracos mit der Guerilla, dann schlossen sie Pakte oder verbündeten sich gegen örtliche Milizen, die ihre Macht bedrohten. Das war alles zu viel. Er verstand nur eins, die eine Sache, die zählte, nämlich dass es auf dieser Welt niemanden gab, den ein armer Ort oder ein armes Dörfchen um Schutz bitten konnte.

Nach einer Stunde waren auf der Straße nicht einmal mehr die Nachzügler unterwegs, und Abelito ging allein unter dem klaren, blauen Himmel. Oder fast allein. Für ihn gab es noch seine gemeine Schwester Mona und seine kluge Schwester Maria und seinen Vater und seine Mutter und den Großvater irgendwo da hinten, wo in der Ferne Schüsse zu hören waren. Wo Rauch aufstieg. Doch in den hintersten Winkeln seines Kopfes lag die Gewissheit eines großen Bösen. Er ging auf das Böse zu. Dort gehörte er hin, an den Ort, der einmal ein Dorf gewesen war, mit betrunkenen alten Männern, grausamen kleinen Jungen, hässlichen Frauen und bockigen kleinen Mädchen. Mit jungen Ehefrauen, die ihren Männern treu waren. Mit jungen Männern, die ihr Coca-Geld für Radios und Klamotten ausgeben wollten.

Er kam an dem Haus vorbei, wo Jimena gewohnt hatte, bevor Franklin sie umbrachte, und in das sich ihre Familie vor Trauer zurückgezogen hatte. Leer. Die Tür stand offen, man hatte wohl gewusst, dass es keinen Sinn mehr hatte, das eigene Zuhause zu bewahren. Niemand würde zurückkommen.

Abelito ging weiter, weiter dorthin, wo er eigentlich die Freunde, Familien, Traditionen, Geschichten, Spiele und Lieder finden sollte, mit denen er aufgewachsen war, wo selbst die Toten, wie Jimena, in den Stoff des Alltags genäht blieben. Doch Abelito ging nicht an einen Ort des Trauerns. Er ging an einen Ort der Stille, an dem selbst die Erinnerung gestorben war.

Pablos Leiche sah er als erste. Pablo, älter als er, ein fleißiger Arbeiter, aber schüchtern zwischen den anderen Jungen, lag auf dem Bauch. Abelito erkannte ihn an den Händen, harte, schwielige Hände. Die Seele eines Menschen sieht man in den Augen, heißt es, aber auch an den Händen zeichnet sie sich ab. Pablos linker Arm war unter den Körper gekrümmt, die Hand schaute gerade so auf seiner rechten Seite hervor, die offene Handfläche zum Himmel, während sein rechter Arm senkrecht über den Kopf gestreckt lag, die Hand in die Erde gekrallt. Abelito drehte ihn auf den Rücken. Pablos Gesicht war in einem Ausdruck des Schreckens gefangen, der Mund offen und verzerrt.

Selbst heute ertrage ich den Anblick des Gesichts und der Hände der Toten nicht. Wenn es vor mir zu einem Tod kam, konzentrierte ich mich auf die Arme, die Brust, den Hals, die Beine, während man die Arbeit vollzog. So sah mich niemand wegschauen wie ein Feigling. Ich schaute sie direkt an, sah sie aber nicht, sondern nur Teile von ihnen, während das Leben floh. Abelito war jung, er kannte diese Tricks nicht.

Der Himmel war schwarz, die Straße schlecht zu sehen. Abelito kannte den Weg auch im Dunkeln, aber mit jedem Schritt wurden ihm die Füße schwerer, das Herz furchtsamer. Er kam an Gustavos Haus vorbei oder an den Resten davon, die eine Wand war eingestürzt und das Blechdach nach innen gesackt. Was war hier passiert?, fragte er sich, dabei wusste er es. Er hatte von anderen Dörfern gehört, wo man die Leute von ihrem Land gejagt hatte, Dörfer, die zu viele Schwierigkeiten gemacht hatten, weshalb alle Bewohner vertrieben wurden, zu Heimatlosen wurden, zu Geistern, die ferne Städte heimsuchten.

Der Instinkt, nach Hause zurückzukehren, war verschwunden, aber Abelito hatte keinen anderen Ort, an den er hätte gehen können, kein anderes Zuhause. Wie eine leere Gruft tauchte an der Straße das Haus auf, das er mit seinem Vater und seinen Schwestern gebaut hatte. Er spürte, dass die Schutzkreise und Gebete verflogen waren, die es behütet und zu einem Ort der Freude gemacht hatten. Abelito griff nach dem Armband mit dem winzigen Holzkreuz, das sein Vater ihm gegeben hatte. All die heilige Macht, die sein Vater und seine Mutter ihr ganzes Leben lang angerufen hatten, all die Gebete und Segen, all das war aufgebraucht worden, um sein Leben zu retten. Abelito ging ins Haus und nichts rührte seine Seele. Selbst als sein Vater nur den Grundriss in die Erde gezeichnet hatte, war hier mehr von einem Zuhause gewesen. Er berührte sein Gesicht und spürte Tränen an den Fingern. Unter dem Bett sah er das Buch, das ihm sein Lehrer an der Schule der Evangelikalen gegeben hatte, aber ihm war, als gehörte es ihm nicht mehr, sondern einem anderen, der in diesem Haus gelebt hatte, als die Segen noch hielten. Er nahm das Armband mit dem Kreuz ab und warf es in die Ecke.

Er ging nach draußen und in die Richtung, wo er den Rauch hatte aufsteigen sehen. Chepes Bar. Seine Schritte verlangsamten sich, und der Abend ging in die Nacht über. Als Abelito bei Chepes Bar ankam, konnte er im Mondlicht nur noch die Umrisse ausmachen, und die waren falsch, irgendwie unvollständig. Ein schrecklicher Geruch von gegrilltem Fleisch hing in der Luft und machte Abelito hungrig, obwohl er am liebsten den ganzen Inhalt seines leeren Magens auf den Boden erbrochen hätte. Er konnte nicht weiter.

Ich weiß nicht, wie lange er dort stand. Ich weiß nur, dass er geradezu froh war, als zwei Männer in schäbigen Klamotten an der Straße auftauchten, ihre Gewehre auf ihn richteten und ihn zur Rede stellten, wer er sei, wohin er wolle und was er so nah am Ort eines Kampfes zu suchen habe.

Die Männer waren in Abelitos Alter, nur dank ihrer Waffen waren sie keine Jungen mehr. Sie hatten schlichte, ehrliche Gesichter, obwohl sie ängstlich und aufgeregt wirkten. Der eine hatte einen großen Pickel seitlich an der Nase. Der andere einen ersten Bartflaum. Sie ließen Abelito knien, und selbst da verstand er noch nicht ganz, dass die Welt nun eine andere war, und er glaubte, er habe das Recht, Fragen zu stellen, seinem Gegenüber ins Gesicht zu sehen, zu sprechen und gehört zu werden. Das glaubte er auch dann noch, als sie ihm die Hände hinter den Rücken fesselten, während er vor dem rauchenden Grab seiner Familie kniete, seines Dorfes und dessen, was von ihm selbst übrig war.

»Was ist denn passiert? Habt ihr gesehen …?«

Der erste Hieb kam wie ein elektrischer Schlag, traf rechts den Kiefer und hallte bis hoch in Abelitos Schädel wider, durchzuckte seinen Körper, der das Gleichgewicht verlor und umfiel, Staub im Mund und die Welt auf die Seite gekippt. Die Muskeln in seinen Armen spannten sich einmal, zweimal an, denn sie kannten die neuen Regeln noch nicht, kannten das Seil noch nicht, das ihm ins Handgelenk schnitt. Die schlichten, ehrlichen Gesichter brüllten jetzt. Es gab keinen Schmerz, nur Verwunderung und die ersten Bewegungen auf Abelitos endgültigen Tod zu, eine langsame Neuordnung der Art und Weise, wie die Welt funktioniert, in der ein Junge nun hilflos sein kann, vollkommen hilflos, in der er einen Schlag nicht erwidern kann.

Einmal war Abelito in der Schule von Gustavo niedergeschlagen worden, einem stärkeren und brutaleren Jungen als er. Gustavos Prügel hatten viel mehr wehgetan als der eine lasche Schlag von den ehrlichen Gesichtern, aber sie hatten in Abelitos Universum nichts verändert. Damals hatte Abelito sich gewehrt. Auge um Auge, Zahn um Zahn, hatten seine kläglichen Fäustchen brüllen wollen. Er wusste, dass er nur verlieren konnte und wie es enden würde – mit Blut, einem angeschlagenen Zahn und Schande. Aber solange er es konnte, hatte er sich auf Gustavo gestürzt und sich ein Fünkchen Würde bewahrt.

Die ehrlichen Gesichter zerrten Abelito an den Haaren hoch, schlugen ihn noch mal, er bekam noch mehr Dreck auf die Lippen, die Rauchsäule im Zwielicht kippte nach links, von rechts raste ihm der Boden entgegen, und oben war kein Gott mehr. Selbst da noch, als sie ihn zum zweiten Mal auf die Knie zerrten und sich mit ihm der Schmerz erhob, glaubte Abelito, wenn er nur verstehen könnte, was sie von ihm verlangten, oder erklären könnte, wer er war und was er machte, dann würde es aufhören. Er glaubte noch an Regeln. Er verstand nicht, dass er in eine andere Welt übergegangen war, in der es keine gab. Sie schlugen ihn ein drittes Mal, zerrten ihn auf die Beine, verbanden ihm die Augen und trieben ihn vor sich her.

Gibt es jeglichen Grund, von den erbärmlichen Dingen zu erzählen, die Abelito tat und sagte, während er zum Sammelpunkt der Paras ging? Hilft es zu sagen, dass die Paras bewusst in Guerillagebiet eindrangen? Dass sie zwar auf Chepes Bitte hin angerückt waren, aber nicht halfen, als die Guerilla ins Dorf kam, nicht halfen, als die ersten Schüsse fielen, und auch nicht, als die Wut der Guerillas überschäumte, als man die widerspenstigen Dörfler in Chepes Bar trieb und das Feuer legte, als die Schreie gellten, während vier Wände, Rauch und Flammen den Tod vor den Mördern verbargen? Dass sie abwarteten, bis die Guerillas ganz berauscht waren vom Tod und später auch vom geplünderten Aguardiente? Dass die Paras erst dann das Feuer eröffneten, als die Guerillas undiszipliniert und befriedigt das Dorf verließen? Hilft es zu sagen, dass die ehrlichen Gesichter allen Grund zur Angst hatten, weil sie mit einem Gegenangriff rechneten? Dass Paras wie Guerillas Dorfbewohner aus ihren Häusern vertrieben und Nachzügler erschossen? Dass sie sich im Krieg als Feinde gegenüberstanden und es trotzdem so war, als würden sie zusammenarbeiten, um alles zu zerstören, was sich die Leute hier aufgebaut hatten? Dass an diesem Abend in der Gegend die Gewalt herrschte und niemand sicher war, nicht einmal die bewaffneten Männer? Nein. Weil die ehrlichen Gesichter, die er gerade so aus den Winkeln der schlecht angelegten Augenbinde erspähen konnte, Gesichter, die Fragen brüllten nach den Bewegungen der Guerillas, ihren Zahlen, Anführern, Waffen, weil diese Gesichter sich nicht um Antworten kümmerten.

Abelitos Unterkiefer pochte mit seinem Herzschlag. Zum Teil konzentrierte Abelito sich immer noch auf seine Familie, auf die Fantasie, dass sie alle noch lebten und er sie finden würde. Ein anderer Teil seines Bewusstseins war rasend vor Angst, was mit ihm passieren würde. Und ein weiterer Teil kroch langsam in jeden Winkel seines Kopfes und löschte Gedanken an ihn selbst aus, an seine Familie, an Chepe und Pablo und Pater Eustacio und was es bedeutete, dass sie fort waren; dieser Teil war allein mit dem Schmerz beschäftigt.

Am Sammelpunkt waren weitere Paras, und man hörte ein Motorrad. Die ehrlichen Gesichter ließen Abelito niederknien. Er hörte sie reden, dann brüllten neue Stimmen Fragen, und Abelito antwortete mit der Wahrheit, da er immer noch glaubte, die Wahrheit spiele eine Rolle, könne aufhalten, was bevorstand. Man stopfte ihm einen zusammengeknüllten Lappen in den Mund. Man band ihm ein Tuch vor das Gesicht, über Mund und Nase. Abelito wurde getreten und fiel auf den Rücken. Der Teil seines Bewusstseins, der sich mit seiner Familie beschäftigte, und auch der für den Schmerz zuständige zogen sich zurück. Die Angst übermannte ihn. Er wollte schreien, aber mit dem Lappen konnte er nicht.

Dann Feuchtigkeit. Erst auf dem Gesicht, den Lippen, als sie sich über das Tuch verteilte, den Lumpen tränkte, und der Geruch von Benzin und Seife. Abelito war verwirrt, als er es auf der Zunge schmeckte. Warum? Was machen sie? Jemand nahm ihm die Augenbinde ab, und er starrte hinauf in die ehrlichen Gesichter. Der Stoff hatte sich vollkommen mit dem Gemisch von Benzin und Seife vollgesogen. Abelito hielt die Luft an, denn er wusste nicht, was kommen würde. Dann atmete er ein. Die Dämpfe zogen in seinen Körper. Und Abelitos Bewusstsein, das sich zwischen dem Schmerz im Unterkiefer, der Liebe zu seiner Familie und seinem Dorf sowie seiner Todesangst aufgeteilt hatte, dieses Bewusstsein verschwand.

Ich könnte versuchen zu beschreiben, wie es sich anfühlte, die Dämpfe dieses Benzin-Seife-Gemisches einzuatmen. Ich könnte sagen: »Ein Feuer erfüllte Abelitos Kopf und Lunge.« Ich könnte sagen: »Ihm war, als sprengte es ihm Nase und Rachen von innen«, oder »als triebe es ihm die Augen aus dem Schädel«. Aber das ist nicht hilfreich. Der Schmerz war alles. Was auch immer vorher in Abelito existiert hatte, Erinnerungen, Sehnsüchte, Würde, und was auch immer außerhalb von ihm existiert hatte, sein Vater und seine Mutter, sein Zuhause, die Felder, auf denen er arbeitete, die Kirche, in der er um Erlösung betete, an die Stelle all dessen trat nichts mehr als das Bewusstsein seines eigenen Körpers, eines Körpers, der Schmerzen ausgesetzt war und dem Tod.

Abelito hielt still, wagte nicht zu atmen. Die ehrlichen Gesichter wurden ihm wieder klarer vor Augen, sie sahen nicht mehr aus wie Gesichter von Menschen wie Abelito, von Menschen wie jenen, mit denen er aufgewachsen war, sondern wie die Gesichter von etwas Übermenschlichem, Gesichter der Herrscher über seinen Körper und Geist, Herrscher über Abelitos Schmerzens- und Todesschreie, hätte er denn schreien können.

In Abelitos Brust und im Hals stieg der Drang zu atmen. Das Benzin brannte ihm in den Augen. Der Drang wurde stärker. Wurde zu einem Befehl. Abelito atmete wieder.

Ich weiß nicht, wie lange das so ging, wie oft Abelito einatmete und wie oft der Schmerz ihn auf die Nerven in seiner Brust und hinter dem Gesicht reduzierte, wie oft der Schmerz sein Bewusstsein in das Universum seines leidenden Körpers weitete. Als ihm der Lappen herausgenommen wurde, kamen neue Fragen, und Abelitos Bewusstsein haschte nach Gedanken, die es zu Antworten verketten konnte. Ehrliche Antworten – dass er bloß ein Dorfbewohner war, auf den Kokafeldern arbeitete, dass er seine Eltern suchte – und unehrliche Antworten – dass er ein Guerilla war, dass er ein Spion war, dass er der Zimmermann persönlich war, wiederauferstanden und zurückgekehrt, um alle Paras zu töten – verschmolzen zu einem. Sie machten keinen Unterschied. Der Lappen und das Tuch kamen wieder, Abelitos Bewusstsein löste sich im Schmerz auf, und dann kamen weitere Fragen. Hätte Abelito ihnen nur seinen Körper öffnen können, damit sie die Hände in seinen Brustkorb stecken und sein Herz fassen konnten, damit sie die Finger bis in sein Gehirn, durch den Hals und in den Unterkiefer ausstrecken und so mit seinem Mund, seiner Zunge hinnehmbare Antworten formen konnten, er hätte es bereitwillig getan.

Dann wurde ein Wort gesprochen, und die ehrlichen Gesichter verschwanden, bevor ein neues Gesicht, ein älteres, erschien. Es war kein freundliches Gesicht, aber auch kein unfreundliches. Es hatte einen lichten Bart und traurige Augen. Der Besitzer des älteren Gesichtes schnitt Abelitos Fesseln auf und prüfte seine Augen und Hände.

»Es ist gut, alles gut«, sagte das ältere Gesicht, das Gesicht eines Mannes, den ich später als Osmin kennenlernen sollte.

Er hielt Abelitos Körper, fest, aber nicht ohne Zärtlichkeit. Er hielt ihn, wie die Jungfrau Maria wohl Jesu Leiche gehalten hatte. Er fragte: »Wie heißt du?«

Und ich sagte: »Ich bin Abel.«

4

Lisette2015

Zwei Bombenanschläge an einem Tag, das ist neu. Neu ist schlecht. Aber fürs Erste kann ich mich mit der Arbeit ablenken. Bei der Eilmeldung ist die AP schneller. Selbstmordattentat in Karte-ye Mamurin. Als ich gerade nach meiner Tasche greife, ruft Aasif an, und ich stelle ihn laut.

»Nur Zivilisten«, berichtet er vom ersten Anschlagsort. »Glassplitter überall. Läden und Wohnhäuser. Kein denkbares Militärziel.« Wahidulla im Gesundheitsministerium hat ihm fünfzehn Tote und bis zu dreihundert Verletzte bestätigt, laut Polizeichef Rahimi sind es ausschließlich Zivilisten.

Ich bin unruhig. Die letzten anderthalb Jahre kommt mir Kabul immer gefährlicher vor, seit dem Anschlag auf La Taverna du Liban, seit der schwedische Reporter willkürlich auf offener Straße erschossen wurde, seit dem Selbstmordattentat auf den christlichen Kindergarten, seit dem Anschlag auf das Serena Hotel, seit die beiden finnischen Frauen am helllichten Tag erschossen wurden, seit dem Anschlag am Cure Hospital. Trotzdem gehe ich mit einem Lächeln nach draußen.

Solche Momente sind das Beste an diesem Job. Wenn etwas Schlimmes passiert und ich losgeschickt werde, um etwas zu unternehmen. Die Story zu schreiben. Mich durch das Chaos zu arbeiten und die Geschichte darin zu finden, die Bedeutung. Klar ist das nicht das Gleiche, wie Blut zu spenden, Leichen einzusammeln oder die Mörder zu jagen. Und unser ewiges Zitat, dass Journalisten den ersten Entwurf der Geschichtsbücher schreiben, vielleicht geht einem das dann gegen den Strich, wenn man die Story abgegeben hat. Oft genug hat man seine Arbeit mit nur der winzigsten Hoffnung raus in den Äther geschickt, dass sie irgendwen interessiert. Dann ist es sogar witzig, wenn einem eine Kollegin aus Washington eine E-Mail schreibt, in der steht: »Ich bin gerade erst einen Monat aus Afghanistan zurück, aber ich erwische mich jetzt schon dabei, wie ich über den Krieg rede, als würde er nicht die ganze Zeit weitergehen.« Und dann denkt man sich, was will ich hier eigentlich? Aber bevor ich abgebe, wenn ich mit den Überlebenden rede, wenn ich Material sammle und schließlich schreibe, wenn ich die schrecklichen Einzelheiten zu einem mehr oder weniger Ganzen zusammenfüge, das die Leser annehmen und verdauen können, dann bin ich eine Gläubige. Etwas tun bedeutet daran glauben. Bedeutet Glauben. Wenn also etwas Schreckliches passiert, muss ich es nicht einfach ertragen wie alle anderen. Ich kann handeln.

Ich komme am zweiten Anschlagsort an, wo noch Tote auf der Straße liegen und zwei von Splittern durchlöcherte Autos. Beide haben solche Aufkleber an der Heckscheibe, die hier so beliebt sind. Auf dem einen steht: »Don’t Cry Girls, I Will Be Back«, und auf dem anderen: »Don’t Drink, It Is Sin« und dazu eine Sektflasche, die ihren Inhalt ausgerechnet auf Che Guevaras Gesicht vergießt. Ich mache Fotos von den Autos, von einer noch qualmenden Weichrauchdose an einer Kette. Eine Frau mit einem Baby sieht mich und fängt an zu schreien, also schalte ich auf dem Telefon den Audiorekorder an. Ich verstehe die Leute im Interview nicht immer gleich, erst recht, wenn sie aufgewühlt sind, aber die Aufnahme kann ich später Aasif vorspielen.

»Ich habe gerade mein Baby gestillt«, erzählt sie mir, als sie sich etwas beruhigt hat. Das Kind ist von oben bis unten verbunden. »Ich habe das Dach noch einstürzen sehen und dann das Bewusstsein verloren. Irgendwann habe ich meinen Mann immer wieder rufen hören. Er kam zu mir. Ich habe im Gesicht geblutet, an den Händen, den Schultern. Mein Schwager hat beide Augen verloren. Mein Sohn …«

Sie hält das Baby hoch und will mir die Verletzungen zeigen, aber bei all den Verbänden ist kaum etwas zu sehen. Die Mutter selbst sieht jung aus, ein hübsches Gesicht voller Dreck und verkrustetem Blut.

»Mein Mann, er hat gesagt … hat gerufen: ›Wo sind die anderen? Mein Vater, mein Vater? Wo sind die anderen?‹ Er hat geblutet, oben am Kopf. Er war rasend, er wusste nicht, wo er war. Wir haben alles verloren.«

Später am Tag bekommen wir die offiziellen Zahlen vom Anschlag auf die Polizei – siebenundfünfzig Opfer, achtundzwanzig Tote, neunundzwanzig Verletzte. Das und der andere zusammen heißt, dass wir so viel Tod an einem Tag nicht mehr seit dem Aschura-Anschlag vor vier Jahren gesehen haben.

Es ist also anders, also gefährlich, also berichtenswert. Ich müsste begeistert sein. Aber mitten in den Interviews ist bei mir die Luft raus. Oder mir ist so langsam alles scheißegal. Das macht Afghanistan mit einem, weshalb jeder Möchtegern-Kriegskorrespondent irgendwann einen auf lässiger Zyniker macht, ob er es sich nun verdient hat oder nicht. Das ist unsere Variante vom Starren ins Leere bei den Veteranen. Und ich schaue mich nervös um, habe Angst vor einem Angriff auf die Rettungsdienste, Angst, dass ich mich in Gefahr bringe, und so darf ich nicht denken. Diese Gefühle schiebe ich zur Seite und sage mir, Scheiß drauf, jetzt kämpfe ich mich auch noch durch den Kabuler Verkehr zum ersten Anschlagsort durch. Doppeltes Risiko, du feige Sau!

Als ich da bin, sehe ich, dass die Explosion noch viel größer war. Die Bombe hat Ladenfronten nach innen gesprengt und nur die Betonpfeiler, Stahlträger und Metallbrüstungen stehenlassen, das architektonische Gerippe des Marktes freigelegt. Wenn man nach einem Bombenanschlag durch eine Stadt geht, ist es, wie wenn man im Wald einen verwesenden Tierkadaver findet – es ist so viel kaputt, dass man den Brustkorb sieht, hier und da sticht ein Stück Schädel oder Unterkiefer hervor, die langen, zarten Mittelfußknochen, genug Einzelteile, um sich das gesamte Skelett vorzustellen, das einmal das Leben strukturiert hat.

Ich gehe durch den Krater, die Kanten reichen mir bis über die Hüften. Dahinter fegt ein Mann Scherben und Schutt aus einem zerstörten Laden. Ich sehe einen jungen Mann in den Trümmern nach Wertgegenständen stöbern. Und dann strahlt auf einmal aus einem schattigen Eingang ein kleines Mädchen in die Welt und hält hoch erhoben in der speckigen Hand einen Schuttbrocken. Sie haut ihn auf ein verbogenes Stück Metall, dass es knallt und kurz nachklingt.

»Ba!«, ruft sie begeistert. »Ba ba BAH!«

Und sie haut wieder drauf. Und wieder. Und lacht sich kaputt. Ich hole die Kamera heraus und fotografiere ihre Freude.

Als die Sonne untergeht, fahre ich zurück ins Büro. Alle sind da – Denise tippt, Omar sichtet Fotos, Aasif und Bob lesen Interviews mit Taliban-Anführern. Ich gebe gegen 21:40 ab und scrolle durch meine Fotos des Tages. Gehe auf Facebook, wo Journalisten, die nicht mehr im Land sind, Nachrichten von den Anschlägen posten wie: »Ich war so oft da, was für ein schlimmer Anblick …« »Wieder Gewalt in meinem schönen Kabul …« »Vor zwei Jahren habe ich direkt da um die Ecke ein Interview gemacht …« Ich komme bei dem Foto des kleinen Mädchens mit dem Brocken in der Hand an. Das Gesicht des Mädchens ist scharf, gut ausgeleuchtet und der Hintergrund angenehm unscharf, wobei man die Zerstörung immer noch deutlich erkennt. Ich speichere es in einem Ordner namens »Erinnerungen«.

Nicht viel später, gegen zehn, hören wir die dritte Explosion.

»Willst du mich verarschen?«, sagt Bob.

»Die war groß«, sagt Omar. »Weit weg, aber groß.«

Ein Moment Stille. Wir sind müde. Wir sind alle müde.

»Hat das NDS nicht gestern ein paar Daesh-Werber hochgenommen?«, flüstert Denise.

»Islamischer Staat?«, sagt Bob. »Nee … kann ich mir nicht vorstellen. Wenn du gerade noch Fußsoldaten anwerben musstest, kriegst du nicht am nächsten Tag schon drei Anschläge in Serie hin.«

Ich rufe beim Militär im Pressebüro an, und die wissen auch nichts über die Explosion. »Wir geben derzeit keine Informationen heraus«, sagt Staff Sergeant Johnathon Burgett mit wunderschön honigweichem Tennessee-Akzent. Aber Aasif tut eine Quelle auf, die uns von einer großen Explosion am Tor von Camp Integrity erzählt. Alle drehen sich nach mir um.

»Camp Integrity gehört Blackwater, oder?«, fragt Bob.

»Heute nennen sie sich Academi«, sage ich.

»Egal«, sagt Bob. »Du hattest doch mit jedem zweiten Söldner in Kabul was, dann hast du doch bestimmt eine Quelle.«

Es wird still. Es gefällt niemandem, dass ich mich mit den Söldnern eingelassen habe. Mit zweien, um genau zu sein, mit dem einen war es ernster, beim anderen eher Gelegenheitssex. Das geht meine Kollegen nichts an, das geht überhaupt niemanden etwas an, aber es hat sich herumgesprochen. Selbst die meisten Soldaten verachten Söldner. Und dann kapiert Bob noch vor mir, dass womöglich gerade ein Ex von mir gestorben, in die Luft gejagt worden ist.

»Den Jungs von Blackwater geht es bestimmt gut«, sagt er.

»Den äußeren Sicherheitsring lassen sie die Afghanen machen«, sage ich.

Bob wirkt enttäuscht. »Natürlich«, sagt er. »Die feigen Ratten. Mit ihrer Nobelausrüstung, den ultracoolen Sonnenbrillen und den Rauschebärten. Wie viel kriegen die überhaupt dafür, dass sie die Afghanen den Arsch für sich hinhalten lassen?«