Denkmalsturz - Georg Stern - E-Book

Denkmalsturz E-Book

Georg Stern

4,7

Beschreibung

Der Historiker Bernhard Hoffmann wird tot am Völkerschlachtdenkmal aufgefunden. Die Polizei geht von Selbstmord aus - er ist schließlich nicht der Erste, der sich von der Aussichtsplattform gestürzt hat. Katja Friedrich, eine alte Freundin, mit der sich Hoffmann vor seinem Ableben noch treffen wollte, hegt Zweifel an dieser Theorie und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Hatten Bernhards Forschungen etwas mit seinem Tod zu tun? Wieso interessierte er sich ausgerechnet für das Völkerschlachtdenkmal und die Leipziger Freimaurer? Noch ahnt sie nicht, dass sie die Ermittlungen direkt in dubiose Immobiliengeschäfte und mafiöse Verstrickungen von Politik und Geschäftswelt führen werden … Vor dem Hintergrund realer Geschehnisse legt Georg Stern mit Denkmalsturz einen ebenso spannenden wie abwechslungsreichen Kriminalroman vor, der Leipzig von seiner wenig bekannten Seite zeigt: als Schauplatz des organisierten Verbrechens.

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Georg Stern

Denkmalsturz

Ein Leipzig-Krimi

Bild und Heimat

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

eISBN 978-3-86789-841-6

1. Auflage

© 2015 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © MarclSchauer, shutterstock

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Prolog

Aus der Dunkelheit waren wütende Rufe zu hören. Blindlings hastete er die Treppe hinauf. Die Stufen unter seinen Füßen nahmen kein Ende, hinter seinem Atem hörte er die Schritte der Verfolger. Die Tasche geriet ihm zwischen die Beine, er stolperte, fing sich rechtzeitig ab, rannte weiter. Die Treppe war eine Falle, er wusste es, aber es war zu spät. Die Angst trieb ihn vorwärts, die Angst war übermächtig. Einer der Männer würde ihm von der Nordseite her entgegenkommen, er konnte nicht wieder herunter, nur der Weg nach oben blieb. Furcht und Erregung jagten Adrenalin durch seinen Organismus. Seine Gedanken verwirrten sich. Wie ein Tier, das sich in einem Winkel verkriechen will, suchte er instinktiv nach einem Versteck, nach schützendem Dunkel, nach einer Höhle im Stein. Klein wollte er sich machen, winzig, Arme und Beine an den Körper drücken, die Augen zukneifen, wie es Kinder taten, wenn sie unsichtbar werden wollten. Die Explosion hatte die mittlere Tür aufgerissen, er sah ein rötliches Blinken. Sicher war ein Alarmsystem aktiviert worden, es musste doch bald jemand kommen, Polizei, Sicherheitsleute, wer auch immer. Durch den zerstörten Eingangsbereich gelangte er in die Krypta. Glassplitter knirschten unter seinen Schuhen, er lief durch eine graue Qualmwolke. Vorwärts hastend versuchte er sich zu orientieren, rechts von ihm befand sich eine Tür, er riss sie auf, eilte die enge Wendeltreppe hinauf. Als er keuchend auf den Außenrundgang huschte, schöpfte er Hoffnung. Über sich sah er den klaren Himmel, Sterne. An der nahe gelegenen Ausfallstraße fuhren Autos, eine Straßenbahn hielt zum Greifen nahe. Warum war er statt in das Denkmal nicht in diese Richtung gelaufen? Warum war er überhaupt in dieser Nacht hierhergekommen? Warum konnte er nicht einmal etwas richtig machen? Dieses eine einzige Mal. Vor Wut und Enttäuschung hätte er beinahe aufgeschrien, aber es gelang ihm die Zähne aufeinanderzubeißen, ein knirschendes Geräusch hallte in seinem Schädel. Einen Ausweg, dachte er, es gibt doch immer einen Ausweg, selbst in den düstersten Alpträumen gab es einen Ausweg, wenn man sich konzentrierte und sich bewusst machte, dass es ein Traum war, nicht die Wirklichkeit. Aber dies hier war real. Niemand würde plötzlich die Scheinwerfer anschalten und »Danke! Wir haben die Szene im Kasten« sagen. Mit großem Schwung schleuderte er die Aktentasche über die steinerne Brüstung in die Tiefe. Dann lief er bis zur nächsten Biegung des schmalen Balkons. An der Vorderseite des Turmes war ein Metallgitter über den Außenrundgang gespannt, kurz entschlossen, kletterte er auf die niedrige Brüstung und klammerte sich an das Gitter. Er versuchte das Zittern zu unterdrücken, das seinen ganzen Körper ergriffen hatte und das Gitter, an dem er sich festkrallte, leise vibrieren ließ.

Nichts war zu hören gewesen, aber eine Gestalt erschien lautlos an der Ecke, blieb unter ihm stehen, duckte sich, bereit, einen Angriff abzuwehren. Mit dem Mut der Verzweiflung löste er sich vom Gitter, sprang mit einem Schrei auf die Gestalt, die mit ihm zu Boden ging. Er versuchte den Mann niederzuringen, über ihn hinweg wieder zur Tür zu gelangen, aber sein Gegner war stark. Mit einem dumpfen Knurren wurde er gepackt, seine Arme umklammert und fest an den Körper gedrückt. Dann verlor er den Boden unten den Füßen, er wurde einfach hochgehoben. Er wand sich und schrie, spürte den heißen Atem des Mannes in seinem Nacken. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, als er gegen die Brüstung geschleudert wurde. Wieder nach oben gezerrt, wollte er sich festklammern, aber seine Finger glitten über die Steinfläche, ohne Halt finden zu können. Sein langgezogenes Schreien verhallte, unterbrochen von einem dumpfen Schlag, dem ein zweiter Aufprall folgte, dann hatte das Schreien aufgehört, und es war still.

1

Ungeduldig sah Katja Friedrich dem Ziel ihrer Reise entgegen, als der Zug endlich die Elbe und kurze Zeit später auch die Mulde überquerte. Sie war am Vormittag von Brüssel nach Berlin geflogen und hatte den ersten Zug genommen, der nach Leipzig fuhr. Sie hatte einen kleinen Koffer und eine lederne Reisetasche dabei, es sah aus, als ob sie eine Urlaubsreise antreten wollte, aber das war es nicht. Es gab nicht viel, was sie in ihrem möblierten Zimmer in der Rue de Chambéry zurückließ, nichts, was sie vermissen würde jedenfalls, und das, obwohl sie dort fast fünf Jahre gelebt hatte. Diese Jahre waren in rasendem Tempo vergangen. Immer war Katja beschäftigt gewesen: die Arbeit am Institut, ein Intensivkurs Französisch, Ausflüge nach Frankreich und Luxemburg, dann die Unternehmungen mit Gerald, zwei-, dreimal im Jahr hastige Besuche bei ihren Eltern. Dennoch hatte sich zunehmend eine Leere eingestellt, und sie hatte gespürt, dass ihr das Leben zwischen den Fingern hindurchrann wie Sand. Sand, so feinkörnig, dass er sich nicht festhalten ließ, selbst wenn man die Hand zur Faust ballte. Dieser Gedanke war ihr zum ersten Mal in Brügge gekommen, kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag. Sie erinnerte sich noch genau daran. Gerald war mit ihr nach Brügge gefahren, es war sein Geschenk. Du wirst diese Stadt lieben, hatte er gesagt. Alle lieben Brügge. Aber das, woran sie sich am deutlichsten erinnerte, wenn sie an Brügge dachte, war ein Schaufenster, das mit Biergläsern und Sanduhren dekoriert war. Sanduhren, durch die Katjas Lebenszeit lief, unaufhörlich. Schlagartig war ihr damals klargeworden, dass Brüssel und ihre Beziehung zu Gerald eine Sackgasse waren. Es würde nicht weitergehen. Am Institut nicht und vor allem mit Gerald nicht. Sie waren seit vier Jahren zusammen und sie könnten noch weitere Jahre zusammenbleiben, aber es würde sich nichts ändern Gerald war in seine Unabhängigkeit verliebt, er würde sie nicht für ein Familienprojekt aufgeben. Und selbst wenn die Gerüchte um eine Schließung des Instituts übertrieben sein sollten, würden mit Sicherheit etliche Stellen gestrichen werden. Sie war noch nicht lange genug dabei, um auf der sicheren Seite zu sein.

Katja strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war eine Illusion gewesen, zu glauben, dass sie in Brüssel heimisch werden könnte. Die Stadt war aufregend fremd gewesen, aber ihr war klargeworden, dass sie nicht für alle Ewigkeit dort leben wollte. Es war an der Zeit, die Dinge in die Hand zu nehmen und die Zukunft zu planen.

Katja kramte ihr Telefon aus der Tasche, sie musste Bernhard anrufen. Er hatte sie unbedingt schon am Bahnhof abholen wollen, aber das hatte sie ihm ausgeredet. Sie freute sich zwar auf ein Treffen mit ihm, aber instinktiv spürte sie, dass Bernhard sich immer noch Hoffnungen auf mehr als eine gute Freundschaft machte, und sie wollte ihm keine Enttäuschung bereiten müssen. Schwieriges Terrain. Sie mochte ihn sehr gern, aber sie waren nie ein Paar geworden. Bernhard war schon immer ein bisschen schrullig gewesen, dachte Katja amüsiert. Lieber hatte er über seinen Papieren und Büchern gehockt, statt auszugehen. Er hatte sich schon früh für Geschichte interessiert und alles über die Stadt gewusst, er hatte Vorträge zur Völkerschlacht gehalten, die hier einmal getobt hatte, oder zu den großen Handelshöfen der Pelzhändler am Brühl.

Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie sich an Bernhard erinnerte und sich vorzustellen versuchte, wie er jetzt wohl aussehen würde. Sie hatten sich seit mehren Jahren nicht gesehen. Ab und an hatten sie sich immer noch E-Mails geschrieben, aber Bernhard schickte keine Fotos, und wenn, dann nur per Post irgendeine historische Stadtansicht, die er auf dem riesigen Flohmarkt in den agra-Hallen von Markleeberg aufgestöbert hatte. Bernhard hatte früher lockiges blondes Haar gehabt. Ohne die sperrige Brille hatte er sogar gut ausgesehen, und vielleicht wären sie auch einmal im Bett gelandet, wenn er nicht so verdammt schüchtern gewesen wäre. Ob Bernhard inzwischen endlich eine Freundin hatte? Sie wünschte es ihm aufrichtig. Katja spürte, wie aufgeregt sie wurde, je näher sie der Stadt kam. Es war etwas anderes für ein, zwei Tage auf Besuch zu ihren Eltern in die Kleinstadt zu kommen. Doch jetzt kam sie für immer zurück. Ja, für immer. Der Gedanke fühlte sich verdammt gut an. Gedankenverloren legte Katja das Telefon wieder zur Seite, sie würde Bernhard später anrufen. Zu viel ging ihr jetzt durch den Kopf.

Wie in einem Zeitraffer sah sie die vergangenen Jahre am Abteilfenster vorbeirauschen: ihre Kindheit und Schulzeit in Leipzig, der Umzug mit den Eltern nach Brandis, das Studium in Freiburg, es war ihr damals so weit weg erschienen, der Schwarzwald, die Ausflüge in die nahe Schweiz und nach Frankreich. Es war eine andere Welt, ohne zerfallende Fabrikgebäude und Plattenbau-Viertel. Ihren Eltern hatte es gefallen, sie waren zwei, dreimal auf Besuch gekommen. Freiburg war eine Idylle gewesen, an die Wohngemeinschaft in der Reiterstraße mit Leonore und Kai dachte sie gern zurück. Von ihrem Zimmer aus hatte Katja auf kleine Häuser und riesige Fichten geblickt, es war fast schon so, als ob man am Waldrand wohnen würde. Ihr Leben hatte sich dort zwischen WG, Universität und dem Studentencafé abgespielt, in dem sie als Aushilfe an der Bar gearbeitet hatte, um sich Taschengeld zu verdienen, wenn das Bafög nicht gereicht hatte. Schon damals hatte sie überlegt, nach dem Studium nach Leipzig zurückzugehen. Aber es wäre ihr wie eine Niederlage erschienen. Sie hätte wieder bei ihren Eltern gewohnt. Vorerst jedenfalls. Und es hatte keine Stelle an der Universität für sie gegeben. Nein, sie hatte gespürt, dass sie die Welt erobern musste. Freiburg aber war noch nicht die Welt. Freiburg war eher ein geschütztes Biotop.

Nach dem Studium in Freiburg und den Jahren am Centre de Recherche en Ethnologie européenne in Brüssel hatte sie jetzt eine Entscheidung getroffen. Vielleicht hatte sie den geheimen Wunsch schon viel länger verspürt, und als die Gelegenheit gekommen war, hatte sie nicht lange nachdenken müssen. Auf die Ausschreibung des Grassimuseums für Völkerkunde hatte sie sich noch am selben Tag beworben. Dann hatte sie Bernhard und Simone in einer E-Mail geschrieben, dass sie kommen würde. Mit Gerald hatte sie erst einige Tage später gesprochen. Da war eigentlich schon alles entschieden. Es war, als hätte sie zuerst die Brücken hinter sich abbrechen wollen, damit er sie nicht mehr umstimmen konnte.

Gerald. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. An welchem Punkt war es schiefgegangen? Gab es überhaupt einen bestimmten Punkt, oder war es nicht eher ein schleichender Prozess gewesen? Sie wusste es nicht. Irgendwann hatte sie mit Erschrecken festgestellt, dass ihr die Leidenschaft abhandengekommen war. Vieles war zur Routine geworden. Manchmal war das sogar angenehm, die Dinge mussten nicht ständig neu bestimmt werden, aber das Leben und die Liebe wurden damit auch vorhersehbar. Dass war die Zeit, in der sie angefangen hatte, Gerald zu beobachten. Sie hatte sich gefragt, ob auch ihm die Leidenschaft abhandengekommen war, ob er ihr nur noch etwas vormachte, weil er das Gewohnte nicht aufgeben mochte.

Als sich die Schienenstränge immer weiter verzweigten und endlich die gewölbten Hallen des Hauptbahnhofs und links dahinter die beiden Hochhäuser auftauchten, begann Katjas Herz schneller zu schlagen. Sie war wieder in Leipzig, war endlich wieder da. Nicht für ein Wochenende auf Besuch, nicht für einige Tage auf Zwischenstation. Nein, sie hatte sich entschieden, sie war dieses Mal zurückgekommen, um zu bleiben.

»Ausstieg in Fahrtrichtung rechts!« Die Durchsage riss Katja endgültig aus ihren Gedanken. Sie wartete bis die anderen Fahrgäste ausgestiegen waren, als Letzte stand sie auf, nahm ihre Tasche und ging zur Tür. Sie konnte sich alle Zeit der Welt nehmen, es wartete niemand. Ihre Eltern wussten nicht, dass sie gekommen war, und sie hatte auch Bernhard und Simone nicht geschrieben, mit welchem Zug sie ankommen würde, denn diesen Moment und dieses Gefühl hatte sie für sich allein haben wollen. Das Gefühl, wieder zu Hause zu sein.

2

Die Angst kam aus den Winkeln des Raumes gekrochen. Schlich sich unmerklich heran. War zuerst nur in ihren Gedanken, flutete dann in stärker werdenden Wellen durch ihren Körper. Zuerst kaum spürbar, eine Ahnung nur, ein leichtes Unbehagen. Was ist denn los? Provozierte dann Unsicherheit und Blicke, hastig über die Schulter. Da ist doch nichts, Beata! Mach dich nicht lächerlich. Rückte aber unaufhaltsam weiter heran, diese Angst. Machte sich breit und schwer. Es nützte auch nichts, in den Garten hinauszugehen. Draußen war es nämlich auch nicht besser. Nicht nur im Haus, auch hier gab es viele Verstecke für die Angst. Die leeren Fensterhöhlen des Nachbarbungalows, die Ligusterhecke, die düsteren Blautannen vorn an der Einfahrt. Beata hätte sich eine lärmende Großfamilie gewünscht, die im nächsten Garten eine Grillparty veranstaltete. Aber es war kein Mensch zu sehen, obwohl in Sichtweite zwei, drei Wagen standen. Es war still in der Siedlung. Normalerweise lief doch meist irgendwo ein elektrisches Gartengerät, eine Säge oder ein Rasenmäher oder weiß der Teufel was auch immer. Aber heute war es vollkommen still und der Himmel hing voller grauer Wolken, sicher würde es bald anfangen zu regnen. Beata war fast schon dankbar als irgendwo in der Nähe ein Hund zu bellen begann. Sie zündete sich eine Zigarette an. Vielleicht müsste ich etwas tun, um mich abzulenken, dachte sie. Den Rasen mähen oder die Hecke verschneiden. Aber der Rasen war kurz, und die Hecke sah auch nicht so aus, als ob sie geschnitten werden müsste. »Niemand weiß, dass du hier bist«, murmelte sie. »Mach dich locker, Beata.« Sie schnippte die Zigarettenkippe fort, ging ihr nach und trat energisch die Glut aus.

Im Haus durchstöberte sie die Küchenschränke und atmete auf, als sich eine Flasche Eierlikör fand. Sie machte sich eigentlich nichts aus Likör, aber im Moment hätte sie so ziemlich alles getrunken. Am liebsten einen großen Wodka. Sie schenkte sich ein und schüttete die klebrige Flüssigkeit in einem Zug hinunter. Der Eierlikör war weniger schlimm als befürchtet. Wahrscheinlich selbstgemacht, mutmaßte sie. Silke machte alles Mögliche selbst. Cassis aus den Johannisbeeren und Limonade aus Holunderblüten. Sie hatte ein Händchen für solche Sachen, Marmeladen, eingelegte Gurken und leckere Kuchen. Silke war die perfekte Hausfrau, dachte Beata, nicht ohne einen Funken Neid zu verspüren. Sie selbst war schon froh, wenn sie es einmal schaffte, am Wochenende zu kochen. Sie schenkte sich nach. Der Likör wärmte, schmeckte süß und ein bisschen nach Kognak. Die Angst kroch wieder zurück in dunkle Winkel, unters Bett, hinter den Schrank. Machte sich klein und unsichtbar. Beata ließ sich auf die Couch fallen, hüllte sich in eine Decke, zog die Beine nach oben. Dann griff sie nach ihrem Telefon. Sie musste jetzt mit jemandem sprechen, die Stille war unerträglich.

3

Der Mann, der in einem schwarzen Geländewagen vor dem Haus Windscheidstraße 49 wartete, war schlechtgelaunt. Es war einfacher gewesen, die Frau zu überwachen. Die hatte regelmäßige Zeiten gehabt. Bis sie verschwunden war jedenfalls. Der Typ im Haus aber war den ganzen Tag noch nicht rausgegangen. Unklar, was er die ganze Zeit machte. Hatte vielleicht keinen Job. Musste nirgendwo hin. Einkaufen aber doch. Oder er hatte etwas gemerkt und war längst durch die Hintertür verschwunden. Das wäre schlecht, ganz schlecht.

Die Straße vor dem Haus war wie leer gefegt, er konnte nicht einfach aus dem Wagen aussteigen, zur nächsten Ecke gehen und dann wieder zurück. Jemand, der aus dem Fenster schaute, könnte ihn später erkennen. Wäre absolut unprofessionell. Er blickte genervt auf die Uhr. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Warten war nicht seine Spezialität. Außerdem hatte er Hunger. Mittag war lange vorbei. Die Haustür öffnete sich. Er rutschte tiefer in den Sitz, griff nach dem Telefon. Eine junge Frau kam aus dem Haus, umständlich bugsierte sie ein Fahrrad nach draußen. Der Mann im Auto fluchte leise. Wieder nichts. Wenn es nach mir gehen würde, dachte er wütend, würde ich einfach reingehen und mit dem Typ ein paar Worte reden. Er lächelte bösartig. Vielleicht war die Frau bei ihm. Dann wäre das ein Aufwasch. Ganz sicher, dass sich die Angelegenheit in wenigen Minuten erledigen ließ. Aber genau das hatte ihm Frank ausdrücklich verboten. Keine Ahnung, warum. Vielleicht gab es da Dinge, die man ihm nicht gesagt hatte. Frank sagte ihm ja sowieso nie alles. Der hielt sich ja immer für superschlau. Aber den Schlamassel, den sie jetzt am Hals hatten, den hatte auch Frank nicht vorausgesehen. Im Rückspiegel sah er einen Polizeiwagen langsam herankommen. Mit misstrauischen Blicken verfolgte er den Wagen, der in eine Nebenstraße abbog. Frank hatte ihn beschimpft, weil er die Frau verloren hatte. Dabei war es nicht seine Schuld. Er hatte die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, danach den Rechner zu Frank gebracht. In der Zwischenzeit musste sie nach Hause gekommen sein. Als sie gesehen hatte, was los war, hatte sie sich aus dem Staub gemacht. Mike grinste. Wahrscheinlich ging ihr der Arsch auf Grundeis. Hatte vielleicht nicht mal eine Anzeige gemacht. Und falls doch, dann war es auch egal. Die Bullen würden es als ganz normalen Wohnungseinbruch abhacken. Passierte schließlich jeden Tag irgendwo in der Stadt. Frank sollte sich wieder einkriegen. Die Puppe würde schon zurückkommen. Und falls sie sich bei ihrem Typ verkrochen hatte, würde er sie eben hier schnappen.

4

Bernhard dachte an Katja und freute sich. Er spielte schon seit geraumer Weile mit dem Gedanken, sie doch noch anzurufen. Katja hatte gesagt, sie würde sich bei ihm melden. Und wie immer hatte er brav zugestimmt und wartete jetzt. Aber warum eigentlich? Er hatte sie jahrelang nicht gesehen, hatte schon fest damit gerechnet, dass sie in Brüssel bleiben und diesen Gerald heiraten würde. Aber in ihren letzten E-Mails hatte das plötzlich gar nicht mehr so geklungen. Sie war nicht konkret geworden, aber er hatte ihre Unzufriedenheit herauslesen können. Bernhard wollte sich trotzdem keine Hoffnungen machen. Katja mochte ihn, sie waren früher gute Freunde gewesen und diese Freundschaft hatte auf wundersame Weise die Jahre überdauert, aber mehr auch nicht. Sie hatte gewollt, dass es so blieb, das hatte sie ihm schon vor langer Zeit einmal deutlich klargemacht, und es gab leider keinen Grund zu der Annahme, dass sich daran etwas geändert hätte. Manche Dinge änderten sich nicht, das musste man hinnehmen. Leider.

Aber Bernhard hatte auch das unbestimmte Gefühl, dass er schon zu lange viel zu viel hingenommen hatte. Für die meisten seiner Bekannten und Freunde war er der gutmütige, leicht verschrobene Bernhard. Ein freundlicher, harmloser Zeitgenosse, der sich nur für seine berufliche Welt interessierte. Für die Fakultät, eine neue Publikation, eine kontroverse Fachdebatte. Auch unter seinen Studenten galt er als farblos. Ja, das war vielleicht sogar das Schlimmste, weil es ihn traf: der dumme und oberflächliche Vorwurf, farblos zu sein. Ein harmloser Trottel, wenn man es etwas brutaler ausdrücken wollte. Aber das war er ganz bestimmt nicht. Mancher würde sich noch wundern. Dieses Mal war er am Drücker. Er hatte sich alles gut überlegt. Beata würde nichts erfahren. Sie hatte ihn nicht mit hineinziehen wollen, aber jetzt müsste er sie beschützen. Diese Leute würden sich auf ihn konzentrieren. Es war ein riskantes Spiel, aber er hatte sich abgesichert. Bei der Übergabe würde er ihnen klarmachen, dass es für beide Seiten von Vorteil war, wenn sie mit offenen Karten spielten. Sie würden ihm Geld geben müssen. Viel Geld. Denn für diese Leute stand viel auf dem Spiel. Er hatte die Dokumente gelesen, eins und eins zusammengezählt. Dann hatte er recherchiert. Wenn er nicht ganz falschlag, würden sie sich sein Schweigen einiges kosten lassen.

Aber er würde nur ein einziges Mal Geld verlangen. Geld, das nicht auf irgendein Konto gehen sollte, denn dort wäre es nicht sicher, das ließ sich heute alles nachvollziehen und die Steuer könnte sogar noch Jahre später dahinterkommen. Nein, er würde es nirgendwo einzahlen. An einem sicheren Ort würde er es verwahren und nach und nach ausgeben. Weiterleben wie bisher, aber mit einem monatlichen Einkommen. Er lachte nervös in sich hin­ein. Er wollte in Ruhe sein Manuskript beenden. Keine unbezahlten Rechnungen mehr. Anständiges Essen, guter Wein. In der Küche schenkte er sich aus einer angebrochenen Flasche Château Potensac ein halbes Glas von dem edlen Bordeaux ein. Nicht zu viel, ermahnte er sich. Nicht zu viel trinken jetzt.

Katja wollte sich bei ihm melden, sobald sie in Leipzig angekommen war. Angeblich hatte sie noch nicht genau sagen können, mit welchem Zug sie aus Berlin kommen würde. Aber er hatte den Verdacht, dass sie bloß nicht am Bahnhof von einem Empfangskomitee abgeholt werden wollte. Er lächelte. So gut kannte er Katja nach all den Jahren, um zu wissen, dass sie solche Szenen gern vermied. Bernhard hatte ihr angeboten, bei ihm zu wohnen, falls sie nicht zu ihren Eltern wollte, aber sie hatte gesagt, sie habe sich schon bei einer Freundin einquartiert.

Mit dem Weinglas in der Hand ging er wieder hinüber in sein Arbeitszimmer.

Bernhard sah zum wiederholten Mal auf seine Armbanduhr. Er musste sich eingestehen, dass er nervös war. Die Übergabe sollte morgen Vormittag stattfinden. Bei Karstadt. Er hatte es genau geplant. Das Wasserbecken mit der großen Fontäne im Erdgeschoss war ideal. Er war mehrfach dort gewesen, um sich alles genau anzuschauen. Sogar wo die Überwachungskameras hingen, wusste er. Die Kopien würde er zuvor noch in einem Bankschließfach deponieren. Für diese Leute war es das Einfachste zu zahlen. Die Summe war realistisch. Dennoch. Es gab natürlich ein Risiko. Das Risiko, dass sie ihn loswerden wollten. Aber ohne Risiko ging es eben nicht.

Er hatte die Zugverbindungen im Kopf. Den ICE, der Leipzig gegen vierzehn Uhr erreichte, hatte sie offenbar nicht genommen. Der nächste Zug würde erst in eineinhalb Stunden ankommen. Es war noch Zeit. Mehr als genug Zeit. Wieder sah er auf seine Armbanduhr. Er mochte seine Uhr. Junkers Bauhaus. War nicht ganz billig gewesen. Automatik, sechsundzwanzig Steine, Glasboden. Das Fabrikat erinnerte an Hugo Junkers. Industrieller mit Geschichte. Die meisten Leute verbanden damit nur Kriegsproduktion. Ju 52. Dass Hugo Junker sich dagegen gewehrt hatte, von den Nazis schon 1933 enteignet wurde, dass er ein genialer Unternehmer gewesen war, das interessierte alles nicht. Industriegeschichte. Mitteldeutschland. Untergegangen im Treibsand der Geschichte wie so vieles. Am liebsten hätte sich Bernhard sofort wieder seiner Arbeit zugewandt. Auf dem Schreibtisch lagen Fotos vom Leipziger Hauptbahnhof, vom Völkerschlachtdenkmal und einigen anderen Gebäuden, darunter auch Wohnhäuser. Allesamt waren sie von dem Architekten Clemens Thieme gebaut worden. Thieme war es auch gewesen, der die Initiative zum Bau eines Völkerschlachtdenkmals ergriffen hatte. Ohne ihn, dachte Bernhard, wäre es vielleicht nicht dazu gekommen. Aber warum hatte sich Thieme so vehement für den Bau eingesetzt? Interessant war die Tatsache, dass der ursprüngliche Entwurf zum Denkmalbau von einem anderen Architekten stammte, von dem Berliner Bruno Schmitz. War es Zufall, dass sie beide dem Bund der Freimaurer angehörten, wie man heute wusste? Bernhard hielt die Theorie, dass es sich bei dem Denkmalbau nicht nur um ein Denkmal, sondern auch um einen gigantischen Tempel der Bruderschaft handele, für übertrieben. Allerdings – die Symbolik war nachweislich vorhanden, war gar nicht zu übersehen. Es gab fast schon zu viele eindeutige Bezüge. War das noch etwas, was man der Geschichte der Ornamentik zuordnen konnte? Der geometrische Stil sprach dafür, andererseits war nicht auszuschließen, dass es sich vor allem um die ideologische Botschaft handelte, die man im und durch das Bauwerk »lesen« konnte. Bernhard hätte sich gern mit einem der heutigen Logenmitglieder darüber ausgetauscht, aber würde man dort überhaupt mit ihm sprechen? Waren diese Leute nicht für ihre Geheimniskrämerei bekannt?

Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Hastig stellte er das Weinglas ab und eilte in den Flur.

»Hallo Bernhard!« Katjas lebhafte Stimme ließ sein Herz schneller schlagen. Katja! Endlich meldete sie sich.

»Bist du schon in Leipzig?«

»Gerade angekommen, und du bist der Erste, den ich anrufe, Bernhard.«

»Wo treffen wir uns, ich könnte mit der Bahn …«

»Bernhard«, Katja zögerte kurz, aber dann sprach sie schnell weiter, »sei mir nicht böse, aber ich würde unser Treffen gern auf morgen vertagen. Ich bin ziemlich erledigt, der ganze Reisestress. Und dann – ich will erst mal richtig ankommen.«

Bernhard war enttäuscht, versuchte es sich aber nicht anmerken zu lassen. Er wollte sie doch nur begrüßen, kurz sehen, vielleicht einen Kaffee mit ihr trinken. Es war ihm schon komisch vorgekommen, dass er sie nicht am Bahnhof abholen durfte. Hatte sie etwa schon wieder einen neuen Freund, nachdem sie mit Gerald Schluss gemacht hatte?

»Wie sieht es morgen bei dir aus, bist du im Institut?«

»Morgen Vormittag habe ich schon etwas vor«, hörte er sich zögerlich antworten.

»Ich kann dich von der Uni abholen und wir gehen zusammen Mittagessen, was hältst du davon?«, sagte Katja.

»Nein«, sagte Bernhard schnell, »das geht nicht, nicht von der Uni. »Ich bin morgen unterwegs. Muss etwas recherchieren. Besser wir treffen uns erst am Nachmittag.«

»Okay, Nachmittag ist auch gut. Hast du einen Vorschlag? Gibt es ein neues tolles Café in der Stadt?«

»Da fragst du den Richtigen«, Bernhard lachte. »Du weißt doch, dass ich nicht so oft ausgehe.«

Auch Katja lachte. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir das ändern, mein Lieber. Wie wäre es mit dem Café Schiller?«

»Einverstanden.«

»Also dann im Schiller, sagen wir fünfzehn Uhr, ich freue mich.«

Bernhard hatte den Hörer noch in der Hand, obwohl die Verbindung schon eine Weile unterbrochen war. Es war wie früher. Nichts würde sich ändern zwischen Katja und ihm. Er wusste es, er hatte es ihrer Stimme angehört. Er würde auf ewig der beste Freund bleiben. Nicht mehr und nicht weniger. Wieso habe ich mir überhaupt Illusionen gemacht, fragte er sich. In einem gewissen Alter ändern sich die grundlegenden Dinge nicht mehr. Solltest du eigentlich wissen. Bernhard ging langsam ins Wohnzimmer hinüber und trank den Rest Wein. Eine Weile stand er am Fenster und starrte gedankenverloren hinaus. Auf der anderen Straßenseite stand ein schwarzer Geländewagen, der stand da schon seit Stunden. Ein Mann hockte zusammengesunken hinter dem Steuer. War vielleicht eingeschlafen.

5

Leo hatte sich das grüne Sporthemd übergestreift, die Turnschuhe zugeschnürt und das Basecap tief in die Stirn gezogen. Er war immer noch stolz auf seinen Einfall, sich als Jogger zu verkleiden. Es war simpel, aber gerade deshalb die perfekte Tarnung. Er hatte noch eine zweite Ausrüstung, einen schwarzen Adidas-Anzug. Hose und Jacke. Für besondere Anlässe, dachte Leo und grinste in sich hinein. Heute Abend würde es einen besonderen Anlass geben. Einen außerordentlichen Anlass. Aber bis dahin waren noch einige Stunden Zeit, in denen letzte Vorbereitungen zu treffen waren. Er durfte nichts dem Zufall überlassen. Nichts durfte schiefgehen im letzten Moment. Er musste sich konzentrieren und wachsam bleiben. Mit dem grünen Sportdress und dem Base­cap war er einfach nur der Jogger, der hier wie schon seit Wochen seine täglichen Runden lief. Niemand hätte ihn in diesem Aufzug erkannt. Das war wichtig. Er machte sich locker, schüttelte die Arme aus, lief los, seine Augen blickten rasch in die Runde. Heute war nicht viel los. Eine verspätete Touristengruppe, die sich vom Parkplatz her auf den Turm zubewegte, die waren sicher mit einem Bus gekommen, weiter oben an den Treppen ein Pärchen, Studenten vielleicht, die den Sonnenuntergang genießen wollten. Niemand, der für ihn von Bedeutung war. Leo hatte sich inzwischen einen Blick für die Leute antrainiert. Er wusste meistens sofort, ob es Touristen waren, auch wenn sie ausnahmsweise einmal nicht fotografierten. Es war die Art, wie sie sich bewegten, sie strahlten Unsicherheit und Vorsicht aus. Ihre Blicke, die das unbekannte Territorium scannten. Die Letzten verschwanden spätestens, wenn es dunkel wurde. Problematischer waren die Fotografen. Manche blieben auch noch nach Einbruch der Dunkelheit, um ein nächtliches Foto vom angestrahlten Turm zu schießen.

Leo hatte beschlossen, wachsam zu sein. Den Gegner nie unterschätzen. Aber wer war der Gegner eigentlich? Sie hatten sich bisher nie zu erkennen gegeben. Aber Leo gab sich keinen Illusionen hin. Sie waren da, auch wenn sie unsichtbar blieben. Jederzeit konnten sie überraschend zuschlagen, konnten sie aus dem Nichts auftauchen, um ihn zu vernichten. Man durfte diesen Gegner auf keinen Fall unterschätzen. Vielleicht hatten sie Leo schon lange erkannt. Vielleicht wurde er selbst beobachtet, war er vom Beobachter zum Gejagten geworden. Aber auch das hatte er einkalkuliert, er war vorbereitet.

Leo lief meistens zwei, drei Runden. Blieb danach am oberen Ende der Lindenallee stehen, um Streck- und Dehnübungen zu machen. Von dort aus hatte er fast das gesamte Areal des Denkmalkomplexes im Blick und konnte selbst blitzschnell verschwinden. Wenn er weiterlief, musste ein Beobachter annehmen, dass er zu einer weiteren Runde gestartet war und nach kurzer Zeit auf der nordöstlichen Seite des Turms wieder zum Vorschein kommen würde. Aber das war falsch gedacht. Während der Beobachter sein Erscheinen dort erwartete, wäre er längst wieder über den niedrigen Metallzaun geklettert und zwischen den Bäumen und Büschen des Südfriedhofs verschwunden.

6

Als Katja aus der Westhalle des Bahnhofs trat, trafen sie Licht und Lärm der Stadt mit solcher Intensität, dass sie einen Augenblick wie gelähmt verharrte. Auf dem Ring raste eine Ambulanz mit Blaulicht und Martinshorn vorbei, vom Fußgängerüberweg kam ihr ein Schwall Menschen entgegen, der zum Eingang drängte, jemand rempelte sie an und entschuldigte sich flüchtig. Sie war genau vor der Schwingtür stehengeblieben und stand im Weg. Aber es war ihr egal. Wie lange hatte sie dieses vertraute Bild nicht mehr gesehen? Vor ihr der Stadtring auf dem Autos vorbeirasten, dahinter an- und abfahrende Straßenbahnen, hastende Menschen, überall der vertraute sächsische Dialekt, über den sie jetzt unwillkürlich schmunzeln musste. Die Fassaden der Gebäude am Brühl, links der Schwanenteich, dahinter ragte schon die Oper auf und das Hochhaus mit dem doppelten »Messe-M« auf dem Dach, das sich immer noch drehte, als ob nichts geschehen wäre, sich überhaupt nichts verändert hätte in den letzten Jahren.

Aber dieser Eindruck täuschte, bei jedem ihrer kurzen Besuche in den letzten Jahren hatte sie Neues entdeckt. Baugruben, wo seit Jahrzehnten Brachflächen gelegen hatten, neue Häuser und Einkaufszentren, wo gerade noch lärmender Baustellenbetrieb geherrscht hatte. Spontan beschloss Katja durch die Innenstadt zu laufen, vielleicht im Eiscafé am Markt einen Kaffee zu trinken, das gab es schon so lange, wie sie zurückdenken konnte, das hatte es schon gegeben, als ihre Eltern noch jung gewesen waren. Und das war es, was sie an Leipzig so liebte: Die Stadt veränderte sich ständig, aber trotzdem gab es Dinge, die blieben. Ihr Telefon meldete sich schon seit einer Weile. Sie war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie es nicht bemerkt hatte. Bernhard, dachte sie sofort. Du musst Bernhard anrufen! Aber auf dem Display erschien Geralds Nummer. Katja starrte auf das Telefon in ihrer Hand, bis die Mailbox anging. Nein, sie wollte jetzt nicht mit Gerald sprechen. Nicht jetzt. Dann gab sie Bernhards Nummer ein, um sich endlich bei ihm zu melden.

Über Nikolaistraße und Brühl war Katja zum neuen Bildermuseum gegangen, dann weiter über den Marktplatz und hinüber zum Thomaskirchhof. Eigentlich hatte sie die Peterstraße entlang bummeln wollen, aber der Trubel der Stadt war ihr plötzlich zu viel und der kleine Koffer, den sie hinter sich her zog, zu schwer geworden, und sie hatte einen ruhigen Ort gesucht. Die kleinen Cafés am Kirchhof erschienen ihr jetzt wie eine rettende Insel in all der Bewegung und dem Stimmengewirr. Sie setzte sich an einen der kleinen runden Tische vor dem Bachstübl und bestellte sich einen Cappuccino. Zwei junge Musiker packten gerade ihre Instrumente zu Füßen des Bach-Denkmals aus, eine Gruppe japanischer Touristen blieb erwartungsvoll stehen, und Katja hatte nun endgültig das Gefühl, wieder zu Hause angekommen zu sein. Zurückgelehnt, lauschte sie der Musik.

Katja hatte beschlossen, sich ein Hotelzimmer zu nehmen, zumindest für die erste Nacht. Sie wollte noch ein wenig allein sein. Allein mit ihrer Stadt, die sie sich jetzt zurückerobern würde. Morgen schon hatte sie den Termin im Museum, danach würde sie Bernhard treffen. Und spätestens morgen würde sie sich auch bei ihren Eltern melden müssen. Falls Gerald auf die Idee kommen sollte, dort anzurufen, würden sie sich unnötige Sorgen machen. Alles war plötzlich ganz klar: Sie wusste, dass sie nicht mehr nach Brüssel zurückgehen, nicht mehr zu Gerald zurückkehren würde. Gerald, der sie immer auf Abstand gehalten hatte, gerade so viel Nähe zugelassen hatte, dass sie die Hoffnung nicht verloren hatte. Aber immer, wenn sie mehr von ihm gewollt hatte, mehr Verbindlichkeit und Nähe, auf Distanz gegangen war. Zuerst hatte sie gedacht, dass sich ihre Beziehung verändern würde, wenn sie ihn nicht bedrängte. Wenn sie Geduld haben würde, damit er die Trennung von seiner Frau verarbeiten konnte. Aber es hatte sich nichts verändert, es war alles so geblieben wie am Anfang. Gerald hatte nichts verarbeitet, nur verdrängt. Er wollte eine freundliche, kluge Geliebte, mit der er sich zeigen konnte, aber eine Partnerschaft mit allen Höhen und Tiefen – das nicht. Warum, dachte Katja heftig, warum habe ich das nicht früher gesehen? Die letzten beiden Jahre schienen ihr für einen Moment verloren, vergeudete Lebenszeit, aber auch das war natürlich Unsinn.