Denn dein ist die Liebe - Flora Montán - E-Book

Denn dein ist die Liebe E-Book

Flora Montán

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Beschreibung

Hannes rast in Bremen mit seinem Auto zu schnell zu einer Beerdigung und fährt Anna auf ihrem Fahrrad um. Beide fühlen sich zueinander hingezogen und ärgern sich darüber, denn sie stellen fest: Anna singt als Hippie-Christin bei den Jesus Freaks in Blumenkleidern über die Liebe Gottes und Hannes predigt als evangelikaler Pastor im schwarzen Talar zu den Strafen Gottes. Dann beginnt Anna an einer christlichen Schule als Lehrerin zu arbeiten und wird die neue Kollegin von Hannes. Das befeuert nicht nur ihre hitzigen Diskussionen über Homosexualität und die verschiedenen Religionen, sondern auch ihre Gefühle füreinander. Gemeinsam mit den Schülern müssen sie einen Schulgottesdienst vorbereiten. Dabei stehen erst nur Annas Arbeitsstelle und Hannes Ruf als Missionar auf dem Spiel. Aber dann geht es um die Menschen, die sie am meisten lieben, und den sozialen Frieden in der Stadt. Und als ihre Liebe zum Stadtgespräch Nummer eins wird, haben die Schüler ihre ganz und gar eigene Meinung dazu.

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DENN

DEIN

IST

die

Liebe

FLORA MONTÁN

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Die im Roman dargestellten Personen und Ereignisse sind von der Autorin frei erfunden.

Wenn die Liebe verbindet,was deine Religion trennt.Ein heiterer Liebesroman aus Bremen

Hannes rast in Bremen mit seinem Auto zu schnell zu einer Beerdigung und fährt Anna auf ihrem Fahrrad um. Beide fühlen sich zueinander hingezogen und ärgern sich darüber, denn sie stellen fest: Anna singt als Hippie-Christin bei den Jesus Freaks in Blumenkleidern über die Liebe Gottes und Hannes predigt als evangelikaler Pastor im schwarzen Talar zu den Strafen Gottes. Dann beginnt Anna an einer christlichen Schule als Lehrerin zu arbeiten und wird die neue Kollegin von Hannes. Das befeuert nicht nur ihre hitzigen Diskussionen über Homosexualität und andere Religionen, sondern auch ihre Gefühle füreinander. Gemeinsam mit den Schülern müssen sie einen Schulgottesdienst vorbereiten. Dabei stehen erst nur Annas Arbeitsstelle und Hannes Ruf als Missionar auf dem Spiel. Aber dann geht es um die Menschen, die sie am meisten lieben, und den sozialen Frieden in der Stadt. Und als ihre Liebe zum Stadtgespräch Nummer eins wird, haben die Schüler ihre ganz eigene Meinung dazu.

Über die Autorin

Flora Montán wuchs in einer spanisch-deutschen Familie in Süddeutschland auf. Als Soziologin interessiert sie sich besonders für gesellschaftliche Konflikte. Auch ihre Erfahrungen als Lehrerin werden in diesem Roman deutlich. Flora Montán ist verheiratet, Mutter von drei Kindern und lebt seit über dreißig Jahren in Bremen.

Zu diesem Buch

Die Handlung und die Figuren in diesem Roman sind frei erfunden, jedoch inspirierten mich beim Schreiben die Ereignisse und Diskussionen rund um den evangelikalen Pastor Olaf Latzel in Bremen. Seine Predigten machten ihn in den Medien bundesweit als »Hassprediger aus Bremen« bekannt und er wurde vom Bremer Amtsgericht wegen »Volksverhetzung« verurteilt. Das Landgericht Bremen hob dieses Urteil wieder auf und sprach ihn frei, doch im Februar 2023 entschied das Hanseatische Oberlandesgericht, dass der Fall neu verhandelt werden müsse.

»Denn dein ist die Liebe« wird als der erste Band meiner Buchreihe »Die Bremer Stadtprotestanten« veröffentlicht. Weitere heitere Romane zu Themen, die christliche Kirchengemeinden bewegen, werden folgen.

Angaben zu den in diesem Roman verwendeten Quellen und Zitate finden Sie am Ende des Buches. Ich wünsche Ihnen beim Lesen dieses Romans viel Spaß und freue mich, wenn auch Sie Lust bekommen, einmal mit »ganz anderen« ins Gespräch zu kommen.

Ihre Flora Montán

1

Hannes war in Eile, als er mit schnellen Schritten aus dem Haus trat. In der Zeitung stand, dass homosexuelle Paare sich von der evangelischen Kirche in Bremen schon seit sechs Jahren kirchlich trauen lassen konnten. In seiner Wut darüber hatte er die Zeit und seinen Umhang an der Garderobe vergessen.

Mit noch schnelleren Schritten ging er zurück in seine Wohnung im oberen Stock und betete: »Herr, sei deinem Diener gnädig und lass mich pünktlich sein.«

Er griff nach dem schwarzen Talar und warf ihn zwei Minuten später in seinem Auto auf den Beifahrersitz. Die Beerdigung auf dem Friedhof im Buntentorsteinweg fand um elf Uhr statt und ihm blieben noch fünf Minuten. Heute am Gründonnerstag musste er sich auf die Oster-Gottesdienste vorbereiten, aber die Leute starben einfach so, wie der Herr es wollte.

Während er den Schlüssel im Zündschloss umdrehte, sah er in Gedanken schon, wie Gisela die Augenbrauen hochzog, wenn er zu spät bei der Beerdigung erschien.

*

»Ja, in einer Viertelstunde bin ich bei dir. Ich bring dir noch etwas aus dem Bioladen mit.«

Anna sprach in Richtung Küchentisch, auf dem ihr Handy lag. Mit ihren Händen stellte sie leere Flaschen in eine große Stofftasche. »Oh Mann, die meisten Flaschen hier sind Bierflaschen von Marius!«

»Dann müsst ihr euren Mitbewohner eben besser erziehen.« Die Stimme ihrer Freundin Sarah klang eher amüsiert als mitfühlend aus dem Handy.

Wenig später schepperten die Flaschen hinter Anna im Fahrradanhänger, als sie auf dem Buntentorsteinweg mit dem Fahrrad fuhr. Sie saß auf dem hochgeschobenen Rock von ihrem langen Kleid. Sorgsam achtete sie darauf, dass der Stoff sich nicht in die Fahrradspeichen klemmen konnte. Die Sonnenstrahlen schienen ihr an diesem ungewöhnlich warmen Apriltag ins Gesicht und wärmten ihre nackten Arme und Beine, als sie in den Kirchweg einbog. An der roten Ampel hielt sie sich lässig am Pfosten fest und sah neben sich ein Auto, in dem ein Mann mit seiner Hand nervös auf das Lenkrad klopfte. Sie mochte diese aggressiven Autofahrer nicht. Die Fußgängerampel schaltete auf Grün um, und während sie weiterfuhr, überlegte sie, ob sich Sarah mehr über die Bio-Erdbeermarmelade oder den neuen Bio-Holundertee freuen würde.

Als sie das kalte Metall an ihrer linken Körperhälfte spürte, war es zu spät. Sie sah, dass sie auf dem Boden lag. »Aufstehen! Er überfährt dich!«, war ihr einziger Gedanke, als sie sich mühsam und mit Schmerzen am ganzen Körper von ihrem Fahrrad befreite und sich aufrichtete. Erleichtert stellte sie fest, dass das Auto zum Stehen gekommen war. Er würde sie nicht überfahren. Anna sah, dass der Mann immer noch im Auto saß und tippte mit ihrem linken Zeigefinger an ihre Stirn. Ihre Hand schmerzte. Der Autofahrer stieg aus und ein blondgelockter Mann mit weit aufgerissenen Augen kam auf sie zu.

Er rief ihr zu: »Es tut mir so leid! Wie geht es Ihnen?«

Erstaunt beobachtete sie, wie der Mann sie von oben bis unten anstarrte. Er war etwa einen Kopf größer als sie.

»Gott sei Dank. Sie haben sich nichts gebrochen«, sagte er mit einer warm klingenden Stimme. Er schien erleichtert.

Mit einem Handgriff richtete er ihr Fahrrad auf, das zumindest auf den ersten Blick nicht verbogen aussah. Im Anhänger schepperten die Glasflaschen. Der Unbekannte lächelte und ihr fiel der undefinierbare Blauton seiner Augen auf.

»Einen Augenblick«, sagte er betont langsam, »ich fahre schnell mein Auto von der Straße runter und dann bin ich wieder da.«

Warum sprach er so langsam und zeigte mit beiden Armen erst auf sein Auto und dann auf den Gehweg? Dachte er, dass sie kein Deutsch konnte? Mit ihren Gesichtszügen und dunklen Haaren passierte ihr das öfter. Der Mann ging zu seinem Auto und drehte sich um. Er sah auf ihr langes Blumenkleid und lächelte. Würde er einfach davonfahren? Wollte er sie als dumme Ausländerin stehenlassen?

Doch er stellte sein Auto tatsächlich vor der Kirche ab und kam wieder zu ihr zurück. »Haben Sie Schmerzen? Können Sie alles bewegen?«

Anna sah ihn wütend an. »Können Sie nicht gucken? Ich bin geradeaus gefahren und hatte Grün!«

Er sah erschrocken aus. Mit der Hand fuhr sie durch ihre langen Haare, die ihr ins Gesicht fielen.

Der Mann blieb ruhig. »Es tut mir schrecklich leid. Möchten Sie, dass wir die Polizei rufen?«

Dieser Mann hatte Nerven. »Die Polizei? Wissen Sie, wie lange das dauert?« Sie sah auf ihr Fahrrad. »Geben Sie mir lieber Ihre Telefonnummer und Ihren Namen für den Fall, dass ich am Fahrrad etwas reparieren muss, und dann ist das schon ok.«

Sein Auto war hellgrau und sah neu aus, und der Mann wirkte tatsächlich besorgt. Er trug eine schwarze Bundfaltenhose und ein weißes Hemd. Wieso fuhr er mit dieser Kleidung vormittags in der Gegend herum, anstatt in einem Büro oder einem Flugzeug zu sitzen? Sie lächelte ihn an und ärgerte sich sofort darüber. Der Mann sah zwar gut aus und wirkte freundlich, aber immerhin hatte er sie gerade umgefahren.

Sie staunte über diesen scheinbar aus dem Nichts kommenden Mann. Genaugenommen war er zwar aus dem silberfarben glänzenden Auto gekommen, aber es ging alles zu schnell.

Der Mann aus dem Auto reichte ihr eine Visitenkarte, die sie mit ihrer linken, noch schmerzenden Hand nahm. Er stand aufrecht vor ihr und Anna wunderte sich darüber, wie ein Mensch so kerzengerade stehen konnte.

Plötzlich blickte er nach unten. Sie folgte seinem Blick und sah, dass ihr Kleid unter dem Knie zerrissen war.

»Sind Sie am Bein verletzt?« Erschrocken sah er sie an.

Sie hob das Kleid hoch und betrachtete das Blut, das an ihren Beinen klebte. »Nein, nur Schürfwunden.« Sie schüttelte den Kopf und ließ den Stoff von ihrem Kleid wieder nach unten fallen.

»Wie können Sie überhaupt mit einem so langen Kleid Fahrrad fahren?« Er glotzte immer noch auf ihr Kleid.

Machte dieser Mann ihr etwa gerade einen Vorwurf? »Und wie können Sie um die Ecke rasen und mir die Vorfahrt nehmen? Und jetzt versuchen Sie auch noch, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben.« Sie schnappte empört nach Luft.

Der Mann legte seine Hand auf die Brust. »Aber nein, so meinte ich es nicht. Ich bekenne mich schuldig.«

Warum grinste er? Sie sah in seine Augen, die jetzt blau leuchteten, und stellte sich vor, in diesem wunderbaren Blau wie in einem Meer zu schwimmen.

»Ah!«, entfuhr es ihr seufzend.

Er sah sie fragend an. Verlegen starrte sie nach unten und las die Zeilen auf der Visitenkarte in ihrer Hand: »Johannes Schwing«. Darunter stand: »Pastor« und »Fabian-Gemeinde, Kirchweg, Bremen«.

Sie blickte auf die Treppen vor sich und das Kirchentor. Dann sah sie zu ihm und lachte.

»Sind Sie tatsächlich der Pastor dieser Gemeinde und fahren mich direkt vor Ihrem Gotteshaus einfach um?!«

»Es tut mir wirklich leid. Ich war in Eile, weil ich zu einer Beerdigung muss.« Er senkte seinen Kopf und hob ihn nicht wieder, was sie beunruhigte.

Mit einem Räuspern machte sie sich bemerkbar. Endlich hob er wieder seinen Kopf, und sie fragte sich, ob seine Augen wohl immer glänzten wie blaues Meerwasser. Entsetzt stellte sie fest, dass sein Gesicht plötzlich strahlte und ihre Brust dabei merkwürdig schmerzte.

»Sie tragen ein Goldkettchen am Fuß! Und darauf steht Jesus«, stellte er aufgeregt fest.

Meine Güte, dieser Mann konnte einen aber auch erschrecken. Und das alles nur wegen ihrem Fußkettchen. Er sah ihr direkt in die Augen, aber sie hielt seinem Blick stand. Von so einem daher gefahrenen Pastor ließ sie sich nicht einschüchtern. Als er endlich seinen tiefen Blick von ihren Augen abwendete, fühlte sie sich der Ohnmacht nahe und hielt sich mit einer Hand schnell an ihrem Fahrradlenker fest.

»Können Sie weiterfahren oder soll ich Sie wohin bringen?«

»Alles gut«, brachte sie nur im Flüsterton hervor und hielt sich sicherheitshalber mit der zweiten Hand am Lenker fest. Ihre Knie zitterten. Stand sie wegen dem Unfall unter Schock?

»Dann ist es in Ordnung, wenn ich weiterfahre?« Er machte ein fragendes Gesicht und hielt seine Hände offen vor sich.

Sie nickte und versuchte sich vorzustellen, wie er als Pastor in der Kirche aussah.

»Fahren Sie zu Ihrer Beerdigung.«

»Gott sei Dank ist es noch nicht meine eigene.«

Sie lächelten sich an, bis sie ihn schon wenige Sekunden später in seinem Auto davonbrausen sah. Ihr Blick fiel auf die Visitenkarte. Der Name kam ihr bekannt vor, aber das war kein Wunder, wenn er in ihrem Stadtteil Pastor war. Dabei hatte sie mit der offiziellen evangelischen Kirche kaum etwas zu tun, denn in ihrer Gemeinde der Jesus Freaks legten sie großen Wert darauf, eine evangelische Freikirche zu sein.

Vorsichtig fuhr sie mit dem Fahrrad und dem Anhänger zum Bioladen am Ende vom Kirchweg. Während sie die Pfandflaschen in den Automaten schob, spürte sie einen stechenden Schmerz an ihrer rechten Hüfte und sah an den Innenseiten ihrer Hände die aufgerissene Haut von Schürfwunden. Mist! In diesem Zustand wurde nichts aus einem gemütlichen Brunch bei Sarah. Erst einmal würde sie nachhause fahren und Sarah anrufen.

*

Hannes war froh, schnell davongekommen zu sein, auch wenn ihn Schuldgefühle plagten. Wie konnte er diese Fahrradfahrerin übersehen? Zu was hatte Gott ihm Augen gegeben, wenn er sie nicht gebrauchte? Aber war vor ihm auf der Kreuzung nicht eine Frau im Minikleid gefahren?

Die Gestalt dieser Frau und ihre langen, dunklen Haare waren beeindruckend. Als sie ihn mit ihren tiefdunklen Augen ansah, hatte er sich erschrocken. Ihre Haut hatte einen dunklen Teint, aber sie sprach ohne einen fremdländischen Akzent. Ihre Stimme klang laut und aufgeregt, aber das konnte an der Situation gelegen haben. Auf jeden Fall schien sein Unfallopfer dem Christentum anzugehören.

Zum Glück fand heute Vormittag in seiner Kirche kein Gebetskreis statt. Der Unfall wäre ihm vor seinen Gemeindemitgliedern peinlich gewesen. Hoffentlich kam er jetzt nicht allzu spät zur Beerdigung.

»Lieber Gott, bitte lass sie alle unpünktlich sein«, betete er laut. Gott war seine Stoßgebete gewohnt und half ihm meistens auch kurzfristig. In Gedanken sah er vor sich den Fuß der Frau mit dem Goldkettchen und dem eingravierten Wort »Jesus« daran. Dabei verpasste er beinahe die Einfahrt zum Friedhof.

Hannes parkte auf dem für Pastoren reservierten Parkplatz und sah schon Giselas fülligen Körper zwischen den schwarz gekleideten Trauergästen. Als Küsterin war sie zwar immer vor ihm da, aber nun war er mit zehn nach elf eindeutig zu spät. Er ging auf sie zu und bemerkte, dass sie die Augenbrauen nur ein wenig hochzog.

»Glück gehabt, Herr Schwing. Die Straßenbahnen und Busse fahren in der Innenstadt nicht wegen einer Demonstration der Kurden.« Nervös blickte sie zum Friedhofseingang. »Wir müssen noch auf ein paar Trauergäste warten, die jetzt versuchen, mit dem Taxi zu kommen.«

Er lächelte und sah nach oben. »Gelobet sei der Herr!«, dachte er.

2

Schon seit einer halben Stunde sang Anna in ihrem Zimmer voller Begeisterung die christlichen Lieder, die sie morgen mit dem Lobpreis-Team im Sonntagsgottesdienst singen wollte. Aus ihrem Handy erklang das Läuten von Kirchenglocken als Klingelton und sie nahm Sarahs Videoanruf an.

Sarah machte ein verwundertes Gesicht. »Warum grinst du so?«

»Lass uns erst üben. Wir haben aber nur noch einen Gitarristen, weil Jonas abgesprungen ist.« Anna seufzte.

»Aber Christian als Drummer bleibt?«

Sie sah Sarahs besorgtes Gesicht und nickte.

Sarah sah mit ihren langen, blonden Dreadlocks und dem Piercing an ihrer rechten Augenbraue richtig cool aus. Sie beneidete Sarah um ihre feinen, hübschen Gesichtszüge. Gleichzeitig wusste sie, dass Sarah ihre markanten Gesichtszüge und vollen Lippen schön fand.

Sarah hielt die Liedernoten in die Luft. »Mann, morgen ist Ostern! Kriegen die Leute noch nicht mal dann ihren Arsch hoch?« Sie kam mit ihrem Gesicht näher an den Bildschirm. »Hast du dich von deinem Unfall erholt? Du hast vor zwei Tagen am Handy so wirr dahergeredet, weißt du.«

»Ja, es ist auch verwirrend. Ich erzähle dir morgen davon.« Anna setzte sich auf ihr Bett und sah auf dem Bildschirm, wie Sarah ihre Augen aufriss.

»Wow, was ist das hinter dir?«, rief Sarah aufgeregt.

Anna drehte sich um. »Das Poster vom Freakstock-Festival vom letzten Jahr. Du warst doch auch da. Hab’ ich gestern aufgehängt.«

»Klar, ich war schon beim Festival der Jesus Freaks, als du noch gar nicht in unserer Gemeinde warst.«

Das war wieder einmal typisch für Sarah. Immer benahm sie sich so, als wüsste sie viel mehr über die Jesus Freaks als sie. Dabei war Sarah bloß ein Jahr länger als sie in ihrer Jesus Freak-Gemeinde.

»Ich geh schon seit fünf Jahren zu den Festivals«, verteidigte sie sich. »Und nächstes Jahr will ich das wieder haben.«

»Was willst du wieder haben?«

Anna seufzte lächelnd. »Na, dieses tolle Feeling, dass wir einer internationalen Bewegung angehören und nicht nur in Bremen eine kleine Gemeinde christlicher Freaks sind. Diese Tage vor den Konzertbühnen und die Nächte am Lagerfeuer. Heavy Metal, Punk, Rockmusik und Balladen. Das will ich jedes Jahr erleben.«

»Aha, es hat sich ja letztes Jahr auch für dich gelohnt. Heavy Metal trifft auf Ballade.« Sarah kicherte.

Sie zog vor ihrem Handy eine Grimasse. »Es läuft nicht mehr gut mit Heavy Metal. Alex wirkt so abwesend, wenn wir zusammen sind.«

»Kann passieren nach einem Jahr«, sagte Sarah, deren Liebesbeziehungen nie länger als ein halbes Jahr gingen.

Um neun Uhr morgens war Anna in der alten Fabrikhalle, um sich mit dem Lobpreisteam für die Musik im Gottesdienst vorzubereiten. Die Musiker trudelten mit »Moin!«, »Frohe Ostern!«, oder »Halleluja!« ein. Auch die Jesus Freaks,die Kaffee und Tee für alle kochten, standen schon hinter dem Tresen. Sarah verbot ihr, die Musikinstrumente mit aufzubauen, weil sie wusste, dass ihr noch die Hände und Beine von ihrem Fahrradunfall wehtaten.

Anna saß am Tresen auf einem Hocker und schlürfte aus einer Tasse schwarzen Kaffee, während sie den anderen zusah. Wie jeden Sonntag verwandelte sich der vordere Bereich im Saal in nur wenigen Minuten in ein Labyrinth aus Kabeln von den Instrumenten, Mikrofonen, Verstärkern und Lautsprechern.

Alex kam wie immer zu spät und küsste sie flüchtig auf den Mund. »Moin, mein Schatz.« Er klang gutgelaunt.

Sie registrierte, dass er nicht bekifft war. Seine schwarz gefärbten Haare, die er in alle Richtungen stylte, schienen gewaschen zu sein. Sie zog seinen Duft mit der Nase ein. Er roch gut, nach irgendeinem Rasierwasser, was sie irritierte. Erzählte er ihr nicht seit einem Jahr, dass er Männerkosmetik hasste?

Alex schlenderte mit einer Tasse Kaffee in der Hand und seiner E-Gitarre über der Schulter nach vorne. Mit seinem Drei-Tage-Bart und dem Ring in der Unterlippe sah er genauso aus, wie sie ihn vor einem Jahr beim Freakstock-Festival kennengelernt hatte.

In den letzten Monaten hatten Alex und sie sich immer weniger zu zweit getroffen. Selbst bei ihrer wöchentlichen Verabredung schien er ihr in Gedanken immer woanders zu sein und auch heute war er irgendwie abwesend. Wieso hatte er nicht gefragt, warum sie am Tresen saß, anstatt wie sonst mit den anderen die Musikgeräte aufzubauen? War es ihm überhaupt aufgefallen? Ihre Brust schmerzte, als wäre sie eingeschnürt.

Anna blickte auf ihr rot-grünes Blumenkleid und seufzte. Vor einem Jahr hatte er ihr am Lagerfeuer gesagt, dass sie mit ihren Kleidern so himmlisch aussehe wie ein Blumengel. Wie oft hatte er ihr gesagt, dass er ihre dunkle Haut und ihre dunklen Haare mochte. Am besten gefiel Alex ihre Stimme, wenn sie im Gottesdienst sang.

Sie hörte das Lachen von Christa und drehte ihren Kopf zur Eingangstür. Christa ging zielstrebig auf sie zu und umarmte sie dermaßen stürmisch, dass sie fast vom Hocker fiel.

»Guten Morgen, meine Liebe! Schön, dass es schon Kaffee gibt. Denise und ich machen heute Begrüßungsdienst.«

Sie nickte und sah, wie sich die beiden Frauen neben der Eingangstür postierten. Alle, die hereinkamen, wurden umarmt, außer sie kamen zum ersten Mal. Dann sprachen Christa und Denise sie gleich an und boten ihnen die Getränke und Kekse am Tresen an. Hier wurde der soziale Kontakt großgeschrieben. Keiner sollte aus einem Gottesdienst der Jesus Freaks herausgehen, ohne mit anderen gesprochen zu haben. Keiner sollte alleine bleiben. Sich für die anderen zu interessieren, das bedeutete bei ihnen Nächstenliebe.

Kurz bevor der Gottesdienst begann, tummelten sich viele Jesus Freaks am Tresen. Sie redeten und lachten laut und tranken dabei Kaffee oder Tee. Sarah schob Anna vom Tresen weg.

»Jetzt erklär doch mal. Was war das denn am Donnerstag? Du hast gesagt, ein Pastor hätte dich angefahren?«

Anna sah, wie die Musiker vorne schon ihre Instrumente in die Hand nahmen. Sie sprach leise: »Der Pastor, der mich angefahren hat, heißt Johannes Schwing. Er ist der Pastor der Fabian-Gemeinde.«

»Ach nee«, schrie Sarah so laut, dass viele im Raum zu ihnen sahen und lachten.

Anna sprach leise weiter: »Der macht einen sympathischen Eindruck.«

Davon unbeeindruckt schrie Sarah wieder: »Anna! Dieser Schwing ist ein ganz übler Typ. Er ist der schlimmste Pas­tor in ganz Bremen. Vor ein paar Jahren hat er eine Predigt gehalten, in der er Muslime und Buddhisten diskriminiert hat.«

Ihr Kopf dröhnte plötzlich. »War das der? Ich hatte den Namen nicht mehr im Zusammenhang mit der Geschichte im Kopf. Egal, ich muss mich auf unsere Lieder konzentrieren. Lass uns bitte später darüber reden.«

Sie ging mit nur langsamen Schritten nach vorne zu den anderen Musikern, denn ihr war schwindlig. Deshalb war ihr der Name bekannt vorgekommen. Wie hatte sie das verdräng­en können? Natürlich, vor ein paar Jahren stand es in der Presse. Sie hatten über diesen Pastor geschrieben, der gegen Anhänger anderer Religionen hetzte. Dieser Pastor wollte noch nicht einmal eine Pastorin auf der Kanzel sprechen lassen und bezog sich dabei auf eine Bibelstelle. Viele Pastorinnen und Pastoren der evangelischen Landeskirche hatten damals öffentlich gegen diesen Pastor auf den Treppen vom Dom demonstriert. Die meisten Bremer Bürger sahen sich selbst als »liberal« und »weltoffen«, auch für sie passte dieser Pastor nicht zu Bremen.

Anna hörte die ersten Gitarrenklänge und stellte sich mit Sarah vor die Mikrofone. Sarah trug mintgrüne Leggins und ein kurzes, moosgrünes Kleid darüber. Ihre Kleidung war immer leger und in irgendwelchen Grüntönen.

Alex stand mit seiner um den Hals gehängten E-Gitarre auf der anderen Seite neben ihr und lächelte sie an. Es war dieses Lächeln, in das sie sich vor einem Jahr verliebt hatte. Sie lächelte zurück und hörte ihn ins Mikro rufen: »Moin!«

»Moin!«, klang es mit Gelächter von den christlichen Freaks zurück.

Die Gottesdienstbesucher saßen in der Halle auf Stühlen oder fläzten sich auf kleinen Sofas und Sitzsäcken. Einige lümmelten noch mit ihren Kaffeetassen vor dem Tresen herum. Selbst an dem heute so sonnigen Tag wirkte die Halle mit den kleinen Fenstern dunkel. Dass die meisten Freaks schwarze Kleidung trugen, machte den Raum auch nicht heller.

»Ich wünsche euch einen fetten Segen für diesen wunderschönen Morgen am Ostersonntag«, rief Alex weiter.

Anna sah nach oben, wo die Sonne durch die Fenster in den großen Raum hereinschien. Ihre Augen fühlten sich bei diesem hellen Licht an, als müssten jeden Augenblick glänzende Funken daraus sprühen.

Sie nahm das Mikrofon. »Schön, dass ihr da seid! Wir feiern heute, dass Jesus auferstanden ist und wir durch ihn die Hoffnung haben, dass es nach unserem Tod weitergeht, dass wir nicht im Nichts enden werden, sondern dass wir eines Tages bei Gott sein dürfen.«

Sie sah, dass viele nickten und einige riefen: »Ja!«

Anna fuhr fort: »Jesus ist für uns gestorben. Durch ihn sind wir mit Gott verbunden und dürfen Gott unseren Vater nennen. Halleluja!«

»Halleluja«, brüllten viele begeistert zurück.

Sie gab Sarah das Mikrofon.

»Lasst uns aufstehen und den Herrn anbeten. Lasst uns laut verkünden, dass Jesus lebt!«, brüllte Sarah euphorisch.

Die meisten standen auf und verteilten sich im Raum. Anna lächelte ihren »Schwestern und Brüdern«, wie sie sich scherzhaft untereinander nannten, zu. Sie begann zu singen: »Zu tief der Abgrund, der uns einst trennte, zu hoch der Gipfel, der vor mir lag. Voller Verzweiflung sah ich zum Himmel, sprach deinen Namen in die Nacht.«

Ihr Herz schlug schnell und ihr ganzer Körper bebte, wenn sie sonntags in der Gemeinde sang. Sie liebte es, durch ihr Singen zu spüren, dass Gott ihr nahe war. Wenn sie andere damit mitreißen konnte, dann liebte sie es umso mehr. Alle im Raum bewegten sich, die meisten sangen laut mit. Viele standen auf und streckten während dem Singen ihre Arme in die Höhe. Manche von ihnen zuckten dabei. Andere bewegten ihre Oberkörper nach links und rechts oder wippten mit ihren Füßen auf dem Boden auf und ab. Sogar Monika, die während dem Gottesdienst immer strickte, wippte mit ihrem Strickzeug hin und her.

Wenn Sarah und sie lautstark zum Refrain kamen, sangen alle laut mit: »Halleluja, preist den, der mir Freiheit gab! Halleluja, er besiegte Tod und Grab! Alle Ketten sind gesprengt von dem Gott, der Rettung bringt! Jesus, meine Hoffnung lebt! Jesus, meine Hoffnung lebt!«

Nach dem Lied spielten sie noch zwei deutsche und drei englische Songs. Die Liedtexte wurden von einem großzügig tätowierten Jesus Freak zum Mitsingen oder Lesen mit einem Beamer an die Wand projiziert.

Nach den gemeinsam gesungenen Liedern, ihrem Lobpreis, war Kaffeepause. Anna spürte, dass sie erschöpft war, und schob sich zwischen den anderen zum Tresen, um ihre Kaffeetasse aufzufüllen.

Während sie sich heißen Kaffee einschenkte, hörte sie von der Seite: »Du hast wunderschön gesungen! Was für eine Power, vielen Dank.«

Sie freute sich über das Kompliment und lächelte. Das Lob kam von Claudia, die im Gemeindevorstand war. Gemeinsam mit ihrer Freundin bot sie für die Gemeinde häufig Treffen an, bei denen gemeinsam gebetet und diskutiert wurde. Dass sie ein lesbisches Paar waren, störte hier keinen. Warum auch?

Allerdings kamen die beiden aus einer anderen freikirchlichen Gemeinde, wo sie im hohen Bogen sofort rausgeworfen wurden, als ihre Beziehung bekannt wurde.

Anna schlurfte nach vorne und sah, dass Daniel heute einen Jeansrock trug. Er war erst seit einem Jahr bei den Jesus Freaks, und bisher hatte sie ihn nur in Männerkleidern gesehen.

Sie ging zu ihm. »Steht dir gut, Daniel.«

Er zögerte kurz und entschied sich dann, zu lächeln. »Danke.« Seine Augen strahlten sie an.

Anna suchte nach Alex, weil sie mit ihm über ihre nächste Verabredung sprechen wollte. Sie sah ihn am Tresen stehen und folgte seinem Blick. Alex starrte Katrin an und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Meine Güte, war ihm das denn gar nicht peinlich? Er starrte dieser vollbusigen Blondine mit ihren langen Haaren, die ihr bis zum Po reichten, hinterher. Er wusste doch, dass sie, seine Freundin, im Raum war. Konnte er das nicht wenigstens dann machen, wenn sie nicht hier war?

Katrins hautenge Jeans und ihre ebenso engen Oberteile, die sie stets trug, waren für viele Männer der Gemeinde ein Hingucker. Anna fand Katrin mit ihrem langen und kantigen Gesicht, inklusive Doppelkinn, nicht hübsch. Vor allem mochte sie diese »Schwester« nicht, weil sie sich offensichtlich nur für Männer interessierte und mit Frauen kaum sprach.

Ihr wurde übel und sie setzte sich auf den nächstbesten Stuhl. Kaum saß sie, plumpste Sarah auf den Stuhl neben ihr.

»Das mit dem Pastor, das musst du mir genauer erzählen.«

Petra ließ die Klangschale erklingen, was bedeutete, dass sie als Pastorin die Freaks dazu aufforderte, leise zu werden, damit sie mit der Predigt beginnen konnte.

Sie flüsterte Sarah zu: »Nachher, und nur zu zweit.«

In der Predigt sprach Petra davon, dass die Auferstehung für sie als Christen das wichtigste und freudigste Fest sei und sie immer auf die Gnade Gottes vertrauen konnten, aber Anna konnte sich nicht auf die Predigt konzentrieren.

Nach dem Gottesdienst wartete sie auf Sarah, die mit den anderen die Instrumente abbaute. Kaum waren sie aus dem Saal, platzte Sarah schon im Treppenhaus heraus: »Also hör mal, dieser Schwing ist ein Evangelikaler. Er gehört zu diesen sogenannten bibeltreuen Christen, die meinen, dass sie die einzigen sind, die die Wahrheit kennen. Den kannst du gar nicht sympathisch finden.«

Sarah sah sie erwartungsvoll an, aber sie blickte auf die Stufen vor sich. »Dieser Schwing ist ein freundlicher Mensch. Und er hat was.«

»Ja, er hat ‚ne Klatsche!« Sarahs Stimme hallte im Treppenhaus. »Er diskriminiert Leute, die eine andere Religion haben, und Frauen auch.« Plötzlich stutzte Sarah. »Was meinst du mit ›Er hat was‹?«

Sie drückte die schwere Tür nach draußen auf und überlegte. Sarah hatte recht: Was meinte sie damit? »Er hat blonde Locken«, dachte sie laut. Wie blöd, dass sie sich ein Lächeln dabei nicht verkneifen konnte.

Sarah zog ihre Augenbrauen hoch. »Ist nicht dein Ernst, oder? Männer mit blonden Locken gibt es überall in Bremen.«

»Ist doch egal.« Anna war genervt. Seit dem Unfall vor zwei Tagen bebte es in ihrem Inneren. Es musste damit zu tun haben, wie dieser Pastor sie mit seinen meeresblauen Augen angeblickt hatte. Oder waren seine Augen doch grau? Eigentlich wollte sie viel lieber darüber mit Sarah sprechen und nicht über Political Correctness.

»Und was sagt überhaupt dein dunkelhaariger Alex dazu?« Sarah sah sie neugierig an.

Bereits der Name »Alex« machte sie wütend. »Alex’ Interesse an mir ist zurzeit begrenzt.«

Sarah riss ihre Augen und den Mund auf.

Ausgerechnet jetzt kam Alex aus der Tür. Er ging an ihnen vorbei und drehte sich noch einmal kurz um. »Ich komm morgen Abend vorbei, ok?«

»Ja, komm um acht.« Anna lächelte ihn erleichtert an, aber er ging schon weiter.

»Ich komm um neun.« Er schloss sein Fahrrad auf.

Sarah fragte sie erstaunt: »Warum küsst ihr euch nicht?«

Die Tür ging wieder auf und Katrin kam heraus.

»Darum.« Anna machte ihren Schmollmund.

3

Hannes verschüttete am Ostersonntag beim Frühstück seinen Kaffee und dann fiel ihm auch noch das gekochte, bunte Ei auf den Küchenfußboden. Seine Gedanken schweiften zu dem Unfall mit der Frau vor der Beerdigung.

Nach dem Frühstück kniete er auf seiner kleinen Gebetsbank aus Holz und sah zu dem schwarzen Kreuz, das in seinem Wohnzimmer an der weißen Wand hing. Während dem Beten versuchte er, sich auf die Predigt, die er heute halten würde, zu konzentrieren. Er spürte, dass er lächelte, und stellte entsetzt fest, dass er wieder an diese Frau im Blumenkleid dachte.

Verlegen räusperte er sich. Schließlich wollte er beten und musste vor seiner Gemeinde gleich die Osterpredigt halten. Er hatte eine Aufgabe. Gewiss, er war gut vorbereitet, aber er wollte an Gottes Wort denken und an nichts anderes. Und schon gar nicht an eine Frau, die nichts mit seiner Gemeinde zu tun hatte. Gut, sie hatte das Wort »Jesus« um ihren schönen Fuß hängen, aber was bedeutete das schon? Heutzutage trugen viele junge Leute nur zu Modezwecken ein Kreuz. Innerlich schauderte ihm bei diesem Gedanken und sein Rücken wurde kalt.

»Herr, warum hast du diese Frau zu mir geschickt? Braucht sie Hilfe? Oder wolltest du mir zeigen, dass ich langsamer fahren sollte?« Etwas beschämt sah er auf den Boden vor sich. Gisela hatte ihn schon öfter wegen seinem rasanten Fahrstil gerügt. »Herr, hilf mir, dass ich dein Wort höre und du durch mich zu meiner Gemeinde sprichst. Amen.«

Um Viertel vor zehn verließ Hannes das Haus. Er überquerte ein kleines Stück Rasen und ging durch den Hintereingang seiner Kirche in die Sakristei, um sich dort für den Gottesdienst umzuziehen. Gisela wartete schon auf ihn und ließ es sich, wie jeden Sonntag, nicht nehmen, ihm den schwarzen Talar an den Schultern glattzustreichen und seine weiße Halsbinde zurecht zu zupfen. Hannes fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, aber Gisela betrachtete ihn zufrieden. Er hatte ihr schon mehrmals zu verstehen gegeben, dass ihr Rumfummeln an ihm nicht nötig war, aber die Küsterin ließ sich nicht davon beeindrucken. Vielleicht lag es daran, dass ihr Mann vor vier Jahren verstorben war und sie nun keinen Mann mehr zuhause hatte, um den sie sich kümmern konnte.

Schnell drehte er sich um und sah zufrieden in den Spiegel, den er in der Sakristei aufgehängt hatte. Gott hatte ihm sein Aussehen und seinen Charme gegeben, damit er beides in Gottes Namen einsetzte. Als Kind hatten seine Mutter und die Tanten häufig gerufen: »Was für ein schöner Junge!« und »Er sieht aus wie ein Engel mit seinen Locken.«

Zu seiner Genugtuung zeigte sich heute, trotz seiner fünfundvierzig Jahre, noch kein einziges graues Haar auf seinem Kopf. Gisela hingegen trug mit ihren siebenundfünfzig Jahren einen grauen Pagenkopf, so wie viele Bremerinnen.

Da erklangen schon die ersten Orgeltöne. Wie jeden Sonntag um diese Uhrzeit ging er durch die Tür der Sakristei und schritt, unter den Klängen der Orgelmusik, langsam und andächtig in die Kirche zum Stehpult. Gisela folgte ihm, wie immer wenige Sekunden später, und blieb vor einem Holzstuhl in der Nähe von ihm stehen. Die Gemeinde sang »Großer Gott, wir loben dich« und er begleitete sie mit seiner lauten Stimme.

»Der Herr sei mit euch!«, sang Hannes.

Vor sich sah er die Kirchenbesucher, die ihm mit frisch gebügelter Sonntagskleidung gegenüberstanden. Die meisten von ihnen waren im Rentenalter.

»Und mit deinem Geiste«, erwiderte die Gemeinde singend und setzte sich. Er stellte fest, dass die Kirchenbänke vor ihm gut besetzt waren, und atmete tief durch.

Heute las wieder Frau Meyer vom Gemeindevorstand den Bibeltext vor. Jedes Mal wunderte er sich über die kräftige Stimme dieser kleinen und schlanken Frau. Während der Lesung saß er auf einem antiken Holzstuhl und stellte fassungslos fest, dass er schon wieder an die Frau im Blumenkleid dachte. In Gedanken flehte er zu Gott: »Herr, bewahre mich. Bist du es, Satan? Gott, vertreibe ihn mit deiner Kraft und lass mich dein Wort verkünden.«

Besorgt stellte er fest, dass Gisela und Frau Meyer ihn wartend anblickten. Hatte er seinen Einsatz verpasst? Warteten sie schon länger auf ihn?

Gisela machte eine Kopfbewegung Richtung Kanzel, und er erhob sich schnell.

»Ruhig bleiben. Du stehst sonst auch nicht schnell auf«, ratterte es in seinem Kopf. Betont langsam ging er zur Treppe der Kanzel. »Nein, ich darf nicht zu langsam gehen. Nachher denken sie noch, ich bin krank«, dachte er weiter.

Hannes beschleunigte seine Schritte etwas und ging so schnell die Treppe hoch, dass er, oben angekommen, laut ins Mikrofon atmete. Er hielt kurz die Luft an.

»Ich begrüße Sie zur Predigt in diesem Ostergottesdienst im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, sprach er keuchend in das Mikrofon.

Die Menschen unter ihm auf den Kirchenbänken tauschten verwunderte Blicke aus. Erst jetzt merkte er, dass sein Manuskript noch in der Sakristei lag. Starr vor Schreck, traten ihm Schweißperlen auf die Stirn. Ohne ein Manuskript, und seien es nur ein paar Notizen, hatte er noch nie gepredigt. Ausgerechnet heute, da der Satan ihn mit Gedanken an diese Frau ablenkte, musste ihm das passieren! Er hatte noch nicht einmal sein Handy, auf dem er wenigstens ein paar Textstellen seiner heutigen Predigt gefunden hätte, in der Hosentasche. Wie hatte er so abwesend sein können?

Er ärgerte sich und zog seine Stirn kraus, aber beim Anblick seiner brav auf den Bänken sitzenden Gemeinde versuchte er sofort, seine Gesichtszüge wieder zu glätten. Von oben sah er in die erwartungsvollen Gesichter seiner Gemeindemitglieder und lächelte auf sie herab. Sie vertrauten ihm und darauf, dass er Gott direkt hören konnte. Nie würden sie auf die Idee kommen, dass ihr Pastor sich ohne Notizen nicht auf Gottes Wort konzentrieren konnte, weil er an eine Frau dachte. Er öffnete seinen Mund und begann mit der Predigt.

»Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern. Manchmal passieren Dinge in unserem Leben, die wir nicht vorhergesehen haben und die wir auch nicht vorhersehen können. Einige von euch kennen das bestimmt: Es passiert etwas, an das du noch nicht einmal im Traum gedacht hast.« Er merkte, dass er lächelte, und strengte sich an, wieder ein ernstes Gesicht zu machen. »Oder du hast davon geträumt, aber es nicht für möglich gehalten.«

In diesem Augenblick dachte er wieder an den Unfall vom Gründonnerstag. Wie schön und anmutig diese Unbekannte war. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken sofort wieder von sich abzuschütteln, und sah nach unten zu seiner Gemeinde.

»Wir denken dann: Das kann nicht sein. Hier muss doch Gott seine Hände im Spiel haben. Und in solchen Situationen fallen uns keine Worte ein!«

Bei »keine Worte« hob er seine Hände vor die Brust. Beschwörend sah er nach unten zu Gisela.

Er wiederholte langsam: »Uns fehlen dann die Worte!« Mit einer Hand strich er über das kleine Ablagebrett vor sich.

Gisela, die erst verwundert zu ihm hochgeblickt hatte, öffnete ihren Mund und nickte wortlos. Leise wie eine Katze schlich sie in die Sakristei und nach wenigen Sekunden schlich sie mit seinem Manuskript in der Hand ebenso leise zur Treppe der Kanzel.

Hannes sah, wie Gisela mit dem Manuskript aus der Sakristei kam, und rief ins Mikrofon: »Ja, und in solchen Augenblicken sehen wir zum Himmel hoch und denken uns: ›Herr, warum? Warum jetzt?‹«

Er hob die Hände und blickte nach oben. Sein Blick fiel auf das Wandgemälde ihm gegenüber. »Und wenn ihr einmal alle hier nach oben blickt: Was seht ihr da?«

Er machte eine Pause und stellte mit Genugtuung fest, dass alle seinem Blick nach oben folgten und nicht Gisela entdeckten, die gerade die Treppe hochkam.

»Ihr seht das Bild zu Matthäus, Kapitel vierzehn. Und was lesen wir hier in der Bibel? Petrus rief in seiner Not zu dem Herrn, denn auch er wollte über das Wasser gehen. Er hatte nicht damit gerechnet, im Wasser unterzugehen. Schließlich lief Jesus über das Wasser, nicht?«

Gisela reichte ihm von hinten das Manuskript. Er streckte hinter sich seine Hand danach aus und nahm es entgegen. Kurz überflog er die erste Seite.

»Ja, liebe Gemeinde, und so war das auch mit Ostern. Wer hatte damit gerechnet, dass Jesus auferstehen würde? Keiner! Glaubten sie an die Auferstehung des Herrn Jesus Christus? Nein! Jesus musste ihnen begegnen, damit sie glaubten, dass ihr Herr weiterhin lebte, auch wenn er nicht mehr unter ihnen war.«

Voller Inbrunst predigte er nun nach seinem vorbereiteten Text. Er erinnerte daran, dass Gott seinen eigenen Sohn geopfert hatte, damit es wieder eine Verbindung zwischen Gott und den Menschen gab. Vor allem ermahnte er seine Gemeinde, dass sie sich als erlöste Sünder diesem Opfertod würdig zeigen sollten.

Natürlich erinnerte er sie auch an ihren Missionsauftrag. »Und bei allem denken wir an unseren Auftrag, anderen von Gott zu erzählen, damit auch sie eine Chance haben, gerettet zu werden. Wir als Missionsgemeinde wissen, dass der Herr möglichst viele von ihrer Sünde erlösen möchte.«

Hannes stieg von der Kanzel und war mit sich zufrieden. Während der Kollekte gingen Herr und Frau Meyer mit einem kleinen Korb herum und sammelten Münzen und Geldscheine für die Missionare, die in Südafrika die Bibel in einheimische Sprachen übersetzten.

Er ermutigte seine Gemeinde auch zur Missionsarbeit in Bremen. »Liebe Brüder und Schwestern. Denkt daran, dass wir bald die Missionswoche haben.« Die Kirchgänger sahen interessiert zu ihm. »Wir haben Flyer, Plakate und Aufkleber, die ihr auch an Autos und Fahrrädern befestigen könnt. Und wir haben Banner für Balkone. Überall steht darauf: ›Kehrt um. Der Herr vergibt euch.‹«

Einige in den Bänken nickten eifrig.

»Hinten am Eingang liegt bereits eine Liste. Dort könnt ihr euch für den Tag eintragen, an dem ihr die Menschen auf der Straße ansprechen möchtet, um ihnen von Gott und der Bibel zu erzählen.«

Die Orgel erklang laut und mächtig am Ende vom Gottesdienst und er stellte sich an die Kirchentür. Dort verabschiedete er sonntags alle seine Gemeindemitglieder mit einem Händeschütteln und aufmunternden Worten. Er wusste, dass die Menschen diesen direkten Kontakt mit ihm brauchten und lächelte sie an, wenn sie vor ihm standen. »Frau Schulte, geht es wieder mit Ihrem Knie?« und »Herr Renner, wie geht es Ihrer Frau?«, fragte er teilnahmsvoll.

Nur in seinen Predigten duzte er die Kirchgänger, denn er wollte, dass sie sich direkt angesprochen fühlten, wenn er Gottes Wort verkündete.

»Wie schön, Sie zu sehen, Frau Claussen.« Er gab ihr die Hand. Die Witwe Claussen, eine alte Frau, plauderte gern, und er verabschiedete sie jeden Sonntag an der Kirchentür mit den Worten: »Kommen Sie rüber zum Kirchcafé, damit wir uns weiter unterhalten können.«

Als Letzter kam Herr Meyer vom Gemeindevorstand in seinem braunen Sonntagsanzug, der an seinem Bauch schon etwas eng saß, aus der Tür.

»Herr Pastor, das finde ich richtig gut, dass Sie heute auch mal unser schönes Gemälde miteinbezogen haben. Und wie Sie dann den Bogen geschlagen haben zur Ostergeschichte, wirklich beeindruckend.« Herr Meyer nickte Hannes anerkennend zu und deutete mit einer Kopfbewegung an, dass er ihn unter vier Augen sprechen wollte.

In der Sakristei wischte sich Herr Meyer erst einmal mit einem weißen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. »Herr Schwing, Ihr Auto ist schon wieder zerkratzt und vor der Kirche ist der Kasten für die Aushänge mit schwarzer Farbe übersprüht.«

Hannes zog seine Stirn in Falten.

»Diese Chaoten und Gotteslästerer gehören ins Gefängnis«, regte sich Herr Meyer mit hochrotem Kopf auf.

Er faltete die Hände vor seiner Brust. »Gott bewahre uns vor weiterem Schaden! Der Herr wird über sie richten.«

Damit wollte er Herrn Meyer beruhigen, aber er spürte in sich selbst die Wut. Es war bereits das zweite Mal, dass vermutlich linke Aktivisten ihn und seine Gemeinde attackierten.

Obwohl Hannes müde und hungrig war, ging er in den Gemeindesaal, wo das Kirchcafé stattfand. Pflichtbewusst redete er mit seinen treuen Gemeindemitgliedern, aber nach einer Stunde schwirrte ihm der Kopf von all den Erzählungen und Fragen der meist älteren Frauen. Er nickte Gisela zu und verließ den Gemeindesaal.

Erleichtert betrat er seine Wohnung und wärmte sich das Essen auf, das er gestern gekocht hatte. Mit einem Holzlöffel rührte er im Topf langsam den Eintopf um und dachte wieder an die Frau, die er angefahren hatte. Er wusste noch nicht einmal ihren Namen. Während seiner Predigt hatte er an sie denken müssen. Das war nicht richtig. Ob sie sich bei ihm melden würde? Sie hatte seine Telefonnummer, aber er hatte nicht ihre. Das war auch besser so. Mit welchem Vorwand hätte er sie überhaupt anrufen sollen? Wobei: Er war Pastor und konnte alle Menschen zu seinen Gottesdiensten und Gebetskreisen einladen. Schließlich war er in seinem Beruf ständig als Missionar unterwegs. Außerdem war sie wegen ihm vom Fahrrad gestürzt und er hätte sich nach ihrem Befinden erkundigen können.

»Herr im Himmel, bitte lass sie anrufen!«, durchfuhr es ihn. Es roch nach etwas Angebranntem und er schaltete schnell den Herd aus.

Sonntags aß er nicht in der Küche wie sonst, sondern setzte sich an den langen Esstisch, der in seinem großen Wohnzimmer in einer Ecke stand. Sein Tischgebet heute lautete: »Herr sei mir gnädig! Dein Wille geschehe. Lass mich nicht mehr an diese schöne Frau denken. Amen.«

Er schüttelte den Kopf. Als Pastor sollte er doch andere Gedanken und Gebete zustande bringen können.

Neben ihm klirrte es laut. Er sah auf dem Boden neben sich Scherben und einen Ziegelstein liegen. Sofort ließ er den Löffel fallen und krabbelte unter den Tisch. Schon wieder fiel etwas Schweres neben ihm zu Boden. Ein zweiter Ziegelstein war in seiner Wohnung gelandet. Schnell kroch er auf allen vieren auf die andere Seite seines Wohnzimmers. Er hörte schnelle Schritte unter dem Fenster. Mit zitternder Hand griff er zum Telefon und wählte den Notruf der Polizei.

4

Angelo machte ein mürrisches Gesicht, als Anna den Klingel­knopf neben dem Schild »Martínez« drückte.

»Denk an Mama«, ermahnte sie ihren Bruder, der sich neben der Tür an die Hauswand anlehnte.

Da wurde schon die Tür aufgerissen und vor ihnen stand ihre Mutter in Küchenschürze. »Qué alegría!«, freute sie sich und nahm nacheinander beide mit schmatzenden Küssen auf die Wangen in die Arme. »Erst jetzt ist Ostern für mich.«

»Mama, bist du schon wieder geschrumpft?«, neckte sie Angelo, der sich zu ihr herabbeugte. Ihre Mutter verwuschelte liebevoll seine schwarzen, kurzen Locken und lachte.

Hinter ihrer Mutter stand ein kleiner, grauhaariger Mann mit Bart, der Anna auf dieselbe Art, wenn auch nicht ganz so überschwänglich, begrüßte. Ihrem Bruder klopfte er auf die Schulter.

»Papá, wie geht es dir?«, fragte sie ihn auf Spanisch.

Sie genoss es, dass sie bei ihren Eltern zuhause spanisch sprachen. Angelo dagegen antwortete meistens auf Deutsch, was bei ihren Eltern immer für schlechte Stimmung sorgte.

»Angelo, kannst du überhaupt noch Spanisch?«, fragten sie beide jedes Mal besorgt.

Anna ging erst einmal in den kleinen Garten hinter dem Haus und sog die Frühlingsluft ein. Ihre Eltern wohnten seit zehn Jahren in diesem kleinen gemieteten Haus mit Garten am Rand von Bremen-Nord. Damals waren sie aus der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung, in der sie und Angelo aufgewachsen waren, ausgezogen. Sie ging an den Gemüsebeeten entlang. Die ersten kleinen grünen Pflänzchen ragten aus dem Boden hervor. Ihre Mutter liebte es, nun im eigenen Garten viel Zeit verbringen zu können, während ihr Vater meistens im Keller an seinen Modellschiffen herumbastelte.

Anna drehte sich um und sah ihre Mutter mit strahlendem Gesicht im Türrahmen stehen. Die weiße Bluse bildete einen guten Kontrast zu ihren schwarzen, inzwischen gefärbten, Haaren, und ihr roter enganliegender Rock betonte die, für ihr Alter, gute Figur.

»Komm in die Küche und hilf mir«, rief ihre Mutter ihr zu.

Auf dem Weg in die Küche hörte Anna ihren Vater aus seinem Werkraum im Keller rufen: »Angelo, komm! Ich zeig dir meine neugebauten Schiffe!«

»Nein, ich muss Mama helfen. Zeig sie mir nachher!« Angelo verzog sein hübsches Gesicht zu einer Grimasse.

Ihre Mutter schüttelte stumm den Kopf und scheuchte ihn mit einer Handbewegung aus der Küche.

Angelo ließ missmutig seine breiten Schultern fallen und flüsterte: »Warum kann sich nicht Anna seine langweiligen Schiffe angucken?«

Als er verschwunden war, sah sie ihre Mutter an. »Meine Güte, denkt Papa immer noch, dass Männer in der Küche nichts zu suchen haben? Das kann doch nicht wahr sein!«

»Wir sind eine andere Generation. Das ist so.«

Ihre Mutter lächelte und schwieg zehn Sekunden, was Anna nichts Gutes verhieß.

»Hat Angelo dir etwas erzählt? Hat er einen Freund?«

Anna kannte diesen Tonfall und den Blick ihrer Mutter. Sie mochte es nicht, wenn ihre Mutter sie anflehte, ihr etwas über Angelo zu erzählen.

»Ich weiß es nicht, Mama. Frag ihn doch einfach selbst.«

»Was denkst du, Anna? Kann er nicht doch noch eine Frau finden? Ich meine, es gibt doch auch Frauen, die aussehen wie Männer.«

»Mama! Er steht nun mal auf Männer.«

»Ich meine ja nur.« Ihre Mutter sah sie fragend an.

»Mama! Es ist nichts Schlechtes daran, wenn Männer als Paar zusammen sind.«

Ihre Mutter machte ein trotziges Gesicht. »Natürlich ist es schlecht. Er kann keine Familie gründen. Und bestimmt kann ihm kein Mann ein so gutes Essen kochen und das Haus sauber halten wie eine Frau.«

»Aber Mama, jedes Mal, wenn ich ihn besuche, ist es bei ihm sauberer als in meiner WG und kochen kann er mindestens so gut wie ich.«

Ihre Mutter sah sie prüfend an und Anna überlegte, ob ihre Mutter sie für schlampig hielt und ob sie ihr überhaupt zutraute, dass sie gut kochen konnte. Gerade, als sie ihre Mutter danach fragen wollte, stand Angelo in der Küche.

»Gibt es jetzt endlich Kuchen?« Er sah hungrig aus.

Es gab spanischen Mandelkuchen und gefüllte Marzipanröllchen. Schon als Kind hatte Anna sich darüber gewundert, dass diese leckeren Röllchen »huesos de santos« hießen. Warum sollten sie die »Knochen der Heiligen« essen? Da sie bei ihren Verwandtenbesuchen in Spanien aber auch Bonbons mit dem Namen »Jesus« oder Muffins mit dem Namen »Santa María« auspackte, erschienen ihr solche Kleinigkeiten im spanisch-katholischen Alltag normal.

Ihr Vater erzählte in langen Monologen von seinen gebauten Modellschiffen. Anna genoss den spanischen Kaffee, für den ihre Eltern die Kaffeebohnen extra im Internet bestellten.

»José, iss!« Ihre Mutter sah verärgert zu ihrem Mann, der wieder einmal keinen anderen zu Wort kommen ließ.

»Ja«, sagte er mit vollem Mund, um dann seine Familie weiter darüber zu informieren, welche Modellschiffe er in den letzten Wochen zusammengebaut hatte.

Ihr Vater war zwanzig Jahre alt gewesen, als er mit einem Arbeitsvertrag aus dem nordspanischen Galicien nach Bremen-Nord kam, um in der Vulkan-Werft an Schiffen zu bauen. Als die Werft 1997 schloss, hatte er Glück, weil er als einer der wenigen Werftarbeiter von einer neu gegründeten Werft übernommen wurde. Ab dann arbeitete er an riesigen Luxus-Yachten und war trotz seiner schlechten Arbeits­bedingungen stolz darauf.

»María, mi amor, gib mir noch ein Kuchenstück«, bat er Annas Mutter ungeduldig. Sie schob noch ein großes Stück Mandelkuchen auf seinen Teller und lächelte, zufrieden darüber, dass es ihm schmeckte.

Ihre Mutter war einundzwanzig gewesen, als sie ihren Vater in Bremen bei einem Fest von Spaniern kennenlernte. Laut ihrer Erzählung beeindruckte ihr Vater sie, weil er den ganzen Abend über keinen Alkohol trank, um seine Arbeitskollegen sicher nachhause fahren zu können. Sie war bereits mit achtzehn Jahren aus Andalusien nach Delmenhorst gekommen und arbeitete in einer Kammgarn-Spinnerei. Ein Jahr nachdem sie José kennengelernt hatte, wurde die Garnspinnerei aufgelöst. Da kam ihr sein Heiratsantrag gerade recht.

Ihr Vater schien jetzt satt zu sein. »Angelo, was macht deine Arbeit in dieser IT-Firma?«, fragte er in die Runde.

Angelo nahm sich noch ein Stück Mandelkuchen. »Es läuft. Seitdem ich in der Firma aufgestiegen bin, macht es mir mehr Spaß.«

Sein Vater nickte ihm anerkennend zu. »Gut, dass du das Richtige studiert hast. Als Informatiker wirst du nie arbeitslos werden.«

»Felix hat geheiratet«, sagte ihre Mutter und nahm sich noch einen »Heiligen Knochen«.

Anna schluckte.

»Willst du nicht wissen, wen?«, fragte Angelo und strich sich eine Locke aus dem Gesicht.

»Eine Kollegin vom Ortsamt«, verkündete ihre Mutter und blickte lächelnd in die Runde.

Außer einem »schön für ihn« brachte Anna nichts hervor. Felix war ihr Kindergartenfreund. Als kleines Mädchen spielte sie die meiste Zeit mit ihm und Angelo. Gemeinsam erkundeten sie die Wohnsiedlung und die Hinterhöfe der Nachbarn. Wie oft tranken sie zusammen heißen Kakao in der Küche seiner Eltern. Bevor sie in die Schule kamen, beschlossen Felix und sie eines Tages zu heiraten, und Angelo war ihr Zeuge.

Schon ab dem ersten Tag in der Grundschule war aber alles plötzlich anders. Felix und Angelo behandelten sie wie Luft und sprachen nur noch mit Jungen. Mitspielen durfte sie gar nicht mehr. Während Angelo als ihr Bruder wenigstens noch zuhause mit ihr spielte, hielt sich Felix ab der ersten Klasse komplett von ihr fern. Da sie in der gleichen Klasse waren, sah sie in jeder Schulstunde wehmütig auf seinen blonden Haarschopf direkt vor ihr. Sie spürte noch heute einen Stich in ihrer Brust, wenn sie daran dachte.

»Du bist ja verletzt!« Ihre Mutter starrte auf die Hand, mit der sie ihre Kaffeetasse hielt.

»Ist nur eine Schürfwunde, Mama. Ich hatte einen kleinen Fahrradunfall.«

»Madre mía! Dieser Stadtverkehr.« Ihre Mutter machte ein besorgtes Gesicht.

Aus Annas Sicht waren die Fahrradwege in Bremen sicherer als in Bremen-Nord, aber sie lächelte nur, weil ihre Mutter ihr das eh nicht geglaubt hätte.

»Lasst uns an der Weser spazieren gehen«, rief ihre Mutter und klatschte in die Hände. Während sie mit Angelo und ihrer Mutter den Tisch abräumte, zog sich ihr Vater schon die Jacke an.

Abends gab es Paella nach galizischer Art, weil ihr Vater die am liebsten mochte. Er brummte zufrieden und aß seinen ersten Teller leer. Dabei sah er Anna an und schmatzte beim Reden. »Was macht dein Freund? Willst du ihn wirklich heiraten?«

Ihre Mutter schöpfte ihm seinen Teller wieder voll.

»Papa, ich habe nie gesagt, dass ich ihn heiraten möchte. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt heiraten möchte.«

»Du bist fünfunddreißig!« Ihr Vater war rot im Gesicht, aber Anna versuchte, ihre Paella ruhig zu essen.

»Vielleicht will dich gar keiner heiraten.« Angelo grinste sein unverschämtes Grinsen.

»Lasst sie doch in Ruhe. Gott wird ihr schon den richtigen Ehemann an ihre Seite stellen«, sagte ihre Mutter bestimmt.

»Genau«, gab Anna ihrer Mutter recht.

»Ich bewundere euer Gottvertrauen.« Angelo tat so, als wäre er erstaunt.

»Das wir bei dir nicht mehr haben dürfen«, schrie ihr Vater in dem cholerischen Ton, den sie alle kannten.

Anna und Angelo sahen sich an. In seinen Augen erkannte sie all die Traurigkeit dieser Momente. Ihre Mutter warf ihrem Mann einen bösen Blick zu. Angelo senkte den Kopf und warf seine Gabel auf den Teller.

»Lass dir nicht den Appetit verderben, mi amor. Ich habe extra viel Hühnchen reingemacht, weil du das gerne magst.« Sie sah ihren Sohn liebevoll an.

»Gracias, mamá.« Er erwiderte sanft ihr Lächeln, aber hob seine Gabel nicht mehr auf.

»Hast du letzte Nacht wenig geschlafen?« Anna sah kurz zu Angelo, der neben ihr auf dem Beifahrersitz saß.

»Hm«, brummte er.

Es hatte angefangen zu regnen, und die Scheibenwischer bewegten sich vor ihr in der Dunkelheit wie tanzende Bohnenstangen. Sie hasste es, im Dunkeln zu fahren.

»Jetzt erzähl schon! Warum hat es heute Morgen so lange gedauert, bis du rausgekommen bist? Ich habe bestimmt zehn Mal bei dir geläutet und auf der Hinfahrt hast du nur gedöst.«

»Ich bin überhaupt nur mitgefahren…«, sagte er langsam.

»…, weil Mama möchte, dass wir an Ostern und Weihnachten zusammen sind«, ergänzte sie ungeduldig den Satz.

»Nein, nicht deshalb. Mein neuer Lover sagte mir, dass ich mitfahren soll, weil Familie so etwas Schönes sei.«

»Was? Seit wann hast du diesen neuen Freund?«

Ihre Mutter schien es geahnt zu haben. Vielleicht gab es diesen Mutterinstinkt wirklich.

»Seit einer Woche, aber wir kennen uns schon lange«, sagte er so langsam, als müsste er über die letzten Jahre nachdenken.

Vor ihr erschien das Ortsschild »Bremen«.

»Ich fahr dich lieber bis vor die Tür und bring dann das Auto zum Carsharing-Platz zurück.«

»Hast du Angst, dass ich nicht nachhause finde?«

Sie lachte. »Wer ist dein neuer Freund?«

Angelo gähnte. »Wir sehen uns nächsten Samstag und dann erzähle ich dir davon. Versprochen.«

Anna fuhr in Angelos Straße und fühlte sich plötzlich unendlich müde. »Ok.«

Sie parkte vor seiner Haustür und nahm ihn zum Abschied in den Arm. Als sie weiterfuhr, sah sie im Rückspiegel, wie er ihr winkte. Er war ihr jüngerer Bruder. Sie musste auf ihn aufpassen.

5

Mit vier Stücken Torte in der Hand, die er kurz zuvor beim Konditor gekauft hatte, stand Hannes nachmittags um vier Uhr vor der Tür seiner Mutter. Er versuchte, ruhig zu wirken.

Es hatte zwei Stunden gedauert, bis die Polizei bei ihm eingetroffen war. Die Polizistin hatte kurz mit ihm gesprochen und der Polizist hatte von dem zersplitterten Fenster neben seinem Esstisch und den Ziegelsteinen auf dem Boden Fotos gemacht. Nach wenigen Minuten waren sie schon wieder weg.

Um den zweiten Ziegelstein war eine Schnur gebunden gewesen, unter der ein Papierstück eingeklemmt war. Darauf stand: »Jesus liebte Männer«.

Diesen Zettel hatte er entfernt und in einer Schublade versteckt, bevor die Polizei eintraf.

Die Tür öffnete sich und seine Mutter stand in einem hellbraunen Kostüm vor ihm. Es war eines ihrer Kostüme, mit denen sie früher mit ihm, seinem Bruder und ihrem Vater zur Kirche gegangen war. Zur katholischen Kirche Sankt Cosmas und Damian natürlich, wo er als Kind getauft wurde und zur Erstkommunion ging.

»Ja, Bua, da bisch du jo endlich!« Ihre Stimme klang wie gewöhnlich vorwurfsvoll.

Hannes zwang sich zu einem Lächeln. Durch seinen Blick auf die Uhr vor zwei Sekunden wusste er, dass es nur zwei Minuten nach vier war. Dabei stand er pflichtbewusst vor ihrer Tür, obwohl erst vor wenigen Stunden ein Anschlag auf ihn verübt worden war. Er beschloss, seiner eh schon immer aufgeregten Mutter nichts davon zu erzählen.

»Etz komm doch rei.«

Sie sprach als Schwäbin mit ihren Söhnen Hochdeutsch, aber manche Redewendungen behielt sie weiterhin auf Schwäbisch bei. Sein Vater hatte von ihr die hochdeutsche Sprache verlangt, weil er nicht wollte, dass seine Kinder ihren schwäbischen Dialekt übernahmen. Er wollte nicht, dass sie deshalb von ihren Mitschülern gehänselt würden. Wie sein Vater ihm erzählte, legte seine Mutter innerhalb kürzester Zeit von selbst ihren Dialekt ab, weil sie verächtliche Blicke erntete, wenn sie sich in Bremen im schwäbischen Dialekt an andere wandte.

»Ja, da bin ich.« Er reichte seiner Mutter die im bunten Papier verpackte Torte, was sie zum Strahlen brachte.

Im Wohnzimmer aß er unter ihren Blicken ein Stück Himbeertorte und genoss jeden Bissen. Auch den starken Kaffee seiner Mutter trank er gerne. Bei den Veranstaltungen seiner Gemeinde wurde der Kaffee dünn aufgebrüht, damit die alten Leute davon möglichst keine Magenschmerzen bekamen. Seine Mutter war mit ihren siebzig Jahren kerngesund und lachte nur hämisch über die Krankheiten ihrer gleichaltrigen Freundinnen, weil sie der Ansicht war, dass es sich nur um »eingebildete Zipperlein« handelte.

Kaum hatte er sein zweites Stück Torte gegessen, legte seine Mutter mit ihren üblichen Tiraden los. Er war es gewohnt und wusste, dass sie nicht anders konnte. Dabei rechnete er es ihr hoch an, dass sie immer damit wartete, bis er seine mit Blumen verzierte, silberne Kuchengabel auf den goldumrandeten Teller legte. Heute wurde ihm bewusst, dass er seine zwei Stücke Torte jedes Mal extra langsam aß, um noch möglichst lange von ihrem »Anfall«, wie er es nannte, verschont zu bleiben.

»Also Bua, hast du diese Woche etwas unternommen, um deine Zukünftige zu finden?«

Er schüttelte den Kopf und sein Blick schweifte über die dunklen, schweren Möbel, die hinter seiner Mutter standen.

»Du weißt genau, wie schwer es für mich ist, dass du evangelisch geworden bist. Das hätte ja nicht notgetan. Wenn du schon einer von denen bist, dann kannst du doch wenigstens heiraten und Vater werden. Das ist doch der einzige Vorteil bei diesen Evangelen, dass die Pfarrer keine richtigen Pfarrer sind. Die können eine eigene Familie haben.«

Sie machte eine Pause und er spürte ihren eindringlichen Blick, ohne sie anzusehen. Sein Rücken schmerzte und er richtete seinen Oberkörper auf.

»Ich bin Pastor, Mama.«

Er wusste genau, dass sie den Unterschied zwischen Pas­tor und Pfarrer nicht verstehen wollte.

Seine Mutter seufzte. Sie ertrug es nicht, dass er ihr als eigener Sohn fremd geworden war. Erst war er zum evangelischen Glauben konvertiert, was für sie schon schlimm genug war. Als er dann auch noch evangelischer Pastor wurde, ging für sie ein Lebenstraum zu Ende, wie sie ihm damals sagte.

Das Gesicht seiner Mutter sah schmerzverzerrt aus. »Ich gehe mal ins Bad.«

Schnell stand sie auf und ging Richtung Tür. Dabei hielt sie eine Hand auf dem Rücken.

»Hast du Rückenschmerzen?«

»Nein, geht schon«, keuchte sie und hastete aus dem Raum.

Seltsam, seine Mutter ging zur Frauengymnastik und beklagte sich sonst nie über Rückenschmerzen, ganz im Gegensatz zu ihren Freundinnen.

Hannes sah auf ein altes Familienfoto, das auf der Kommode stand, und lächelte. Nach seiner Geburt hatten seine Eltern eine Art Deal getroffen. Seine katholische Mutter aus Süddeutschland tolerierte vieles bei seinem evangelischen Vater aus Bremen, zum Beispiel seine frei gesprochenen Gebete zu Gott am Mittagstisch oder abends am Bett seiner Söhne, und seine häufigen Besuche des Weserstadions. Dafür durfte seine Mutter im Gegenzug ihre Söhne katholisch erziehen, was bedeutete, dass sie sonntags den katholischen Gottesdienst besuchten.

Seine Mutter blieb lange auf der Toilette und sah nicht glücklich aus, als sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken ließ.

»Ist alles in Ordnung mit dir?« Besorgt beobachtete er, wie sie ihre Hände auf den Bauch hielt.

Sie nickte. »Ja, seit einer Woche habe ich jeden Tag Bauchschmerzen und es wird und wird nicht besser.«

»Vielleicht solltest du einmal zum Arzt gehen? Bauch- und Rückenschmerzen können doch etwas bedeuten in deinem Alter.«

Verächtlich sah sie ihn an. »Ach was. Ich renne nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt.« Sofort machte sie wieder ein leidendes Gesicht. »Du weißt, wie alt ich bin. Nach dem, was du mir angetan hast, ist es doch das Mindeste, dass du mir Enkelkinder schenkst.«

Sie war schon wieder bei ihrem Lieblingsthema. Was waren schon eine Woche Bauchschmerzen gegen ihr Leiden, dass er nicht verheiratet war?

»Kinder kann uns nur Gott schenken, Mutter.«

»Die wird dir deine Ehefrau schenken, wenn du sie dann endlich einmal gefunden hast. Du bist nicht mehr der Jüngste.«