Denn der Lohn der Sünde ist der Tod - Rafael Bravo - E-Book

Denn der Lohn der Sünde ist der Tod E-Book

Rafael Bravo

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Beschreibung

Mainz, September 2011. Zwei Männer werden innerhalb einer Nacht grausam ermordet. Ein mit Blut geschriebenes Bibelzitat weist das Team um die junge Kommissarin Nadja Heidler auf ein christlich-fundamentalistisches Motiv hin. Doch noch ehe sie der Identität des Täters näherkommen, schlägt dieser im 100 Kilometer entfernten Karlsruhe erneut zu. Gleichzeitig verhält sich der Erzbischof von Köln am Tag vor seinem Tod sehr sonderbar. Hat sein Verhalten etwas mit der Mordserie zu tun? Nadja Heidler ahnt nicht, dass sie es mit der spektakulärsten Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte zu tun haben wird, die auch sie selbst in Gefahr bringt...

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Seitenzahl: 650

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die Figuren sowie die Handlung in diesem Roman sind rein fiktiv.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

„Romanfiguren sind in der Regel das Phantasieprodukt des Schriftstellers. Für ein literarisches Werk, das an reale Geschehnisse anknüpft, ist es typisch, dass es tatsächliche und fiktive Schilderungen vermengt.“ (Quelle: Bundesverfassungsgericht im sog. Esra-Beschluss)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Dezember 1959

Januar 1960

1967

Mainz, 1993

Rom, Januar 1994

Kapitel 1

Mainz-Neustadt, September 2011

Mainz-Laubenheim

Der Lohn der Sünde ist der Tod

Kapitel 2

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 3

Köln

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 4

Mainz-Weisenau

Der Lohn der Sünde ist der Tod

Mainz-Laubenheim

Kapitel 5

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz-Laubenheim

Kapitel 6

Mainz

Kapitel 7

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz

Kapitel 8

Mainz-Laubenheim

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz-Bretzenheim

Kapitel 9

Vatikan, Apostolischer Palast

Kapitel 10

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz-Laubenheim

Köln

Kapitel 11

Mainz, Bischöfliches Haus

Mainz-Neustadt

Rom

Kapitel 12

Mainz-Neustadt

Mainz

Kapitel 13

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz-Neustadt

Kapitel 14

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz, Universität

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 15

Mainz-Gonsenheim

Mainz-Bretzenheim

Kapitel 16

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz-Gonsenheim

Kapitel 17

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz, Dom

Kapitel 18

Mainz

Karlsruhe, Schloss

Mainz

Kapitel 19

Karlsruhe, Schlossplatz

Der Lohn der Sünde ist der Tod

Karlsruhe-Durlach

Kapitel 20

Mainz-Ebersheim

Mainz, Polizeipräsidium

Wöllstein, Justizvollzugsanstalt

Kapitel 21

Berlin, Abgeordnetenhaus

Karlsruhe, Polizeipräsidium

Kapitel 22

Mainz-Laubenheim

Karlsruhe, Polizeipräsidium

Köln, Erzbischöfliches Haus

Kapitel 23

Karlsruhe-Durlach

Rom

Kapitel 24

Mainz, Polizeipräsidium

Karlsruhe, Polizeipräsidium

Kapitel 25

Karlsruhe, Innenstadt

Mainz-Oberstadt

Kapitel 26

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz-Neustadt

Kapitel 27

Mainz-Neustadt

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 28

Mainz, Rheingoldhalle

Mainz-Neustadt

Kapitel 29

Mainz-Neustadt

Kapitel 30

Worms, Jüdischer Friedhof

Mainz-Neustadt

Worms, Jüdischer Friedhof

Der Lohn der Sünde ist der Tod

Kapitel 31

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 32

Mainz, Rheingoldhalle

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 33

Rom, La Storta

Kapitel 34

Nieder-Olm

Rom, Stadtzentrum

Kapitel 35

Mainz, Altstadt

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 36

Vatikan, Palazzo del Sant’Ufficio

Lyon, 3. Arrondissement

Kapitel 37

Mainz-Finthen

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz, Hauptfriedhof

Kapitel 38

Mainz-Finthen

Koblenz

Kapitel 39

Mainz, Polizeipräsidium

Koblenz, Deutsches Eck

Kapitel 40

Köln, Dom

Koblenz, Deutsches Eck

Der Lohn der Sünde ist der Tod

Lyon, 3. Arrondissement

Kapitel 41

Mainz, Polizeipräsidium

Koblenz, Innenstadt

Karlsruhe, Innenstadt

Kapitel 42

Mainz

Berlin, Schloss Bellevue

Kapitel 43

Mainz-Neustadt

Berlin

Mainz-Neustadt

Kapitel 44

Mainz-Ebersheim

Mainz-Laubenheim

Kapitel 45

Mainz-Finthen

Berlin, Flughafen Tegel

Kapitel 46

Würzburg

Worms, Jüdischer Friedhof

Kapitel 47

Frankfurt am Main, Westend

Karlsruhe

Frankfurt am Main

Kapitel 48

Mainz

Fiumicino, Flughafen Leonardo da Vinci

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium

Kapitel 49

Nieder-Olm

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 50

Rom, Piazza Navona

Rom, Pantheon

Kapitel 51

Mainz, Polizeipräsidium

Vatikan, Apostolischer Palast

Frankfurt am Main, Polizeipräsidium

Kapitel 52

Mainz, Polizeipräsidium

Vatikan, Apostolischer Palast

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 53

Vatikan, Apostolischer Palast

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz-Neustadt

Kapitel 54

Rom, La Storta

Mainz-Neustadt

Kapitel 55

Mailand

Köln, Altstadt

Mainz-Neustadt

Kapitel 56

Mainz

Rom, Hotel Garibaldi

Rom, Petersplatz

Kapitel 57

Mainz-Neustadt

Kapitel 58

Köln, Kirche Groß St. Martin

Mainz, Polizeipräsidium

Vatikan, Apostolischer Palast

Kapitel 59

Mainz, Landgericht

Rom, Hotel Garibaldi

Kapitel 60

Mainz, Landgericht

Vatikan, Palazzo del Sant’Ufficio

Kapitel 61

Rom, Hotel Garibaldi

Vatikan, Palazzo del Sant’Ufficio

Mailand

Kapitel 62

Mainz, Polizeipräsidium

Vatikan, Gästehaus Santa Marta

Kapitel 63

Mainz, Landgericht

Mainz-Neustadt

Mainz, Landgericht

Kapitel 64

Vatikan, Gästehaus Santa Marta

Köln, Erzbischöfliches Haus

Mainz, Staatsanwaltschaft

Kapitel 65

Vatikan, Gästehaus Santa Marta

Mainz-Neustadt

Kapitel 66

Vatikan, Gästehaus Santa Marta

Neapel

Mainz-Neustadt

Kapitel 67

Mainz-Finthen

Vatikan, Sixtinische Kapelle

Kapitel 68

Mainz-Neustadt

Vatikan, Sixtinische Kapelle

Rom, Petersplatz

Kapitel 69

Köln, Dom

Wöllstein, Justizvollzugsanstalt

Mainz, Polizeipräsidium

Kapitel 70

Vatikan, Sixtinische Kapelle

Mainz, Polizeipräsidium

Mainz-Neustadt

Kapitel 71

Vatikan, Sixtinische Kapelle

Rom, Petersplatz

Kapitel 72

Vatikan, Sixtinische Kapelle

Rom, Petersplatz

Kapitel 73

Mainz-Neustadt

Mainz-Finthen

Kapitel 74

Köln, Erzbischöfliches Haus

Vatikan, Apostolischer Palast

Kapitel 75

Mainz-Neustadt

Lyon

Epilog

November 2011 bis Januar 2012

Prolog

Dezember 1959

Es war Heiligabend, und doch saß der Junge wieder einmal allein in seinem Zimmer. Seine Eltern begingen das Fest zur Geburt Christi mit seinem älteren Bruder, doch er musste – wie jedes Jahr – oben bleiben. Dieses Jahr hatte er sich jedoch zum ersten Mal in seinem Leben getraut, seinen Vater nach dem Grund zu fragen.

„Weil du eine Platzverschwendung bist, deshalb“, hatte der Vater kalt geantwortet und ihn wieder weggeschickt. Todtraurig hatte sich der Junge daraufhin in sein Zimmer zurückgezogen. So erging es ihm tagaus, tagein. Einmal, es war einen Monat her, da hatte er es gewagt, sich zu seinen Eltern und seinem Bruder an den Tisch zu setzen. Sein Vater hatte ihn sofort am Arm gepackt und in sein Zimmer gezerrt. Doch jedes Jahr am 24. Dezember war er besonders bedrückt über die Ablehnung seiner Familie. Es war nicht nur Heiligabend. Heute, an diesem 24. Dezember, war auch sein Geburtstag.

Januar 1960

Nur wenige Wochen später war er aufgeregt wie nie zuvor. Sein Vater hatte angekündigt, ihn in ein katholisches Internat zu geben. Der Junge wusste zwar nicht, ob sich sein Leben dort zum Besseren wenden würde, doch er würde endlich woanders hinkommen. Hinaus aus der Eintönigkeit seines Alltags, die er tagaus, tagein erlebte. Endlich war der Tag gekommen.

Es klingelte. Die Mutter eilte zur Tür, um die beiden Besucher hereinzulassen.

Der fremde Mann war ein katholischer Priester. Der Junge sah den Neuankömmling erstaunt an. Während ihr Gemeindepfarrer schon silbergraues Haar hatte, sah dieser Geistliche mit seinem kurz geschnittenen blonden Haar erstaunlich jung aus, sogar jünger als sein Vater. Der Geistliche schaute freundlich in die Runde. Als sein Blick auf den Jungen fiel, schien er verblüfft, aber er lächelte ihn an. Verlegen lächelte der Junge zurück. Noch nie war ihm solche Aufmerksamkeit zuteil geworden.

„Sie möchten also Ihren Sohn in unsere Obhut geben“, begann der Priester, nachdem sie sich im Wohnzimmer der Familie versammelt hatten. „Natürlich freut uns Ihre Entscheidung, aber die meisten Jungen, die wir aufnehmen, sind schon ein paar Jahre älter als er. Sind Sie sich darüber im Klaren?“

„Selbstverständlich sind wir uns dessen bewusst“, erwiderte sein Vater gereizt. „Hören Sie, Pater, wir haben noch einen älteren Sohn“, er deutete auf den dreizehnjährigen Jungen, der in einer dunklen Ecke des weitläufigen Wohnzimmers hockte, „und ich habe eine Firma zu führen. Für zwei Kinder ist einfach keine Zeit; er war ohnehin kein Wunschkind.“

Tränen traten dem Jungen in die Augen, als sein Vater so kalt über ihn sprach. Er biss die Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen.

„Nun, wenn das so ist, ist es für ihn wohl das Beste, mit uns zu kommen“, erwiderte der Priester nun ebenso kühl wie der Vater. „Auch wenn ein Kind nicht geplant war, braucht es Liebe. Du wirst es gut bei uns haben“, wandte er sich nun an den Jungen. Dieser zuckte fast unmerklich zusammen, so unerwartet angesprochen, und flüsterte leise zurück: „Wirklich?“

„Gott ist mein Zeuge, so wird es sein“, versicherte der Priester mit warmer Stimme und sah ihm tief in die Augen.

Die Sicherheit in der Stimme des Priesters flößte dem Jungen Vertrauen ein, und er begann, sich auf die noch unbekannte Zukunft im Internat zu freuen.

„Also dann“, lud ihn der Priester ein, „alles ist bereit.“

1967

Jahre waren vergangen, in denen der Junge nicht nur herangewachsen war, sondern auch eine vollkommene Wandlung seiner Persönlichkeit durchlaufen hatte. Jetzt, als junger Mann, war er nicht nur der beste Schüler des Internats, sondern auch der beliebteste. Sein Lehrer – der Priester, der ihn sieben Jahre zuvor aus der Hölle seines Elternhauses geholt hatte – hatte ihn zu sich bestellt, um mit ihm über seine Zukunft zu sprechen.

Schon oft waren die beiden zusammengesessen und hatten über weltbewegende Angelegenheiten gesprochen, wie das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965, mit dem Papst Johannes XXIII. die Kirche erneuern wollte. Doch der Papst war ein Jahr nach der Eröffnung dieses Konzils gestorben, und so war es seinem Nachfolger, dem jetzigen Papst Paul VI., vorbehalten, die Kirchenversammlung zum Abschluss zu bringen. Der Lehrer – seit wenigen Wochen auch Rektor des Internats – war trotz seines Gehorsams gegenüber dem Papst nicht mit allen Entwicklungen in der Kirche zufrieden, weder auf dem Konzil noch in der Politik des Papstes.

Auch darum wird es gleich gehen, dachte der junge Mann, als er vor dem Büro seines Lehrers stand. Er klopfte an und trat ein – als Einziger durfte er das, ohne vorher eine Antwort abwarten zu müssen.

„Schön, dass du da bist“, wurde er freudig begrüßt. „Nimm doch bitte Platz.“

Er setzte sich dem Pater gegenüber wie gewöhnlich.

„Du wirst zum Ende dieses Jahres sechzehn, das heißt, du musst dir überlegen, wozu du später berufen sein wirst. Ich habe schon eine Vermutung diesbezüglich, aber zuerst möchte ich deinen Wunsch hören.“ Der Schüler lachte; sein Lehrer kannte ihn gut und hatte natürlich recht.

„Ich werde mein Leben der Kirche widmen“, begann er. „Das ist, wozu Gott mich berufen hat.“

„Siehst du, das habe ich mir gedacht. Eine hervorragende Entscheidung. Du bist, verzeih mir meine Offenheit, ein Juwel, das gepflegt werden muss. Wie du weißt, hat sich in der heiligen Mutter Kirche vieles bewegt, zum Guten, aber vieles auch zum Schlechten. Leider war der Bischof, als dessen Berater ich in Rom war, einer dieser Reformer. Der Irrglaube beispielweise soll jetzt toleriert werden, eine Entscheidung, die wir nicht gutheißen können und die ich bereits öffentlich infrage gestellt habe. Stimmst du darin mit mir überein?“

„Selbstverständlich! Das wäre der Untergang der Kirche!“

„So ist es. Verzeih mir erneut meine Offenheit, aber ich glaube, du bist zu mehr berufen, als ein Leben lang Gemeindepfarrer zu bleiben. Du hast schon jetzt die Reife, um die dich manch einer meines Alters beneiden würde“, erklärte der Lehrer. „Es wäre eine Verschwendung, wenn du nur eine einfache Tätigkeit in der Kirche ausüben würdest.“

Der so Angesprochene nahm dieses außerordentliche Kompliment lächelnd entgegen. Er freute sich sehr, aber eine Frage brannte ihm auf der Seele: „Glaubst du, ich könnte …“, er zögerte, es so direkt auszusprechen, „zum Bischof berufen sein?“

„Das glaube ich nicht nur, ich bin mir dessen ganz sicher. Du weißt aber, dass es bis zu dieser Weihe noch mehr als zwanzig Jahre dauern wird, mindestens?“

„Ich weiß, aber ich habe noch sehr viel Zeit“, sagte der junge Mann, wieder mit einer außergewöhnlichen Reife in der Stimme.

„Das ist wahr. Es freut mich, dass du bereit bist, diesen Weg zu gehen, und all deine Kraft investieren wirst, um den Ruhm Gottes zu erhöhen. Ich werde für dich beten.“

Nur wenige Tage später schrieb er seine erste Bewerbung an das lokale Priesterseminar. Die Antwort des Seminars traf eine knappe Woche später ein. Er war tatsächlich angenommen worden! Sein Lehrer hatte offensichtlich nachgeholfen, etwas, wofür er ihm sehr dankbar war. Nie hatte er gedacht, dass es so schnell gehen würde. Ein selbstsicheres Lächeln umspielte seine Lippen. Gott hatte ihn in der Tat zu Besonderem berufen.

Mainz, 1993

Daniel Menke hatte an diesem späten Juliabend einen langen Tag hinter sich. Er war Sachbearbeiter bei der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft, und heute hatte sich besonders viel Arbeit auf seinem Schreibtisch gestapelt. Teilweise auch von einem Kollegen, von dem er wusste, dass er ihn nicht ausstehen konnte. Nach Feierabend hatte er sich noch ein Bier am Rheinufer gegönnt, um abzuschalten. Jetzt, gegen 23 Uhr, fuhr er nach Hause. Menke wohnte in Bretzenheim, einem der größten Mainzer Stadtteile, etwas außerhalb der Innenstadt gelegen, doch nahe genug, um das Zentrum schnell erreichen zu können. Er bog in die Albert-Stohr-Straße ein, die um diese Zeit fast ausgestorben war. Ein Bus fuhr Richtung Innenstadt, eine Frau ging mit ihrem Hund spazieren, ansonsten herrschte Stille. Menke fand einen Parkplatz sogar direkt vor seiner Wohnung. Zufrieden stieg er aus, schnappte sich seinen Rucksack vom Rücksitz, schloss seinen neuen VW Golf ab und ging Richtung Hauseingang. Er bemerkte die dunkle Gestalt nicht, die sich hinter ihm lautlos in Bewegung gesetzt hatte.

Am nächsten Morgen um halb acht stand Hans-Werner Frommeyer, der Leiter des Kriminalkommissariats 11 in Mainz, vor ebenjenem Hauseingang. Ein Rentner aus der Nachbarschaft, der zu seinem allmorgendlichen Stammtisch in einer nahegelegenen Bäckerei wollte, hatte die Leiche Daniel Menkes gefunden.

Frommeyer sah sich den Toten genau an. Er war mit zwei gezielten Stichen in die Halsschlagader getötet worden, das erkannte sogar er als medizinischer Laie. Dann erst bemerkte er, dass die Eingangstür des Hauses mit Blut beschmiert war. In der Sudelei klebte ein Zettel. Er hatte einige Mühe, die Worte auf dem blutigen Papier zu entziffern:

Desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Umgang mit der Frau beendet und haben Mann mit Mann Schande miteinander getrieben

Frommeyer, seit über 40 Jahren Polizist, war ein derartiger Anblick noch nie untergekommen. Die Beamten, die als Erste vor Ort waren, hatten die Mordkommission von einer nahegelegenen Telefonzelle aus benachrichtigt und von einem außergewöhnlichen Tatort gesprochen. Deswegen war Frommeyer, der aus Altersgründen vom Schreibtisch aus arbeitete, auch das erste Mal seit knapp sechs Jahren wieder an einen Tatort gefahren. Der alte Haudegen schloss die Augen, atmete tief durch, dann sah er sich den Toten erneut an. Im Mund des jungen Mannes sah er etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Reflexartig sah er zwischen die Beine des Mannes. „Heilige Mutter Gottes“, flüsterte er. „Wer ist zu einer solchen Schreckenstat fähig?“

Im nächsten Moment hörte Frommeyer Schritte hinter sich und drehte sich abrupt um. Robert Krämer, einer seiner Ermittler, war eingetroffen. Krämer, 38 Jahre alt, war ein großer, bulliger Typ. Das mittelblonde Haar wies schon erste Geheimratsecken auf. Vor Tagen erst war er zum Hauptkommissar befördert worden. Frommeyer hielt ihn für seinen besten Ermittler. Er hoffte, Krämers messerscharfer Verstand und seine kühle, nüchterne Vorgehensweise würden auch hier zum Erfolg führen.

„Das sieht nach einem Bibelzitat aus“, sagte Krämer sofort und deutete auf die Eingangstür. „Wissen Sie schon, wer der Mann ist?“

„Daniel Menke, 27 Jahre alt. Er wohnt hier in dem Haus. Ein Nachbar hat ihn gefunden“, erwiderte Frommeyer und zeigte auf den alten Mann, der, noch immer kreidebleich, ein wenig abseits stand. „Möchten Sie ihn befragen?“

„Gern“, sagte Krämer entschlossen. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“ Er hatte sofort gesehen, dass auch sein Chef ziemlich blass um die Nase war.

„So etwas würde man vielleicht in Frankfurt vermuten, aber nicht hier in Mainz, auch wenn wir in einer Großstadt leben. Ich habe dieses ungute Gefühl, dass das nur der Anfang ist. Dieser Fall könnte sich zu einer ganzen Serie auswachsen.“

„Das ist noch lange nicht gesagt“, hielt Krämer gelassen dagegen. „Wenn wir den Kerl gefasst haben, kann er keine Mordserie mehr inszenieren, falls er das überhaupt geplant hat.“

Robert Krämers Optimismus sollte sich nur zum Teil bewahrheiten. Zwar gab es keinen weiteren Mord dieser Art, aber Daniel Menkes Mörder konnten sie nicht finden. Ein erster Verdächtiger hatte ein glaubwürdig bestätigtes Alibi, und auch die Kontaktanzeigen, die Menke aufgegeben hatte, führten die Ermittler nicht zu seinem Mörder. So wurden die Ermittlungen im November 1993, knapp vier Monate nach dem Mord, mangels weiterer Anhaltspunkte vorerst eingestellt.

Rom, Januar 1994

In einem eleganten Haus am Stadtrand von Rom trafen sich zu Beginn des neuen Jahres sechs Männer. Sie hatten Geschäftliches zu besprechen.

„Der Auftakt ist uns hervorragend gelungen“, lobte der etwa 70-jährige, kultiviert wirkende Gastgeber. „Deshalb wollen wir uns schon jetzt überlegen, wie wir uns bei unseren Männern, die ihre Arbeit für uns so kompetent verrichten, gebührend erkenntlich zeigen können – auch wenn wir unser Ziel noch lange nicht erreicht haben.“ Er wandte er sich an einen etwa 60-jährigen, korpulenten Italiener: „Haben Sie ihn mitgebracht?“

„Ja, Don Marco müsste jeden Moment hier sein. Er nimmt unser Unternehmen durchaus ernst“, versicherte der Angesprochene. Wie aufs Stichwort wurde die Tür geöffnet, und ein großer, dunkelhaariger Mann Anfang 30 in elegantem Anzug betrat den Raum. Er wirkte selbstsicher und zugleich ehrfürchtig angesichts der Anwesenden. Auf diesen Mann, den Bankier Marco Pegrone, hatte die Gruppe gewartet. Er begrüßte die Herren und nahm neben dem Dicken Platz.

Zur Rechten des Gastgebers erhob sich nun ein knapp 40-jähriger, distinguiert aussehender Mann, der gemeinsam mit dem Gastgeber alle geschäftlichen Vorbereitungen getroffen hatte, und nun das Wort ergriff: „Also gut, Sie wurden uns ja wärmstens empfohlen. Sie müssen zwar erst zum Schluss in Aktion treten, doch sollten Sie sich schon jetzt auf Ihren Auftritt vorbereiten. Ihre Expertise in Finanzangelegenheiten macht die Sache einfacher, denke ich. Wir gehen davon aus, dass Sie absolut und hundertprozentig hinter unserem Unternehmen stehen.“

„Selbstverständlich, sonst wäre ich nicht hier“, sagte Pegrone im Brustton der Überzeugung.

„Perfetto“, erwiderte der andere. „Natürlich haben wir Ihnen noch nicht alles offengelegt, wir mussten erst sicher sein, dass Sie auch wirklich einsteigen. Aber das werden wir jetzt nachholen.“

Nachdem Marco Pegrone auch im Detail erfahren hatte, worum es bei diesem Unternehmen ging, erklärte er sich einverstanden. Er war stolz, zu der Gruppe zu gehören, die all das initiiert hatte. „Es ist mir eine Freude, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“

„Und uns ist es eine Freude, einen ausgezeichneten Finanzfachmann an unserer Seite zu wissen“, erwiderte der Gastgeber. „Und nun trinken Sie einen Chianti mit uns. Wir alle können uns zu diesem freudigen Anlass ein Glas genehmigen, um auf unseren Erfolg anzustoßen.“

„Sehr gerne“, bedankte sich Pegrone.

Kapitel 1

Mainz-Neustadt, September 2011

Nadja Heidler saß mit ihrer besten Freundin Theresa Sorg in ihrem Stammcafé am Kaiser-Wilhelm-Ring. Nadja, eine junge Kommissarin bei der Mordkommission Mainz, hatte einen erfolgreichen Tag gehabt. Im nahegelegenen Harxheim war gestern eine alte Frau brutal überfallen und ermordet worden, bereits heute hatte man den Täter gefasst. Es war der erste Fall, bei dem Nadja Heidler federführend an den Ermittlungen beteiligt war, nachdem sie nun schon fast ein Jahr bei der Mordkommission ihrer Heimatstadt arbeitete. Mit Theresa konnte sie sich darüber nicht unterhalten, Interna durfte sie nicht weitergeben. Lediglich die Tatsache, dass der Mörder gefasst war, erzählte sie. Doch die beiden Frauen hatten ein anderes, intensiveres Gesprächsthema gefunden.

„Erzähl schon“, forderte Theresa sie auf, „wie läuft´s mit David?“

David Rosenthal war Psychoanalytiker beim LKA; laut seinen Kollegen gab es niemanden, der es auf diesem Gebiet mit ihm aufnehmen konnte. Seine Spezialität waren, so hatte er ihr erzählt, religiös motivierte Verbrechen. Nadja hatte ihn vor drei Wochen zufällig kennengelernt, als er sie aus Versehen auf dem Kommissariats-Parkplatz zugeparkt hatte. Normalerweise ging sie zu Fuß zur Arbeit, doch hatte sie zuvor bei einer Freundin in Bingen übernachtet und war von dort direkt zur Arbeit gefahren. Sie und Rosenthal waren sich auf Anhieb sympathisch und trafen sich schon zweimal in der Kantine zum Essen. Er war vier Jahre älter als Nadja, die in einer Woche 28 würde.

„Das wird was Ernstes“, sagte sie aufgeregt und fuhr sich mit den Fingern durch ihr dunkelblondes Haar. „Er hat mich für Samstag zu sich eingeladen, ich freue mich schon so darauf!“

„Wow, das ist ja toll, Süße! Und, was habt ihr beiden vor?“, fragte Theresa neugierig.

„Das, Liebes, bleibt vorerst unser Geheimnis“, zwinkerte Nadja. Die beiden Freundinnen kicherten und bestellten zur Feier des Abends zwei Prosecco.

„Cheers, meine Süße.“

„Cheers, auf die Traumhochzeit!“

„Theresa! Du bist mir ja eine!“

„Ich weiß. Ich hab dich auch lieb“, erwiderte diese grinsend und nippte an ihrem Glas.

„Warst du eigentlich schon mal mit ihm hier?“

„Nein, wir waren einmal in der City, was essen, bei ‘nem Inder“, schwärmte Nadja. „Letzte Woche nach Feierabend. David hat mich von der Arbeit abgeholt und mich sogar eingeladen. Wir haben uns über alles Mögliche unterhalten, nur nicht über die Arbeit. Ach, und dann hat er mich für Samstag zu sich eingeladen, wie gesagt.“

„Schöön. Wo wohnt er denn?“

„In Ebersheim. Ist ein bisschen weit ab vom Schuss, aber na ja, was soll´s. Hauptsache, es wird ein schöner Abend.“

Eine Stunde später ging Nadja Heidler nach Hause, sie hatte es nicht weit. Durch die Kombination aus Latte Macchiato und Prosecco leicht beschwipst, ging sie Richtung Lessingstraße, in der sie wohnte. Es war eine hübsche Gegend, mit vielen kleinen Geschäften in Laufweite. Die Lage war für sie auch beruflich gesehen ideal – nur zehn Minuten Fußweg bis zum Polizeipräsidium und dem nebenanliegenden LKA. Und zu David, dachte sie verträumt. David Rosenthal war seit eineinhalb Jahren der erste Mann, in dessen Nähe sie ein Kribbeln im Bauch spürte. Ihr letzter Freund war berufsbedingt nach Dortmund gezogen und hatte die Beziehung von heute auf morgen beendet. Das würde ihr mit David Rosenthal – sollte es sich tatsächlich zu einer festen Beziehung entwickeln – hoffentlich nicht passieren. Warten wir einfach ab, was kommt, nahm sie sich vor. Obwohl sie sich ihm schon ziemlich nahe fühlte, wollte sie die Sache ruhig angehen. „Nichts überstürzen“ war ihr Motto.

In ihrer Wohnung angekommen, suchte sie ein altes, löchriges T-Shirt und die bequeme Jogginghose heraus. Sie wollte bald ins Bett gehen, der Alltag als Polizistin schlauchte schon arg.

Mainz-Laubenheim

Am darauffolgenden Morgen machte sich der Sparkassenangestellte Christian Bergmann wie immer bereit für die Arbeit. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, doch Bergmann war gern früh im Büro. So konnte er sich ungestört Kaffee aufsetzen, den PC hochfahren und sich einen Überblick über seine täglichen Termine verschaffen. Er verließ die Wohnung und ging zu seinem Auto, das er am Marktplatz, unweit der Bahnstation Laubenheim, geparkt hatte. Ein großgewachsener Mann kam ihm vor dem Brunnen entgegen, Bergmann grüßte, obwohl er den Mann noch nie gesehen hatte. Eine dörfliche Eigenart, die hier, obwohl Laubenheim seit über 40 Jahren Mainzer Stadtteil war, noch immer vereinzelt anzutreffen ist. Im nächsten Moment spürte Christian Bergmann einen stechenden Schmerz im Rücken und ging zu Boden.

Gut 90 Minuten später erreichte Nadja Heidler den Marktplatz von Laubenheim, einem der südlicheren Mainzer Bezirke. Sie hatte einen angenehmen, traumlosen Schlaf gehabt, doch der Anruf ihres Vorgesetzten um halb sieben hatte sie jäh in die Realität des Alltags zurückgeholt. Das Gelände rund um den kleinen, alten Brunnen war schon weiträumig abgesperrt. Von Weitem sah sie sowohl die Mitarbeiter der Spurensicherung als auch ihren Chef Robert Krämer. Sie war überrascht, dass er selbst am Tatort war. Normalerweise koordinierte er von seinem Büro aus die übergreifenden Tätigkeiten. Offensichtlich kein gewöhnlicher Mord, kam ihr in den Sinn.

„Guten Morgen, Frau Heidler“, begrüßte er sie. Seit mittlerweile neun Jahren leitete Krämer das K 11. Von seinem Haar war nur ein spärlicher grauer Rest am Hinterkopf geblieben. „Ich warne Sie vor, es ist ein schauriger Anblick“, fügte er hinzu, als sie sich dem Brunnen näherte. Als Nadja Heidler den Mann sah, der am Brunnen lag, stieß sie einen spitzen Schrei aus. Der Tote lag mit zur Seite ausgestreckten Armen vor ihr. Zwischen seinen Beinen klaffte eine Wunde, sie ahnte, was das bedeutete. Und in seinem Mund steckte etwas …

„Bitte, das … Das ist nicht, was ich denke, oder?“, brachte die junge Kommissarin zitternd hervor.

„Ich fürchte schon, Nadja“, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und sah Felix Brecht auf sich zukommen, ihren Partner bei der Mordkommission. Brecht, 40 Jahre alt, war ein Kommissar mit einer unglaublichen Auffassungsgabe und einer ebensolchen Intuition. Er stammte ursprünglich aus der Pfalz und war bei der Kripo in Ludwigshafen tätig, bevor er vor mehr als zehn Jahren der Liebe wegen nach Mainz gezogen war. Felix Brecht war berüchtigt für seine spitze Zunge. Doch der Anblick, der sich ihm bot, verschlug auch ihm die Sprache.

„Er wurde entmannt, und wo das gute Stück jetzt ist, siehst du ja. Nur, warum hat er da …“ Plötzlich zuckte er zusammen. Nadja folgte seinem Blick und stolperte entsetzt einen Schritt zurück, als sie das viele Blut erblickte, das auf dem Brunnen verschmiert war und in dem ein besudeltes Blatt Papier klebte mit einem Schriftzug:

Der Lohn der Sünde ist der Tod

„Ein Ritualmord“, legte sich Brecht bei diesem Anblick fest, „das sieht mir nach Bibel aus. Offensichtlich mit dem Blut des Opfers hingeschmiert. Chef, was meinen Sie dazu? Und wer ist der Tote?“, wandte er sich an Krämer.

„Sie haben recht“, bestätigte Krämer. Trotz des furchterregenden Bildes, das sich ihnen bot, blieb er ruhig. „Ich kann mich erinnern, dass ich es vor langer Zeit mit einem ähnlichen Fall zu tun hatte. Nur welcher, das will mir gerade nicht einfallen. Der Tote, mit dem wir es hier zu tun haben, heißt Christian Bergmann. Er ist 51 und wohnt hier in der Hans-Zöller-Straße.“

„Das fällt Ihnen bestimmt noch ein. Ist Dr. Klein schon unterwegs?“

Manfred Klein war der Gerichtsmediziner, der die Leiche eingehend untersuchen würde, um die Todesursache und andere Indizien festzustellen, die die Mordkommission dem Täter näherbringen könnten.

„Selbstverständlich. Er müsste jeden Moment eintreffen. Kümmern Sie sich unterdessen um die Zeugen, ich bleibe hier mit Dr. Klein.“

„Okay. Wer hat ihn gefunden?“, wollte Nadja wissen.

„Offenbar ein guter Freund, er steht direkt am Absperrband.“ Krämer deutete auf einen Mann um die 50, der mit gesenktem Kopf an der beschriebenen Stelle stand. Nadja Heidler und Felix Brecht gingen zu dem Mann, Heinz Szajan, und stellten sich vor.

„Fangen Sie an“, kam es missmutig zurück.

„Herr Szajan, uns wurde gesagt, Sie waren mit dem Toten befreundet. Ist das richtig?“, begann Brecht behutsam.

„Christian war mein bester Freund, und das seit vielen Jahren“, erwiderte Szajan leise.

„Dann möchten wir Ihnen unser Beileid aussprechen. Wann haben Sie ihn gefunden?“

„Danke. Also, ich wohne auch hier in der Hans-Zöller-Straße. Ich wollte um sieben zu meinem Auto und dann …“ Szajan konnte nicht weitersprechen, schüttelte langsam den Kopf. Nadja legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter.

„Schon okay, Herr Szajan. Lassen Sie sich Zeit.“

„Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen“, sprach Szajan schließlich weiter. „Wie Christian da gelegen hat und … Warum? Warum hat man ihm das angetan?“

„Wir hoffen, dass Sie uns da weiterhelfen können. Was war Christian Bergmann für ein Mensch?“

„Sie sollten wissen, dass er schwul ist. Mir ist das egal, aber leider dachte nicht jeder so, der ihn kannte.“

Nadja war plötzlich hellwach. Sie zückte ihr Smartphone, um sich dort Notizen zu machen. „Kennen Sie jemanden, der etwas dagegen hatte?“

„Klar. Simon Radtke, er ist unser Gemeindepfarrer“, sagte Szajan verbittert.

Die Kommissarin tippte den Namen ein. „Und trauen Sie ihm einen Mord zu?“

„Nur weil er was gegen Schwule hatte? Nein, dann müsste die Welt voller Massenmörder sein. Er hat zwar in seinen Predigten immer wieder Andeutungen gemacht, aber das war´s auch schon.“

„Was für Andeutungen?“

„Zum Beispiel, dass wir immer bemüht sein sollen, eine neue Generation auf den Weg zu bringen, um die Menschheit zu erhalten. Da Christian mit Männern bekanntlich keine Kinder zeugen kann, ist klar, worauf Radtke abgezielt hat, oder?“

„Okay, das ist klar. Sind Sie beziehungsweise Herr Bergmann oft zu den Gottesdiensten gegangen?“

Szajan schüttelte den Kopf. „Ich zwei- bis dreimal im Monat, aber Christian seit einem halben Jahr nicht mehr. Seit Radtke ihn auf dem Kieker hatte. Und außerhalb der Kirche haben wir ihn so gut wie nie gesehen.“

„Das verstehe ich, ich würde auch nicht mehr hingehen wollen, wenn er mein zuständiger Pfarrer wäre. Seit wann ist er denn in Laubenheim?“

Szajan überlegte. „Radtke ist vor zwei Jahren hergekommen. Er ist hierher versetzt worden, warum und woher, weiß ich aber nicht.“

„Okay, das ist kein Problem, das kriegen wir raus. Wie hat Pfarrer Radtke eigentlich erfahren, dass Herr Bergmann homosexuell war?“

„Christian hat es ihm Anfang des Jahres anvertraut, wie auch seinem Vorgänger damals, Pfarrer Tullium.“

Nadja notierte sich auch das. „Und Pfarrer Tullium? Hat der Christian Bergmann jemals auf dem Kieker gehabt?“

„Nein, nie. Falls Sie den befragen wollen, das geht leider nicht mehr. Er ist an Leukämie gestorben, deswegen musste ein neuer Pfarrer nach Laubenheim bestellt werden.“

„Wir werden Pfarrer Radtke befragen. Wissen Sie, wo das Pfarrhaus ist?“

„Die Straße rauf und um die Kurve, da sehen Sie schon die Kirche. Das Pfarrhaus liegt gleich daneben.“

„Okay, danke. Gibt es noch jemanden, den Sie verdächtigen würden? Vielleicht aus ganz anderen Gründen?“

„Hm.“ Szajan runzelte die Stirn. „Seine letzte Beziehung ist ziemlich in die Hose gegangen, aber das liegt schon vier Monate zurück.“

„Wir würden´s trotzdem gerne wissen. Wer war der Mann, mit dem Herr Bergmann zusammen war?“

„Matthias Kess. Er ist etwa fünfzehn Jahre jünger als Christian, arbeitslos, aber hat trotzdem ordentlich Geld. Na ja, der sucht sich auch immer die Richtigen aus. Christian hätte ihm einfach mal so 5.000 Euro überweisen sollen, deswegen ging das Ganze auch in die Brüche.“

„Sie meinen also, dieser Matthias Kess hat Männer nach Geld abgecheckt, auch Herrn Bergmann. Glauben Sie, er wurde deswegen ermordet? Aus Rache, weil er das Geld nicht rausrücken wollte?“

„Ich weiß es doch auch nicht. Überprüfen Sie doch mal sein Bankkonto.“

„Nicht nötig, ich frag kurz, ob die Bankkarte noch bei ihm liegt“, bot Brecht an und ging zum Tatort zurück.

„Jedenfalls, lassen Sie sich auf keinen Fall täuschen. Der wird Ihnen den trauernden Exfreund vorspielen, aber geliebt hat er Christian nie.“

„Danke für die Vorwarnung“, gab Nadja ruhig zurück. Auch wenn sie Heinz Szajan intuitiv glaubte, was er über Matthias Kess erzählte, wollte sie ihn doch unvoreingenommen befragen. Sie ließ sich die Adresse geben, Kess wohnte im Nachbarstadtteil Weisenau.

Brecht kam zurück und schüttelte den Kopf. „Die Karte war noch da, und ohne kann keiner das Konto leerräumen, selbst wenn er die PIN hat.“

„Danke, Felix.“ Trotzdem würden sie Kess befragen, sie mussten in alle Richtungen ermitteln. „Herr Szajan, kommen wir zurück zu Christian Bergmann. Ist Ihnen etwas an ihm aufgefallen? Wirkte er nervös oder gar ängstlich in letzter Zeit?“

„Nein, es war alles wie immer. Ich hätte es gemerkt, ich kannte ihn fast 25 Jahre.“

„Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?“, schaltete sich Brecht ein.

„Warum wollen Sie das wissen? Was hat das mit dem …?“ Szajan atmete zitternd, es fiel ihm immer noch schwer, das Geschehene zu realisieren. „Wir haben uns in ‘ner Bar kennengelernt. Chris hatte mit mir geflirtet, aber ich wollte nicht, Sie müssen wissen, ich steh auf Frauen. Na ja, trotzdem haben wir uns angefreundet, er hat meine Abfuhr auch schnell akzeptiert.“

„War Herr Bergmann im Allgemeinen kontaktfreudig?“, hakte Brecht nach.

„Bis vor zehn Jahren schon, aber mittlerweile nicht mehr. In unserem Alter braucht man nicht mehr viele neue Kontakte, Qualität zählt da eher“, sagte Szajan mit dem Anflug eines Lächelns.

Brecht wechselte einen Blick mit Nadja Heidler. „Also gut, danke für die Informationen, das waren vorerst alle Fragen. Wo können wir Sie erreichen, falls wir Sie noch einmal bemühen müssen?“

„Ich arbeite beim ZDF, in der Personalabteilung. Die Woche werde ich mir allerdings freinehmen, der Schock war zu viel.“

„Absolut verständlich. Würden Sie uns noch Ihre Handynummer geben?“

Szajan diktierte die Nummer, Nadja Heidler speicherte sie ein. „Danke. Und alles Gute.“

„Gut wird so schnell nichts. Aber ich komm soweit klar, keine Sorge.“

Die beiden Kommissare gingen zurück zum Tatort. Dr. Manfred Klein hatte seine erste Untersuchung beendet. „Drei Einstiche, einer im Rücken, zwei ins Herz, und die waren tödlich“, erklärte er. „Der Stich in den Rücken wurde wohl zuerst ausgeführt, er ist nicht tief und außerdem ungenau gezielt. Wie´s aussieht, hat der Mörder Bergmann von hinten überfallen und wollte ihn mit dem ersten Stich außer Gefecht setzen, um ihm dann den Garaus zu machen. Die Entmannung wurde vermutlich nach dem Tod durchgeführt, die Wunde hat nicht allzu stark geblutet, wie es üblicherweise sein müsste.“

„Wie lange ist er schon tot?“, wollte Brecht wissen.

„Der Körper ist noch warm, also höchstens zwei oder drei Stunden. Bergmann wurde ziemlich schnell gefunden, nun ja, das wundert mich aber nicht. So eine Leiche findet man eben nicht jeden Tag auf einem öffentlichen Platz“, sagte Klein mit dem für ihn typischen Galgenhumor.

„Vielleicht hilft uns das ja, den Täter schnell zu fassen“, gab sich Brecht optimistisch. Die Kommissare Johannes Reiter und Inga Achenbach, beide ein paar Jahre jünger als Brecht, hatten ihre Befragung der Umstehenden beendet und kamen jetzt ebenfalls an den Tatort.

„Gude Morsche“, grüßte Reiter ihn und Nadja. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit dunkelblondem Haar und Dreitagebart. „Schöne Bescherung. So was hab ich in mei‘m ganze Lebe noch net gesehe. Habt ihr schon was rausgefunne?“

„Wir haben Bergmanns besten Freund, Heinz Szajan, befragt. Er hat uns gleich zwei Männer genannt, die ein Problem mit Bergmann hatten, den Gemeindepfarrer hier vor Ort und seinen Exfreund. Die wollen wir uns noch vorknöpfen.“

„Hä, was meinst du mit Exfreund? Ich steh da grad uff de Leitung.“ Reiter runzelte die Stirn. Brecht verdrehte die Augen angesichts der Begriffsstutzigkeit seines Kollegen.

„Johannes, der gute Mann war schwul“, seufzte er. „Soll im 21. Jahrhundert durchaus vorkommen.“

Reiter guckte verlegen drein. „Oh, klar. Ich bin auch ein Dollbohrer manchmal.“

„Na, wenigstens einer von der ehrlichen Sorte“, murmelte Brecht hörbar, worauf Nadja und Reiter lachen mussten. Schnell wurde Brecht wieder ernst: „Was haben eure Befragungen ergeben?“

„Net viel. Eine Frau hat ‘nen Mann gesehen, der längere Zeit am Brunnen gestanne hat, aber das war‘s auch schon. Es war noch dunkel, deshalb hat sie ihn net gut beschreibe könne. Der Mann war wohl so groß wie du und hatte deine Figur“, erklärte Reiter, auf Felix Brecht deutend.

„Na toll, davon laufen in Mainz Hunderte herum!“, schimpfte Brecht, gut einen Meter neunzig groß und athletisch gebaut.

„Chef, wie gehe mer jetzt weiter vor?“

„Ich schlage vor, Sie und Frau Heidler befragen den Gemeindepfarrer, am besten jetzt gleich. Sollte er etwas mit dem Mord zu tun haben, hat er kaum Zeit, sich eine Geschichte zurechtzulegen. Herr Reiter, nehmen Sie Frau Achenbach mit nach Weisenau, um Herrn Kess zu befragen, auch jetzt gleich. Je eher wir Antworten haben, desto schneller haben wir auch den Mörder.“

Nadja Heidler ging mit Brecht die Straße bergauf, wo sich die Kirche befand. Ihnen bot sich ein fantastisches Panorama, sie sahen über die nahegelegene Zementfabrik und den Rhein bis hinüber nach Wiesbaden. Kurz darauf entdeckten sie das Pfarrhaus, das, wie von Szajan beschrieben, direkt neben der Kirche Mariä Heimsuchung lag. Entschlossen klingelte Brecht. Die Tür wurde von einem Mann in schwarzer Soutane geöffnet, offenbar Pfarrer Simon Radtke. Er war etwa so alt wie Brecht, hatte im Gegensatz zu diesem aber einen strengen Gesichtsausdruck und eine verkniffene Mundpartie. Brecht und auch Nadja waren sich sofort sicher, dass die Erzählungen Szajans stimmten.

„Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen? Ich sehe viel Polizei hier unten“, sagte Pfarrer Radtke, indem er Richtung Marktplatz hinunter deutete.

„Deshalb sind wir hier, Herr Pfarrer. Felix Brecht, Kripo Mainz; das ist meine Kollegin Frau Heidler.“

„In Ordnung. Kommen Sie herein und setzen Sie sich.“

Die Kommissare folgten Radtke in dessen Büro und nahmen Platz. „Wir sind hier, weil unten ein Mord geschehen ist“, begann Brecht. „Der Tote ist Christian Bergmann, uns wurde gesagt, Sie kennen ihn.“

Radtke rümpfte plötzlich abfällig die Nase. „Ja. Ich musste ihn in unserer Gemeinde ertragen. Verzeihen Sie, dass ich so rede, aber er war kein guter Christ. Ein hoffnungsloser Fall.“

„Inwieweit hoffnungslos?“, bohrte Brecht nach.

„Er hat es mit Männern getrieben. Eine Sünde gegen göttliches Recht! Und seine … Liebhaber hat er teilweise mit zu meinen Gottesdiensten gebracht, auf jeden Fall seinen letzten.“

„Wer war dieser letzte Mann?“

„Weiß ich nicht, der war nur einmal hier. Jedenfalls war er jung, kaum älter als Sie, Frau Heidler. Das ist auch alles, was ich über ihn weiß.“

„Okay, das macht nichts“, übernahm Nadja Heidler. „Haben Sie Christian Bergmann deutlich gemacht, was sie von ihm hielten?“

„Natürlich, so handhabe ich das mit allen Gemeindemitgliedern. Pfarrer Tullium, mein Vorgänger, war leider zu nachsichtig, das muss ich leider sagen. Er hat Herrn Bergmanns Lebenswandel nie verurteilt, soweit ich weiß. Warum? Das weiß nur Gott.“

„Und in Ihren Predigten? Haben Sie seinen Lebenswandel, wie Sie es nennen, auch zum Thema gemacht?“

„Ja, aber natürlich ohne ihn zu nennen. Sagen Sie, warum interessiert Sie das? Stehe ich unter Verdacht?“

„Nein, wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen“, erklärte Brecht an Nadjas Stelle. „Trotzdem, Sie sind im Moment unser einziger Anhaltspunkt.“

„Anhaltspunkt“, höhnte Pfarrer Radtke. „Sie haben sich doch schon auf mich festgelegt, als Sie hier geklingelt haben. Warum sind Sie nicht einfach ehrlich?“

„Weil wir, auch wenn Sie offenbar das Gegenteil glauben, keinen Sündenbock suchen. Dennoch, Herr Pfarrer, wo waren Sie heute Morgen zwischen fünf und sechs Uhr?“

„Das soll doch wohl ein Witz sein! Ich war in der Kirche und habe gemeinsam mit dem Küster, Herrn Gärtner, das Morgengebet gesprochen. Fragen Sie ihn ruhig, er ist gerade in der Kirche.“

„Das werden wir tun. Nun, sagt Ihnen der Satz ‚Der Lohn der Sünde ist der Tod‘ etwas?“

„Ein Zitat aus dem Römerbrief. Kapitel 6, Vers 23: ‚Denn der Sünde Sold ist Tod, Gottes Gnade aber ist ewiges Leben in Jesus Christus, unserem Herrn‘“, rezitierte Radtke selbstsicher. „Da ich das Zitat kenne, bin ich jetzt noch verdächtiger, nicht wahr?“

„Das haben Sie gesagt, Herr Pfarrer. Dieses Zitat wurde jedenfalls an den Tatort geschrieben. Kennen Sie denn jemanden aus Ihrer Gemeinde, der sich mit Bibelzitaten eingehend befasst?“

„Nein. Und wenn es so wäre? Das macht noch niemanden verdächtig, obwohl in den Augen Ihrer Staatspolizei jeder Katholik ein gefährlicher Terrorist ist.“

„Bei allem Respekt, aber das lasse ich mir nicht gefallen“, entgegnete Brecht. „Wir ermitteln unvoreingenommen, aber das Zitat deutet nun einmal auf einen religiösen Hintergrund hin.“

„Unvoreingenommen! Wissen Sie, Männer wie Christian Bergmann, die gegen göttliche Gebote verstoßen, werden von der Gesellschaft geliebt, und wir Christen, die wir die Welt zu einem besseren Ort machen wollen, werden ausgestoßen! Nennen Sie das gerecht?“

„Es steht Ihnen jederzeit frei, dieses Land zu verlassen. Also, seit wann kannten Sie Christian Bergmann?“

„Genau, alle Christen abschieben!“, echauffierte sich Pfarrer Radtke. „Aber schön, um auf Ihre Frage zurückzukommen, seit 2009, als ich in diese Gemeinde kam. Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch so dreist ist, seine Sünden auch noch stolz in die Kirche zu tragen.“

„Ich denke, Gott liebt alle Menschen“, kam es von Brecht zurück. „Sind Sie nicht dieser Ansicht? Finden Sie, es sollte mit dem Schwert über die Sünder gerichtet werden, Herr Pfarrer?“

„Jetzt seien Sie endlich ruhig, in Gottes Namen!“, brüllte Radtke und sprang auf. Er rannte aus dem Büro und ließ verwirrte Kommissare zurück.

Die beiden beeilten sich, aus dem ungastlichen Pfarrhaus ins Freie zu kommen. Nadja entdeckte Simon Radtke als Erste, er rannte gerade in eine Nebenstraße. „Hinterher“, entschied Brecht sofort. „Du folgst ihm, ich versuche, ihn in der Hans-Zöller-Straße abzufangen.“

Nadja rannte los und bog in die Straße Im Dorfgraben ein. 100 Meter vor ihr lief Pfarrer Radtke. Erschöpft blieb Radtke stehen. Was war bloß in ihn gefahren, dass er sich derart gehen ließ? Noch ehe er Gott um Vergebung bitten konnte, hörte er die Schritte hinter sich. Er konnte den Kommissaren noch nicht gegenübertreten, daher rannte er weiter. Die Straße beschrieb eine Linkskurve, der er folgte. Schneller, immer schneller. Vor ihm lag die Hans-Zöller-Straße, von dort war es nicht weit bis zum Laubenheimer Park, wo er sich sammeln konnte. Als Pfarrer Radtke in die Hans-Zöller-Straße einbog, prallte er beinahe mit Felix Brecht zusammen.

„Ich hab ihn!“, rief er Nadja zu, die sich von der anderen Seite näherte. Und an Radtke gewandt, den er in den festen Polizeigriff genommen hatte: „Sie kommen mit uns aufs Präsidium. Ihre Aktion wirft eine Menge Fragen auf.“

„Also gut“, murrte der Pfarrer und ließ sich von den beiden Mordermittlern widerstandslos zu einem der Streifenwagen führen, wo man ihn den Kollegen übergab.

„Okay, haben wir hier noch was zu tun?“, fragte Nadja, als Simon Radtke sicher im Polizeiwagen verstaut war.

„Vorerst nicht“, erwiderte Brecht. „Auf ins Präsidium!“

Kapitel 2

Mainz, Polizeipräsidium

Bevor die Vernehmung von Pfarrer Radtke begann, hatte Krämer Oberstaatsanwalt Dr. Simon Schnitzer von der Festnahme informiert. Der Staatsanwalt wollte bei der Vernehmung zugegen sein, sodass die Kommissare warteten. Johannes Reiter und Inga Achenbach hatten Matthias Kess nicht antreffen können, sodass sie es abends noch einmal versuchen würden.

Um neun Uhr traf Schnitzer ein, der von zu Hause aus kam. Kaum eingetroffen, kam er auch schon auf die Vernehmung zu sprechen. Nadja Heidler wusste, dass er ein fordernder Mann war, doch Schnitzer arbeitete selbst noch härter.

„Das ging ja schnell“, kommentierte er. „Wie sind Sie dazu gekommen, Pfarrer Radtke zu verdächtigen?“ Eindringlich sah er in die Runde.

„Er wurde ziemlich nervös und wütend, als wir auf das mutmaßliche Motiv zu sprechen kamen“, erläuterte Brecht. „Zu guter Letzt versuchte er zu flüchten, unvermittelt nachdem wir ihm ein wenig auf den Zahn gefühlt hatten.“

„Sein Alibi?“

„Er sagt, er wäre mit seinem Küster beim Morgengebet in der Kirche gewesen, das hat dieser auch bestätigt.“ Brecht hatte Gärtner nach der Verhaftung noch aufgesucht. „Die Kirche liegt aber nur fünf Minuten fußläufig vom Tatort, es wäre also ein Leichtes für Pfarrer Radtke gewesen, zwischenzeitlich Christian Bergmann zu ermorden.“

„Leuchtet ein“, resümierte Schnitzer. „Nehmen Sie ihn ins Verhör, ich entscheide erst dann, ob er in Untersuchungshaft kommt. Um eines vorwegzunehmen, ich glaube trotz allem nicht, dass Sie ihn hierbehalten können. Abgesehen von seinem dünnen Alibi und dem impulsiven Fluchtversuch, haben Sie keine Indizien, um ihn festzunageln; keine Zeugen, die den Täter eindeutig beschreiben konnten. Wie sieht es mit der Spurenlage aus?“

„Keine Fingerabdrücke, keine Haare, nichts Verwertbares.“

„Tut mir leid, wenn sich Pfarrer Radtke nicht gleich in absolute Widersprüche verstrickt, müssen wir ihn gehen lassen. Legen wir los, wir dürfen keine Zeit verlieren.“

Angeführt von Nadja Heidler und Felix Brecht, die die Vernehmung durchführten, gingen sie zielstrebig zum Vernehmungszimmer. Simon Radtke saß in angespannter Haltung da. Brecht begann das Verhör.

„Vernehmung von Pfarrer Simon Radtke, 42 Jahre alt, zum Mord an Christian Bergmann am heutigen Dienstag, dem 6. September 2011. Die Vernehmung führen Hauptkommissar Felix Brecht und Kommissarin Nadja Heidler“, sprach er ins Diktiergerät. Erst dann wandte er sich an Radtke: „Herr Pfarrer, uns wurde bestätigt, dass Sie heute Morgen um halb sechs gemeinsam mit dem Küster Horst Gärtner das Morgengebet gesprochen haben. Dennoch, Kirche und Tatort liegen nur wenige Gehminuten auseinander. Was haben Sie nach dem gemeinsamen Gebet getan?“

„Das ist doch ein Unding, was Sie hier mit mir veranstalten! Ich habe mit dem Küster unseren Gottesdienst am Freitag besprochen, das hat er Ihnen sicher auch bestätigt.“

Das hatte Horst Gärtner in der Tat, doch Brecht hatte es von Radtke selbst hören wollen. „Gut, Sie kannten also den Ermordeten, seit Sie 2009 in Mainz-Laubenheim Ihre Arbeit aufgenommen haben. Wie war Ihr Verhältnis zueinander, bevor er Ihnen seine Homosexualität anvertraut hat?“

„Normal, wie zwischen jedem Pfarrer und einem Gemeindemitglied“, sagte Radtke gleichmütig.

„Hatten Sie denn etwas von seiner Neigung geahnt?“

„Nein, woher denn? Der Satan springt einem nicht ins Gesicht.“

Brecht ging nicht darauf ein. „Wie haben Sie reagiert, als Christian Bergmann sich Ihnen anvertraut hat?“

„Ich war sehr enttäuscht von ihm und habe ihm das auch entsprechend gesagt. Unser Gespräch war relativ schnell zu Ende, ich konnte einfach kein Verständnis vorheucheln.“

„Kam es danach zu Reibereien zwischen Ihnen beiden?“

„Nein, nie. Ich habe sein Treiben verurteilt, ohne es öffentlich zu machen. Herr Bergmann ist dann auch kaum noch zu den Gottesdiensten gekommen.“

„Okay, er ist also kaum noch zu den Gottesdiensten gekommen“, übernahm Nadja das Wort. „Haben Sie ihn außerhalb der Gottesdienste gesehen?“

„Das eine oder andere Mal beim Einkaufen, aber wir haben nie ein Wort miteinander gewechselt.“

Das deckte sich mit der Aussage Szajans. In Nadja wuchs die Überzeugung, dass Pfarrer Radtke, obgleich ein engstirniger Mann, unschuldig war.

„Gut, das wurde uns auch von anderer Stelle so bestätigt. Gab es denn in Ihrer Gemeinde Konflikte mit weiteren Mitgliedern?“, hakte sie dennoch nach.

„Was bilden Sie sich ein! Natürlich nicht! Sicher, im Vergleich zu Pfarrer Tullium bin ich manchmal etwas unbequem, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich mich mit meiner kompletten Pfarrgemeinde überworfen habe.“

Nadja warf ihrem Kollegen einen Blick zu, der nickte. Sie würden das Verhör abbrechen, es fortzusetzen, nahm ihnen wertvolle Zeit. Simon Radtke war trotz seines intoleranten Auftretens offensichtlich nicht der Mann, den sie suchten.

„Haben Sie noch weitere Fragen oder war‘s das?“

„Nein, Herr Pfarrer, das Verhör ist beendet“, beantwortete Brecht die Frage. „Was mit jetzt Ihnen geschieht, entscheidet die Staatsanwaltschaft.“ Er schaltete die Aufnahme ab, dann ging er mit Nadja zurück zu den anderen.

„Lassen Sie ihn gehen“, beantwortete Schnitzer sofort die unaus-gesprochene Frage, die im Raum stand. „Es liegt kein belastbares Material gegen ihn vor, das würde mir jeder Untersuchungsrichter sofort abschmettern.“

„In Ordnung, Herr Dr. Schnitzer“, sagte Krämer. Er ging zurück ins Vernehmungszimmer, um Pfarrer Radtke mitzuteilen, dass dieser wieder ein freier Mann war. Der Pfarrer nahm die Neuigkeit mit sichtlicher Erleichterung auf. Er verabschiedete sich kurz angebunden von den Ermittlern, dann war er auch schon verschwunden.

„Und jetzt?“, fragte Brecht in die Runde.

„Setzen wir uns doch in Ihrem Büro zusammen, Herr Krämer“, schlug Schnitzer vor. „Wenn ich schon einmal hier bin, können Sie mir auch direkt ein Gesamtbild vermitteln, was Sie bisher haben – außer dem Pfarrer, versteht sich.“

„In Ordnung. Gehen wir“, stimmte Krämer zu und ging voran in sein Büro.

Kapitel 3

Köln

Um zehn Uhr konnte sich der Mann nicht mehr zurückhalten. Er musste handeln. Er gehörte der Gruppe an, in deren Unternehmen Marco Pegrone Anfang 1994 eingestiegen war. Heute Morgen hatte er erfahren, dass es in Mainz jemanden gab, der ihr Unternehmen ernsthaft gefährden konnte. Auch wenn ihm versichert wurde, dass dies nicht der Fall war und dieser Mann nichts von ihrem Unternehmen wusste, war er dennoch zunehmend beunruhigt. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als zu versuchen, die Situation zu bereinigen. Und zwar so schnell wie möglich. Erst dann würde er sich wieder sicher fühlen. Rasch eilte er zu seiner Wohnung. Dort nahm er ein weißes Hemd, eine rote Krawatte und einen dunkelgrauen Anzug aus dem Schrank. Sein Spiegelbild verriet ihm, wie alt er mittlerweile war. Nicht mehr lange, dann kann ich solche Himmelfahrtskommandos nicht mehr übernehmen, dachte er seufzend. Doch für langes Sinnieren über die Vergänglichkeit des Lebens war keine Zeit. Er musste handeln, jetzt.

Mainz, Polizeipräsidium

Das Team der Mordkommission hatte Dr. Schnitzer auf den aktuellen Stand gebracht. Schnitzer war besonders an Matthias Kess interessiert.

„Sein ehemaliger Lebensgefährte wurde ermordet, woraufhin er nicht mehr anzutreffen ist. Da Sie mir berichtet haben, er sei arbeitslos, kann er schlecht auf der Arbeit gewesen sein“, erläuterte er.

„Das war zumindest im Frühsommer der Fall“, hielt Brecht dagegen. „Heinz Szajan, Bergmanns bester Freund, hat diesen Matthias Kess seitdem aber nicht mehr gesehen und nichts mehr von ihm gehört. Mittlerweile kann er durchaus wieder einen Job gefunden haben.“

„Das leuchtet natürlich ein“, gab Schnitzer zu. „Trotzdem, suchen Sie ihn auf. Auch falls er nicht unser gesuchter Mörder ist, weiß er vielleicht etwas über Christian Bergmann, das Szajan Ihnen nicht erzählt hat. Entschuldigen Sie“, fügte er hinzu, als sein Handy vibrierte. „Ja? Es tut mir leid, ich bin gerade in einer Besprechung … Natürlich, geht in Ordnung … Danke.“ Er schüttelte den Kopf. „Selbst sonntags muss man den Leuten noch Gefallen tun. Es ist doch ein schweres Los manchmal.“

„Das ist für unsereins nichts Neues“, lächelte Krämer. Brecht gab zur Bestätigung ein amüsiertes Schnauben von sich.

„Da haben Sie sicher recht. Hat Dr. Klein eigentlich schon etwas Verwertbares gefunden?“

„Außer dem ungefähren Todeszeitpunkt, den wir schon genannt haben, noch die mutmaßliche Vorgehensweise. Der Täter hat Christian Bergmann offenbar mit einem Stich in den Rücken kampfunfähig gemacht, ehe er ihn mit zwei gezielten Stichen ins Herz tötete“, führte Krämer aus. „Daraufhin folgte die Entmannung und das Beschmieren der Tür mit dem Blut des Opfers, in das der Täter das Papier mit dem Bibelzitat klebte.“

Schnitzers grüne Augen wurden eine Spur größer. „Ein solches Verbrechen ist mir in meiner Laufbahn noch nie untergekommen“, murmelte er.

Nadja fiel plötzlich etwas ein, das Krämer in Laubenheim gesagt hatte. Da dieser das Thema nicht zur Sprache brachte, tat sie es nun. „Wir glauben, dass es einen ähnlichen Fall schon mal gegeben hat, aber wann, wissen wir nicht. Können Sie uns da weiterhelfen?“, wandte sie sich an den Oberstaatsanwalt.

„Nun, da Sie es ansprechen“, sagte er leise. „Natürlich gab es schon einmal einen ähnlichen Fall in Mainz, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen! Es war während meines Referendariates in der Staatsanwaltschaft, im Sommer 1993. Ich war nicht an der Aufarbeitung beteiligt, kann mich aber noch erinnern, dass es bei uns kaum ein anderes Gesprächsthema gab. Ich meine den Fall Daniel Menke. Ein junger Mann, er wäre jetzt etwa so alt wie ich, und er war wie Christian Bergmann homosexuell. Auch damals wurde ein Bibelzitat am Tatort gefunden, aber Details entziehen sich meiner Kenntnis. Fordern Sie doch bitte die Akten von damals an“, schlug er den Kommissaren vor. „Aber erst für den Nachmittag, meiner Meinung nach hat Matthias Kess Vorrang.“

Krämer rief sofort im internen Archiv an. Die Akte zum Fall Daniel Menke war noch vollständig vorhanden, was keinen verwunderte – der Mord war nie aufgeklärt worden. Und da Mord nie verjährte, würde jedes Team in der Mordkommission den Fall neu aufrollen, selbst wenn er bereits ein halbes Jahrhundert zurückliegen würde. Nachmittags, um fünfzehn Uhr, würde ein Kollege das Material aus dem Archiv bringen. „Sie haben´s gehört“, sagte er in die Runde. „Wer fährt zu Matthias Kess?“

Nadja Heidler und Felix Brecht übernahmen diese Aufgabe.

Kapitel 4

Mainz-Weisenau

Nadja und Felix fuhren über die Rheinallee Richtung Weisenau. Der morgendliche Stau an der Theodor-Heuss-Brücke hatte sich wie jeden Tag gelegt, nachdem alle Berufspendler auf der Arbeit waren. Sie erhaschten vom Auto aus einen kurzen Blick auf die Ostseite des Doms und fuhren vorbei an der Malakoff-Passage, anschließend passierten sie die Wormser Straße, der sie bis nach Weisenau folgten.

„Jakob-Anstatt-Straße, oder?“, fragte Nadja ihren Kollegen, der bejahte. Sie bog rechts ab, den Heiligkreuzweg entlang, bis es links in ein beschauliches Wohnviertel ging. Schließlich hatten sie die Jakob-Anstatt-Straße erreicht, parkten vor einem zweistöckigen Wohnhaus und stiegen aus. Es war wärmer als drei Stunden zuvor in Laubenheim, und Nadja war froh, heute Morgen eine luftige Sommerbluse aus dem Schrank gezogen zu haben, ebenso wie Brecht, der sich für ein kurzärmeliges Polo-Shirt entschieden hatte. Nadja fand den Namen Kess am Klingelbrett. „Okay, dann wollen wir mal. Ich glaube zwar nicht, dass er wieder da ist, aber vielleicht haben wir ja Glück.“ Da sollte sie sich täuschen.

„Versuchen wir´s mal bei den Nachbarn“, schlug Brecht vor und klingelte bei einer Person namens G. Steinmüller.

„Ja, bitte?“, ertönte eine Frauenstimme aus der Sprechanlage.

„Kripo Mainz, wir möchten Ihren Nachbarn Herrn Kess sprechen. Wissen Sie, ob er zu Hause ist?“

„Den hab ich noch net gesehe heit“, sagte die Frau in breitem Mainzer Dialekt. „Aber komme Sie doch rein, da ist eh was Komisches passiert gestern.“

„Wie meinen Sie das?“, hakte Nadja hellhörig nach.

„Erzähl ich Ihnen drinne. Ich mach uff, Erdgeschoss.“

Nadja nahm einen Geruch im Hausflur wahr, den sie nicht einordnen konnte.

Dazu blieb auch keine Zeit. Eine ältere Frau mit graubraunen Locken erwartete sie. Misstrauisch sah sie die Kommissare durch ihre Brille an. Die verstanden sofort und zückten ihre Dienstausweise.

„Dann komme Se mal rein und nehme Se Platz“, bat Frau Steinmüller und ging in die Wohnung voran. Die Ermittler folgten ihr durch den engen Flur. Das Wohnzimmer war gemütlich eingerichtet. Um einen massiven hölzernen Esstisch standen zwei flauschige Sessel sowie ein Sofa, auf dem Nadja Heidler und Felix Brecht nun Platz nahmen.

„Also“, begann Brecht, „was möchten Sie uns erzählen?“

„Gestern Abend, so gege elf, hab ich oben bei dem Kess ein lautes Krache gehört und bin wach geworde. Wisse Se, ich bin seit drei Jahre uff Rente und oft daheim, und der Kess is ein sehr ruhiger Nachbar. So was hab ich noch nie bei ihm gehört“, erzählte die alte Dame mit ängstlichem Unterton in der Stimme. „Meine Se, dass mer da mal nachgucke soll? Net, dass der seitdem bewusstlos in de Wohnung rumliegt.“

„Wenn wir die Tür aufbrechen wollen, brauchen wir eine richterliche Anordnung, es sei denn, es ist Gefahr im Verzug“, erklärte Brecht. Nadja fiel plötzlich etwas ein – der Geruch, den sie vor wenigen Minuten im Hausflur wahrgenommen hatte. Sie hatte eine schlimme Ahnung, was das bedeuten könnte. Bitte, lass mich falsch liegen, dachte sie alarmiert. „Felix, kommst du bitte mal kurz mit in den Flur?“, fragte sie und stand auf.

„Was habe Se denn?“, wollte Frau Steinmüller besorgt wissen. Ihre Unruhe steigerte sich angesichts des Verhaltens der beiden Kommissare.

„Gleich. Ich muss mich kurz mit meinem Kollegen besprechen.“ Sie ging mit Brecht hinaus, sah ihm in die Augen. „Wir müssen Krämer anrufen, glaube ich“, flüsterte sie. „Hast du gemerkt, wie´s im Hausflur gerochen hat?“

„Jetzt, da du es sagst … Verwesungsgeruch, wenn ich mich nicht täusche. Das kann nur bedeuten, dass da jemand tot in der Wohnung liegt. So ein Mist, zwei Leichen an einem Morgen! Ich ruf Krämer an.“ Entschlossen griff er zum Handy und wählte die Büronummer des Kommissariatsleiters. „Wir dürfen rein“, sagte Brecht nach erfolgreichem Telefonat. „Wir sagen Frau Steinmüller noch nichts, nur, dass wir nachschauen, ob es ihm gutgeht.“

„Okay.“ Nadja ging zu der alten Dame und erklärte ihr den Sachverhalt. Frau Steinmüllers Unruhe mischte sich mit erwachender Neugier, sie wollte wissen, ob Matthias Kess etwas zugestoßen sei.

„Das wissen wir erst, wenn wir die Wohnung gecheckt haben“, erwiderte Nadja. „Entschuldigen Sie mich bitte.“ Sie folgte Brecht, der schon im ersten Stock angelangt war.

„Also gut, legen wir los“, machte er ihnen beiden Mut. Er nahm Anlauf und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. Zweimal musste er diesen Vorgang wiederholen, ehe die Wohnungstür aufflog. Ein beißender Gestank schlug ihnen entgegen. Die beiden mussten nicht lange nach der Erklärung suchen. Vor ihnen im Flur lag ein toter Mann, etwa 30 bis 35 Jahre alt. Offensichtlich Matthias Kess.

„Nadja, mir gefällt das gar nicht, aber wir haben es mit einer Serie zu tun“, flüsterte Brecht düster und deutete auf den Türrahmen.

Der Lohn der Sünde ist der Tod

„Das ist derselbe Killer“, stimmte Nadja geschockt zu. Sie konnte den Blick nicht von dem blutigen Mahnmal abwenden, das über ihren Köpfen prangte und an den Lebensstil des Toten erinnerte, der in den Augen des Mörders bestraft werden musste. „Ich glaube, Krämer muss die ganze Truppe herschicken, Johannes und Inga sollen auch kommen.“

„Geht klar, Nadja.“

„Okay, ich danke dir. Bleibst du hier oder soll ich warten?“

„Was hast du vor?“, wollte Brecht wissen.

„Ich gehe wieder rüber zu Frau Steinmüller und überbringe ihr die Nachricht.

Vielleicht kann sie uns auch etwas über Matthias Kess sagen. Aber vorher schauen wir uns noch kurz um.“

Sie gingen mit vorsichtigen Schritten um den Toten herum und betraten das Wohnzimmer. In der Mitte des Raumes stand ein großer Glastisch und zwei Stühlen. Das Wohnzimmer wirkte insgesamt aufgeräumt und ordentlich. Nichts deutete für Nadja darauf hin, dass hier etwas verändert worden war.

„Er hat keine Zeit verschwendet“, kommentierte Brecht, der ähnliche Gedanken hatte. „Der Mörder hat nicht gewartet, bis sie im Wohnzimmer waren, sondern ist direkt im Flur auf Kess losgegangen.“

„Sehe ich auch so. Scheint so, als hätte der Mörder es eilig gehabt, weil er schnell heim musste, um sich für die Arbeit frisch zu machen.“

„Oder um den zweiten Mord zu begehen. Wir haben Matthias Kess als Zweiten gefunden, aber das sagt uns noch lange nicht, dass er auch das zweite Opfer war. Nach dem Geruch zu urteilen, tendiere ich sogar zu der Annahme, dass er das erste Opfer ist.“

In diesem Punkt musste Nadja ihrem Kollegen Recht geben. „Dr. Klein wird uns das bestimmt gleich sagen. Okay, hier gibt´s nix mehr für uns zu machen. Ich gehe wieder runter zu Frau Steinmüller. Bis gleich.“

Nadja ging ins Erdgeschoss und betrat die Wohnung von Frau Steinmüller. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Die junge Kommissarin durchquerte den Flur ins Wohnzimmer, wo Frau Steinmüller erwartungsvoll aufgeregt auf der Kante des Sessels saß.

„Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Herr Kess ist tot.“

Frau Steinmüllers Gesicht wurde aschfahl. „Des … Des kann doch net sein, oder?“

„Leider kann ich Ihnen keine bessere Nachricht bringen. Er wurde Opfer eines Gewaltverbrechens, warum, wissen wir nicht. Was können Sie uns über Matthias Kess sagen?“, fragte Nadja behutsam.

„An sich net viel, mer kame als Nachbarn gut aus, aber des war´s auch schon. Ich kann mich net über ihn beschwere“, erzählte Frau Steinmüller langsam. Erst nach und nach konnte sie verarbeiten, was Nadja Heidler ihr soeben mitgeteilt hatte.

„Gab es denn jemanden in der Straße, der mit ihm nicht so gut auskam wie Sie?“, hakte die Kommissarin nach.

„Ja, doch, einen: Joachim Schneider. Der wohnt gegenüber, ihm gehört die Autowerkstatt hier in de Gass´. Aber da brauche Se gar net zu klingeln, der ist am Wochenende mit seiner Frau an die Ostsee gefahre.“

„Okay, ich notiere mir das trotzdem. Warum kamen die beiden nicht miteinander klar?“

„Sie müsse wisse, der Herr Kess hat mit Männern zusammegelebt, verstehe Se, was ich mein?“

„Sicher“, bestätigte Nadja, was sie schon seit heute Morgen über Matthias Kess wusste. Aus ermittlungstaktischen Gründen beschloss sie, den Mord an Christian Bergmann zunächst für sich zu behalten. Frau Steinmüller würde ohnehin bald aus der Presse davon erfahren. „Wann ist Herr Schneider wieder in Mainz?“

„Nächste Woche is er wieder da, hat er mir g‘sagt. Den genaue Tag kann ich Ihne aber net sage, tut mir leid.“

„Macht nichts, Frau Steinmüller. Können Sie ihn denn beschreiben, ich meine Alter, Größe, Statur?“

„Wieso wolle Se des denn wisse? Glaube Se, der hat …?“

Die Frage bewog Nadja zur Änderung ihrer Strategie. Es würde ohnehin in einer oder zwei Stunden bekannt werden. „Nein, wir glauben im Moment noch gar nichts. Es ist nur so: Heute Morgen wurde in Laubenheim ein weiterer Mann ermordet, und der kannte Matthias Kess. Jetzt brauchen wir alles an Hinweisen, was wir kriegen können.“

„Des ist ja schrecklich!“, rief Frau Steinmüller aus. „Und des in Mainz. Also, der Herr Schneider is so um die 50, glaub ich, vielleicht auch älter, ungefähr en halbe Kopf größer wie Sie un kräftig. Arbeiter halt. Was gibt‘s sonst noch über ihn zu sage? Dunkle Haar und ‘nen Kinnbart, des war‘s auch schon.“

Nadja, einen knappen Meter siebzig groß, notierte sich das Gesagte. Die Beschreibung passte überhaupt nicht zu dem Mann, der in Laubenheim am Marktplatz gesehen wurde – falls dieser überhaupt der Täter war; es konnte sich ebenso um jemanden handeln, der zu einer Fahrgemeinschaft gehörte und auf seine Mitfahrgelegenheit zur Arbeit gewartet hatte. Joachim Schneider jedenfalls war wohl deutlich kleiner und bulliger als dieser ominöse Unbekannte. Ganz zu schweigen davon, dass sie außer der Körpergröße nichts über diesen Mann wussten, weder sein Alter noch die Haarfarbe oder Frisur. Und da Schneider offenbar seit zwei oder drei Tagen gute 600 Kilometer von Mainz entfernt war, konnte er unmöglich der Täter sein. Trotzdem wollte Nadja mehr über den Werkstattbetreiber wissen und wandte sich daher wieder an Frau Steinmüller: „Haben Sie mitbekommen, dass Herr Kess und Herr Schneider sich oft gestritten haben?“

„Da ist e mal ‘ne abfällige Bemerkung vom Schneider gefalle, aber das is schon ein paar Monat her. Ansonste war da nix, er hat eher in der Werkstatt über ihn hergezoge, wenn er sich überhaupt mit den Angelegenheite vom Herrn Kess befasst hat.“

„Worum ging es dabei?“

„Ach, hauptsächlich darum, des wären alles keine richtigen Männer.“ Frau Steinmüller winkte ab und schüttelte den Kopf. „Nix Weltbewegendes, wie Se sehen. Der babbelt manchmal so dumm Zeich, aber ‘nen Mord würd ich Joachim Schneider net zutraue.“