Denn wer da hat, dem wird gegeben - Volker Pesch - E-Book

Denn wer da hat, dem wird gegeben E-Book

Volker Pesch

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Beschreibung

Direkt an der Ostsee soll eine höchst mondäne Urlaubsanlage entstehen, die "Bernsteinstadt", mit Wellnesshotels, Hafen und exklusiver Flaniermeile. Und diese Idee hat natürlich nicht nur Freunde, ganz im Gegenteil: Kleinbetriebe sollen verschwinden, eine skurrile Bürgerinitiative kämpft für den Erhalt der Küstenlandschaft und zwielichtige Investoren wollen sich das Grundstück unter den Nagel reißen. Tom Schroeder, der neue Polizeiseelsorger, stößt auf verborgene Netzwerke und die ganz alltägliche Korruption. Und findet nach und nach heraus, worum es wirklich geht.

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Autoreninfo

Volker Pesch, Jahrgang 1966, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Köln. Selbständiger Texter und dtp-Gestalter, Leiter eines städtischen Eigenbetriebs. Er lebt mit seiner Frau in einem Fünfhäuserdorf nahe Greifswald. Denn wer da hat, dem wird gegeben ist sein erster Roman.

Titel

Volker Pesch

Denn wer da hat,dem wird gegeben

Küsten-Krimi

Der erste Fall für Polizeiseelsorger Tom Schroeder

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 by CMZ-VerlagAn der Glasfachschule 48, 53359 RheinbachTel. 02226-9126-26, Fax 02226-9126-27, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto (Danish Wiek, Greifswald 2016): Heck S. Plover, Glasgow

Umschlaggestaltung:Lina C. Schwerin, Hamburg

eBook-Erstellung:rübiarts, Reiskirchen

ISBN 978-3-87062-199-5 (Paperback)ISBN 978-3-87062-253-4 (eBook epub)ISBN 978-3-87062-254-1 (eBook kindle)

20170318

www.cmz.de

Motto

Handlung und Personen sind frei erfunden. Das Thema leider nicht: So oder ähnlich könnte es sich jederzeit und an vielen Orten zutragen.

Inhalt

Political Animals

Und kann nicht anders

Probleme finden im Vorwärtsschreiten

Sie ruhen in Unfrieden

Keine Buschzulage

Krisenintervention

Die Dampfmaschine des 21. Jahrhunderts

Paradise by the dashboard light

Halterlose Strümpfe

Einheitsbrunch

Isotonie

Big Five

Augen und Ohren

Kulturnacht

La Paloma

Intercity Express

Waterloo

Gut gegen Gefühle

Fangschuss

Sackgasse

Der Saal kocht

Prolog

Das meint der nicht ernst, beruhigt sie sich, der wird nicht auf dich schießen, nicht hier und jetzt, der will dir nur Angst machen, will dich einschüchtern mit der Knarre. Hält dir hier Geldscheine unter die Nase, zugegeben einen dicken Packen Scheine, nur damit nichts rauskommt, damit die alle einfach so weitermachen können mit ihren feinen Freunden und fetten Frauen. Unglaublich!

Aber so leicht mach ich’s euch nicht, denkt sie sich in Rage, mach ich’s dir nicht, du mieser Handlanger, so billig bin ich nicht zu haben! Mir geht es nicht um Geld. Ich will, dass ihr blutet, richtig blutet! Nicht nur ein paar Euro bezahlt, die tun euch doch nicht weh. Was ich weiß, das reicht, um euch alle fertigzumachen, richtig fertigzumachen. Kein Bein werdet ihr mehr auf den Boden kriegen, jedenfalls nicht hier, nicht in dieser Stadt, nicht in diesem Leben!

»Du glaubst wohl, du kannst mir Angst machen«, sagt sie also mit einem spöttischen Lächeln und Blick auf die Waffe, »aber das kannst du glatt vergessen. Steck dir deine Kohle sonstwohin, und das Ding da gleich hinterher!« Sie sieht ihn fest an und lässt ihre Worte kurz wirken. Ein wenig fühlt sie sich wie Pippi Langstrumpf. »Glaub mal, euer dreckiges Geld ist wirklich das letzte, was ich will!«

»Und was willst du dann?«, fragt er trocken.

»Ich will einfach nur, dass rauskommt, was für Schweine ihr seid! Ich will, dass alle es wissen! Und dass die Leute mit den Fingern auf euch zeigen, wenn ihr über den Marktplatz geht. Deswegen bin ich zurück.«

Für den Bruchteil einer Sekunde sieht sie die Überraschung in seinen Augen, eine erstaunte Unsicherheit. Kann das sein, dass die Kleine nicht einknickt, scheint er sich zu fragen, trotz der fünfzigtausend Euro in bar? Kann es das geben?

Jetzt weiß der nicht weiter, denkt sie mit Genugtuung.

Dann knallt der Schuss. Ganz kurz nur spürt sie einen stechenden Schmerz in der Brust, bis sie, von einer wohligen Taubheit umfangen, durch ein helles Licht ins Nichts verschwindet.

Political Animals

Zuerst hörte er nur ihren Schrei. Aber schon Sekunden später stürmte sie mit der Lokalzeitung wedelnd ins Schlafzimmer. Ihr verhärmtes Gesicht hatte sogar ein wenig Farbe angenommen, bemerkte er, ein paar blassrote Flecken zeichneten sich auf der bläulichen Haut ab. Worum es darin auch ging, der Artikel schien sie sehr zu erregen. Freudig zu erregen, soviel war sicher. Er bemerkte auch, dass ihre Creme nicht ganz eingezogen war und glänzend in die Fältchen der Augen verlief. Und dass ihr seidener Bademantel sich geöffnet hatte. Sein Blick blieb für eine Sekunde an den kleinen Brüsten hängen und wanderte dann weiter hinab. Doch zunächst obsiegte seine Neugierde.

»Die haben es geschluckt«, rief sie, »die haben es wirklich geschluckt!«

Er selbst saß aufrecht im Bett. Mit beiden Kopfkissen hatte er den Rücken ausgepolstert, um die Schmerzen der Bandscheibe zu lindern. Seinen Körper hatte er nur bis knapp unterhalb des Nabels mit dem grauschwarzen Samtbettzeug bedeckt. Sie hätte in diesem Moment durchaus seinen Bauch sehen können, diesen Rettungsring aus Haut und Fett, wie seine Frau den mal genannt hatte, oder auch die schwarzen Haare auf seinen Schultern. Aber das war ihm gleichgültig. Er bildete sich ohnehin nicht ein, dass sie ästhetischen Gefallen an ihm fand. Er hatte andere Vorzüge.

Etwa fünfundzwanzig Minuten zuvor war sie aus dem Bett gestiegen und barfuß ins Bad gegangen. Er hatte zum Smartphone auf dem Nachtschrank gegriffen und auf dem Display die Termine des Tages überflogen. Ach, richtig, hatte er noch etwas schlaftrunken gedacht, die Ortsbegehung mit diesem komischen Architekten, das ist ja heute. Die winzige Anzeige der Uhrzeit oben links hatte er ohne Brille nicht entziffern können. Aber genau deswegen trug er ja auch im Bett seine Breitling am rechten Handgelenk. Zeit satt, hatte er mit Blick auf die klunkerhafte Uhr gedacht. Durch die offene Tür war ein plätscherndes Geräusch von der Toilette zu hören gewesen, lauter als ihm wahrzunehmen lieb war. Lauter sogar als die Amseln und Meisen in den Gärten des Professorenviertels.

Mit seinem dicken rechten Zeigefinger hatte er dann auf den kleinen Bildschirm getatscht. Die Wettervorhersagen waren verhältnismäßig gut und ließen einen durchschnittlichen Spätsommertag erwarten. Immerhin keinen Regen. Die Börse blieb unentschieden. Minutenlang hatte ihn das Brummen ihrer elektrischen Zahnbürste genervt. Am Abend würde Bayern München auf Real Madrid treffen. Champions League. E-Mails mit Werbung und Spam hatte er in den Datenmülleimer verschoben, genau wie die digitale Bewerbung einer Jacqueline Soundso. Ungefragt, also weg damit. Die anderen Mails würde er später irgendwann lesen, vielleicht. Vielleicht auch nicht, manchmal löschte er am Ende des Tages einfach den ganzen Mist.

Er hatte dann die Dusche gehört und anschließend längere Zeit nichts. Jetzt steht sie vor dem Spiegel und hübscht sich auf, hatte er vermutet, während sein Blick interesselos auf einen Salvador Dalí über dem Bett gefallen war. Ein schwacher Sonnenstrahl hatte den Kunstdruck durch die halb geschlossenen Plissees beleuchtet. Was machte die nur immer so lange im Bad? Dann endlich hatte er aus der Küche die zischenden Geräusche des italienischen Kaffeevollautomaten gehört und fast zeitgleich das Klappern des Postkastens an der Eingangstür.

»Lies selbst!«, forderte sie ihn auf.

Er streckte die rechte Hand aus und nahm ihr die Ostseezeitung ab.

»Holst du uns den Kaffee?«, fragte er dabei, ohne sie anzuschauen.

Er überflog die Überschriften und fand den unscheinbaren Artikel auf der dritten Seite des Lokalteils. Dem Leiter des Bauamtes wurde die Verschwendung öffentlicher Mittel vorgeworfen. Walter K., las er amüsiert. Wenn der Name schon abgekürzt wird, ist das Urteil ja fast gefällt. Fünfundvierzigtausend Euro für die Sanierung einer Nebenstraße, irgendwo in der Stadtrandsiedlung. Der Landesrechnungshof hatte sich eingeschaltet und Zweifel an der Rechtmäßigkeit des gesamten Vorgangs angedeutet.

Ganz schlau wurde er aus dem Artikel nicht. Er las ihn ein zweites Mal. Entweder haben die das nicht ordentlich recherchiert, dachte er, oder die haben es nicht durchschaut. Oder beides. Oder war es vielleicht gar nicht durchschaubar? Der ganze Aufriss wegen fünfundvierzigtausend Euro? Haben die eine Null vergessen? Aber egal, dachte er dann, Hauptsache der Korthase ist weg vom Fenster.

»Den sind wir wohl erst mal los«, sagte er zufrieden grinsend, als sie mit zwei randvollen französischen Kaffeegläsern zurück ins Schlafzimmer kam. Jetzt schaute er sie vergnügt an, der Kaffeeduft erfüllte den Raum.

»Ganz sicher«, sagte sie spitz, »auf die öffentliche Erregungskultur in unserer Stadt ist Verlass.«

»Ja, da hast du wohl Recht. Die Zeitung ist jedenfalls voll eingestiegen«, gab er zurück und las die Unterzeile vor, in der die Worte Skandal und pikant vorkamen. »Das klingt, als sei der Korthase mit einer minderjährigen Azubine und der gesamten Stadtkasse nach Madeira abgehauen.« Er schüttelte ungläubig den Kopf.

»Genau. Und das wird Wunder wirken«, erwiderte sie stolz, »verlass dich drauf. Der Hühnerstall ist aufgescheucht, und alle rennen sie laut gackernd durcheinander. Am Ende ist doch ganz egal, ob überhaupt ein Fuchs drin ist.«

»Hut ab, meine Liebe!« Er deutete mit der rechten Hand an, einen imaginären Hut zu heben. Sie hielt sich die rechte Hand vor die Brust und neigte in gespielter Dankbarkeit den Kopf. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich in diesem Moment sehr gefiel. Er übersah es auch nicht.

»Ja«, sagte er nach eine Weile, während er die anderen Artikel der Seite überflog, »so ein kleiner Nebenkriegsschauplatz kann Wunder wirken. Aber sag mal,« fuhr er dann fort und blickte von der Zeitung auf, »ist der Korthase wirklich so blöd? Ich meine, nach ’zig Jahren in der Verwaltung hätte der doch merken müssen, wenn deine Unterschrift gefälscht ist. Der hätte doch niemals in eine derart offene Falle tappen dürfen!«

»Ist der auch nicht«, sagte sie und machte eine kurze Pause, in der sie seine Verwunderung auskostete, »ich habe den Antrag ja mit ihm gemeinsam formuliert.«

Jetzt war er wirklich überrascht.

»Nur kann ich mich jetzt partout nicht mehr daran erinnern.« Sie grinste ihn breit an und ließ sich dann auf das Bett plumpsen. Es federte leicht nach.

»Wie hinterhältig du bist, meine Liebe. Aber hast du keine Angst, dass das ’rauskommt? Ich meine, der Korthase wird das doch nicht einfach so auf sich nehmen.«

»Das streite ich einfach alles ab«, sagte sie heiter und gelassen, »die Unterschriften sind doch heute digital, die hätte jeder darunter setzen können, das kann man nicht beweisen. Aber wenn der Korthase versuchen sollte, mich da reinzuziehen, erstatte ich Anzeige gegen Unbekannt, wegen Urkundenfälschung. Und wenn das an ihm kleben bleibt, hat der ein echtes Problem. Dann ist sie nämlich weg, die schöne Pension des Herrn Amtsleiters. Nein, das wird der sich zweimal überlegen.«

»Also wirst du ihn einfach nur beurlauben, bis Gras über die ganze Geschichte gewachsen ist, richtig?«

»Genau, mir bleibt ja gar keine andere Wahl«, sagte sie in gespielt weinerlichem Ton, »ich muss den armen Kerl doch aus der Schusslinie nehmen. Ich stelle mich gewissermaßen schützend vor meinen Mitarbeiter. Und eine hoffnungsvolle junge Mitarbeiterin, die den Korthase beerben wird, habe ich auch schon ausgesucht. Noch formbar, verstehst du?«

»Ganz schön hinterhältig«, wiederholte er anerkennend und legte ihr dabei die Hand auf die Hüfte.

»Ach was. Der Korthase ist über sechzig. Der kriegt ja nur eine Rüge, das reicht nicht mal für ein Disziplinarverfahren. Man wird das nie ganz aufklären können. Vielleicht beurlaube ich ihn auch bis zum vorzeitigen Ruhestand, mal sehen, dann kann er ein wenig um die Welt reisen. Hat er sich doch verdient, findest du nicht?«, schmunzelte sie.

»Auf jeden Fall«, stimmte er zu, »ganz klar. Außerdem rennt der dann nicht durch die Stadt und redet dummes Zeug, von wegen Intrige und so.«

»Das durchschaut der doch gar nicht«, sagte sie und winkte dabei ab, »der Korthase ist auch kein besonders tiefer Teller. Außerdem wird er den schwarzen Peter reflexhaft an den Sanierungsträger weiterschieben, die verwalten schließlich diese Mittel. Das ist sogar noch ein angenehmer Nebeneffekt der ganzen Konstruktion, die wurden mir nämlich in letzter Zeit zu selbstgefällig. Denen kann ein Dämpfer nicht schaden.«

»Dich möchte ich nicht zum Gegner haben«, sagte er, und in seinem Tonfall klang deutlich die Bewunderung durch, obwohl es selten geschah, dass er irgendwen außer sich selbst bewunderte. Er grübelte und malte sich aus, wie es jetzt weiter gehen würde.

»Aber glaubst du, die Bürgerschaft wird deswegen kalte Füße kriegen?«, fragte er nach einiger Zeit. »Ich meine, es gibt ja erst einmal keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen der Geschichte mit Korthase und dem Bau dieser Bernstein City.«

»Das stimmt zwar«, antwortete sie, »aber die Bürgerschaft wird jetzt garantiert kein Millionenprojekt beschließen, wenn alle schon wegen dieser läppischen fünfundvierzigtausend vom großen Skandal reden. Da wird sich einer sparsamer geben als der andere, ganz egal, welcher Partei die angehören. Du wirst sehen: Plötzlich haben die alle nur noch das Wohl der Stadtkasse im Blick, zumindest solange, bis eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird.«

Die sind alle so blöd!, dachte er und war darüber für einen kurzen Moment sogar ein wenig erstaunt. »Und notfalls wirst du das ein wenig steuern, richtig?«

»Das wird kaum nötig sein«, winkte sie abermals ab, »du wirst sehen, das geht jetzt ganz von alleine. Erst einmal werden sich die Ausschüsse und Fraktionen damit ’rumschlagen, da muss ich nicht eingreifen.«

Sie grinste vielsagend. »Jedenfalls liegt diese bescheuerte Bernsteinstadt erstmal auf Eis. Ein paar Monate mindestens, da bin ich ganz zuversichtlich, und das war’s dann. Denn so langen Atem haben deren Investoren nicht mehr, denen steht das Wasser bis zum Hals, das weiß ich aus sicherer Quelle. Wenn die nicht in kürzester Zeit anfangen können, ist das ganze Projekt mausetot. Wellness und Tourismus, schöner Traum, nette Idee, aber eben wirtschaftlich nicht realisierbar. Verstehst du?«

Seine Züge erstarrten. Nur du nicht, dachte er, du bist gar nicht so blöd wie die anderen, im Gegenteil. Bei dir muss ich höllisch aufpassen – bis du mir den Weg frei gemacht hast für meine Raffinerie. »Bald ist der Weg frei für unsere Raffinerie«, sagte er.

»Hoffentlich«, erwiderte sie, »wir dürfen uns auch nicht zu früh freuen. Vor allem jetzt keine Fehler machen, es darf noch nichts durchsickern. Sonst kippt die Stimmung schnell wieder in Richtung Touristenklitsche.«

»Das brauchst du mir nicht zu sagen, ich pass’ schon auf«, sagte er und betonte dabei die Wörtchen mir und ich, »sorge du nur dafür, dass deine Verwaltung die Füße still hält. Die soll Dienst nach Vorschrift machen, aber keinen Handschlag mehr.«

»Verlass dich drauf!«, sagte sie gelassen und ein wenig überheblich, »die das jetzt auf den Schreibtisch kriegen, die habe ich fest im Griff. Aber du und deine holländischen Geschäftsfreunde, ihr macht mir mehr Sorgen. Ihr solltet es nicht übertreiben mit euren Geschenken. Hier eine Spende, da ein Sponsoring. Das ist mir im Moment zu viel, zu leicht durchschaubar. Fünftausend hier, zehntausend da. Und die Trikots für den FC hättet ihr euch wirklich sparen können, das ist ja echt zu platt!«

»Hm, du hast wahrscheinlich Recht«, räumte er ein und wurde kurz nachdenklich, »das war wirklich nicht gut. Kontraproduktiv. Ich werde mit den Holländern reden, die sollen sich vorläufig etwas zurückhalten.«

»Sehr gut«, sagte sie und erhob ihr Kaffeeglas, »dann lass uns in die Zielgerade gehen.«

»Herr Harreis!«

»Frau Francke!«

»A votre santé«, sagte sie.

Er sagte darauf nichts.

»A la votre, müsstest du jetzt antworten«, sagte sie.

»Und was bedeutet das?«

»Du mich auch«, sagte sie und stupste ihm dabei den Zeigefinger auf die Nasenspitze. Sie stießen mit ihren Gläsern an und tranken.

Dann zündete sie sich eine superschlanke Zigarette an und paffte mit gespitzten Lippen, er blätterte derweil oberflächlich durch die restlichen Seiten der Zeitung. Nur Unsinn und Werbung, dachte er und kratzte mit einem kleinen Löffel den Kaffeeschaum aus dem Glas. Obschon sie nicht inhalierte, ließ sie der Rauch räuspernd husten. Deswegen legte sie die glimmende Zigarette auf die Nachtschrankkante, streckte beide Arme seitlich ab, um besser durchatmen zu können, und verdrillte anschließend ihr langes Haar zu einem Dutt. Dabei hielt sie ihren Oberkörper sehr aufrecht, so dass er wieder ihre Brüste sehen konnte. Und diesmal wollte er das auch.

»Das muss doch gefeiert werden«, sagte Michael Harreis, erfolgreichster Bauunternehmer der Region und seit vielen Jahren Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Haus- und Grundbesitzer, nahm die Zigarette, drückte sie in den Aschenbecher und zog die Oberbürgermeisterin der altehrwürdigen Universitäts- und Hansestadt Greifswald Verena Francke zurück unter die noch feuchtwarme Decke.

Und kann nicht anders

Jochen Ruhnke stand am Fenster seines Büros im zweiten Stock und blickte hinunter auf den Parkplatz. Ein VW-Bus mit Bootsanhänger fuhr langsam an den Parkbuchten entlang. Die waren allesamt belegt, obwohl das Kriminalkommissariat schon länger zur Außenstelle herabgestuft worden war und jetzt zur Polizeiinspektion Anklam gehörte. Nur eine Handvoll Kollegen war noch in dem alten Kasernengebäude geblieben, als eine Art Zugeständnis, ohne das die Stadt Greifswald dieser ersten Stufe der Polizeistrukturreform niemals zugestimmt hätte. Die meisten mussten seitdem täglich die 40 Kilometer fahren. Anklam oder Greifswald, Ruhnke war es eigentlich egal, wo er seine letzten Dienstjahre abreißen sollte, aber die Sozialauswahl hatte ihm die Pendelei erspart. Und da er üblicherweise früh zum Dienst kam, stand er meist schon am Fenster, wenn die Studentinnen mit ihren geschenkten Kleinwagen die Parkplätze belegten und hektisch in Richtung Universität stöckelten.

Die Bremslichter leuchteten rot auf. Er bemerkte, dass ein Licht des Anhängers nicht funktionierte. Das Gespann war beinahe am Ende des Platzes angekommen. Sackgasse, dachte er, gleich wird der merken, dass es nicht weiter geht. Mal sehen, was er dann macht. Das konnte nur ein Mann sein, da war sich Ruhnke sicher, obwohl er den Wagen noch nie gesehen hatte und von oben nicht erkennen konnte, wer am Steuer saß. Aber eine Frau hätte so ein langes Gespann auf der Straße vor der Kaserne stehen lassen und gar nicht erst versucht, es durch die enge Einfahrt zu bugsieren. Frauen waren schlechte Fahrer, meinte er, aber das machte sie auch vorausschauender. Das gestand er ihnen immerhin zu. Der Bus stand immer noch bewegungslos da. Ruhnke wartete gespannt.

Er hatte auch keinen echten Grund, vom Fenster weg und an den Schreibtisch zu gehen. Oder irgendwo anders hin. Aktuell lag nichts vor, jedenfalls nichts, was ihn beschäftigen musste. Mit den drei Frauenmorden kam er nicht mehr weiter. Seine Ermittlungen hatten erst zu ein paar halbseidenen Zeugen und Tatverdächtigen und dann nur noch ins Leere geführt. Er hatte keinerlei Beweise gegen irgendwen. Wahrscheinlich ein Psychopath, einer dieser Professoren oder so. In Gedanken hatte er die drei Fälle schon bei den ungeklärten abgeheftet. Wir sollten noch ein paar DNS-Proben nehmen, dachte er, falls es doch nochmal einen Verdächtigen gab, durch Schicksal oder Zufall, wer konnte das schon wissen. Und dann ab ins Archiv. So dachten wahrscheinlich alle im Haus, selbst der Leitende, wenn er denn mal ins Haus kam. Aber noch waren der öffentliche Druck und die Empörung zu groß, um diesen Schritt auch offiziell zu machen.

Aktuell war nur ein lächerlicher Einbruchdiebstahl aufzunehmen, außerdem hatten ein paar Kinder in der Nacht einen Bauwagen abgefackelt und warteten im Flur auf ihre Eltern. Ein Mann hatte einem anderen ein Küchenmesser in den Bauch gerammt, wohl aus Liebe und Eifersucht oder irgendeinem anderen Gefühl, das die tägliche Flasche Sprit noch zuließ. Die Dame, der dieses Gefühl galt, war Zeugin und befand sich zur beaufsichtigten Ausnüchterung im Uniklinikum.

Mit solchen Lappalien musste sich der dienstälteste Kriminalhauptkommissar ohnehin nicht mehr befassen, das war eine der goldenen Regeln hier. Genau wie die, dass ihm kein Kollege in seine Fälle reinpfuschte. In den Fällen eines KHK hatte kein anderer was zu suchen. Das waren Regeln, die er früher ebenso inbrünstig gehasst hatte wie er sie heute gegen die Jungspunde verteidigte. Kamen frisch von der Polizeischule, diese Queckse, und wollten gleich die dicken Fälle übernehmen. Aber nicht mit ihm!

In diesem Moment sah er, wie hinter dem Gespann ein Auto aus der Parkbucht fuhr und somit eine Lücke öffnete. Das ist deine Chance zu wenden, dachte er und sah im gleichen Moment schon die weißen Leuchten an Bus und Anhänger aufleuchten, einfach mit dem Hänger rückwärts in die Lücke stoßen, dann in zwei Zügen ’rum und ’raus. Mal sehen, was du drauf hast.

Er beobachtete, wie die Vorderreifen bis zum Anschlag in eine Richtung eingeschlagen wurden. In die falsche Richtung, dachte er sofort, so wird das nichts! Der Bus stieß langsam zurück, der Anhänger bewegte sich entgegengesetzt. Der Fahrer schien das zu bemerken, denn sofort leuchteten die roten Lichter auf. Immerhin. Die Vorderreifen bewegten sich zurück, die Leuchten erloschen und der Bus fuhr ein paar Meter nach vorn, noch näher an das Ende des Parkplatzes, wie Ruhnke nicht ohne Häme dachte. Dann wurden die Vorderreifen in die andere Richtung eingeschlagen, der Bus setzte erneut zurück, diesmal bewegte sich der Anhänger richtig. Allerdings war der Einschlag zu stark und folglich auch die Bewegung des Anhängers. Das Gespann wurde abrupt gebremst.

Das war knapp, dachte Ruhnke, hättest fast den fetten Audi in der Parklücke daneben erwischt. Da hätte sich aber einer geärgert. Ruhnke grinste, doch in diesem Moment klingelte das Telefon und ließ seine Miene wieder erstarren.

»Ruhnke«, knurrte er in den Hörer des altertümlichen Telefons. Wegen des verhedderten Kabels konnte er seine Beobachtung am Fenster für die Dauer des Telefonats nicht fortsetzen. Die Telefonanlage stammte noch aus den Materialspenden der Partnerstadt Osnabrück, Anfang der Neunziger.

Die Stimme am anderen Ende kannte er, der Anrufer hätte seinen Namen nicht eigens nennen müssen. Ruhnke hätte auch gut und gerne auf diesen Anruf verzichten können. Er stellte notgedrungen auf Freundlichkeit um.

»Was kann ich für Sie tun?«

Der Anrufer redete aufgebracht. Ruhnke hörte zu. Gelegentlich unterbrach er, kurz und einsilbig, das fand er in seiner Rolle angemessen. Es wurde wohl von ihm erwartet. »Sie ist hier in der Stadt? – Ganz sicher? – Und weiß man, was sie vorhat? – Verstehe. – Harreis? – Nein, das ist nicht gut. – Richtig. – Haben Sie eine Adresse für mich? – In ihrer alten Wohnung, okay. – Gut, ich kümmere mich darum.«

Ruhnke legte ohne weitere Verabschiedung auf. Für einen Moment hatte er das Parkplatzkino vergessen. Was will sie hier in der Stadt?, fragte er sich verärgert. Hatte er sich nicht klar genug ausgedrückt? Doch, das hatte er. Ich will Dich hier nie wieder sehen, hatte er gesagt. Wenn sie trotzdem hier wieder auftauchte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Nur – was hatte sie vor? Zur Polizei konnte sie schließlich schlecht gehen. Und auch sonst konnte sie hier nichts erwarten. Von niemandem. Wir zwei beide werden uns wohl nochmal unterhalten müssen, dachte er. Aber dann fiel ihm das Geschehen auf dem Parkplatz ein, und er trat noch einmal ans Fenster und blickte hinunter.

Bus und Anhänger standen mittlerweile wieder parallel zu den Parkbuchten. Der Fahrer war ausgestiegen, ein Typ in Jeans und dunkelblauer Fischerjacke. Typ Dreitagebart. In meiner Badewanne bin ich Kapitän, dachte Ruhnke und sah zu, wie der Mann auf einen uniformierten Kollegen zuging. Im Gehen nahm er seine Brille ab und wischte die Gläser mit einem Papiertaschentuch. Er gab dem Polizisten die Hand, zeigte dann auf Bus und Anhänger, wies mit der Hand in die Parklücke, zeichnete Längenmaße und Rückwärtsbewegungen in die Luft. Offensichtlich erklärte er, was er vorhatte, wie er glaubte, das Gespann wenden zu können. Ruhnke beobachtete weiter, wie der Polizist hinter den Anhänger ging und nach Augenmaß über den Daumen das mögliche Manöver peilte. HK Seidelmann, dieser Schwachkopf, dachte Ruhnke spöttisch, das wird doch nichts. Irgendwie freute ihn das.

Der Fahrer war unterdessen zurück zum Bus gegangen, hatte die wollene Jacke aufgeknöpft und ausgezogen und mit Schwung auf den Beifahrersitz geworfen. Ganz schön schmales Hemd, dachte Ruhnke, ohne seine Jacke ist der ja nur die Hälfte. Der Mann stieg ein, zog die Tür zu und beugte sich sogleich mit dem Oberkörper durch die geöffnete Seitenscheibe weit nach außen. Er rief irgend etwas, das Ruhnke nicht verstehen konnte. Der Polizist machte heranwinkende Handbewegungen, wie ein Lotse auf dem Flughafen. Ruhnke schaute dem Fahrer direkt auf eine lichte Stelle am Hinterkopf, die sich trotz der stoppeligen Haare sichtbar abzeichnete. Was der Typ hier wohl will?, fragte er sich. Bestimmt wieder ein Außenbordmotor geklaut. Bevor du eingeparkt hast, dachte Ruhnke, ist dein Motor schon am Schwarzen Meer.

Während er den erneuten Versuch, das Gespann zu wenden, mit zweifelndem Ausdruck verfolgte, dachte er wieder an das Telefonat. Darum musste er sich kümmern, am besten noch heute. Die Kleine musste wieder verschwinden. Ob es richtig war, sich mit diesen Leuten einzulassen? Ein leiser Zweifel überkam ihn, und das nicht zum ersten Mal. Okay, er tat nichts direkt Verbotenes, sagte er sich, oder jedenfalls nichts, was ihm in irgendeiner Form gefährlich werden könnte, da passte er schon auf. Grauzone. Hauptsache, niemand würde ihm jemals etwas nachweisen können. Und außerdem zahlten die gut für diesen Job. Das war seine große Chance, nochmal was anderes zu erleben. Fünfundzwanzig Jahre hab’ ich mir hier den Arsch aufgerissen, dachte er nicht zum ersten Mal, und wofür? Seine schmale Besoldung war fast vollständig in der Doppelhaushälfte im Ostseeviertel verschwunden, trotz der Fördermittel für Stadtentwicklung und Stadtumbau Ost und wie all diese Förderprogramme hießen, die aus Plattenbausiedlungen moderne Wohnträume machen sollten. Seit der Scheidung wohnte er nicht einmal mehr da. Er saß tagaus tagein in diesem miefigen Büro. Oder stand am Fenster. Gelegentlich Tatorte besuchen, Zeugen befragen, Leute verhaften, das war’s. Und Berichte schreiben. Berichte, Berichte, Berichte. Früher gab’s wenigstens noch ein anständiges Weihnachtsgeld. Nein, sagte sich Ruhnke, was ich mache, würde jeder an meiner Stelle machen!

So ein schickes Holzboot bezahlt sich auch nicht selbst, dachte er dann mit Blick auf den unterdessen völlig verkeilt stehenden Anhänger unten auf dem Parkplatz. Aber das da könnte mal frischen Lack vertragen. Es klopfte, und Ruhnke wandte sich mit fragendem Blick zur Tür.

Ein Mann in grauem Anzug schob vorsichtig seinen Oberkörper durch den Türspalt. Der schon wieder, dachte Ruhnke. Der Staatsanwalt stand auf seiner Bewertungsskala noch unter dem Leitenden und sogar unter den jungen Kollegen von der Polizeischule.

»Die Akte zu der Brandstiftung«, fragte der Staatsanwalt, »haben Sie die hier?«

»Nee«, brummte Ruhnke, »für Brandstiftung bin ich nicht zuständig.«

»Das weiß ich wohl, ich dachte nur, Sie wüssten vielleicht, wo die abgelegt ist.«

»Abgelegt? Schauen Sie doch mal in die Ablage auf ihrem Schreibtisch«, sagte Ruhnke und schien den Staatsanwalt kurz aus dem Tritt zu bringen, »oder Sie fragen einfach Ihre Oberstaatsanwältin, die weiß doch sonst immer alles.«

»Das ist ja das Problem«, seufzte der Mann, »die Kollegin ist im Mutterschutz, seit letzter Woche, das reinste Chaos. Hat mir jede Menge unerledigte Verfahren hinterlassen. Die meisten werde ich einstellen müssen, weil ich da unmöglich hinterherkomme.«

Ruhnke zuckte nur mit den Schultern. Nicht mein Problem, dachte er und drehte sich wortlos wieder dem Fenster zu. Jede Menge unerledigte Verfahren, äffte er den Mann in Gedanken nach, was sollen denn das für Verfahren sein? Zu schnell gefahren hinter Klein Bünzow? Die Frau verprügelt in Pasewalk? CD geklaut im Media Markt? Da scheißt doch der Hund drauf, ob du das einstellst oder nicht, dachte Ruhnke.

Er blickte hinunter, aber Bus und Anhänger waren nicht mehr dort, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Das irritierte ihn kurz. Für seine Verhältnisse beinahe hektisch suchte er mit den Augen den Parkplatz ab. Schließlich fand er das Gespann unterhalb seines Fensters. Der Wagen zeigte in Richtung der Ausfahrt, das Manöver musste also zuletzt geklappt haben. Das überraschte Ruhnke dann doch. Aber wo war der Typ? Am Steuer saß der nicht, die Fahrertür war geöffnet. Ruhnke beugte sich etwas vor, um den gesamten Platz einsehen zu können. Langsam und vorsichtig, wie er es als Jäger beim Ansitzen tat.

Dennoch bemerkte er zu spät, dass der Fahrer auf der gegenüberliegenden Seite stand und seinerseits das Backsteingebäude betrachtete. Er hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt und schirmte seine Augen mit einer Hand gegen die Sonne ab. Ruhnke zuckte reflexhaft zurück. Verdammt, dachte er, hat der mich jetzt gesehen? Ganz langsam beugte er sich wieder vor, zentimeterweise bekam er mehr und mehr in den Blick. Unmittelbar vor der Stelle, an der er den anderen vermutete, verlangsamte er seine Bewegung. Aber mit einem Mal machte der Mann unten einen Schritt rückwärts und sah Ruhnke mit leuchtend hellblauen Augen direkt ins Gesicht.

Probleme finden im Vorwärtsschreiten

Axel Hegebarth spähte durch die eisernen Gitterstäbe auf das Gelände. Das schwere Tor hatte früher die Hauptzufahrt zum Volkseigenen Betrieb »Werkzeugmaschinenproduktion Artur Becker« versperrt. Den hatten die Planer der DDR hier Mitte der Siebziger auf die grüne Wiese oder vielmehr in die pommersche Küstenlandschaft gesetzt. Das Tor widersetzte sich jetzt schon über zwanzig Jahre den Metalldieben. Hegebarth wunderte sich jedes Mal, wenn er davor stand, denn normalerweise wurde hier alles geklaut, was nicht einbetoniert war. Auf seinen Baustellen ließ er mittlerweile sogar die Zaunelemente zusammenketten.

Am Morgen hatte er zwei Aspirin genommen und sich einen doppelten Espresso mit Pfeffer und Zitrone gemacht. Seine alte Geheimwaffe gegen Kater, noch aus Studententagen an der Technischen Hochschule Aachen. Die Wirkung war heute nur mittelmäßig. Neben dem Tor betrachtete er die Überreste der Fahrzeugwaage des VEB. Er kniff die Augen leicht zusammen und begrenzte das Bild im Kopf, als wäre es ein Foto in schwarzweiß, und stellte sich vor, wie ein Lastwagen auf die Waage fährt, ein fahlgelber IFA W50. Der Fahrer mit Kippe im Mundwinkel. Sein Blick fiel durch den offenen Eingang des ehemaligen Waagehäuschens, glitt von den zerstörten Resten eines Schaltpultes an der Wand über einen dreibeinigen Tisch hin zu einer versifften Matratze, die einem Obdachlosen als Lager gedient haben mochte. Er wunderte sich über den vollständig mit Müll bedeckten Boden. Warum, so fragte er sich kurz, schleppten Jugendliche oder Penner oder wer auch immer dieses Häuschen als Wohnraum genutzt haben mag derartig viel Zeugs an? Er konnte von seinem Standpunkt aus unter anderem leere Flaschen, diverse Plastikteile und das verbogene Gestell eines Kinderwagens identifizieren. Und warum hinterließen sie den Müll dann auf dem Boden ihres Wohnzimmers und zogen weiter?

Durch die zersplitterten Scheiben folgte sein Blick den Fernheizungsrohren, die sich wie eine gepanzerte Riesenraupe über das Gelände zogen. Die Graffiti ergaben für Hegebarth keinen Sinn, und schön fand er sie auch nicht. Zwischen den Betonplatten auf dem Boden trieben Holundersträucher, Birken und Hasel aus und eroberten die Industriebrache nach und nach zurück.

Obwohl er hier schon oft gestanden hatte, bemerkte er heute zum ersten Mal die Form der eisernen Gitterstäbe des Tors. Oder vielmehr deren Motiv, das die Schweißer des VEB vor vielen Jahren darin angelegt hatten. Im unteren Teil verliefen in Wellen geschwungene Stäbe parallel zum Boden, und in der Mitte, wo die beiden Flügel zusammen stießen, war jeweils ein nach unten hin offenes Viertel eines Kreises eingearbeitet. Von dessen Rändern gingen strahlenförmig lange Stäbe aus. Hegebarth fuhr gedankenverloren mit dem Zeigefinger am rostigen Eisen entlang, bis er an eine einfach stilisierte Möwe stieß. Das ist ein Sonnenaufgang über dem Meer, verstand er mit einem Mal, ein Zeichen der Hoffnung.

Er lehnte sich an einen der beiden gewaltigen Feldsteine, die das Tor seitlich begrenzten, und wartete. Das Tor lasse ich so, dachte er nach einiger Zeit, das reiße ich nicht weg, das muss als Eingangsbereich bleiben. Aufarbeiten, klar, neue Farbe, aber mehr nicht. Von hier führe ich dann die Zuwegung durch die Anlagen bis zu den Gebäuden, dachte er weiter. Eine leichte Brise umfing ihn, irgendwo tschirpte ein aufgeregter Sperling und aus weiter Ferne wehten die Sirenen eines Rettungswagens herüber. Er schloss die Augen und döste.

Irgendwo zwischen Vorstellung und Traum verwandelte sich der Platz in eine großzügig angelegte Parkanlage voller Rhododendronsträucher und historischer Rosen. Den Mittelpunkt bildete ein mehrstufiges Wasserspiel, das nicht nur zufällig an die Grande Fontaine im Park von Sanssouci erinnerte. Um den Park standen mondäne, strahlend weiße Gebäude in Bäderarchitektur. Moderne Privatkliniken waren darin eingerichtet, und ein Luxushotel mit Kongresshalle, Sportanlagen und Wellnessbereichen. Etwas zurück versetzt sah er vor seinem inneren Auge das Thalassozentrum mit Meerwasserschwimmbad. Indoor und Outdoor. Direkt an der See, hinter den Molenköpfen der größten Marina der Region, lagen luxuriöse Yachten der Schönen und Reichen aus aller Welt. Ihre bunten Flaggen flatterten lustig im Küstenwind. Achthundert Liegeplätze fügten sich harmonisch in die unberührte Boddenlandschaft. Servicegebäude in schwedischem Stil beherbergten die Yachtausrüster, Reparaturbetriebe, Bistros und Restaurants, auch Juweliere und Parfümerien. Seitlich dahinter befanden sich beheizte Hallen und Winterlagerflächen für Yachten. Auf der anderen Seite der Anlage schwammen pfiffig konstruierte Ferienhäuser auf Aluminiumpontons, gegen die Winterstürme geschützt durch eine Aufschüttung aus Basalt, die zugleich das Fundament einer massiven Plattform bildete. Von hier aus ragte eine hölzerne Seebrücke weit in die Ostsee, wie ein Leuchtturm in dunkler Nacht. Hegebarth sah vor sich Gäste aus Skandinavien, Russland, Dubai. Er sah welkende Gattinnen mit Tennistrainern, die aussahen wie George Clooney als junger Mann, und reiche alte Männer, die für ihre Geliebten prächtige Armreife aus Bernstein und Silber kauften. Er sah eine Tiefgarage voller schwarzer Limousinen und roter Cabriolets, und wohlhabende alte Damen, die zwischen den medizinischen Anwendungen durch die Anlage flanierten und aus marmornen Stelen Heilwässerchen tranken. Und er sah Messingschilder auf den beiden Feldsteinen. Auf dem einen prangte in großen Lettern der Name Bernstein City, und auf dem anderen stand unübersehbar Architekt Axel Hegebarth.

Ein dunkelgrüner Geländewagen bog in die Auffahrt ein und riss ihn gewaltsam zurück in den Tag. Bestimmt Tietz, dachte Hegebarth sofort, die alte Karre passt zu dem. Er hatte mit sich selbst darauf gewettet, dass Tietz als erster hier auftauchen würde. Diese Witzfigur muss ja zu allem ihren Senf geben, dachte Hegebarth weiter, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, kraft welcher Qualifikation Werner Tietz eigentlich als Sachkundiger Bürger im Ausschuss für Wirtschaft und Tourismus saß. Wahrscheinlich war es seine einzige Qualifikation, keine zu haben. So einer konnte den Amtsträgern nie in die Quere kommen. Zu seiner Überraschung sah er dann aber eine bemerkenswert bleiche Gestalt mit leicht wässrigem Blick aussteigen. Er kannte den Mann nicht. Vielleicht fünfundfünfzig Jahre, schätze er wegen des spierigen Haares und der stark ausgeformten Tränensäcke, vielleicht auch wegen der dunkelbraunen Lederweste über dem lodengrünen Hemd. Oder wegen der dunkelbraunen Halbschuhe. Fünfundfünfzig plusminus zehn Jahre, dachte er.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann knapp und eher unfreundlich.

»Guten Tag. Hegebarth mein Name.«

»Langhaus. Wollen Sie zu mir?«

»Ich glaube nicht. Wir machen hier gleich eine Ortsbegehung«, sagte Hegebarth und machte mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf den Mann zu.

»Soso, Ortsbegehung«, brummte Langhaus und drückte sichtlich ungern die Hand, »schon klar. Wusste nur nicht, dass Sie auch dabei sind.«

»Ich bin der Architekt«, sagte Hegebarth und konnte dabei seinen Stolz nicht ganz verbergen. »Das kommt hier ja bald alles weg,« fügte er mit einer weit ausholenden Bewegung seines linken Armes hinzu.

»Immer langsam«, sagte Langhaus ruhig und abfällig, »da rede ich auch noch ein Wörtchen mit.«

Hegebarth schaute ihn fragend an.

»Mir gehört das Gelände hier«, erklärte Langhaus.

Hegebarth schaute jetzt zusätzlich ein wenig verunsichert und wartete auf die weitere Erklärung.

»Oder wenigstens das halbe, also die Span GmbH da drüben«, sagte Langhaus und zeigte auf eine große Werkshalle weit hinten auf dem Gelände, »das ist meine.«

Hegebarths Blick folgte der Richtung. Er sagte erst einmal nichts. Ihm war schlagartig klar geworden, dass hier Probleme auf ihn zukamen, von denen er bis eben noch keine Ahnung gehabt hatte. Scheiße, dachte er, das ist also der Typ, von dem Korthase gesprochen hat. Da hab’ ich jetzt wohl in den Fettnapf getreten. Hätte ich auch drauf kommen können, so wie der aussieht. Wie direkt aus der So-war-die-DDR-Ausstellung. ›Dubiose GmbH‹, hat der Korthase gesagt, mit einem ›schwierigen Geschäftsführer‹. Oder hatte er ›schmierigen Geschäftsführer‹ gesagt? Schien ja beides zu stimmen.

»Lassen Sie uns das doch erst mal gemeinsam begehen«, sagte er dann und machte dazu eine beschwichtigende Bewegung mit beiden Handflächen, um die Situation zu entspannen, »da finden wir doch bestimmt einen Weg, der alle Seiten zufrieden stellt.« Dabei wusste Hegebarth genau, dass es nur einen Weg gab. Dieser Langhaus und seine verdreckte Metallbude mussten seiner Bernstein City weichen, soviel stand fest, kein anderer Weg war auch nur denkbar. Die mussten da weg, die waren seiner Klientel einfach nicht zumutbar. Der Lärm der Maschinen nicht, der ganze Schrott vor der Halle nicht und auch nicht der Lieferverkehr.

In diesem Moment fiel ihm auf, dass er noch nie irgendeine Bewegung bei der Span GmbH registriert hatte. Und dass, obwohl er in den letzten Wochen und Monaten beinahe täglich auf dem Gelände gewesen war. Von wegen Lieferverkehr! Hatte Korthase nicht irgendeine Andeutung gemacht? Genau, erinnerte sich Hegebarth, die Firma arbeitet gar nicht, da wird nur Stasigeld gewaschen. So etwas in der Art hatte Korthase nebenbei fallengelassen, freilich ohne genauer zu werden. Dann sah Hegebarth von Weitem einen Radfahrer herankommen, den er Sekunden später als Tietz erkannte. Auch Langhaus hatte den bemerkt, und beide blickten sie in dessen Richtung. Wahrscheinlich fragten sie sich auch beide, was der da machte. Abwechselnd rief Tietz irgendetwas, das aber aus der Ferne nicht zu verstehen war, oder er blies in eine Trillerpfeife. Der Sinn dieses Verhaltens blieb Hegebarth zunächst verborgen. Plötzlich aber kam ein kleiner schwarzer Hund mit seitlich heraushängender Zunge angeprescht, sprang freudig bellend und japsend mit beiden Vorderpfoten an Langhaus hoch, fast bis zum Hals, wie ein Flummi, dachte Hegebarth kurz, da wuselte der Hund auch schon schnüffelnd um seine Hosenbeine, deutete an, einen Hinterlauf zu heben, ließ aber davon ab, schlüpfte stattdessen durch das rostige Tor und verschwand genauso blitzartig auf dem Gelände, wie er aus der anderen Richtung aufgetaucht war. Tietz war unterdessen herangekommen und rief laut »Conan!« Dann blies er heftig in die Trillerpfeife. Hegebarth spürte einen Schmerz im Trommelfell und fuhr mit der Hand an sein rechtes Ohr.

»Conan!«, rief Tietz nochmal, »hiiiiiieeeeerheeeeeer!« Aber der Hund blieb erst einmal verschwunden.

Langhaus klopfte sich den Schmutz der Hundepfoten vom Hemd. Tietz stieg vom Rad und lehnte es an einen der Feldsteine neben dem Tor. Dann ging er auf Langhaus zu.

»Klaus!«, sagte er etwas außer Atem und drückte Langhaus fest die Hand.

»Werner!«, gab der ebenso knapp zurück, »alles klar?«

»Muss ja«, antwortete Tietz und deutete mit vielsagendem Blick in die Richtung, in die der Hund verschwunden war. »Ist gerade ’n bisschen anstrengend manchmal.«

Tietz gab auch Hegebarth flüchtig die Hand und schaute dabei seitlich an ihm vorbei auf den Boden. Unter anderen Umständen hätte Hegebarth das nicht verwundert. Das war eine der Eigenheiten der Leute an der Küste, Händedrücken ohne sich anzuschauen, das hatte er in all den Jahren hier gelernt. Aber in dieser Situation schien es ihm doch von Bedeutung. Irgendwie bezeichnend. Außerdem erinnerte ihn Tietz in seinem graublauen Kittel an den vielverlachten Hausmeister seines Krefelder Gymnasiums vor mehr als fünfundzwanzig Jahren.

Die beiden kennen sich also, dachte Hegebarth, ob das was ausmacht? Eigentlich nicht, sagte er sich dann, die waren wahrscheinlich einfach beide im VEB. Hier hat ja offensichtlich die halbe Stadt gearbeitet. Konnte das ein weiteres Problem werden?, fragte er sich. Nein, beruhigte er sich selbst, der Langhaus hat ganz eigene Interessen, der braucht diese GmbH nur als Geldwaschanlage. Wenn Korthase recht hatte. Kann auch sein, dass es dem ums Verkaufen geht. Vielleicht will er den Preis hochtreiben, das wäre ja nichts Ungewöhnliches. Und der Tietz? Der sitzt zufällig in diesem Ausschuss der Bürgerschaft und hat sonst nichts zu tun. Bestimmt Frührentner, dachte Hegebarth, aber dann fiel ihm ein, dass Tietz ein Geschäft in der Innenstadt hatte. Das hatte ihm irgendwer erzählt. Er musste bei Gelegenheit herausfinden, womit dieser Hausmeistertyp handelte. Und was genau die beiden im VEB gearbeitet haben. Wer weiß, wofür das noch wichtig ist, dachte er gerade, als ein weißer Porsche Panamera in die Einfahrt fuhr und abrupt bremste. Staub wirbelte auf.

»Deutscher Jagdterrier?«, fragte Langhaus in diesem Moment, ohne den Wagen zu beachten.

»Acht Monate alt«, antwortete Tietz, »’n kleiner Teufel. Aber schon richtig gut in Fährtenlaut und Totverbellen.«

»Und Raubzeugschärfe?«, fragte Langhaus.

»Auch gut«, sagte Tietz nicht ohne stolz, »da hör! Jetzt hat er eine Fährte aufgenommen.« Er wandte sich dem Gelände zu und drückte mit zwei Fingern sein linkes Ohrläppchen nach vorn. Gleichzeitig erhob er den Zeigefinger seiner rechten Hand. Langhaus verstummte und horchte angestrengt. Von irgendwo in der Ferne hörte auch Hegebarth den Hund bellen. Totverbellen, Raubzeugschärfe, kombinierte er, Jagdkumpane sind die beiden also auch.

Währenddessen hatte sich ein Mann umständlich aus dem flachen Porsche gepellt. Sieh an, der fette Harreis, dachte Hegebarth, im Panamera, hat wohl ’nen kleinen Pimmel. Ein wenig Neid musste er sich allerdings auch eingestehen.

»Meine Herren, tut mir leid«, sagte Harreis laut, schlug die Fahrertür zu und pochte dann mit einem Finger auf seine Breitling, »ich wurde aufgehalten.«

Hegebarths Blick fiel derweil auf die Beifahrerseite. Zunächst konnte er unter der geöffneten Tür nur eine Wade in Jeans erkennen, und einen leichten Schnürschuh mit flachem Absatz. Dann stieg eine Frau aus, die er nicht kannte. Was für eine schöne Frau!, war sein erster Gedanke. Während sie die anderen begrüßte, betrachtete er sie verstohlen. Ungefähr mein Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger, Ende dreißig oder so, dachte er, vielleicht Anfang vierzig. Ihm gefielen die Krähenfüße an den Augenwinkeln, genau wie ihre Lachfalten, die sich von den Nasenflügeln ausgehend mit hübschem Schwung um den Mund gelegt hatten. Sie trug keine Handtasche, sondern nur ein Klemmbrett mit Papieren darauf, wie Hegebarth gerade noch bemerkt hatte, als die Reihe an ihm war.

»Ich stelle mal vor«, sagte Harreis, »Frau Knopf vom Bauamt.«

»Sehr angenehm, Hegebarth«, sagte Hegebarth und streckte ihr die Hand entgegen, aber Frau Knopf beugte sich zu dem Hund hinunter, der in diesen Sekunden pfeilschnell heran gesprintet war, kraulte zwei oder drei Sekunden dessen Nackenfell, bevor er laut bellend wieder davon hetzte. Sie richtete sich auf und warf ihren langen Zopf aus schwarzen Haaren, der ihr dabei über die Schulter gerutscht war, hinter sich auf den Rücken. Erst dann sah sie Hegebarth in die Augen und drückte doch noch kurz und fest seine Hand.

»Hat Ihr Chef keine Zeit für uns?«, fragte Tietz, doch bevor sie etwas erwidern konnte, sprang ihr Harreis zur Seite.

»Frau Knopf hat ab sofort die kommissarische Leitung des Amtes«, sagte er.

»Oh«, Tietz stutzte etwas, »was ist denn mit Korthase?«

»Lesen Sie keine Zeitung?«, fragte Frau Knopf freundlich lächelnd. »Das sollten Sie aber tun, ich meine, Sie als Sachkundiger Bürger.«

Sie betonte das, als müsse sie den Anwesenden die wörtliche Bedeutung erklären. Sachkundiger Bürger. Ihr Spott war nicht zu überhören, und für eine lange Sekunde schwiegen alle. Hegebarth bemerkte ein schelmisches Zucken um ihre Mundwinkel. Schöne Frau, dachte er noch einmal, aber bei der musst du aufpassen.

»Der Korthase ist suspendiert«, sagte Harreis, »irgendwas wegen Subventionen. Aber fragen Sie mich nicht. Vielleicht wissen Sie mehr, Frau Knopf?«

»Weiß ich«, sagte sie knapp, »aber ich werde nicht mit Ihnen darüber reden.«

Harreis war irritiert.

»Gut, ja«, beendete Langhaus diese Situation, »dann wollen wir mal, oder?« Er ging zum Tor, öffnete das Vorhängeschloss und entfernte die Kette zwischen beiden Flügeln. »Darf ich bitten?« Er machte eine einladende Geste, schritt aber selbst als erster durch das offene Tor.

Die anderen folgten ihm. Über das hüfthohe Unkraut hinweg suchte Hegebarths Blick zuerst eine kleine Halle, nicht weit entfernt vom Hauptweg. Die Halle sah zwar ziemlich heruntergekommen aus, der Putz war weitgehend abgefallen und die dadurch sichtbaren Betonquader waren nahezu vollständig mit Graffitis besprüht. Aber die Halle wurde noch genutzt, keine einzige Scheibe war zerschlagen. Das unterschied sie von allen anderen Gebäuden auf dem Gelände, mit Ausnahme der Span GmbH, die äußerlich nahezu gepflegt wirkte und außerdem mit Stacheldraht eingezäunt war. Kein Auto da, dachte er, ist also noch nicht hier, dieser Freak. Sicher auch besser so.

Langhaus und Tietz waren derweil an einem der niedrigen Schuppen stehen geblieben. Materialausgabe stand noch in verwitterten Buchstaben über der Tür. Aus der Entfernung konnte Hegebarth nicht verstehen, was die beiden redeten, wahrscheinlich ging es um früher. Frau Knopf lief langsam auf dem Weg weiter, hielt das Klemmbrett in der einen Hand und blätterte mit der anderen die Papiere um. Ab und an sah sie angestrengt auf. Offenbar versuchte sie, eine Flurkarte und das Gelände in Deckung zu bringen. Harreis ging eng neben ihr und blickte ebenfalls auf die Papiere. Hegebarth sah amüsiert, wie der Bauunternehmer über eine Eisenstange stolperte und beinahe stürzte, sich aber gerade noch an einem rostigen Blechfass abfangen konnte. Hegebarth ging zu den beiden und schaute ebenfalls fragend auf die Karte. In diesem Moment hörte er, wie Tietz einmal mehr in die Trillerpfeife blies, sah aber nirgends den Terrier. Nur hören konnte er ihn, von irgendwo drang wildes und aggressives Bellen herüber. Dann schlossen Tietz und Langhaus zu den anderen auf, so dass die ganze Gruppe wieder beisammen stand.

»Ich habe hier den Entwurf für einen neuen Bebauungsplan«, sagte Frau Knopf und blätterte die Papiere zurück, so dass das oberste Blatt in der Klemme wieder sichtbar wurde, »der wurde bei uns im Amt erarbeitet. Ist aber wie gesagt nur ein erster Entwurf, noch nicht die endgültige Vorlage, und der war auch noch nicht in den Ausschüssen.«

»Darf ich mal?«, fragte Hegebarth und streckte die Hand aus.

Sie reichte ihm das Brett und Hegebarth überflog den Plan. Erleichtert las er in der Kopfzeile B-Plan Mischgebiet für gewerbliche Bebauung und Wohnbebauung.

Mischgebiet, das hatte er lesen wollen. Hegebarth war erst einmal erleichtert. »Das sieht doch ganz gut aus«, sagte er.

»Naja«, erwiderte Frau Knopf, »ich bin da aber eher skeptisch.

»Inwiefern?«

»Es fehlen noch sämtliche Stellungnahmen der Träger öffentlicher Belange.«

Hegebarth sah sie fragend an.

»Das sind Stadtwerke, Energieversorger, Feuerwehr und so weiter«, sagte Tietz grundschullehrerhaft.

»Ja, danke Herr Tietz«, erwiderte Frau Knopf und verdrehte ein wenig die Augen, »ich glaube, das wissen hier alle.« Sie wandte sich wieder Hegebarth zu. »Ohne deren Stellungnahmen können wir bekanntlich keine endgültige Vorlage erstellen, für die Ämter und Ausschüsse. Selbst wenn wir wollten. Aber da erzähl ich Ihnen doch nichts neues, Herr … eh …«

»Hegebarth.«

»Ja, Hegebarth, genau.«