Department 19 - Das Gefecht - Will Hill - E-Book

Department 19 - Das Gefecht E-Book

Will Hill

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Beschreibung

Noch 85 Tage bis zur Stunde null: dem Tag, an dem der regenerierte Graf Dracula vollends zu seiner alten Stärke zurückkehren wird. Dem Tag, an dem die finsteren Wesen endgültig den Kampf um Gut und Böse gewinnen werden. Nach der letzten verheerenden Attacke der Vampire muss sich das Department 19 neu organisieren - doch ausgerechnet jetzt werden weltweit die Insassen von Hochsicherheitsgefängnissen befreit. Und die sind nicht nur Schwerverbrecher, sondern wurden inzwischen auch in Vampire verwandelt...

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BASTEI ENTERTAINMENT Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG Titel der englischen Originalausgabe: »Department 19 – Battle Lines« Für die Originalausgabe: Copyright © 2013 by Will Hill Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Andreas Becker, Bonn Umschlaggestaltung: Pauline Schimmelpenninck Büro für Gestaltung, Berlin Umschlagmotiv: © Sandra Cunningham/Arcangel Images; © Joana Kruse/Arcangel Images Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde Printed in Germany ISBN 978-3-8387-5302-7 Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.de Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Für Sarah,die wusste, wie Schriftsteller sind,es aber schaffte, darüber hinwegzusehen.

The earth had a single light afar,

A flickering, human pathetic light,

That was maintained against the night,

It seemed to me, by people there,

With a Godforsaken brute despair.

ROBERT FROST

Wir scheinen an unbekannte Orte und in unbekannte Verhältnisse zu treiben; in eine Welt voller dunkler, schrecklicher Dinge.

JONATHAN HARKER

Memorandum

VON: BÜRO DES VORSITZENDEN DES GEMEINSAMEN GEHEIMDIENSTAUSSCHUSSES

BETREFF: REVIDIERTE EINTEILUNG DER DEPARTMENTS DER BRITISCHEN REGIERUNG

SICHERHEITSSTUFE: STRENG GEHEIM

DEPARTMENT  1

Büro des Premierministers

DEPARTMENT  2

Kabinett

DEPARTMENT  3

Innenministerium

DEPARTMENT  4

Außenministerium und Commonwealth Office

DEPARTMENT  5

Verteidigungsministerium

DEPARTMENT  6

Britische Armee

DEPARTMENT  7

Königliche Marine

DEPARTMENT  8

Diplomatischer Dienst Ihrer Majestät

DEPARTMENT  9

Schatzamt Ihrer Majestät

DEPARTMENT 10

Verkehrsministerium

DEPARTMENT 11

Generalstaatsanwalt

DEPARTMENT 12

Justizministerium

DEPARTMENT 13

Militärische Aufklärung Sektion 5 (MI5)

DEPARTMENT 14

Geheimdienst (SIS)

DEPARTMENT 15

Königliche Luftwaffe

DEPARTMENT 16

Nordirland-Büro

DEPARTMENT 17

Schottland-Büro

DEPARTMENT 18

Wales-Büro

DEPARTMENT19

Höchste Geheimhaltungsstufe

DEPARTMENT 20

Territoriale Polizeikräfte

DEPARTMENT 21

Gesundheitsministerium

DEPARTMENT 22

Fernmeldeaufklärung und Nachrichtendienst

DEPARTMENT 23

Geheimdienstaufsicht und -koordination

Prolog

Crowthorne, Berkshire

In dem Dorf Crowthorne gibt es eine Alarmsirene, ein exakter Nachbau einer Luftschutzsirene aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist feuerrot lackiert und in zwei Metern Höhe an einem Metallpfosten montiert.

Die Sirene ist durch ein Erdkabel mit dem Broadmoor-Hospital verbunden: einem weitläufigen Komplex aus Klinkergebäuden, der über dem Dorf thront und fast dreihundert der gefährlichsten Geisteskranken des Vereinigten Königreichs beherbergt.

Sie soll jedermann in fünfundzwanzig Meilen Umkreis bei einem Ausbruch aus der Klinik warnen. In über fünfzig Jahren ist sie erst fünfmal ertönt.

Ben Dawson schlief seit ungefähr einer Dreiviertelstunde, als die Sirene losheulte. Er schreckte auf, hatte eben noch von einem tiefen, ungestörten Schlaf geträumt, der ihm seit Islas Geburt vor sechs Wochen nicht mehr möglich war, und merkte, wie seine Frau langsam den Kopf von ihrem Kissen hob.

»Alles okay mit dem Baby?«, murmelte sie undeutlich.

»Das ist nicht Isla«, antwortete er. »Das ist die Sirene.«

»Sirene?«

»Die verdammte Broadmoor-Sirene«, knurrte er. Das Heulen war ohrenbetäubend, ein an- und abschwellender Zweiklang, der dumpfe Wut auslöste, ihm die Luft abschnürte.

»Wie spät ist es?«, fragte Maggie. Sie zwang sich dazu, die Augen zu öffnen und ihn anzusehen.

Ben knipste seine Nachttischlampe an, zuckte vor ihrem grellen Licht zusammen und sah auf den Wecker.

»Viertel vor vier«, ächzte er.

Das ist nicht fair, dachte er. Einfach nicht fair.

Dann hörte er, immer wenn das Sirenengeheul abklang, weitere Laute: ein hohes, resolutes Weinen aus dem Zimmer über ihrem Schlafzimmer. Er stellte fluchend die Füße auf den Bettvorleger.

»Bleib hier«, sagte Maggie und schob sich an die Bettkante vor. »Diesmal bin ich dran.«

Ben schlüpfte in seine Laufschuhe, zog einen Kapuzenpulli über. »Kümmere du dich um Isla. Ich gehe raus und sehe nach, ob sonst noch jemand wach ist.«

»Okay«, sagte Maggie und stolperte durch die Schlafzimmertür hinaus. Sie war kaum richtig wach, bewegte sich mit der roboterhaften Schwerfälligkeit vieler junger Eltern. Ben hörte ihre Schritte auf der Treppe und kurz darauf, wie sie beruhigend sanft auf ihre Tochter einzureden begann.

Das Sirenengeheul machte Ben keine Angst. Er war schon mehrmals an der Klinik auf dem Hügel gewesen, hatte die Elektrozäune und das schwere Tor und die massiven Gebäude mit eigenen Augen gesehen und machte sich nicht die geringsten Sorgen wegen eines möglichen Ausbruchs. Gewiss, im Laufe der Jahre hatte es ein paar gegeben; nach der Flucht von John Straffens, der 1952 beim Hofkehren über die Mauer geklettert war und danach ein junges Mädchen aus Farley Hill ermordet hatte, war die Sirene aufgestellt worden. Aber der letzte Ausbruch lag fast zwanzig Jahre zurück, und die Sicherheitseinrichtungen waren seither ausgebaut und vervollkommnet worden. Stattdessen fühlte Ben, als er die Treppe zur Haustür hinabpolterte, was er durfte, weil das Baby ohnehin schon wach war, hauptsächlich Frustration.

Die letzten sechs Wochen waren keineswegs so gewesen, wie die Elternratgeber in Aussicht gestellt oder ihre Freunde sie beschrieben hatten. Er hatte damit gerechnet, müde zu sein, übellaunig und gestresst, aber nichts hatte ihn darauf vorbereitet, wie er sich tatsächlich fühlte.

Er war körperlich erschöpft, restlos erledigt.

Isla war schön, und wenn er sie ansah, empfand er Dinge, die er nie zuvor empfunden hatte – dieser Teil war genau wie angepriesen, hatte er zu seiner Erleichterung festgestellt. Aber sie weinte, laut und andauernd. Maggie und er wechselten sich darin ab, nach ihr zu sehen, Fläschchen zu wärmen, sie Bäuerchen machen zu lassen oder sie einfach nur in den Armen zu wiegen. Irgendwann fielen ihr die Augen zu, dann legten sie sie in ihr Kinderbettchen und schlichen ins eigene Bett zurück. Hatten sie Glück, bekamen sie zwei Stunden ungestörten Schlaf, bevor das Geschrei wieder begann.

Ben riss die Haustür auf. Die Nacht war windstill und warm, die Sirene klang im Freien viel lauter. Er trat auf die schmale gepflasterte Straße hinaus und sah, dass in den meisten Nachbarhäusern Licht brannte. Während er sich eine Zigarette aus der Packung anzündete, die er für Notfälle auf dem Tisch in der Diele liegen hatte – zum Beispiel, wenn er vor vier Uhr schon dreimal geweckt worden war –, gingen überall Haustüren auf, und bleiche Gestalten in Pyjamas und Bademänteln kamen heraus.

»Was zum Teufel geht hier vor?«, rief eine der Gestalten, ein großer, breitschultriger Mann, dessen kahler Schädel im Licht der Straßenbeleuchtung glänzte. »Warum stellt niemand das Ding ab?«

Charlie Walsh wohnte neben Ben und Maggie. Ben sah ihn kurz an, als er herüberkam, dann schaute er wieder auf den Hügel über dem Dorf. Die Klinik ragte wie eine dunkle Masse von einem schwachen, gelblichen Lichtschein umgeben in den Nachthimmel auf.

»Ich glaube nicht, dass das geht«, sagte Ben. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nur von der Klinik aus abgestellt werden kann.«

»Vielleicht sollte dann jemand rauffahren und nachsehen, was passiert ist?«

»Das wäre wohl angebracht.«

»Also gut«, sagte Charlie. »Ich komme mit.«

Ben starrte seinen Nachbarn an. Er wollte nichts weiter, als wieder nach oben gehen, sich unter seinem Kopfkissen verkriechen und darauf warten, dass dieses schreckliche Geheul verstummte. Aber offenbar hatte er keine Wahl.

»Meinetwegen«, knurrte er und marschierte in sein Haus zurück, um die Autoschlüssel vom Dielentisch zu holen.

Wenige Minuten später rasten die beiden Männer in Bens silbergrauem Range Rover durch das sogenannte Zentrum von Crowthorne und den Hügel hinauf nach Broadmoor.

Andy Myers saß am Schreibtisch der winzigen Polizeistation Crowthorne und bemühte sich, die Stimme am anderen Ende der Leitung trotz des ohrenbetäubenden Sirenengeheuls zu verstehen.

Die Polizei des Thames Valley hatte die Station in Crowthorne der Stufe 1 zugeordnet, was bedeutete, dass sie ausschließlich mit Freiwilligen besetzt war. Es gab insgesamt zwölf, fast alles Rentner, die sich darin abwechselten, die wenigen Fragen zu beantworten, die von den Dorfbewohnern an sie herangetragen wurden – alles von harmlosen Graffiti und leichtem Vandalismus bis hin zu Ratschlägen für richtiges Verhalten nach Verkehrsunfällen. Die Station war nachts nicht besetzt, aber einer der Freiwilligen war immer erreichbar. In dieser Nacht stand Andy Myers’ Name auf dem Dienstplan.

Als die Sirene überraschend losheulte, hatte er sich aus seinem warmen Bett gestemmt: brummend, sich räkelnd und jedes seiner achtundsechzig Jahre spürend. Die andere Betthälfte neben ihm war leer und kalt; dort hatte seine Frau Gloria über dreißig Jahre lang geschlafen, bis sie letztes Jahr im Sommer einem Krebsleiden erlegen war. Seit damals war Andy, der bis dahin in der Londoner City als Börsenmakler gearbeitet hatte, auf der Suche nach etwas, das seine innere Leere auszufüllen vermochte. Der freiwillige Dienst in der Polizeistation war nur eine der Aktivitäten, in die er sich gestürzt hatte; außerdem saß er bei den hiesigen Rotariern im Vorstand, war aktives Mitglied im Gartenbauverein und Geschäftsführer des Crowthorne Cricket Club.

Er zog sich rasch an und machte sich auf den Fünf-Minuten-Weg zur Polizeistation. Er beeilte sich nicht, denn über einen möglichen Ausbruch machte er sich keine Sorgen. Aber es gab Vorschriften für den Fall, dass die Sirene losheulte, und Andy Myers war ein Mann, der viel von Vorschriften hielt.

Er betrat den Parkplatz der Polizeistation und hätte sich wegen des schrillen Geheuls der Sirene, die hinter dem Gebäude stand, am liebsten die Ohren zugehalten. Das Dienstgebäude war ein umgebautes kleines Wohnhaus am Ende einer Häuserzeile. Er sperrte auf, ging hinein, ließ sich auf den abgewetzten Bürostuhl hinter dem Schreibtisch fallen, nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer.

Bei einem vermuteten Ausbruch aus Broadmoor waren zwei Vorschriften zu beachten: Die Schüler an allen hiesigen Schulen mussten unter Aufsicht in den Gebäuden bleiben, bis ihre Eltern kommen und sie abholen konnten, und die Polizei sollte im Umkreis von zehn Meilen um die Klinik Straßensperren errichten. Allerdings gab es in Crawthorne nur einen einzigen Streifenwagen, einen klapprigen Ford Escort, der draußen parkte, deshalb konnte Andy nicht mehr tun, als die Einsatzzentrale in Reading anzurufen und um Anweisungen zu bitten.

»Bitte noch mal, Sir!«, brüllte er, um die Sirene zu übertönen. »Ich soll was tun?«

»Fahren Sie dort rauf!«, blaffte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Sehen Sie nach, was zum Teufel da los ist. Wir schicken ein paar Wagen raus, um die Straßen sperren zu lassen. Wenn sich das Ganze als Fehlalarm erweist, können wir sie schnell zurückrufen.«

»Was sagen die auf dem Hügel?«, fragte Andy laut.

»Wir kriegen keine Antwort«, sagte der Wachhabende. »Wir denken, dass ihr System abgestürzt ist oder durchgedreht oder sonst was. Sie fahren rauf, reden mit der Nachtschwester und melden uns über Funk, was dort vor sich geht. Klar?«

»Ja, Sir!«, rief Andy Myers und legte auf.

Er fluchte herzhaft, was ihm früher stets einen warnenden Blick von Gloria eingebracht hatte, und nahm die Schlüssel des Fords von dem Haken neben der Tür. Er sperrte die Station ab, setzte sich ans Steuer und fuhr vom Parkplatz langsam auf die Straße hinaus. Am Ortsrand von Crowthorne schaltete er Blaulicht und Sirene ein, auch wenn ihr Signal im Heulen der Alarmsirene untergehen würde. Dann gab er Gas und lenkte den kleinen Ford die Straße entlang, die Ben Dawsons Range Rover keine fünf Minuten zuvor gefahren war.

Charlie Walsh fummelte am Autoradio herum, während Ben fuhr, und wechselte von einem Sender zum anderen, bis Ben ihn von der Seite her anfunkelte, worauf er das Radio ausschaltete. Sie fuhren schweigend weiter den breiten, sanft ansteigenden Hügel hinauf, der die Landschaft in meilenweitem Umkreis beherrschte. Beide Männer beobachteten den Lichtschein des Klinikkomplexes über ihnen, bis der Geländewagen rasch die letzte Kurve nahm und Broadmoor vor ihnen lag.

Die Einrichtung war im Jahr 1863 als Irrenanstalt für kriminelle Geisteskranke eröffnet worden – eine Bezeichnung, die seit Langem als diskriminierend galt. In der Neuzeit war sie durch niedrige Betonbauten, Metallschuppen, Bürocontainer und überdachte Passagen zur Größe eines kleinen Dorfs angewachsen. Aber die Hauptgebäude, in denen die Insassen untergebracht und behandelt wurden, waren seit hundertfünfzig Jahren praktisch unverändert: massive, neugotische Klinkerbauten mit grauen Schieferdächern, die ihren eigentlichen Zweck nicht verleugnen konnten. Sie sahen in jeder Beziehung wie Gefängnisgebäude aus.

Als sie sich dem äußeren Zaun näherten, fuhr Ben langsamer. Der sechs Meter hohe Metallzaun war mit Bandstacheldraht gekrönt und stand unter Hochspannung, er markierte die Grenze des Sperrgebiets um die Klinik; innerhalb dieses Bereichs sorgten hohe Mauern, Fußstreifen mit Hunden, automatisch schließende Türen und vergitterte Fenster dafür, dass kein Insasse auch nur in die Nähe des Zauns kam. Hätte jemand es trotzdem geschafft, hätte ihn ein starker, lähmender Stromstoß erwartet.

Das Tor in der Mitte des Zauns stand offen.

Es lief auf Schienen, war zweigeteilt und wurde von der Sicherheitszentrale aus gesteuert. An einer der Torsäulen war ein Blechkasten mit einem Telefon angebracht, das jedoch selten benutzt wurde, weil nur sehr wenige Leute unangemeldet in Broadmoor eintrafen.

Ben hielt mit dem Range Rover auf das offene Tor zu und fuhr langsam weiter.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Charlie Walsh. »Wir sollten umkehren. Komm, wir überlassen’s der Polizei, sich darum zu kümmern.«

»Jetzt sind wir schon mal hier«, sagte Ben. »Da können wir uns auch umsehen.«

Jenseits des Elektrozauns stieg die Fahrbahn zum Haupttor hin leicht an. Das Torgebäude erinnerte an eine mittelalterliche Burg: Zwei Türme flankierten ein massives schwarzes Tor, darüber war eine schwarz-goldene Uhr angebracht, die eine sonderbare Strenge ausstrahlte. Die äußeren Klinikgebäude schlossen sich nach beiden Seiten an, hinter ihnen ragten die Stationsgebäude empor, die durch eine gewaltige Mauer abgetrennt im Innern lagen. Der ganze Komplex wirkte uneinnehmbar.

Nicht aber, wenn das Tor wie jetzt offen stand.

Ben spürte ein unangenehmes Kribbeln im Magen, als er langsam hindurchfuhr. Die Tore von Broadmoor standen niemals offen, und selbst wenn der Elektrozaun ausgefallen war, hätten sie niemals so dicht ans Torgebäude herankommen dürfen, ohne angehalten zu werden. Dass beide Tore offen standen, war schlicht undenkbar. Und ihm fiel noch etwas anderes auf. Er fuhr sein Fenster halb herunter, spürte die milde Nachtluft auf seinem Gesicht und horchte nach draußen.

Die Alarmsirene heulte an- und abschwellend weiter. Aber in den leisen Phasen war kein Laut zu hören.

In der Klinik herrschte normalerweise selbst nachts lärmender Betrieb. Sie hätten das Trampeln schwerer Stiefel, das Kläffen der Spürhunde von Fußstreifen, die Stimmen von Mitarbeitern der Nachtschicht hören müssen.

Stattdessen war es totenstill.

»Wonach horchst du?«, schrie Charlie Walsh, um die Sirene zu übertönen. »Ist da was zu hören?«

»Nichts«, rief Ben. »Gar nichts!«

Er fuhr das Fenster wieder hoch und gab leicht Gas. Der große Wagen kroch durchs Tor, das von zwei Wachhäuschen – Kunststoffboxen, die an die Kassenhäuschen von Mautstationen erinnerten – flankiert wurde. Im Vorbeirollen sah Ben in das Häuschen auf seiner Seite. Es war leer. Nirgends eine Bewegung, aber an der Rückwand war ein dunkler Fleck zu sehen, als habe jemand einen Farbbeutel dagegengeworfen.

»Wie sieht’s auf deiner Seite aus?«, fragte er. »Irgendwer da?«

»Niemand«, antwortete Charlie, und Ben hörte erstmals Angst in der Stimme seines Nachbarn. »Hier ist niemand, Ben. Wo zum Teufel sind die alle?«

»Keine Ahnung.«

Sie fuhren schweigend auf den Hof hinter dem Torgebäude. Auf beiden Seiten standen moderne Verwaltungshäuser, aber direkt vor ihnen ragte das ursprüngliche Hauptgebäude von Broadmoor auf: ein imposanter, mächtiger Klinkerbau. Eine breite Treppe führte zu seinem reich verzierten Portal hinauf, und auf ihren Stufen sah Ben etwas, was dort nicht hingehörte.

Er bremste so scharf, dass Charlie Walsh nach vorn gegen den Sicherheitsgurt geworfen wurde und vor Schreck laut aufschrie.

»Scheiße, was zum …«

»Still!«, unterbrach Ben ihn. Er blendete auf, sodass die Scheinwerfer den Hof erhellten.

Auf den Steinstufen lag ein Mann in einem weißen Krankenhausnachthemd, das großflächig blutrot verfärbt war.

»O Gott«, flüsterte Charlie. »O Gott, Ben, ich will nicht mehr hier sein. Ich will von hier weg!«

Ben gab keine Antwort. Er beugte sich nach vorn, verrenkte sich den Hals, um nach oben sehen zu können, und ahnte schon jetzt, welcher Anblick ihn erwartete. Er hörte seine Halswirbel knirschen, dann sah er es.

Im dritten Stock, genau über der blutenden schlaffen Gestalt, gähnte eine Fensterhöhle, deren verstärkte Scheibe fehlte.

»Er ist gesprungen«, murmelte Ben. »Oben ist ein Fenster ohne Glas zu sehen. Er ist rausgesprungen.«

Auch Charlie beugte sich nach vorn, aber mit seinem Wanst kam er nicht dicht genug an die Scheibe heran, um sehen zu können, worauf Ben zeigte. Er sackte schwer atmend auf seinem Sitz zurück.

»Er ist tot, Ben«, sagte er mit zitternder Stimme. »Für ihn können wir nichts mehr tun. Komm, wir fahren heim und rufen die Polizei an, damit sie einen Krankenwagen schickt. Bitte, Ben, lass uns fahren. Bitte!«

»Warum liegt er einfach so da?«, fragte Ben sich laut. »Warum hat niemand versucht, ihm zu helfen? Wo ist das ganze Personal?«

»Das weiß ich nicht!«, kreischte Charlie Walsh. »Ich will heim, Ben. Ich will sofort heim!«

Ben betrachtete seinen Nachbarn. Laut keuchend und mit hervorquellenden Augen schien der Mann kurz vor einer Panikattacke zu stehen. Und er hatte recht: Sie konnten nichts für diesen Mann tun, der in einer erschreckend großen Blutlache lag. Aber alles an der Klinik erschien Ben irgendwie falsch. Das lag nicht nur an den offen stehenden Toren; sie war zu still, zu leer, und jetzt lag einer ihrer Patienten tot auf dem Hof, und niemand schien das auch nur bemerkt zu haben.

Er öffnete seinen Sicherheitsgurt, streckte die Hand aus und stieß die Fahrertür auf.

Charlie stieß einen spitzen Schrei aus. »Was machst du?«, fragte er laut, um das Sirenengeheul zu übertönen.

Ben ignorierte ihn. Er stieg wie in Trance aus. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, versuchte zu verarbeiten, was er rings um sich sah, begutachtete es von allen Seiten wie ein Rätsel, dessen Lösung sich knapp nicht fassen ließ. Wie in weiter Ferne hörte er, dass die Beifahrertür geöffnet wurde und Charlie Walsh nervös die Füße aufs Pflaster stellte.

»Steig wieder ein, Ben«, rief er. »Bitte, Ben!«

Der flehende Tonfall des Mannes brachte Ben zur Vernunft, und er schüttelte den Kopf, als könne er so wieder klar denken.

»Okay«, rief er und sah Charlie Walsh erleichtert grinsen. »Entschuldige, Kumpel. Du hast recht, wir hauen lieber ab.«

Er setzte sich wieder ans Steuer und schloss eben seine Tür, als der Tote aufstand und sie anglotzte.

Er war ein Mann Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Sein Nachthemd sah wie in rote Farbe getaucht aus, und sein linker Arm stand in unnatürlichem Winkel vom Körper ab, aber auf seinem Gesicht stand ein breites, hungriges Lächeln, und seine Augen glühten wie flüssige Lava.

Charlie Walsh stieß einen hohen, zittrigen Schrei aus und stemmte sich mit den Händen gegen das Ablagefach, als versuche er, sich möglichst weit von dem alptraumhaften Wesen vor ihnen zu entfernen. Ben, dem die Augen aus den Höhlen zu quellen drohten, starrte es nur an, ohne begreifen zu können, was er sah. Dann nahm die blutgetränkte Gestalt Anlauf, sprang auf die Motorhaube des Range Rovers und stieß mit der Faust durch die Frontscheibe.

Bens Lähmung fiel von ihm ab, als Walsh erneut aufschrie. Durch das zertrümmerte Glas drang Sirenengeheul ins Fahrzeuginnere, machte sie beide halb taub. Der Mann mit den roten Augen schob seinen Arm durch die Scheibe, ohne darauf zu achten, dass er sich dabei die Haut zerschnitt; Bluttropfen spritzten, als seine Finger Bens Kehle streiften und dann fuchtelnd nach Charlies Gesicht griffen. Dabei kreischte der Mann so laut, dass er sogar das Sirenengeheul übertönte: Er brüllte Wörter, die Ben nicht verstand, sein Mund war in ständiger Bewegung, sodass Blut und Speichel aufs Glas tropften, während er darum kämpfte, an die beiden Männer in dem Geländewagen heranzukommen.

Dann bekamen seine tastenden, suchenden Finger Charlie Walshs Unterlippe zu fassen. Mit einem urtümlichen Triumphschrei riss das Ungeheuer mit den leuchtenden Augen sie mit einem Geräusch wie von zerreißendem Papier vom Gesicht des Mannes. Aus der Wunde spritzendes Blut färbte Frontscheibe und Innenverkleidung rot, und Charlies Schreie erreichten grausige neue Höhen.

Ben stellte den Wählhebel des Range Rovers auf R und trat das Gaspedal durch. Walsh wurde auf seinem Sitz nach vorn geworfen, und die Finger des Patienten schlossen sich für schreckliche Sekunden um seinen Hals. Dann wirkte die Beschleunigung sich aus, und der Unbekannte stürzte schwer aufs Pflaster des Innenhofs. Aber er war sofort wieder auf den Beinen, stand in grellem Scheinwerferlicht da, während der Range Rover davonschoss. Ben sah sich um und stellte fest, dass das offene Tor gefährlich rasch näher kam. Für eine Kurskorrektur war es zu spät; er konnte nur hoffen, dass er keine Lenkausschläge mehr gemacht hatte, seit er durch das Tor in diese schreckliche Umgebung gefahren war.

Metall kreischte, als der Range Rover zwischen den Torpfosten hindurchschoss, und auf der Beifahrerseite sprühten Funken, weil die Türbleche den gemauerten Klinkerpfeiler streiften. Charlie, der mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der damit rechnet, im nächsten Augenblick aus seinem Alptraum zu erwachen, abwechselnd schrie und schluchzte, wich erschrocken zur Seite und fiel fast auf Ben, der ihn grob zurückstieß. Dann hörte das Kreischen auf, und sie hatten das Tor passiert. Ben bremste scharf, riss das Lenkrad herum und gab wieder Gas. Die Reifen drehten quietschend durch, dann stand der große Wagen in Gegenrichtung auf der Straße, die sie erst vor wenigen Minuten heraufgekommen waren. Von hinten war ein dumpfer Aufprall zu hören, und Ben sah in den Rückspiegel, als er das Gaspedal nochmals durchtrat.

Der mit Blut getränkte Patient, der Bens Nachbar die Unterlippe wie nichts weggerissen hatte, war in vollem Lauf ans Heck des Geländewagens geprallt. Eine Blutspur auf der Heckscheibe zeigte, wo er aufgeschlagen war. Als der Wagen davonschoss, sah Ben den Mann auf der Fahrbahn liegen, als habe er bei dem Aufprall das Bewusstsein verloren. Aber während er den Gestürzten beobachtete, entdeckte er etwas anderes, das ihm fast das Herz stillstehen ließ.

Dunkle Gestalten landeten in stetigem Strom auf dem Innenhof, bevor sie sich rasch in Richtung Tor bewegten. Ben fuhr sein Fenster wieder herunter und konnte trotz des Sirenengeheuls ganz leise das Klirren zerbrechenden Glases und ein dumpfes, anschwellendes Knurren wie von einem Wolfsrudel hören. Auch als der Range Rover durchs äußere Tor fuhr und bergab weiterraste, sah er immer wieder in den Rückspiegel und achtete nicht auf das blau-rote Leuchten hinter der ersten scharfen Kurve.

Andy Myers biss die Zähne zusammen und gab noch etwas mehr Gas. Das Sirenengeheul war selbst im Inneren des Wagens ohrenbetäubend; die Fenster und Türen des alten Fords schlossen nicht mehr so luftdicht wie einst; er hätte genauso gut mit heruntergelassenen Scheiben fahren können. Wie dem auch sei, er würde die Nachtschwester befragen, was eigentlich passiert sei, über Funk Meldung erstatten und dann zusehen, dass er wieder ins Bett kam. Für morgen Mittag war ein Kricketmatch angesetzt, und er war sich schon jetzt trübselig darüber im Klaren, dass nur sehr wenige Spieler seiner Mannschaft ausgeschlafen und in Bestform sein würden.

Er schlug das Lenkrad leicht ein und steuerte den Wagen durch die letzte Kurve, bevor die Zufahrt bis zum Elektrozaun geradeaus verlief. Dann wurde es plötzlich gleißend hell vor ihm, und er hatte noch eine Zehntelsekunde Zeit, sich zu fragen, woher diese Helligkeit kam, bevor der Range Rover seinen Ford frontal rammte.

»Vorsicht!«, kreischte Charlie Walsh, dessen Stimme wegen der weggerissenen Unterlippe undeutlich klang.

Ben riss sich vom Innenspiegel los, war sich vage bewusst, dass am Rand seines Blickfelds etwas aufgetaucht war. Dann füllte ein blau-rotes Leuchten die Frontscheibe aus und im nächsten Augenblick prallte Metall auf Metall, bevor alles um ihn herum schwarz wurde.

Ben Dawson kam in einer chaotischen Welt zu sich.

Er öffnete mühsam die Augen und spürte stechende Kopfschmerzen, als ihm das Sirenengeheul ins Bewusstsein drang. Langsam, ganz langsam sah er zu Charlie Walsh hinüber.

Sein Nachbar hing mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen in seinem Sicherheitsgurt. Sein Gesicht war mit Blut bedeckt, und quer über die Stirn zog sich eine deutlich sichtbare Schwellung. Während Ben ihn anstarrte, entstand in Charlies ruiniertem Mund eine kleine Blutblase, die anschwoll und zerplatzte, bevor eine zweite und dritte Blase folgten.

Er lebt, dachte Ben. Gott sei Dank.

Ben sah an sich hinab und spürte, wie ihn eine Woge der Erleichterung durchflutete; der Überrollkäfig des großen Wagens hatte gehalten. Unter dem Lenkrad befand sich eine Ausbuchtung, weil der Motorblock bei dem Zusammenstoß nach innen geschoben worden war; aber er war nicht durchgebrochen, sonst hätte die Metallmasse ihm die Beine und den Unterleib zerschmettert. Er hatte Nasenbluten, das nicht aufhören wollte, und konnte die Delle im Instrumentenbrett sehen, die von seinem Schädel stammen musste. Er hatte hämmernde Kopfschmerzen und konnte nicht richtig denken; er versuchte es, aber seine Gedanken trieben wie dünne Rauchschwaden im Wind davon. Er streckte eine zitternde Hand aus und öffnete die Fahrertür. Dann wollte er aussteigen, aber von seinem linken Knöchel ausgehend schoss eine Schmerzwolke nach oben und ließ ihn aufschreien. Ben sah nach unten und stellte fest, dass sein Fuß beinahe rechtwinklig nach innen verdreht war. Dieser Anblick war so fremdartig, so schrecklich, dass er nicht mehr aufhören konnte, sich in seinen Schoß zu übergeben.

Er angelte sein Smartphone aus der Tasche und wählte Maggies Nummer. Er wusste, dass er als Erstes die Polizei anrufen sollte, aber aus irgendeinem Grund wollte er das nicht. Vor dem Unfall hatte sich etwas ereignet – aber was genau? War ihnen ein anderes Auto begegnet? Hatte er einen anderen Wagen gerammt? Während er sich das Handy ans Ohr hielt, spähte er durch die zersplitterte Frontscheibe nach draußen. Überall auf dem Asphalt lagen Metalltrümmer. Als er sich weiter nach vorn beugte, wurde ihm undeutlich bewusst, dass er die Fahrbahn aus einer anderen Perspektive sah, weil ein großer Metallklumpen unter die Vorderräder seines Wagens geraten war. Ben starrte ihn verständnislos an, bis er zwei zersplitterte Blinkleuchten entdeckte – eine rot, eine blau – und plötzlich wieder alles wusste.

Die Klinik, der Patient, Charlie Walsh, der Streifenwagen und …

Ben erstarrte.

O Gott. Die Patienten. Zersplitterndes Glas. Hinter mir.

Die Sirene heulte an- und abschwellend weiter, und Ben hörte Maggies Stimme, die ins Telefon schrie, aber er konnte seinen Mund nicht dazu bringen, ihr zu antworten. Er zwang sich dazu, in den Rückspiegel zu sehen, und entdeckte ein rotes Leuchten, das sich bergab auf ihn zu wälzte: eine wabernde, pulsierende hellrote Masse, die aus Hunderten von glühenden Augenpaaren zusammengesetzt zu sein schien.

»Lauf«, krächzte er ins Handy. »Nimm Isla mit und lauf!«

52 Tage bis zur Stunde null

1

Die nächste Generation

Jamie Carpenter konzentrierte sich so sehr auf das vor ihm stattfindende Kampftraining, dass er das Piepsen seiner Konsole erst beim dritten Mal hörte.

»Fünf Minuten Pause!«, rief er und zog das rechteckige Metallgerät aus der Gürtelhalterung, während zwei Stimmen erleichtert aufstöhnten. Jamie drückte die Taste LESEN auf dem Touchscreen der Konsole und las die kurze Nachricht, die auf dem Display angezeigt wurde:

NS303,67-J/LIVE_BRIEFING/OPS/SOFORT

Die Mitteilung war einfach und klar, und doch spürte Jamie kurzzeitig einen Stich in seinem Herzen. Der Befehl, sich sofort zu einer Besprechung im Kontrollzentrum einzufinden, glich Dutzenden von früheren Befehlen dieser Art, die er in den Monaten seit seiner Ankunft im Ring, dem streng geheimen Stützpunkt und Herz des Departments 19, über die Konsole erhalten hatte. Aber dieser hier war allein für ihn bestimmt; Jamies Agentennummer stand Schwarz auf Weiß auf dem Display. Fast allen früheren Anweisungen war das Kürzel G-17 vorangestellt gewesen – für das Team 17 aus Larissa Kinley, Kate Randall und ihm selbst, welches er bis vor ungefähr einem Monat geführt hatte.

Nach Valeri Rusmanovs Überfall auf den Ring war ihr Team aufgelöst worden, damit ihre kombinierte Erfahrung zweckmäßiger eingesetzt werden konnte, während das Department seine Reihen schloss und zu alter Stärke zurückfand. Das war eine der ersten Entscheidungen gewesen, die der Kommissarische Direktor Holmwood getroffen hatte, und obwohl Jamie sie durchaus verstand, hatte es sich trotzdem angefühlt, als würden die drei dafür bestraft, dass sie gute Arbeit leisteten. Colonel Holmwood hatte ihnen versichert, das sei nicht der Fall, und was sie dabei empfanden, spielte letztlich keine Rolle; Befehl war Befehl, und sie würden ihn befolgen.

»Sir?«

Die Stimme zitterte, und Jamie sah von seiner Konsole auf. Er saß auf einer Bank am Rand des »Spielplatzes«, dem riesigen, runden Übungsbereich auf Ebene F des Rings, auf dessen Hartholzboden schon Generationen von Agenten geübt, geschwitzt und geblutet hatten. Seit etwa fünfzehn Jahren herrschte hier Terry, der große, muskulöse Ausbilder, der nun mit vor seiner breiten Brust verschränkten Armen mitten im Raum stand. Aber nicht er hatte gesprochen; die Stimme gehörte John Morton, der zusammengesunken auf dem Boden hockte und mit großen Augen zu Jamie hinübersah.

Morton atmete schwer und blutete aus einem halben Dutzend Wunden, vor allem aus seiner Unterlippe, die unter den wettergegerbten Knöcheln des Ausbilders aufgeplatzt war. Er saß mit untergeschlagenen Beinen da, stützte die Ellbogen auf die Knie und war so blass, dass Jamie fürchtete, er sei kurz davor, sich zu übergeben. Stetig von seiner Unterlippe tropfendes Blut bildete eine Lache zwischen seinen Beinen.

»Die Nachricht betrifft nicht Sie«, antwortete Jamie. »Aber ich muss kurz nach oben.«

»Alles in Ordnung, Sir?«, fragte eine zweite Stimme. Jamie wandte sich ihr zu. Zwei, drei Meter von Morton entfernt saß eine dunkelhaarige junge Frau, die Lizzy Ellison hieß. Sie war so blass wie Morton und blutete wie er aus mehreren Wunden, aus dem Mund und vor allem aus einer aufgeplatzten Augenbraue, aber ihre Stimme klang fest.

»Alles bestens«, sagte Jamie und bedachte beide mit einem flüchtigen Lächeln. »Zumindest aus meiner Sicht. Terry?«

»Ja, Sir?«, antwortete der Ausbilder. Der hünenhafte Mann hatte die kurze Trainingspause dazu genutzt, auf andere Gedanken zu kommen, und ließ jetzt ein schwaches, stolzes Lächeln sehen, als er Jamie Carpenter betrachtete. Terry hatte das Gefühl, es sei erst wenige Tage her, seit der Junge auf dem Spielplatz erschienen war: nervös und mager und völlig desorientiert, aber voller verbitterter Entschlossenheit, die er als erfahrener Menschenkenner sofort entdeckt hatte. Jetzt schob er diesen Gedanken beiseite und setzte eine ernste Miene auf, als er auf den Befehl des tödlichen Agenten wartete, zu dem der ruhige Junge sich so schnell entwickelt hatte.

»Nahkampf, bitte«, sagte Jamie. »Noch mal.«

Morton und Ellison ächzten vernehmlich, als sie erst Jamie ansahen, dann einen verzweifelten Blick wechselten und zuletzt zu der imposanten Gestalt ihres Ausbilders aufsahen.

»Wird gemacht, Sir«, bestätigte Terry und wandte sich erwartungsvoll grinsend seinen beiden Schülern zu.

Jamie marschierte den Korridor entlang zu dem Aufzug, der ihn nach oben ins Kontrollzentrum bringen würde.

Er hatte vorübergehend ein schlechtes Gewissen, als er an das brutal harte Training dachte, das Morton und Ellison bei Terry absolvieren mussten. Die Nahkampfausbildung war ein Regime aus Gewalt und Erschöpfung, an das er sich vermutlich sein Leben lang erinnern würde. Aber er schob diesen Gedanken rasch beiseite: Rekruten wurden zerbrochen und neu zusammengesetzt – so war es schon immer gewesen, und er wusste, dass seine beiden potenziellen neuen Teammitglieder durch diese Tortur viel lernen würden, was ihnen draußen in der Welt nützen würde, in der Gewalt und Gefahren bisher unbekannten Ausmaßes hinter praktisch jeder Ecke lauerten. Die von Schwarzlicht so lange kleingehaltene Dunkelheit drohte sie zu überwältigen, und das Department konnte es sich nicht leisten, allzu viel Rücksicht auf die verletzten Gefühle und blutigen Nasen ihrer neu angeworbenen Rekruten zu nehmen.

Jamie war vorsichtig optimistisch, was die beiden potenziellen Agenten betraf, die ihm anvertraut worden waren – eine Tatsache, die ihn immer wieder amüsierte. Beide waren älter als er und weit erfahrener, was die Außenwelt betraf. Innerhalb des Rings zählte ihre Erfahrung jedoch nichts, und Jamie war eine fast legendäre Gestalt, zu der beide geradezu ehrfürchtig aufblickten.

John Morton war einundzwanzig und von Major Paul Turner persönlich angeworben worden. Er hatte kurz vor der Versetzung zum ersten Bataillon der Fallschirmjäger gestanden und galt bereits als Soldat, der sich eines Tages dem mörderischen Auswahlprozess des Special Air Service (SAS), der Elitetruppe des britischen Heeres, unterziehen würde. Turner war durch seine alten Kameraden in Hereford auf ihn aufmerksam geworden und hatte rasch in die Karriereplanung des jungen Mannes eingegriffen. Weniger als einen Tag später war Morton im Ring eingetroffen – mit demselben Staunen, das vor kaum einem halben Jahr auch in Jamies Gesicht gestanden hatte.

Lizzy Ellison war dreiundzwanzig, zwei Jahre älter als ihr Ausbildungskamerad und über fünf Jahre älter als Jamie. Sie war Agentin beim SIS gewesen, dem früher als MI6 bekannten Secret Intelligence Service, und ihre dortige Tätigkeit war so geheim gewesen, dass nur der SIS-Generaldirektor und der Chef des Generalstabs darüber informiert waren. Jamie hatte sie bisher nicht danach gefragt, würde es aber eines Tages tun, weil er aus eigener Erfahrung wusste, dass Geheimnisse innerhalb des Teams gefährlich sein konnten.

Dass er sich vorläufig damit zufriedengab, ihre Vergangenheit ein Geheimnis bleiben zu lassen, hatte einen einzigen Grund: Angela Darcy, die schöne und furchtlose Agentin, die Jamie vor ungefähr einem Monat bei seinem verzweifelten Rettungsunternehmen in Paris begleitet hatte, ebenfalls vom SIS kam und das räuberischste und tödlichste Wesen war, das er jemals erlebt hatte, kannte Ellison. Wie gut, wusste er nicht, aber es genügte ihm; wenn sie auf dem Radar von Angela Darcy erschien, die vor ihrer Ankunft bei Schwarzlicht oft genug knöcheltief in Blut gewatet war, würde Jamie sie nicht drängen, ihre Geheimnisse preiszugeben.

Wenigstens vorerst nicht.

Die Aufzugtür öffnete sich. Jamie betrat die Kabine und drückte die mit 0 bezeichnete Taste. Während der Lift ihn zur Ebene 0 hinaufbrachte, fragte er sich, was Cal Holmwood diesmal wollen würde.

Er hatte oft das Gefühl, mehr Zeit im Kontrollzentrum zu verbringen als in seiner kleinen Unterkunft, in der er gelegentlich Schlaf fand. Das Zentrum war ein ovaler Raum im Mittelpunkt der einzigen oberirdischen Ebene des Rings, in dem Einsätze mit höchster Dringlichkeit besprochen und auf den Weg gebracht wurden. Während der Wochen nach dem Überfall auf den Ring und der Entführung Harry Sewards, des erfahrenen Direktors des Departments, war es zum Drehkreuz des gesamten Stützpunkts geworden, weil es auf einmal nur noch Einsätze mit höchster Dringlichkeit gab. Dass dort gute Nachrichten warteten, kam äußerst selten vor.

Jamie lehnte an der kühlen Metallwand der Kabine und ließ seine Gedanken wandern; wie so oft waren sie rasch bei seinen Freunden. Der katastrophale Überfall Valeris und seines Heers aus Vampiren auf den Ring hatte sie alle zutiefst getroffen. Kate Randall kämpfte noch damit, den Tod des jungen Agenten Shaun Turner zu verarbeiten, der ihr Geliebter gewesen war, und hatte in den letzten Tagen eine Entscheidung getroffen, von der Jamie sie wieder abzubringen hoffte. Matt Browning war in den Tiefen des Rings vergraben und verbrachte jede wache Sekunde damit, auf einen PC-Monitor zu starren. Und Larissa Kinley, die Vampirin, die für Jamie wichtiger als alles andere auf der Welt geworden war, war fort.

Die Aufzugtür öffnete sich, und er ging langsam den Korridor auf Ebene 0 entlang. Vor dem Kontrollzentrum machte er kurz halt, dann atmete er tief durch und trat ein.

Um einen langen Tisch in der Mitte des großen Raums war eine Gruppe schwarz uniformierter Gestalten versammelt.

Colonel Cal Holmwood, der Jack Williams neben sich hatte, stand am Kopfende des Tischs. An den Längsseiten saßen dem Kommissarischen Direktor aufmerksam zugewandt Patrick Williams, Dominique Saint-Jacques, Jacob Scott, Andrew Jarvis, Richard Brennan und eine Agentin der Nachrichtenabteilung namens Amy Andrews. Wie Angela Darcy, die nicht anwesend zu sein schien, und Dominique gehörte sie erst seit Kurzem dem Sonderkommando Stunde null an, das nach Valeris Überfall erweitert worden war und sich nun aus allen Abteilungen des Departments zusammensetzte.

Als Jamie Platz nahm, fiel ihm auf, dass auch Paul Turner fehlte, was inzwischen keine Überraschung mehr war.

»Lieutenant Carpenter«, sagte Cal Holmwood. »Wie kommen Ihre Rekruten voran?«

»Ziemlich gut, Sir«, antwortete Jamie. »Terry sorgt dafür, dass sie merken, wofür sie unterschrieben haben.«

Der Colonel grinste. »Freut mich, das zu hören. In ein paar Stunden können sie sich die Hörner abstoßen.«

Jamie runzelte die Stirn. Früher hatte die Ausbildung bei Schwarzlicht dreizehn Monate lang gedauert – zusätzlich zu der Spezialausbildung in Eliteeinheiten, die fast alle Rekruten absolvierten, bevor sie auch nur von der Existenz des Departments erfuhren. Aber die Umstände hatten eine radikale Straffung erzwungen, und was jetzt auf dem Spielplatz stattfand, war ganz entschieden ein Intensivkurs. Aus jedermanns Perspektive war das keineswegs ideal, aber es gab keine Alternative. Das Department war getroffen, schwer getroffen worden.

Auf den Wohnebenen gab es verwaiste Unterkünfte von Agenten, die nie mehr zurückkommen würden, leere Schreibtische in den Überwachungs-, Sicherheits- und Nachrichtendiensten sowie Einsatzteams, die ein, zwei oder in Ausnahmefällen alle drei Mitglieder verloren hatten. Diese Lücken, diese Löcher im Gewebe des Departments, ließen sich nicht leicht ausfüllen, auch von eigens zu diesem Zweck angeworbenen Männern und Frauen nicht. Freunde, Kollegen und sogar Angehörige waren gefallen, und Neulinge waren kein gleichwertiger Ersatz, auch wenn sie unverzichtbar waren, weil es vor allem darauf ankam, die Ist-Stärke des Departments möglichst schnell wieder auf den früheren Stand zu bringen.

Der Countdown bis zur Stunde würde nicht warten, bis sie so weit waren.

Trotzdem hielt Jamie die Mitglieder seines Teams nur für bedingt einsatzbereit: Er hatte sie in frühestens einer Woche mitnehmen wollen.

»Wie das, Sir?«, fragte er den Kommissarischen Direktor. »Was ist passiert?«

Holmwood sah zu Jack Williams hinüber. »Jack?«

Jamies Freund nickte. »Danke, Sir«, sagte er. »In Vertretung des Chefs des Sicherheitsdiensts soll ich Sie alle über die Ereignisse von gestern Abend informieren.«

Er gab auf seiner Konsole einige kurze Tastenbefehle ein, und die Agenten sahen zu dem Großbildschirm an einer Wand hinüber. Ein Fenster öffnete sich, und körnige Bilder von Überwachungskameras füllten die Bildfläche: Gestalten in weißen Nachthemden rannten durcheinander, machten Bocksprünge, holten vor ihnen flüchtende Gestalten ein, zerfetzten sie. Blut spritzte an Wände und Decken, und die in Panik flehenden Augen der Opfer waren weit aufgerissen und riesengroß, selbst bei dieser geringen Auflösung.

»Das«, sagte Jack, »ist die Abteilung D im Broadmoor Hospital, einer von drei Hochsicherheitseinrichtungen für die gefährlichsten Geisteskranken unseres Landes. Heute Morgen um 1.47 Uhr ist dort eine Gruppe von Vampiren eingebrochen, hat das gesamte Personal umgebracht und alle Patienten freigelassen. Wir haben es bisher mit neunundzwanzig von ihnen zu tun bekommen, von denen wir zwei gefangen nehmen konnten. Jeder einzelne war verwandelt worden.«

Die Anwesenden holten erschrocken tief Luft.

»Alle?«, fragte Patrick Williams halblaut.

»Richtig«, bestätigte sein Bruder.

»Das war ein Angriff auf uns, nicht auf die Patienten, nicht wahr?«, stellte Dominique Saint-Jacques fest. »Sie haben alle verwandelt und ihnen Tür und Tor geöffnet.«

»Stimmt«, antwortete Jack. »Aber das war leider nicht der einzige derartige Vorfall, der sich vergangene Nacht ereignet hat. Vampire haben auch das Hochsicherheitsgefängnis in Florence, Colorado, das Gefängnis Schwarzer Delfin in Sol-Ilezk, das C Max in Pretoria, das Gefängnis Awl-Ha’ir in Riad, das Straflager Kamunting in Malaysia, die Strafanstalt Goulburn in New South Wales und das Bundesgefängnis Catanduvas in Südbrasilien überfallen. Insgesamt sind über viertausend Häftlinge aus Hochsicherheitstrakten auf freiem Fuß, und in jedem Land zeigt sich, dass die wieder gefassten verwandelt sind. Dies scheint nichts weniger als ein koordinierter Angriff auf die übernatürlichen Departments der Welt zu sein.«

Danach herrschte Schweigen, während die Agenten die Dimensionen des Gehörten zu begreifen versuchten. Jamie sah sich am Tisch um; Patrick Williams und Dominique Saint-Jacques starrten Jack mit ruhiger, neutraler Miene an, die ihn Bewunderung für die beiden empfinden ließ.

Die bringt nichts aus der Fassung, dachte er. Absolut nichts.

Er wollte sich wieder auf Jack konzentrieren, als er auf Jacob Scott aufmerksam wurde: Der australische Colonel war leichenblass und starrte mit weit aufgerissenen Augen die Tischplatte vor sich an. Der stets freimütige, altgediente Agent sah aus wie jemand, der kurz vor einem Herzanfall stand, dachte Jamie. Seine Fäuste waren so krampfhaft geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Für unser Department hat diese Sache jetzt oberste Priorität«, sagte Cal Holmwood. Jamie riss sich stirnrunzelnd von Colonel Scott los und wandte sich wieder dem Kommissarischen Direktor zu. »Sie alle sind sich gewiss darüber im Klaren, dass das Potenzial für einen massiven Befall der Bevölkerung und Verluste an Menschenleben sehr bedeutend ist. Ich rufe die Feldteams zurück …«

»Alle?«, unterbrach Jamie ihn. »Auch die, die Admiral Seward suchen? Und Dracula?«

»Major Landis’ Team sucht weiter nach Admiral Seward«, antwortete Holmwood und fixierte Jamie eisig. »Alle anderen kommen zurück, bis wir die neue Situation im Griff haben.«

»Dracula wird stärker«, wandte Jamie ein. »In diesem Augenblick, während wir hier sitzen. Er sollte oberste Priorität haben.«

»Es geht hier um Dracula«, sagte Holmwood. »Jack, zeigen Sie uns das Torgebäude.«

Auf dem Video einer anderen Überwachungskamera war die überbaute Einfahrt zum Broadmoor Hospital zu sehen. Jamie fuhr leicht zusammen. An dem Torbogen waren mit herabtropfendem Blut drei Wörter geschrieben:

ER KEHRT ZURÜCK

»Trotzdem«, widersprach Jamie unbeirrt. »Wenn Dracula und Valeri diese Häftlinge freigelassen haben, spielen wir ihnen direkt in die Hände.«

»Danke, Lieutenant Carpenter«, sagte Holmwood trocken. »Darauf wären wir ohne Sie nicht gekommen.«

»Was tun wir also dagegen?«

Holmwood sah zu Jack hinüber. »Lieutenant Williams? Zeigen Sie uns den Film aus Crowthorne.«

Jack nickte, dann gab er einige Tastenbefehle ein. Auf dem Großbildschirm öffnete sich ein neues Fenster, das eine malerische Dorfstraße im Standbild zeigte. Als er die PLAY-Taste drückte, begann der Schwarzweißfilm ruckfrei zu laufen, ohne die Einstellung zu verändern. Die Kamera zeigte Reihenhäuser mit gepflegten Vorgärten und sauber gepflasterten Fußwegen entlang niedriger Mäuerchen. Ungefähr in der Bildmitte stand ein Kleinwagen geparkt, in dessen Frontscheibe sich das Licht der Straßenlampe über ihm spiegelte.

Nach einigen Sekunden gab es Bewegung. Ein Mann mittleren Alters rannte mit wirbelnden Armen und stampfenden Füßen die Straße entlang. Er erreichte das Auto, ging vor der Motorhaube in die Hocke und hielt Ausschau in die Richtung, aus der er gekommen war. Wenige Augenblicke später kam ein weiterer Mann ins Bild geschlendert; er trug ein langes weißes Krankenhausnachthemd, war barfuß und hatte feurig leuchtende Augen. Während er auf den geparkten Wagen zuhielt, schien der Mann zu lächeln.

Der Vampir machte halt. Anfangs passierte nichts, außer dass die beiden Männer miteinander sprachen und sich über das Auto hinweg beobachteten. Dann griff der Vampir nach unten und schleuderte den Kleinwagen mühelos über die Straße. Er rutschte Funken sprühend über den Asphalt, bevor er an eine Gartenmauer knallte und auf der Seite liegen blieb.

Schreckenslaute erfüllten das Kontrollzentrum. Jamie sah sich am Tisch um und begegnete überall schockierten Blicken. Auf dem Bildschirm richtete der wehrlose Mann sich langsam auf und hob in einer vergeblichen Geste die Hände, als flehe er um Erbarmen. Der Vampir machte einen halben Schritt auf ihn zu, dann verschwammen seine Bewegungen, als er sein Opfer packte, mühelos hochhob und aus dem Bild trug.

Als Jack den Film anhielt, war nur noch der an einer Gartenmauer liegende umgestürzte Kleinwagen zu sehen. Der Kommissarische Direktor wandte sich wieder an das Sonderkommando Stunde null.

»Der Vampir in diesem Film war seit höchstens einer Dreiviertelstunde verwandelt«, sagte er. »Möchte mir jemand sagen, was mit diesem Bild nicht in Ordnung ist?«

»Jesus«, sagte Patrick Williams. »Er war stark.«

»Und schnell«, sagte Dominique. »Zu schnell.«

»Richtig«, bestätigte Holmwood. »Die bisher vernichteten Vampire waren alle weitaus stärker und schneller, als man es von frisch Verwandelten erwarten würde.«

»Wie kommt das?«, fragte Amy Andrews.

»Das wissen wir nicht. Der Wissenschaftliche Dienst untersucht die beiden Insassen, die wir eingefangen haben – bisher leider ergebnislos. Aber die neuen Vamps sind offensichtlich anders als frühere, und von dieser Sorte sind allein bei uns fast dreihundert auf freiem Fuß. Deswegen haben sie höchste Priorität, Lieutenant Carpenter, weil unser Department den Auftrag hat, die Öffentlichkeit vor dem Übernatürlichen zu schützen. Ist das klar?«

»Sonnenklar, Sir«, bestätigte Jamie. »Aber warum untersucht der Wissenschaftliche Dienst die wieder Eingefangenen? Sollte dafür nicht das Projekt Lazarus zuständig sein?«

Holmwood schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass das Projekt seine eigentliche Aufgabe vernachlässigt. Doktor Cooper hält Verbindung zu Professor Karlsson, und falls er wirklich Hilfe braucht, kann er sie jederzeit anfordern.«

»Okay«, sagte Jamie.

»Gut«, meinte Holmwood befriedigt. »Noch Fragen?«

»Wo ist Angela, Sir?«, fragte Jack Williams. »Sie hätte bei dieser Besprechung anwesend sein sollen.«

»Lieutenant Darcy und ihr Team sind im Einsatz«, antwortete Holmwood. »Sie waren aktiv, als die ersten Meldungen eingetroffen sind. Ich erwarte sie binnen der nächsten Stunde zurück.«

Jack nickte sichtlich besorgt.

»Also gut«, sagte Holmwood. »Sonst noch was? Nein? Dann schließe ich die …«

»Was ist mit der Stunde null?«, fragte Jamie. »Wie wollen wir die Öffentlichkeit schützen, wenn wir Dracula zurückkehren lassen?«

Holmwood fixierte ihn mit kaltem Blick. »Die Männer, die aus Broadmoor geflüchtet sind, waren dort zum Schutz der Gesellschaft weggesperrt, Lieutenant Carpenter. Viele leiden an schweren Persönlichkeitsstörungen, viele sind in der Vergangenheit unberechenbar gewalttätig gewesen, und die meisten müssen regelmäßig Psychopharmaka einnehmen. Sie sind so verwandelt worden, dass sie Riesenkräfte besitzen, was für sich allein neu und beängstigend ist, und in den kommenden Stunden wird jeder von ihnen nach frischem Blut gieren. Erledigen wir sie nicht rasch, gibt es vielleicht bald keine Öffentlichkeit mehr, die geschützt werden muss.«

Jamie starrte die Tischplatte vor sich an.

»Wie sieht der Plan also aus, Sir?«, fragte Patrick Williams mit fester Stimme und entschlossener Miene.

Cal Holmwood erwiderte seinen Blick. »Aufspüren und vernichten«, sagte er energisch. »Möglichst schnell. So einfach ist das.«

Jamie betrachtete das umgestürzte Auto auf dem Großbildschirm.

Klar, dachte er. Ganz einfach.

2

Lazarus Wiederbelebt

Aufgeregt wie ein Kind zu Weihnachten stieß Matt Browning die schwere Tür auf dem Korridor der Ebene F auf und musste feststellen, dass er trotz der frühen Stunde an diesem Morgen nicht als erster Mitarbeiter des Projekts Lazarus zur Arbeit erschien. Professor Karlsson sah auf, als er eintrat, nickte ihm lächelnd zu und konzentrierte sich wieder auf einen Text, der vor ihm auf seinem Schreibtisch lag.

Er ist der Boss, dachte Matt und lächelte in sich hinein. Da sollte mich das nicht überraschen.

Nach der Entführung Admiral Sewards war die Rekonstruktion des Projekts Lazarus mit Hochdruck vorangetrieben worden. Cal Holmwood hatte Matt, dem einzigen Überlebenden des Wissenschaftlerteams, freie Hand bei Empfehlungen gelassen, und der Junge hatte seine angeborene Schüchternheit überwunden, als ihm klar wurde, dass er freimütig äußern durfte, was er dachte. Als Erstes hatte er vorgeschlagen, Schwarzlicht solle jede erdenkliche Anstrengung machen, um Professor Robert Karlsson, den Direktor des schwedischen Instituts für Genforschung, als neuen Leiter des Projekts zu gewinnen. Matt, der schon vor einiger Zeit auf Karlssons Arbeit aufmerksam geworden war, hielt ihn für einen der klügsten Köpfe der Menschheit. Sein überragender Intellekt war auf die Manipulation von Replikator-Enzymen in der DNA spezialisiert, was ihn zu einem perfekten Kandidaten für die Suche nach einem Mittel gegen Vampirismus machte.

Holmwood hatte höflich, aber verständnislos zugehört, sich bei Matt bedankt und ihn wegtreten lassen. Vier Tage später war Karlsson mit einem Handkoffer und einem kleinen Lederrucksack voller externer Festplatten im Ring eingetroffen. Er hatte Matt kennengelernt, geduldig zugehört, als der Teenager ihn anhimmelte wie einen Popstar, und vorgeschlagen, sich an die Arbeit zu machen.

Heute sollte der erste Tag sein, an dem das vollständig ausgestattete, vollständig funktionstüchtige Projekt Lazarus wieder mit vollständigem Personal arbeiten würde. Karlsson und Matt hatten den vergangenen Monat damit verbracht, die weltweit besten Köpfe zu engagieren, die Labors zu erweitern und den Aufbau des leistungsfähigsten europäischen Computernetzwerks zu überwachen.

Jede Minute, die nicht für den praktischen Wiederaufbau gebraucht wurde, ging in die Analyse der Daten auf der Festplatte, die bei Professor Richard Talbot – dem früheren Leiter des Projekts Lazarus, der ein Diener Valeri Rusmanovs gewesen war und vermutlich Christopher Reynolds geheißen hatte – gefunden worden war. Die Festplatte war sichergestellt worden, als Jamie Carpenter den verräterischen Professor mit einem Kopfschuss erledigt hatte, während Matt bewusstlos auf dem Fußboden zwischen ihnen lag. Reynolds hatte das gesamte Personal des Projekts ermordet und auch Matt beseitigen und dann flüchten wollen, als Jamie intervenierte. Durch Reynolds’ Verrat hatte die Suche nach neuen Mitarbeitern einen Monat lang gedauert; alle potenziellen Kandidaten waren peinlich genau durchleuchtet worden, um die Wiederholung eines solchen Vorfalls sicher ausschließen zu können.

Reynolds hatte über ein Jahrzehnt lang auf dem Gebiet der Vampirgenetik geforscht und den größten Teil seines Wissens durch Methoden gewonnen, die ebenso amoralisch wie kriminell gewesen waren: Vivisektion, Folter, Menschenversuche. Seine Arbeiten, vor allem das Sequenzieren des Vampirgenoms und seine Analyse der physischen Effekte des Vampirismus auf verwandelte Menschen, erwiesen sich dennoch als unschätzbar wertvolle Grundlagen für die Forschungsarbeit des neuen Projekts Lazarus. Ohne sie wäre ihre Aufgabe als kaum zu bewältigen erschienen.

Mit ihnen gab es Hoffnung, oder zumindest einen vernünftigen Ausgangspunkt.

Der Prozess, die geretteten Daten zu analysieren und auf ihnen aufzubauen, war bereits in Gang gesetzt, weil jeder neue Mitarbeiter sofort die Arbeit aufgenommen hatte. Aber heute Morgen sollte gewissermaßen der offizielle Startschuss fallen, und Matt wusste recht gut, dass der Text, über dem Karlsson brütete, die Rede war, die er aus diesem Anlass halten wollte. Er ließ seinen Boss weiterarbeiten und ging zu einem der Schreibtische im rückwärtigen Teil des riesigen Raums. Er meldete sich auf dem Sicherheitsserver des Projekts Lazarus an, rief die Analyse auf, an der er bis vor wenigen Stunden gearbeitet hatte, und verlor sich in der unvorstellbaren Komplexität der Bausteine des menschlichen Körpers.

Um 7.10 Uhr waren alle zweiunddreißig Mitarbeiter des Projekts Lazarus an ihren Arbeitsplätzen. Den Saal schien ein kaum wahrnehmbares Summen zu erfüllen, während große Geister sich auf eine gemeinsame Aufgabe konzentrierten – auf die vielleicht nobelste Aufgabe in der Geschichte menschlicher Forschung. Wie so häufig wurde Matts Blick von dem schmalen, hübschen Gesicht Natalia Lenskis angezogen, der fast übermenschlich klugen achtzehnjährigen Russin, die fünf Schreibtische von ihm entfernt saß. Sie war ursprünglich vom Russischen Kommissariat zum Schutz vor dem Unnatürlichen (RKSU) von der Universität Leningrad abgeworben worden, an der sie hatte promovieren wollen, nachdem sie dort mit vierzehn Jahren ihren Master gemacht hatte. Ihr Teint war blass wie sibirischer Schnee, ihr blondes Haar nur zwei, drei Nuancen dunkler. Als sie von ihrem Bildschirm aufsah und ihm zulächelte, spürte Matt, dass seine Augen sich weiteten und er heiße Wangen bekam, bevor er verlegen wieder seinen Monitor anstarrte.

O Gott. OGottoGottoGott.

Langsam, einen quälenden Millimeter nach dem anderen, drehte Matt seinen Kopf wieder in ihre Richtung, bis sie am äußersten Rand seines Blickfelds erschien, und stellte erschrocken fest, dass sie ihn weiter wie bisher lächelnd ansah. Gerettet wurde er nach scheinbar endlosen, schrecklichen Sekunden durch Professor Karlsson, der sich in genau diesem Augenblick erhob, rasch nach vorn ging und mit der flachen Hand auf den nächsten Schreibtisch schlug. Damit war der Bann gebrochen; die anwesenden Männer und Frauen, auch Natalia, konzentrierten sich auf ihren Direktor, der entschieden unbehaglich wirkte, als aller Blicke sich auf ihm bündelten.

»Guten Morgen«, sagte er mit nicht ganz fester Stimme. »Es ist schön, uns alle erstmals zusammen zu sehen. Wirklich schön.«

Die versammelten Wissenschaftler murmelten zustimmend.

»Mr. Browning«, fuhr Karlsson fort. Er nickte dem Teenager zu. »Matt. Darf ich Sie zu mir bitten?«

Matts Kollegen wandten sich ihm aufmunternd lächelnd und nickend zu; sie vermuteten, sein heftiges Erröten hinge damit zusammen, dass er als Einziger vom Direktor hervorgehoben wurde. Nur Natalia ahnte den wahren Grund dafür. Matt schob seinen Stuhl zurück und stand nervös auf. Er ging langsam nach vorn und blieb steif neben Professor Karlsson stehen; der Direktor sah erkennbar stolz zu ihm auf, und Matt spürte, dass er zu lächeln begann, während sein Erröten abklang. Er fühlte sich plötzlich unglaublich glücklich, war voller Zielstrebigkeit, voller gerechter Entschlossenheit.

»Meine Damen und Herrn«, sagte Karlsson, indem sein Blick über die Wissenschaftler des Projekts Lazarus glitt, »wir haben hier Gelegenheit, viel Gutes zu tun. Es geht darum, Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Menschenleben zu retten und eine Krankheit auszurotten, die tödlicher als jede andere ist, die in den Labors dieser Welt erforscht wird. Unser Projekt repräsentiert die Speerspitze wissenschaftlicher Forschung, und jede und jeder von uns sollte stolz darauf sein, die Chance bekommen zu haben, daran mitarbeiten zu dürfen.«

Der Direktor sprach weiter, aber Matt hörte nicht mehr zu. Stattdessen war er in Gedanken bei seiner Mutter – wie stolz sie gewesen wäre, wenn sie ihn hier bei der Arbeit hätte sehen können – und dem vergangenen Monat, der zweifellos die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen war.

Erstmals in seinem Leben hatte er das Gefühl gehabt, dazuzugehören. Ein Schwindel erregendes Gefühl für einen Jungen wie Matt, der sein bisheriges Leben größtenteils allein verbracht und nie mehr als das absolute Minimum von sich selbst preisgegeben hatte; lange Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Welt alles, was man sie über sich in Erfahrung bringen ließ, prompt dazu verwandte, einen zu verletzen. Aber das glaubte er nicht mehr. Hier, an diesem seltsamen, unwahrscheinlichen Ort inmitten der Wälder Ostenglands, hatte er unter höchstem Druck entstandene, wahre Freundschaft und eine gute Sache gefunden, der er bereitwillig den Rest seines Lebens weihen würde, wenn das nötig war.

»… und nun ans Werk!«, schloss Karlsson, und der Beifall nach der Rede des Direktors riss Matt aus seinen Gedanken. Er klatschte so rasch mit, dass er sicher war, niemand würde merken, dass er Tagträumen nachgehangen hatte. Als die Männer und Frauen des Projekts Lazarus zu ihrer Arbeit zurückkehrten, für die jeder von ihnen die Aussicht auf eine normale Existenz geopfert hatte, sah Matt, wie Natalia Lenski zu ihm herübersah, bevor ihre blassen Wangen sich zartrosa färbten und sie sich wieder ihrem Bildschirm zuwandte.

3

Ein Tag ohne Sensationen

Wapping, London, drei Monate zuvor

Kevin McKenna ließ seine Kippe in die Dose mit dem schalen Restbier auf dem Schreibtisch fallen und sah auf seine Armbanduhr.

Es war fast 21.30 Uhr, und er war als einziger Redakteur von The Globe noch in der Redaktion. England spielte in Oporto gegen Portugal, und alle seine Kollegen hockten entweder jubelnd, trinkend und fluchend drüben im The Ten Bells oder waren – dankbar für einen Grund, die Redaktion zu einer vernünftigen Zeit verlassen zu können, ohne faul zu erscheinen – auf dem Nachhauseweg. McKenna wäre gern mit den Kollegen in den Pub gegangen, aber der Anruf, den er vor einer Stunde erhalten hatte, war zu faszinierend gewesen, um ignoriert zu werden. Aus diesem Grund saß er jetzt bei geschlossener Tür und ausgestecktem Rauchmelder in seinem Büro und wartete darauf, dass ein Kurier ihm eine Sendung von einem Toten brachte.

Der Anruf war von einem ihm unbekannten Rechtsanwalt gekommen – keinem der vielen, denen er regelmäßig weiße Briefumschläge mit Bargeld zusteckte, damit sie ihn fünf Minuten lang mit den Akten von Promiprozessen und diskret zu behandelnden Unterlassungsverfügungen allein ließen. Der Mann war höflich gewesen und hatte McKenna mit gewisser Feierlichkeit erklärt, seine Kanzlei sei Testamentsvollstreckerin des verstorbenen Mr. John Bathurst. Danach war eine Pause entstanden, die McKenna offenbar mit Dankbarkeit oder Trauer oder beidem hätte ausfüllen sollen. Aber er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte, weil ihm der Name völlig unbekannt war.

Dann war ihm eine blitzartige Erleuchtung gekommen, und er hatte laut ins Telefon gelacht.

In der Stimme des Anwalts klang daraufhin ein leichter Tadel an, aber der Mann blieb unbeirrbar professionell. Er teilte McKenna mit, Mr. Bathurst habe ihm etwas hinterlassen, einen Umschlag, und fragte, ob er ihn per Kurier schicken dürfe. Normalerweise hätte McKenna ihn aufgefordert, ihn mit der Post zu schicken, und wäre in den Pub gegangen. Stattdessen gab er dem Anwalt die Adresse der Redaktion und versprach, auf den Kurier zu warten.

Du bist tot und machst mir trotzdem Unannehmlichkeiten, dachte er, als er sich die nächste Zigarette anzündete. Mr. John Miststück Bathurst.

Dass er sich an den Namen des Mannes, der ihn in seinem Testament bedacht hatte, nicht gleich hatte erinnern können, war einem einfachen Grund geschuldet: Er hatte ihn nur ein einziges Mal laut ausgesprochen gehört – und auch dafür gab es einen Grund.

Dies war Johnny Supernovas wahrer Name und sein bestgehütetes Geheimnis gewesen.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der McKenna jedem ins Gesicht gespuckt hätte, der es wagte anzudeuten, er könnte sein Geld eines Tages damit verdienen, für ein Blatt, das so staatskonform und moralisch bankrott war wie The Globe, über B-Promis zu schreiben.

Eine jüngere, schlankere, zornigere Version seiner selbst war im Jahr 1985 als Neunzehnjähriger nach London gekommen: die Ohren voller Gitarrenriffs und House, die Adern voller Arbeiterklassenfeuer, um als Journalist bei The Gutter, die legendäre Stilbibel der linken Szene, zu arbeiten. Als er in die Magazinredaktion in der Pentonville Road geschlendert kam, begrüßte ihn eine Rezeptionistin, die schöner war als alle Mädchen, die er während seiner neunzehn Lebensjahre in Manchester gesehen hatte. Sie hielt ihm die Tür zum Büro des Chefredakteurs auf und bedachte ihn mit einem lachhaft provokanten Lächeln, als er an ihr vorbeiging.

Hinter einem riesigen Schreibtisch mit Glasplatte, auf dem die glänzenden Doppelseiten der letzten Ausgabe ausgebreitet lagen, saß Jeremy Black. Er trug einen anthrazitgrauen Anzug – dem McKenna ansah, dass er von Paul Smith oder Ozwald Boateng stammte –, über einem verblassten Tour-T-Shirt der Beatles. Als McKenna vor seinem Schreibtisch stehen blieb, sah er auf.

»Bier?«, fragte er.

»Klar«, antwortete McKenna. Es war kaum halb elf, aber sein neuer Boss sollte ihn auf keinen Fall für ein Leichtgewicht halten.

Black griff nach unten und holte zwei Dosen Bier aus einem Kühlschrank, den McKenna nicht sehen konnte. Er gab McKenna eine, dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. »Ich will dich nicht öfter als ein paarmal pro Woche hier sehen«, sagte er. »Bist du in der Redaktion, machst du deine Arbeit nicht. Klaro? Die Storys sind dort draußen.«

»Verstanden«, antwortete McKenna. Er riss sein Bier auf und nahm übertrieben lässig einen großen Schluck.

»Deine Storys gibst du an der Rezeption ab. Ich rufe dich an, wenn sie gut genug sind.«

»Okay.«

»Ich hab veranlasst, dass ein Kerl dich einarbeitet. Er wird dich hassen und dich wie Scheiße behandeln, aber er schuldet mir mindestens zehntausend Wörter, die ich schon bezahlt habe, also hat er jetzt Pech. Du vermutlich auch.«

»Wer ist er?«, fragte McKenna, als sein Boss leicht zu grinsen begann.

Jeremy Black behielt recht: Johnny Supernova behandelte ihn wirklich wie Dreck. Aber McKenna machte das nichts aus.

Supernova war eine Legende, ein hemmungsloses, anarchisches Genie, das wie ein Hurrikan auf Speed durch die Londoner Nächte tobte. Seine Storys waren ein Spiegelbild des Mannes: eine wahre Lawine aus brillanten Beschimpfungen, in die sich Ausdrücke und Bilder mischten, für die Caligula sich geniert hätte – Nachrichten vom blutenden Rand der Popkultur, die häufig dazu dienten, die Zeit selbst zu definieren wie auch die Ereignisse, die sie beschrieben.

Der Mann selbst war klein und drahtig, mit blassem Teint und schwarzer Mähne. Er war älter als McKenna, fast vierzig, vielleicht noch älter. Seine zusammengekniffenen Augen musterten jeden scharf, und sein Appetit auf Alkohol, Drogen und Ausschweifungen war berühmt und berüchtigt. Bei der ersten Begegnung begrüßte er McKenna misstrauisch, lud ihn aber an seinen Tisch im Graucho Club ein, weil er offenbar noch so viel Realitätssinn besaß, lieber nicht von The Gutter wegen Vertragsbruch verklagt zu werden.

Damals, in jener kurzen Periode des kulturellen Erwachens, war Johnny Supernova der King gewesen. Popstars, Künstler, Schauspieler und Regisseure drängten an seinen Tisch, um sich bei ihm einzuschmeicheln. In dem großen Gebäude in Soho saß McKenna Nacht für Nacht an seiner Seite und sonnte sich im Widerschein des Glanzes seines Mentors. Supernova: älter, cleverer und zynischer als sie alle, deshalb beteten sie ihn an.

Aber das konnte nicht andauern und tat es auch nicht.

Die Drogen, der Alkohol, die ständig wechselnden Mädchen und Jungen: Dies alles befeuerte den fürchterlichen Selbsthass, der in Johnny Supernova brannte und ihn dazu trieb, die schlimmsten Abgründe menschlichen Verhaltens zu erforschen. Was anfangs Spaß gemacht hatte, wurde nun schwer erträglich, als Supernova seinen Elan und so an Einfluss auf die Glitzerwelt der Jungen und Schönen verlor. Sein Tisch wurde etwas leerer, sein Schreibstil etwas sanfter, weil die rasiermesserscharfe Präzision fehlte, mit der er einst seine Leserschaft attackiert hatte. Exzesse fordern irgendwann ihren Tribut, was langsam, allmählich, fast unmerklich oder schlagartig wie ein Lawinenabgang passieren kann. Bei Johnny Supernova trat der erste Fall ein. Sein Stern verglühte, statt zu einem Feuerball zu werden.

McKenna hing inzwischen nur noch an den Fingernägeln von der Klippe; die Verrücktheit hatte aufgehört, Spaß zu machen, war zu Arbeit geworden. Es schien, als schrumpfe Johnny von Woche zu Woche, von Monat zu Monat vor seinen Augen. Ende 2006 lud McKenna ihn eines Abends zum Essen ein, erklärte ihm, er sei müde und sehne sich nach etwas Stabilität, etwas Normalität, und teilte ihm mit, er habe einen Job bei The Globe angenommen.

Die erwartete Explosion blieb aus.

Stattdessen warf Supernova ihm aus rotgeränderten Augen einen enttäuschten Blick zu, der unendlich schmerzvoll war. »Du bist der Schlimmste von allen«, sagte er, während er McKenna fixierte. »Du hättest gut sein können. Du hättest wichtig sein können. Aber du bist bloß ’ne Nutte wie alle anderen.«

Sie hatten nie wieder miteinander gesprochen.

Das Telefon auf McKennas Schreibtisch klingelte, ließ ihn zusammenzucken. Er hatte sich in der Vergangenheit, in Erinnerungen an einen Mann verloren, den er fast vergessen hatte, wie ihm jetzt bewusst wurde.

Er nahm den Hörer ab.

»Kurier für Sie«, sagte die Rezeptionistin.

»Soll raufkommen«, sagte McKenna.