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In Franz Werfels Novelle 'Der Abituriententag' wird das komplexe Zusammenspiel von Jugenderinnerungen und den Herausforderungen der Erwachsenwerdung in einem faszinierenden literarischen Stil beleuchtet. Die Handlung entfaltet sich rund um den festlichen Tag eines Abiturienten, an dem die Hoffnungen und Ängste der Jugend aufeinanderprallen. Werfels Prosa, geprägt von lyrischen Elementen und psychologischer Tiefe, reflektiert die inneren Konflikte und Sehnsüchte der Protagonisten. In einem historisch-kulturellen Kontext, der das Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne thematisiert, gelingt ihm eine einfühlsame Auseinandersetzung mit der Prägung der Jugend im frühen 20. Jahrhundert. Franz Werfel, ein bedeutender Vertreter der deutschsprachigen Literatur, erlebte selbst die turbulenten Zeiten des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik. Diese persönlichen Erfahrungen und sein tiefes Interesse an den existenzialistischen Fragen des menschlichen Daseins flossen in die Entstehung dieses Werkes ein. Werfels Fähigkeit, eine Brücke zwischen individuellen Erlebnissen und gesellschaftlichen Strömungen zu schlagen, macht seinen literarischen Einfluss bis heute spürbar. 'Der Abituriententag' ist eine Empfehlung für Leserinnen und Leser, die an subtilen psychologischen Portraits und zeitgenössischen Fragestellungen interessiert sind. Die Novelle lädt dazu ein, sich mit der eigenen Lebenssituation auseinanderzusetzen und die universellen Themen von Hoffnung, Verlust und Identität neu zu entdecken. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Zwischen der bequemen Verlockung des Vergessens und der unerbittlichen Rückkehr einer verdrängten Vergangenheit spannt sich in Der Abituriententag die eigentliche Spannung: ein gesellschaftliches Ritual der Wiederbegegnung, das die glänzende Oberfläche erwachsener Erfolge aufreißt und darunter die ungesühnten, scheinbar kleinen, doch folgenreichen Verfehlungen einer Jugend freilegt, in der Konformitätsdruck, Ehrgeiz und stillschweigende Zustimmung zu Unrecht ebenso prägend waren wie Freundschaften, und in der die Frage nach persönlicher Verantwortung, Schuld und Wiedergutmachung jederzeit droht, das sorgfältig kultivierte Selbstbild der Beteiligten zu erschüttern und die trügerische Sicherheit sozialer Aufstiegsversprechen ins Wanken zu bringen.
Franz Werfels Der Abituriententag gehört zur Gattung der Novelle und entstand im deutschsprachigen Literaturkontext der späten 1920er Jahre. Das Werk verknüpft ein Bildungs- und Gesellschaftsmilieu mit der Intimität moralischer Selbstprüfung. Schauplätze sind ein humanistisches Gymnasium und, Jahre später, der Ort eines Klassentreffens in einer mitteleuropäischen Großstadt; der genaue Raum wird nicht exotisiert, sondern als alltäglicher Hintergrund für seelische Vorgänge genutzt. Die Zeitmarken lassen die Umbrüche der Epoche ahnen, bleiben jedoch behutsam im Hintergrund. Werfel setzt weniger auf äußere Sensationen als auf die Verdichtung einer Gewissenslage, die wie unter Glas betrachtet wird und dennoch lebendig vibriert.
Ausgangspunkt ist die Einladung zu einem Abituriententag, der die früheren Mitschüler nach Jahren wieder versammelt und in eine Atmosphäre der Höflichkeit, des Taktierens und der leisen Konkurrenz taucht. Aus dieser scheinbar harmlosen Situation entfaltet sich eine innere Bewegung: Erinnerungen steigen auf, Blickwinkel verschieben sich, unbequeme Zusammenhänge werden erkennbar. Die erzählerische Stimme bleibt dabei konzentriert, psychologisch genau, mit einem Ton, der zugleich sachlich prüfend und empathisch ist. Werfels Stil bevorzugt klare, rhythmisch gefügte Sätze, die eine stetige Spannung tragen und kleine Gesten bedeutend machen. Das Leseerlebnis ist dadurch intensiver Nachvollzug von Bewusstseinsarbeit statt bloßer Handlung.
Im Zentrum stehen die Themen Erinnerung und Schuld, die Macht von Gruppendruck und Institutionen sowie die Frage, wie sehr Karriere, Herkunft und gesellschaftliche Erwartungen moralische Entscheidungen beeinflussen. Die Novelle zeigt, wie leicht sich Mitläufertum als Normalität tarnt und wie schwer es fällt, eigene Versäumnisse anzuerkennen, wenn das Leben äußerlich gelungen scheint. Gleichzeitig tastet der Text nach Möglichkeiten von Einsicht und Handlungsspielraum, ohne vorschnelle Entlastungen zu bieten. Bildungsanspruch, Hierarchie und Rituale eines Gymnasiums werden nicht bloß Kulisse, sondern ein Labor sozialer Dynamiken, in dem Loyalität, Angst und Ehrgeiz darin münden, dass Unrecht übersehen oder relativiert wird.
Gerade darin liegt anhaltende Aktualität: Der Abituriententag spricht Fragen an, die auch heutige Leserinnen und Leser beschäftigen. Wie gehen wir mit Jugendsünden um, die uns in einer späteren Lebensphase einholen? Welche Verantwortung tragen Zeugen und Mitwisser, wenn Schweigen bequemer ist als Widerspruch? In Zeiten, in denen Debatten über institutionelle Kultur, Mobbing, soziale Ausgrenzung und Verantwortungsethik allgegenwärtig sind, bietet Werfels Novelle einen nüchternen, zugleich bewegenden Spiegel. Sie zeigt, dass moralische Integrität weniger aus großen Gesten als aus dem Mut zur ehrlichen Erinnerung entsteht, und dass gemeinschaftliche Rituale Wahrheit sowohl verdecken als auch ans Licht befördern können.
Formal arbeitet der Text mit behutsamen Zeitsprüngen und Spiegelungen, die den Leser in den Prozess des Erinnerns hineinziehen. Szenen aus der Schulzeit stehen neben der Gegenwart des Treffens, ohne in Nostalgie aufzugehen; sie werden als Probenräume für Entscheidungen sichtbar. Werfel balanciert analytische Schärfe und humane Anteilnahme und verleiht selbst Nebenfiguren Kontur, indem er Gesten, Sprecherhaltungen und soziale Codes präzise beobachtet. Die Sprache wirkt klar, mitunter leise feierlich, und schafft eine Atmosphäre verdichteter Aufmerksamkeit. So entsteht ein spannungsvolles Geflecht, das weniger den Skandal sucht als die innere Wahrheit eines Gewissenskonflikts zugänglich.
Wer Der Abituriententag liest, begegnet keiner einfachen Abrechnung, sondern einer sorgfältigen Prüfung der Bedingungen, unter denen Menschen schuldig werden und Verantwortung übernehmen können. Das Buch bleibt dadurch über seine Entstehungszeit hinaus bedeutsam: Es erweitert die Sensibilität für die Zwischentöne, in denen sich Selbstrechtfertigung, Scham und der Wunsch nach Wiedergutmachung mischen. Zugleich erinnert es daran, dass Erinnerung nicht Besitzstand, sondern Arbeit ist. Werfels Novelle lädt ein, die eigene Biografie im Licht gemeinschaftlicher Erfahrungen neu zu befragen und zeigt, wie literarische Form ethische Fragen schärfen kann, ohne die Freiheit des Lesers zu bevormunden.
Franz Werfels Roman Der Abituriententag, 1928 erstmals veröffentlicht, verhandelt in einer spannungsreichen Gegenüberstellung von Gegenwart und Erinnerung die Frage nach individueller Schuld und kollektiver Verantwortung. Ausgangspunkt ist ein Klassentreffen in Prag, bei dem ein inzwischen prominenter ehemaliger Schüler als Ehrengast zurückkehrt. Die festliche Bühne eines Abends wird zur Arena eines inneren und äußeren Prüfverfahrens, das die scheinbar gesicherte Erfolgsgeschichte des Heimkehrers erschüttert. Werfel verbindet Milieuschilderung, psychologische Feinzeichnung und gesellschaftliche Analyse, um die Verstrickungen einer Bildungselite sichtbar zu machen, deren Selbstbild vom Glanz der Leistung lebt, während verdrängte Erlebnisse aus der Gymnasialzeit an die Oberfläche drängen.
Die Handlung setzt mit der Ankunft des Protagonisten in der alten Schulstadt ein, deren topografische und kulturelle Vielschichtigkeit den Ton bestimmt. Ehemalige Lehrer, Kameraden und Funktionäre ordnen das Wiedersehen in ritualisierte Formen: Begrüßungen, Ansprachen, Erinnerungsstücke. Hinter dem Zeremoniell wirkt ein Milieu aus Rangordnungen, Ambitionen und wechselseitigem Beäugen, das die Atmosphäre der Jugendjahre fortschreibt. Der Rückkehrer genießt Anerkennung, doch kleine Irritationen – missverständliche Bemerkungen, Blicke, die länger als höflich dauern – markieren einen Bruch in der Festlichkeit. Zugleich öffnen vertraute Orte Schleusen des Gedächtnisses: Korridore, Klassenräume und Bilder der Lehrer beschwören eine Vergangenheit herauf, die nicht abgeschlossen ist.
Ein beiläufiges Wiedersehen mit einem früheren Mitschüler verdichtet sich zum Auslöser der Konfliktbewegung. Die Gestalt des anderen, einst Außenseiter und Zielscheibe hierarchischer Spiele, steht als lebendige Erinnerung an jene Mechanismen von Spott, Ausgrenzung und Opportunismus, die das Klassenleben prägten. In Rückblenden evoziert der Roman das Gymnasium der späten Habsburgerzeit mit seinen starren Normen, nationalistischer Reibung und unterschwelligen sozialen Vorurteilen. Der Erzähler – im Jetzt sozial arriviert – erkennt in den Gesichtern der Ehemaligen Rollen wieder, die sie als Jugendliche spielten, und ertappt sich dabei, wie nahtlos Anerkennung an früheres Verhalten anknüpft, das ihm einst Nutzen und heute Unbehagen einträgt.
Schrittweise kristallisiert sich eine Jugendschuld heraus, die nicht in einer einzelnen Tat, sondern in einem Bündel aus Mitläufertum, Schweigen und taktischem Vorteil liegt. Der Roman zeigt, wie kleine Demütigungen, scheinbar harmlose Streiche und das Bedürfnis, Lehrern und Autoritäten zu gefallen, in eine Kette von Ereignissen münden konnten, deren Tragweite die Beteiligten verdrängten. Der heutige Erfolg des Heimkehrers erhält Risse, weil er begreift, dass seine damaligen Entscheidungen einen anderen dauerhaft geprägt haben. Werfel inszeniert diesen Erkenntnisprozess nicht als moralische Predigt, sondern als allmähliches, widerstrebendes Sich-Erinnern, das den Selbstentwurf des Helden unter Beweiszwang stellt.
Im Verlauf des Festabends verdichtet sich die Spannung. Toasts und Reden liefern dem Protagonisten die Bühne, die sein Renommee bestätigt, zugleich aber die Fallhöhe erhöht. Zwischen ihm und dem ehemaligen Außenseiter entsteht ein unausgesprochenes Duell aus Andeutungen, Fragen und Blicken. Der andere sucht weniger Rache als Anerkennung der Vergangenheit, während der Gefeierte schwankt zwischen Selbstschutz, Rechtfertigung und dem Impuls, Verantwortung zu übernehmen. Ein entscheidender Wendepunkt liegt in der stillen Einsicht, dass die Öffentlichkeit des Saales die Wahrheit zugleich bedroht und ermöglicht. Aus dem gesellschaftlichen Ritual wird eine Prüfung: Wie viel aufrichtige Erinnerung verträgt die Inszenierung der Kameradschaft?
Strukturell arbeitet der Roman mit Rückblenden, Perspektivverschiebungen und atmosphärischen Verdichtungen, die Vergangenheit und Gegenwart untrennbar verschränken. Prag erscheint als vielsprachiger Resonanzraum, in dem kulturgeschichtliche Schichten aufeinanderliegen und persönliche Biografien in größeren historischen Strömungen treiben. Werfel untersucht die Dynamik von Schuld und Entlastung, die Macht sozialer Rollen sowie die Verführungskraft von Erfolgserzählungen. Sprache fungiert als Mittel der Distanzierung wie der Wahrheitssuche: Höflichkeitssätze, Festformeln und rhetorische Gesten prallen auf die schlichte Faktizität erlittener Kränkung. In diesem Spannungsfeld gewinnt die Frage an Gewicht, ob Erinnerung Heilung bietet oder lediglich neue Verletzungen freilegt.
Der Abituriententag entfaltet so die nachhaltige Frage, wie viel Vergangenheit ein gelingendes Leben aushalten kann und welche Form von Verantwortung aus frühen Verfehlungen erwächst. Ohne sich in Eindeutigkeiten zu verlieren, treibt der Roman auf eine Konstellation zu, in der Bekenntnis, Schweigen und Ausweichen jeweils ihren Preis haben. Er bleibt dabei nahe an seinen Figuren und meidet einfache Schemata von Täter und Opfer, indem er die Grauzonen sozialer Komplizenschaft ausleuchtet. Seine anhaltende Wirkung liegt im präzisen Blick auf die Verwandlung von Selbstbildern durch Erinnerung und in der beharrlichen Frage, was Gerechtigkeit zwischen ehemaligen Kameraden heißen kann.
Franz Werfels Roman Der Abituriententag (1928) ist in Prag verankert, einer zentralen Stadt der böhmischen Länder der Habsburgermonarchie. Um 1900 prägten dort deutsche und tschechische Bildungsinstitutionen die Milieus, besonders das humanistische Staatsgymnasium und die 1882 geteilte Karls-Universität mit deutscher und tschechischer Sektion. Beamtenapparat, katholische Kirche und städtische Vereine strukturierten Aufstiegschancen und soziale Kontrolle. Schüler- und Studentenverbindungen, Lesegesellschaften sowie lokale Zeitungen beeinflussten Normen und Karrieren. Die deutsche Minderheit in Prag verfügte über ein dichtes Netzwerk aus Schulen, Theatern und Presseorganen, stand jedoch in Konkurrenz zu einer erstarkenden tschechischen Öffentlichkeit. Diese institutionelle Gemengelage bildet den Hintergrund der erzählten Lebenswege.
Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg waren in Böhmen von Nationalitätenkonflikten geprägt. Ein Schlüsselereignis waren die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, die Tschechisch und Deutsch in Böhmen und Mähren als Amtssprachen gleichstellten und massive Proteste vieler Deutschliberaler auslösten. Demonstrationen, Streiks und parlamentarische Blockaden verschärften das Klima, das sich auch in Schulen und Behörden bemerkbar machte. In Prag verschoben sich Mehrheiten in städtischen Gremien zugunsten tschechischer Parteien, während deutsche Vereine ihre Position durch Kulturarbeit und Schulpolitik zu sichern suchten. Solche Auseinandersetzungen prägten Alltagskontakte, Karrierewege und die Wahrnehmung von Loyalität gegenüber Krone, Gemeinde und Sprachgruppe.
Ein weiterer historischer Rahmen ist der Aufstieg des politischen Antisemitismus in der späten Habsburgermonarchie. In Böhmen wirkte die Polná- beziehungsweise Hilsner-Affäre von 1899/1900 weit über den Mordfall hinaus: Antijüdische Kampagnen, Tumulte und Gerüchte prägten das öffentliche Klima, während Tomáš G. Masaryk rechtsstaatliche Prinzipien verteidigte. Parallel gewannen völkische Strömungen, inspiriert etwa von Georg von Schönerer, sowie der kommunalpolitische Antisemitismus eines Karl Lueger in Wien Einfluss. Im Bildungswesen zeigten sich Restriktionen und informelle Barrieren gegenüber jüdischen Schülern und Absolventen. Diese Spannungen bildeten einen erfahrbaren Horizont für Karrieren, soziale Zugehörigkeiten und moralische Urteile.
Das humanistische Gymnasium der Zeit vermittelte vor allem Latein, Griechisch, Geschichte und Religion, verbunden mit strenger Disziplin und hierarchischer Lehrerautorität. Die Matura fungierte als entscheidender Zugang zu Universitäten, Justiz, Medizin oder k.k. Beamtenlaufbahnen. Zensuren, sittliche Beurteilungen und Herkunft spielten bei Aufnahme und Förderung eine gewichtige Rolle. Schul- und Klassenkulturen wurden von Lehrerfiguren, Prüfungssituationen, Ehrenkodizes und der Konkurrenz um Stipendien geprägt. Wiederkehrende Jubiläumsfeiern ehemaliger Klassen – Abituriententage – boten später Anlässe, Karrieren zu bilanzieren und alte Hierarchien zu bestätigen oder in Frage zu stellen. Diese institutionalisierten Rituale rahmen die retrospektive Verhandlung vergangener Jugendentscheidungen.
Prag erlebte zwischen 1880 und 1914 eine Phase dynamischer Urbanisierung, Verkehrsausbau und Industrialisierung. Elektrische Straßenbahnen, neue Brücken und Ringstraßen veränderten Mobilität und soziale Räume. Kaffeehäuser, Theater und Redaktionen – etwa des Prager Tagblatts oder der Bohemia – bildeten Knotenpunkte einer deutschsprachigen Öffentlichkeit, die mit tschechischen Kulturzentren in Austausch und Konkurrenz stand. Der Kreis deutschsprachiger Prager Autoren, zu dem Franz Kafka und Max Brod zählten, illustriert die vielschichtige Literaturlandschaft, in der auch Werfel sozialisiert wurde. Diese moderne Stadterfahrung, mit ihren Medien, Milieus und Beschleunigungen, prägt Wahrnehmungen von Erfolg, Scheitern und moralischer Verantwortung im Bildungsbürgertum.
Der Erste Weltkrieg band die böhmischen Länder eng an die Kriegsökonomie der Monarchie: Rekrutierungen, Zensur, Mangelwirtschaft und steigende soziale Spannungen prägten den Alltag. Viele Prager Deutsche und Tschechen dienten in der k.u.k. Armee, während nationale Räte im Exil politische Alternativen entwarfen. 1918 zerfiel Österreich-Ungarn; am 28. Oktober wurde in Prag die Tschechoslowakei proklamiert. Verwaltungs- und Gerichtssprache verschob sich, Besitz- und Amtsverhältnisse wurden überprüft, und deutsche Bildungsinstitutionen standen unter Anpassungsdruck. Für bürgerliche Lebensentwürfe bedeutete der Umbruch Neubewertungen von Loyalitäten, Karrieresicherheit und moralischen Maßstäben zwischen imperialer Vergangenheit und republikanischer Gegenwart. Gleichzeitig verschärften Grenzverschiebungen und Heimkehrerkrisen soziale Unsicherheiten in Städten und Provinzen.
In der Zwischenkriegszeit garantierten internationale Verträge und die Verfassung von 1920 Minderheitenrechte, doch Alltagserfahrungen der deutschen Bevölkerung in Prag blieben von Konkurrenz um Ämter, Schulen und kulturelle Repräsentation geprägt. Deutsche Theater und Zeitungen setzten ihre Arbeit fort, standen aber unter finanziellen und politischen Anpassungszwängen. Gleichzeitig formierten sich neue Parteienlandschaften, während wirtschaftliche Krisen seit 1923 und besonders nach 1929 soziale Abstiege beförderten. Erinnerungspolitische Debatten über die Habsburgermonarchie und den Krieg rahmten Klassentreffen und Jubiläen, bei denen berufliche Erfolge präsentiert und frühere Normen neu bewertet wurden. Solche Anlässe boten Bühne und Druckraum für Rechenschaft über vergangene Entscheidungen.
Vor diesem Hintergrund erscheint Der Abituriententag, 1928 veröffentlicht, als literarischer Kommentar zu den Übergängen von der späten Monarchie zur Tschechoslowakei. Rückblenden und eine Klassenzusammenkunft bündeln Erfahrungen von Schuldisziplin, sozialem Ehrgeiz, nationalen Spannungen und antisemitischen Ausgrenzungen, ohne die historische Faktizität der Konflikte zu verlassen. Das Werk verbindet psychologische Analyse mit zeitkritischer Beobachtung und steht im Dialog mit Strömungen der Zwischenkriegsprosa, einschließlich Neuer Sachlichkeit und erinnerungsliterarischer Verfahren. Indem es die Verantwortung des Einzelnen gegenüber Institutionen und Milieunormen thematisiert, macht es strukturelle Kontinuitäten sichtbar und reflektiert die moralischen Prüfsteine einer Generation, die den politischen Umbruch erlebt hat.
Der Untersuchungsrichter Landesgerichtsrat[1] Doktor Ernst Sebastian tötete die erst halb genossene Zigarre. Er pflegte während seiner Amtshandlungen nicht zu rauchen. Ein Verhör war noch anzustellen. Da die Uhr schon auf sechs ging und die Sonnenstrahlen immer schiefer den Stuhl des Verhörs trafen, der wie ein zusammengebrochener Mensch vor dem Schreibtisch hockte, wollte Sebastian sich beeilen.
Er hatte überdies Burda, dem Gymnasialprofessor Johann Burda, fest versprochen, dem heutigen Abend keinesfalls fern zu bleiben. Es war rührend, wie eifrig sich dieser Burda um das Zustandekommen einer höchst überflüssigen und reichlich verlogenen Feier bemühte! Ein sentimentaler Mensch, der ganz unmerklich die Schulbank mit dem Katheder vertauscht hatte, der sanftäugige Professor Burda! Sein Briefstil, mit dem er den ehemaligen Kameraden bat, ›das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des Jahrgangs neunzehnhundertundzwei des Nikolausgymnasiums mit seiner Gegenwart zu beehren« – dieser Stil durfte wahrlich kaum ciceronianisch genannt werden.
Fest entschlossen, dem Kollegentag nicht beizuwohnen, hatte Sebastian den Brief vorerst unbeantwortet gelassen. Doch dann war Burda persönlich bei ihm erschienen, mit kindlicheifrigen Worten die Zusage einmahnend. Diese dringliche Bitte abzulehnen, wäre unhöflich gewesen. Auch mischte sich eine kleine dumpfe Neugierde ins Spiel, die Sebastian gar nicht bemerkte.
Der Landesgerichtsrat war ein Mensch, in dessen Wortschatz der Begriff ›Umstellen‹ eine große Rolle spielte. Die Umschaltung vom Schlaf zum Wachen, vom Dienst zum Leben, vom Urlaub zum Alltag beanspruchte viel Zeit und war mit mancherlei schwerfälligen Umständlichkeiten verbunden. Auch heute würden zwei Stunden das geringste Maß sein, das für die langwierige Prozedur des Umstellens berechnet werden mußte. Die ersten Augenblicke jeglicher Geselligkeit, das Betreten auch eines befreundeten Salons, Gruß, Handkuß, leichtes Gespräch, vorgetäuschte Gelassenheit, all das erforderte selbst in gewohnter Umgebung einen ganzen Mann. Um wieviel mehr Nervenfrische mußte man für das Wiedersehen mit einer Schar von gealterten, einander grundlos duzenden Männern bereit halten!
Sebastian schellte ungeduldig und befahl die Vorführung. in der Zwischenzeit blätterte er den Akt an:
›Mord an der Prostituierten Klementine Feichtinger.‹ Seines Erachtens war die Sache sehr unklar. Doch lag vielleicht die Unklarheit nur darin, daß er sich selber nicht gehörig auf den Fall vorbereitet hatte. Er wußte nicht mehr, ob es äußere Abhaltung oder ein innerer Widerstand gewesen, der ihn gestern beim Studium des Aktes behindert hatte.
Glücklicherweise aber war es das erste Verhör, das er heute mit dem Verdächtigen anstellen sollte.
Sebastian war ein sehr moderner Jurist. Er behauptete zwar, keine Macht der Welt könne den legitimen Kriegszustand aufheben, der zwischen Richter und Angeklagten herrsche, aber da der eine Teil der Kriegführenden, der Richter nämlich, in gar zu gewaltigem Vorteil sich befinde, so wolle es die Menschlichkeit, daß man dem Benachteiligten im Spiele einige ›Punkte vorgebe‹. Er verstieg sich sogar mißbilligenden Kollegen gegenüber zu der Behauptung, der Richter müsse einen Teil seiner Truppen auf Seiten des Feindes kämpfen lassen; dies sei nicht nur im Interesse der Gerechtigkeit, sondern mehr noch zum Erweis der Wahrheit vonnöten. All die bewährten Mittelchen der Untersuchung, Kreuzverhör, Verstrickungsfragen, Widerspruchsfallen, Überraschungsschläge, waren ihm in der Seele verhaßt. Er verdammte sie als den ›malleus maleficarum‹, den rückständigen Hexenhammer, als das Folterreglement der modernen Rechtspflege.
Ernst Sebastian hegte feste Überzeugungen, die er schon des öfteren in kriminalistischen Fachblättern dargelegt hatte.
Da war zum Beispiel gleich ›das erste Verhör‹. Nach seiner Auffassung sollte es in der Form einer zwanglosen Unterhaltung verlaufen. Richter und Beschuldigter müßten zueinander Vertrauen fassen, ehe an eine ersprießliche Weiterarbeit zu denken wäre. Vertrauen könne aber nur dann herrschen, wenn der Richter die menschliche Gleichstellung, die dem Noch-nicht-Verurteilten gebühre, mit aller Höflichkeit des Herzens anerkenne. Eine humane Begegnung beider Parteien, wohlgemerkt beider, müsse stattfinden, damit sich aus der einzigartigen Beziehung des Rechtsverwalters zum Rechtsbrecher der Kristall der Wahrheit bilde.
Sebastian hegte eine wirkliche Leidenschaft für sein Amt, für den gar nicht hochgewerteten Beruf eines Untersuchungsrichters. Hundertmal schon hätte er zu höheren Befugnissen aufrücken sollen. Er war dreiundvierzig Jahre alt, Landesgerichtsrat, der Hofrat[2]stitel wartete seiner, dennoch wußte er sich jeder Amtserhöhung zu entziehen. Die Untersuchung war ein Posten für jüngere Leute[1q]. In Richterkreisen hieß es, daß für diesen Beruf jeder gewitzte Polizeikommissär genüge. Sebastian war anderer Meinung. Vor einigen Monaten hatte ihn der Justizminister höchstpersönlich zu sich beschieden, um ihn umzustimmen. Vergebens! Man munkelte, Sebastians Ehrgeizlosigkeit sei nichts anderes als Hochmut. Sein Vater hatte zu Zeiten der Monarchie als Präsident des Obersten Gerichtshofes die höchste Richterstelle im Staate bekleidet. Der Sohn sei ein geistreicher Mann und bei der besten Gesellschaft, auf vielen Schlössern Exösterreichs ein gerngesehener Gast. Das genüge ihm.
Der Landesgerichtsrat sah nach der Tür und erhob sich. Es gehörte zu seinen Prinzipien, die Vorgeführten stehend zu empfangen wie Besucher.
Der in diesem Augenblick eintretende Untersuchungshäftling machte den Eindruck eines um mindestens zehn Jahre älteren Mannes, als es Sebastian war. Er blieb in großer Entfernung mit knieweichen Beinen stehen und hielt den Kopf gesenkt, eine Gebärde, die der Richter genau kannte und die unzweifelhaft bewies, daß der Mann sich das erstemal in dieser Lage befand.
Sebastian wartete, bis der Justizsoldat verschwunden war, dann sagte er mit einer hellen Stimme, deren angenommener Metallklang Markigkeit und Güte zugleich zu umspannen hatte:
»Also Sie sind Herr Adler? Guten Tag!«
Er streckte seine Hand aus. Der Mann mit dem gesenkten Kopf bemerkte es nicht. Sebastian aber zog die ausgestreckte Hand nicht zurück, sondern legte – als hätte er mit der allzu großen Geste nichts andres vorgehabt – diese Hand auf die äußerste Randverzierung seines Schreibtisches. Jetzt klang seine Stimme flüchtig und verwischt:
»Herr Adler, treten Sie nur näher! Mein Name ist Doktor Sebastian!«
Der Beschuldigte rührte sich nicht.
Der Richter sprach weiter schnell und leise:
»Wir kommen, Herr Adler, heute an diesem Ort nur zusammen, um uns ein wenig kennenzulernen. Fürchten Sie sich nicht! Sie sehen, unser Gespräch hat keine Zeugen. Mein Schriftführer ist nicht anwesend, die Amtszeit ist längst vorüber. Sie können ruhig sprechen. Vor Gericht sind Sie nur für jene Aussagen verantwortlich, die protokolliert und von Ihnen unterzeichnet worden sind. Ich sehe Ihnen an, daß Sie meine Stellung, die Stellung des Untersuchungsrichters, falsch beurteilen. Ich bin nicht Ihr Feind. Meine Aufgabe ist es nicht, zu überführen, sondern zu untersuchen. Ich könnte Ihr Feind nur von dem Augenblick an sein, wo ich davon überzeugt wäre, daß die gegen Sie vorliegenden Verdachtsgründe schlagend sind. Davon aber bin ich durchaus nicht überzeugt, Herr Adler! Ich bitte genau aufzufassen, was ich Ihnen hiermit gestehe: Ich habe nicht das geringste Interesse daran, einen Schuldbeweis gegen Sie zu konstruieren. Andere Herren würden Ihnen jetzt vielleicht die gesetzlichen Erleichterungen vorhalten, die ein furchtloses Geständnis nach sich zieht. Ich verzichte auf eine derartige Vorhaltung. Sie können ruhig annehmen, daß ich in Ihnen nicht den Beschuldigten sehe, sondern den Menschen, der so oder so in eine Klemme geraten ist. Also Mut, Herr Adler! Bitte nehmen Sie Platz!«
Adler schlich leise zum Verbrecherstuhl und setzte sich. Das erste, was Sebastian an dem Manne auffiel, war die große Glatze, verbeult und ausgebuchtet wie ein abgenütztes Geschirr. Der Haarkranz, der diese Glatze umlief, bestand aus schmutzig-grauen, ziemlich langen Locken. Ein Rundbart von der gleichen Farbe. Die Stirne war so mächtig vorgebaut, daß sie die doppelt geschliffene Brille zu überwölben schien, hinter der wimperarme Augen an Lidrandentzündung litten. Der Mensch war weder groß noch klein, weder gut noch schlecht gekleidet.
Doktor Sebastian tauchte in die reiche Maskengarderobe seiner sozialen Richtererfahrung, um den Mann unterzubringen: Nachtredakteur etwa, urteilte er. Dann entnahm er dem Faszikel das Blatt, auf dem Adlers Nationale verzeichnet stand. Seine Worte konnten in ihrem näselnden Klang die bösartige Scherzhaftigkeit nicht ganz verhehlen, die aus der Allmacht dieser Situation zu entspringen pflegt:
»Einige kleine Formalitäten müssen Sie in Kauf nehmen, Herr Adler!«
Und er verlas:
»Franz Josef Adler, geboren am siebzehnten April achtzehnhundertundvierundachtzig zu Gablonz in Böhmen...«
Langsam legte er das Blatt hin:
»Sie sind nicht älter als vierundvierzig Jahre!? Aber das ist doch...«
Den Rest des Satzes verschluckte er, um den Beschuldigten nicht zu kränken.
Aber er dachte: aufs Jahr so alt wie ich, fuhr sich durchs volle Haar und streichelte seine jugendliche Backe. Nun aber schob er den Akt zur Seite und stellte ohne Vorlage seine Fragen:
»Möchten Sie mir nicht Ihren Bildungsgang schildern, Herr Adler?«
Der Mann hatte eine sonderbare Stimme. Sie stieß die Worte kurz aus und fraß sie doch zugleich in sich hinein. Die Zischlaute überwogen und gaben den Worten eine vertrackte Würde, nicht anders als die zuckenden, gleichsam kurzsichtigen Verbeugungen, die Adler hier und da seinen Sätzen anfügte. Sein Gesicht stellte verzweifelte Höflichkeit dar und errötete oft und ohne Grund. Selbst die Haut unter den dünnen Augenbrauen wurde rot, und die mächtige Stirn zeigte große scharfumgrenzte Flecken. Dies beobachtete Sebastian, ohne daß er sich in das Gesicht des Verdächtigen allzusehr vertiefen mußte. Er verspürte, daß trotz der verzweifelten Höflichkeit und der vertrackten Würde dieses Gesicht auf unnachahmliche Art grinse, als suche es einen Spießgesellen, der es ebenso lächerlich finde, wie es sich selbst fand.
Adler berichtete:
»Ich habe das Gymnasium besucht. Leider aber war ich gezwungen, meine Studien zu unterbrechen. Später habe ich dann manches nachgeholt und mehrere Semester Philosophie an der Berliner Universität gehört; auch historische Fächer. Den Doktortitel habe ich allerdings nicht erworben.«
Zuckende Verbeugung.
Sebastian legte Hochachtung an den Tag:
»Ihr Bildungsgrad wird Ihnen nützlich werden, Herr Adler! Jetzt aber sagen Sie mir bitte ein Wort über Ihren Beruf! Wovon leben Sie?«
Adler zerkaute tiefernst die Worte, mit denen er bekannte: »Ich lebe von Rätseln.«
