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Anno Domini 1498. Eine beunruhigende Nachricht erreicht Johannes, den Abt von Salem: In Florenz predigt ein Dominikanermönch die Apokalypse, während seine Gegner die Rückkehr der Medici betreiben. Plötzlich verschwindet Markus, Sohn eines Salemer Steinmetzen und Lehrling eines Florentiner Malers. Von Salem aus macht sich Johannes gemeinsam mit Markus‘ Vater und dem jungen Mönch Amandus auf die Suche. Dabei geraten sie mitten in die blutigen Machtkämpfe zwischen Anhängern des Bußpredigers und Medici-Freunden.
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Seitenzahl: 395
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Birgit Rückert
Der Abt von Salem – Im Bann der Medici
Historischer Kriminalroman
Kampf um Florenz Salem, 21. Jahrhundert: Der Fund einer alten Akt-Zeichnung einer jungen Frau aus dem Umfeld Florentiner Künstler gibt Rätsel auf. Museumsleiter Benedikt Schönborn reist auf Spurensuche nach Florenz. Auch im Jahr 1498 führen die Wege von Salem nach Florenz: Abt Johannes legt den Grundstein für die neue Salemer Bibliothek, als beunruhigende Nachrichten eintreffen: Markus, der Sohn eines Salemer Steinmetzen und Lehrjunge bei einem Florentiner Künstler, ist in Florenz spurlos verschwunden. Dort predigt der Dominikanermönch Savonarola die Apokalypse, während seine Gegner die Rückkehr der verbannten Medici betreiben. Zusammen mit Markus‘ Vater und dem jungen Mönch Amandus reist Johannes nach Florenz, um Markus zu suchen. Die Spur führt unter anderem in das Dominikanerkloster San Marco. Die Konflikte zwischen den Anhängern des Mönchs und den Medici-Freunden erreichen derweil ihren Höhepunkt: Savonarola wird verhaftet, seine Parteigänger verfolgt. Was haben die Mönche von San Marco zu verbergen? Und wo ist Markus?
Birgit Rückert lebt und arbeitet in Salem am Bodensee. Schon in ihrer Jugend war sie fasziniert von Geschichte und vergangenen Kulturen. Sie hat Klassische Philologie und Archäologie studiert, an Ausgrabungen in Italien, Griechenland und der Türkei teilgenommen und wechselte nach ihrer Forschungstätigkeit ins Tourismus- und Kulturmanagement. Nicht nur die Recherche für ihre historischen Romane, sondern auch das Schreiben selbst ist für sie wie eine Zeitreise, auf die sie ihre Leserinnen und Leser gerne mitnimmt. Ihre (fast) wahren Geschichten rund um den Zisterziensermönch Johannes nehmen die Welt der Mönche und Päpste, Kaiser und Künstler in den Blick und erzählen von ihren geheimen Leidenschaften in der spannenden Epoche der Renaissance.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Bildes von: © CC0 1.0 Public Domain Dedication, Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Sal. IXc
Breviarium abbatis pars hiemalis (Salemer Abtsbrevier I [Winterteil]) – Salem, 1493/1494. https://doi.org/10.11588/diglit.6313#0603 und
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bernardino_da_Firenze_%E2%80%93_Bellezze_di_Firenze,_1495_%E2%80%93_BEIC_IE5649640-occhietto.jpg
ISBN 978-3-7349-3456-8
Historische (und einige fiktive) Personen im 15. Jahrhundert
Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation/Innsbruck:
Maximilian I. (1459 – 1519), ab 1486 römisch-deutscher König und designierter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, ab 1508 Erwählter Römischer Kaiser; Sohn von Kaiser Friedrich III. (1415 – 1493), in erster Ehe verheiratet mit Maria von Burgund (1457 – 1482)
Bianca Maria Sforza (1472 – 1510), Tochter des Herzogs von Mailand, zweite Gemahlin von König Maximilian I.
Magdalena Reichlin von Meldegg (Lebensdaten unbekannt), Tochter des Arztes Andreas Reichlin von Meldegg, Hofdame der Königin Bianca
Hugo von Hohenlandenberg (1457 – 1532), ab 1496 Fürstbischof des Bistums Konstanz
Kloster Salem:
Johannes Scharpfer, aus Mimmenhausen, Mönch in Salem und Leiter des Skriptoriums, ab 1494 (bis 1510) Abt von Salem
Johannes I. Stantenat, 18. Abt in Salem (reg. 1471 – 1494)
Jodokus Ower (1459 -–1510), Archivar und Sekretär des Abtes
Amandus Schäffer, junger Schreiber im Skriptorium, später Abt in Salem (reg. 1529 – 1534)
Hans von Savoy, Steinmetz und Klosterbaumeister, Freund von Johannes (Lebensdaten unbekannt)
Markus von Savoy, Sohn von Hans (Lebensdaten unbekannt)
Theobald Hillweg, Abt in Kloster Lützel (reg. 1495 – 1532), dem Mutterkloster Salems
Kloster Stams:
Bernhard Welsch, Abt in Stams (reg. 1484 – 1501)
Florenz:
Marsilio Ficino (1433 – 1499), Philosoph, einer der einflussreichsten Vertreter des Renaissancehumanismus
Filippino Lippi (1457 – 1504), Maler in Florenz, Sohn des Malers Fra Filippo Lippi, verheiratet mit Maddalena Monti
Sandro Filipepi, genannt Botticelli (1445 – 1510), Maler in Florenz, Schüler des Fra Filippo, Lehrer des Filippino Lippi
Francesco Valori (1439 – 1498), Politiker in Florenz, mehrfach gewählter Gonfaloniere della Giustizia in der Stadtregierung, Anhänger des Fra Girolamo Savonarola und Gegner der Medici, verheiratet mit Costanza Canigiani
Niccolò Valori (1464 – 1527), Neffe von Francesco Valori, Politiker und Antikensammler, gehörte zum Kreis des Marsilio Ficino, erst Medici-Freund, dann Savonarola-Anhänger
Niccolò Machiavelli (1469 – 1527), Politiker, Dichter, Schriftsteller und Philosoph, nach dem Tod Savonarolas als Sekretär der Republik Florenz in diplomatischen Diensten tätig
Doffo Spini (Lebensdaten unbekannt, wohl 1503 eines unnatürlichen Todes gestorben), aus einer alten Florentiner Familie, stadtbekannter Lebemann und erklärter Gegner Savonarolas
Bartolomeo Cerretani (1475 – 1524), Tagebuchschreiber aus einer alten Florentiner Familie, schreibt historische Werke u.a. über die Rückkehr der Medici
Venturo Sassetti, unehelicher Sohn des Medici-Bankiers Francesco Sassetti
Alfonsina Orsini (1472 – 1520), Frau des Piero (di Lorenzo) de’ Medici, aus dem alten römischen Adelsgeschlecht der Orsini
Fra Emanuele, Bibliothekar im Kloster San Marco
sowie weitere Dominikanerbrüder
… und Francesca Valori, Tullia, Lukrezia, Lavinia und Fiammetta
*
Weitere im Text genannte historische Personen
Fra Girolamo Savonarola (1452 – 1498), Dominikanermönch und Bußprediger, Kirchenreformer und Kritiker der Kurie, 1498 als Häretiker und Schismatiker hingerichtet
Karl VIII. (1470 – 1498), ab 1483 König von Frankreich, führt den Titel »Allerchristlichster König« (Rex Christianissimus)
Ludwig XII. (1462 – 1515), ab 1498 König von Frankreich
Rodrigo Borgia (1431 – 1503), ab 1456 Kardinal, ab 1457 Vizekanzler der Kurie, Kardinalprotektor des Zisterzienserordens, ab 1492 Papst unter dem Namen Alexander VI.
Ludovico Sforza (1452 – 1508), Herrscher von Mailand, ab 1494 mit Herzogstitel, Onkel von Bianca Maria Sforza
Ascanio Maria Sforza (1455 – 1505), Bruder von Ludovico Sforza, Onkel der Bianca Maria Sforza, ab 1484 Kardinal
Giuliano della Rovere (1443 – 1513), Bischof von Ostia und Avignon (Inhaber weiterer Bistümer), ab 1471 Kardinal, ab 1503 Papst unter dem Namen Julius II.
Cosimo de’ Medici, ›der Alte‹ (1398 – 1464), Bankier, Förderer von Künstlern und humanistischen Gelehrten
Lorenzo de’ Medici, il Magnifico ›der Prächtige‹ (1449 – 1492), Enkel von Cosimo, Bankier, Politiker und Dichter, Förderer von Künstlern und Gelehrten
Piero (di Lorenzo) de’ Medici, ›der Unglückliche‹ (1472 – 1503), Lorenzos Sohn, Bankier, wird 1494 aus Florenz verbannt
Lorenzo Tornabuoni (1466 – 1497), aus der einflussreichen Florentiner Familie der Tornabuoni, mit den Medici verschwägert; Mitarbeiter der Medici-Bank, Vertrauter des Piero de Medici; 1497 wegen Verschwörung hingerichtet
Filippo Strozzi (1428 – 1491), Kaufmann und Bankier aus der Florentiner Familie der Strozzi, Auftraggeber von Filippino Lippi
Giovanni Graf Pico della Mirandola (1463 – 1494), Humanist und Philosoph, gehörte zum Kreis des Marsilio Ficino
Angelo Poliziano (1454 – 1494), Dichter, Humanist, Dozent an der Universität Florenz und Lehrer der Söhne von Lorenzo de’ Medici, gehörte ebenfalls zum Kreis des Marsilio Ficino
Julius Pomponius Laetus (1428 – 1498), humanistischer Gelehrter in Rom
Fra Filippo Lippi (1406 – 1469), Mönch und Maler, Vater von Filippino Lippi
Domenico Bigordi, genannt Ghirlandaio (1449 – 1494), Maler in Florenz
*
Personen im 21. Jahrhundert:
Benedikt Schönborn, Museumsleiter in Schloss Salem, einem ehemaligen Zisterzienserkloster am Bodensee
Maddalena, Doktorandin der Kunstgeschichte
Cornelius Bauer, Kunsthistoriker aus Rom
Elena Bauer-Mazzarini, Mediävistin, Cornelius’ Frau
Raffaele, Kunsthistoriker und Restaurator an den Uffizien in Florenz
ein Kunstschmied in Schloss Salem
und eine Contessa aus altem römischem Adel, Freundin von Elena
Salem, im Frühjahr 1497
Das Fenster des Audienzzimmers stand sperrangelweit offen. Ein lauer Lufthauch des jungen Frühlings wehte vom Garten her durch den holzgetäfelten Raum. Aber es würde noch Wochen dauern, bis die Kälte des Winters, die sich in den Gemäuern des Klosters festgesetzt hatte, gewichen war und mildere Temperaturen den Mönchen ihr ohnehin schon entbehrungsreiches Dasein erleichterten.
Abt Johannes schritt energisch im Zimmer auf und ab, während er seinem Sekretär diktierte: »… und daher, Excellentissime, verurteilen wir aufs Schärfste Euer diebisches Vorhaben, das ehrwürdige Kloster der Reichenau Eurem Bistum einzuverleiben und unsere Brüder des Heiligen Benedikt quasi in babylonische Gefangenschaft zu führen …«
Jodokus warf genervt die Schreibfeder auf den Tisch.
»Aber Johannes, so kannst du doch nicht mit dem Bischof von Konstanz reden. Wenn du etwas für unsere Brüder erreichen willst, musst du dich schon diplomatischer ausdrücken. So riskierst du nur den Zorn des Bischofs.«
Wieder einmal, dachte Jodokus still bei sich. Denn Johannes ging keinem Zwist aus dem Weg, falls dem Kloster Schaden drohte, mochten es der Bischof sein oder ein Edelmann oder auch die eigenen Untertanen und Bauern.
»Papperlapapp, für Diplomatie ist jetzt keine Zeit mehr … wenn dem Bischof gelingt, was er vorhat, dann dauert es nicht mehr lange, bis auch unser Kloster an der Reihe ist.«
»Was seinem Vorgänger nicht gelungen ist, wird auch Hugo von Hohenlandenberg nicht gelingen. Sei unbesorgt: Wir Zisterzienser haben mit dem Papst und dem König mächtige Fürsprecher. Ich meine nur, der Bischof ist ein feiner Herr, und du …«
»Du brauchst mich nicht daran erinnern, wo ich herkomme, Jodokus.«
»… und du bist nun der ehrwürdige Abt der freien Abtei Salem, zudem Generalvikar für die oberdeutschen Zisterzienserklöster auf Geheiß des Generalabts«, fuhr Jodokus unbeirrt fort. »Da pflegt man einen anderen Umgangston, auch mit unseren Gegnern wie dem Bischof. Geht das in deinen Bauernschädel?«
Johannes schnaubte und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. So durfte nur Jodokus mit ihm reden, mit dem er seit ihrem gemeinsamen Eintritt ins Kloster befreundet war – alle anderen mussten ihm mit der geforderten Ehrerbietung begegnen. Und ihm Gehorsam erweisen: Gehorsam, den er nun von seinen Brüdern einforderte und womit er als gewöhnlicher Mönch stets gehadert hatte. Und ihn als »Reverendissime« ansprechen, zumindest mit »Vater Abt« – was Jodokus nur dann verweigerte, wenn er sich über seinen Freund ärgerte – wie in diesem Augenblick.
Gemeinsam hatten sie zwei Jahre ihres Theologiestudiums am Jakobskolleg des Ordens in Heidelberg verbracht. Nach ihrer Rückkehr nach Salem hatten sie es schnell zu etwas gebracht: Johannes durfte sich ganz dem klösterlichen Skriptorium widmen, während Jodokus schon als junger Mönch zum Sekretär des vormaligen Abtes ernannt wurde.
Johannes stierte zerknirscht vor sich auf den Boden: »Du hast recht, ich bin und bleibe der Sohn eines Bauern aus Mimmenhausen …«
»Hast du mir nicht zugehört? Du bist nun der Abt von Salem, benimm dich auch so. Glaubst du, unser seliger Abt Johannes Stantenat hätte dich zu dem gemacht, was du bist, wenn er nicht deine Fähigkeiten erkannt hätte?«
Johannes blieb stumm. Ja, es stimmte: Abt Stantenat hatte ihm stets vertraut, ihm, dem Sohn eines Untertanen des Klosters; ihn gefördert, gar mit heiklen Aufgaben betraut und allerlei Versuchungen ausgesetzt. Und weiß Gott – natürlich wusste es Gott, dazu noch Abt Stantenat und sogar sein Freund und Vertrauter Jodokus – oft konnte der den Ansprüchen nicht genügen und hatte seine Gelübde – Keuschheit, Demut und Gehorsam – gebrochen. Er war entschlossen gewesen, dem Kloster den Rücken zu kehren. Doch schließlich hatte er sich seinem Schicksal – oder dem Willen seines Abtes? – gefügt und die schwere Bürde auf sich genommen, seinem Kloster fortan als Abt zu dienen.
Entschlossen erhob sich Johannes wieder von seinem Stuhl. »Also gut! Wie du meinst, Jodokus, du kannst dann den Brief am Ende mit den nötigen diplomatischen Floskeln garnieren … Fangen wir von vorne an: »Excellentissime, ehrwürdigster Bischof, uns hat eine gar erschütternde Nachricht der Brüder des Klosters Reichenau erreicht, die um ihre Eigenständigkeit und den Fortbestand ihrer klösterlichen Gemeinschaft bangen. Sicherlich mögen die Gründe für Euren Entschluss und Euer Handeln wohl abgewägt sein, Exzellenz, doch würden wir gerne verstehen, warum …«
Das Kratzen von Jodokus’ Schreibfeder wurde jäh unterbrochen, als laute Stimmen vom Abtsgarten herauf durch das offene Fenster ins Zimmer drangen.
»Was ist das für ein Gezeter?« Johannes lugte durch das Fenster. Soviel er erkennen konnte, standen ein Mann und eine Frau, umringt von mehreren Brüdern, mitten im Garten. Die Frau zerrte einen jungen, schlaksigen Kerl am Arm und schimpfte lauthals auf den Mann ein. »Sieh nach, was da los ist, Jodokus.«
Ohne zu zögern kam Jodokus der Aufforderung seines Abtes nach. Jodokus hatte es offenbar schnell geschafft, die Streithähne zu beruhigen, denn die kleine Versammlung im Garten hatte sich aufgelöst, und es drang kein Lärm mehr nach oben in die Gemächer des Abtes.
Johannes hatte derweil in seinem Lehnstuhl Platz genommen, in dem schon sein Vorgänger Audienz abzuhalten pflegte. Er wartete geduldig, was oder wer da die klösterliche contemplatio gestört hatte.
Wenige Augenblicke später schon zwängte sich Jodokus durch die Tür und schloss diese gleich wieder hinter sich: »Es ist die Müllerin …und Hans, der Steinmetz, und …«
»Hans? Unser Steinmetz?« unterbrach ihn Johannes. Jodokus nickte stumm.
»Was hat er mit der Müllerin zu schaffen? Lass sie herein.«
Johannes hatte den Satz kaum beendet, da sprang die Tür auf, und eine nicht mehr ganz junge Frau drängte herein, den schlaksigen Jungen im Schlepptau. Ihnen folgte ein großer, drahtiger Mann, dem man ansah, dass er körperliche Arbeit gewohnt war: Hans von Savoy, der Steinmetz in Diensten des Klosters.
Johannes wandte sich direkt an den Steinmetz. »Was hat das zu bedeuten, Hans?«, fragte er streng. Hans nahm rasch sein schwarzes Barett vom Kopf und verneigte sich tief. Beide, Hans und Johannes, waren Freunde von Kindesbeinen an, aufgewachsen als Untertanen des Klosters. Hans war als Steinmetz in die Dienste des Klosters getreten wie schon sein Onkel Michael vor ihm. Mit Johannes, dem Bauernsohn und späteren Mönch, hatte Hans schon einiges durchgestanden, einige Abenteuer erlebt, doch seinem Abt musste auch der selbstbewusste Handwerker Ehrerbietung erweisen.
Hans sperrte den Mund auf, um zu antworten, da fing die Frau sogleich zu zetern an: »Was das zu bedeuten hat? Das kann ich Euch sagen …«
Hans gab ihr einen Schubs, sodass sie vor Johannes auf die Knie fiel.
»Verneige dich gefälligst vor dem ehrwürdigen Abt, Weib.«
Die Frau rappelte sich wieder auf, schnappte sich Johannes’ rechte Hand und küsste den Ring des Abtes, wie es sich gehörte. Dann trat sie dem Jungen vor das Schienbein, der daraufhin ebenfalls auf die Knie fiel und versuchte, nach Johannes’ Hand zu greifen. Johannes zog diesmal rechtzeitig seine Hand zurück und befahl dem Jungen mit einer Geste, sich aufzurichten. Der Junge starrte betreten zu Boden und gab keinen Mucks von sich. Auch die Frau war nun verstummt und wagte kaum, ihren Blick zu heben.
Johannes wandte sich direkt an die Frau: »Nun, erkläre dich, was führt dich hierher zu uns ins Kloster?« Johannes erinnerte sich an sie, er hatte sie schon ein paarmal gesehen, als er noch als junger Mönch zusammen mit dem Grangienmeister oder dem Cellerar die Güter des Klosters inspizierte. Sie war die Frau eines Müllers, der eine der vielen Getreidemühlen des Klosters betrieb. Sie war einfach, aber sauber und ordentlich gekleidet. Das Kloster legte stets Wert darauf, dass seine Bediensteten und Untertanen nicht in Lumpen gingen. Ihr Haar war unter einer weißen leinenen Haube verborgen, nur ein paar blonde Strähnen lugten darunter hervor. Obwohl ihre kräftige Statur darauf schließen ließ, dass sie hart arbeitete und auch schon einige Geburten hinter sich hatte, war ihre Gesichtshaut glatt und rosig. Sie muss einmal eine echte Schönheit gewesen sein, dachte Johannes.
Doch ihre Stimme, die nun an Johannes’ Ohren drang, ließ jeden Gedanken an Schönheit zerplatzen.
»Das hier ist Markus, mein Ältester.« Dabei rammte sie ihrem Sohn den Ellbogen in die Seite. »Er taugt nichts.«
»Was meinst du damit? Jedes Geschöpf auf Gottes Erden hat seinen Platz …«, versuchte Johannes zu beschwichtigen.
»Er taugt nicht zum Müller. Seht ihn nur an, ehrwürdigster Abt: Er ist zu schwächlich, um Mehlsäcke zu schleppen. Außerdem ist er ein Träumer. Mein Gemahl will ihn nicht mehr sehen …«
»Aber dein Gemahl kann doch nicht einfach sein eigenes Kind fortschicken«, warf Johannes ein.
»Sein eigenes Kind nicht«, bemerkte die Müllerin und wandte den Kopf zu Hans um. »Aber das eines anderen …«, fügte sie in zornigem Tonfall hinzu.
»Sie behauptet, der Junge sei mein Sohn …«, rief Hans dazwischen.
Die Stimme der Müllerin wurde noch schriller: »Kannst du dich nicht mehr erinnern, oder willst du es nicht, Hänschen?«
Dann wandte sie sich wieder an Johannes: »Was hat er mir nicht alles versprochen … ein berühmter Bildhauer, gar ein großer Künstler wolle er werden, mit einer eigenen Werkstatt. Dann wolle er mich zur Frau nehmen. Aber dann ist er in die Dienste des Klosters getreten. Ein Weib und sein Bankert am Hals waren ihm dann plötzlich lästig.«
»Ich war gewiss nicht der einzige, der …«, rief Hans dazwischen.
Johannes unterbrach seinen Freund: »Lass sie ausreden.«
Die Müllerin schlug demütig die Augen nieder und streichelte ihrem Sohn über den Kopf, der sich betreten zu Hans umblickte.
»Ich war so froh, dass der Müller, mein jetziger Gemahl, damals um meine Hand anhielt, obwohl mein Bauch schon geschwollen war. Der selige Abt Stantenat hat seinen Segen dazu gegeben. Doch nun will mein Gemahl den Jungen nicht mehr um sich haben. Sein leiblicher Vater soll sich ab jetzt um ihn kümmern, sagt mein Gemahl, der Müller.«
»Woher soll ich wissen, dass er mein Sohn ist? Man erzählt sich, dass du damals noch ganz anderen Leuten solche Versprechen abgerungen hast«, rief Hans empört.
Mit zornig blitzenden Augen fuhr die Müllerin Hans an: »Natürlich ist er dein Sohn. Er taugt nicht zu einer anständigen Arbeit. Den halben Tag verbringt er damit, mit Kohlestücken etwas auf Papierfetzen zu kritzeln oder in Holzscheite zu ritzen. Seine Stimme klingt mir wie die deine in den Ohren.« Sie imitierte den Tonfall von Hans: »Ein berühmter Künstler will ich einmal werden …«
Johannes wandte sich nun direkt an den verschüchterten Jungen: »Stimmt das? Du kannst mit der ehrenwerten Arbeit des Müllers nichts anfangen? Du verbringst deine Zeit gar mit Zeichnen?«
Der Jungen nickte stumm und wagte kaum, den Blick zu heben. Doch dann griff er plötzlich in sein Wams, zog einen Bogen Papier hervor und reichte ihn Johannes.
Auf dem Blatt war mit Kohlestift das Porträt der Mutter des Jungen gezeichnet, das exakt die Gesichtszüge, ja die Wesenszüge dieser Frau wiedergab. Wahrlich, dachte Johannes, so viel oder besser gesagt, so wenig er von Kunst verstand: Er war sich sicher: Dieser junge Mensch war nicht zum Beruf des Müllers bestimmt.
Johannes nickte der Müllerin freundlich zu: »Wir werden uns um deinen Sohn kümmern.«
Salem, im 21. Jahrhundert
Benedikt Schönborn, Museumsleiter in Salem, dem ehemaligen Zisterzienserkloster, nun Schloss und Sitz des berühmten Internats am Bodensee, nahm den Telefonhörer ab.
»Ja, interessant, ich komme gleich rüber.« Benedikt schnappte sich den großen Schlüsselbund und verließ hastig sein Büro im Unteren Tor. Er lief über den Schlosshof hinüber zur Prälatur, der ehemaligen Abtsresidenz. Dort waren schon seit längerem Bauarbeiten auf dem Dach und im Dachstuhl zugange. Und wie so häufig bei den Bauarbeiten in Salem, kam es immer wieder zu Überraschungen: Die Zimmerleute hatten ihn rufen lassen, weil sie auf etwas Interessantes gestoßen waren.
Der Bauleiter und seine Handwerker erwarteten Benedikt schon, der schnaufend die breite Treppe ins Dachgeschoss heraufstieg. Zu Füßen des Bauleiters stand eine Kassette. »Das haben wir im Zwischenboden gefunden, als wir ein paar morsche Dielen entfernt haben«, erklärte der Bauleiter. »Wir dachten, das könnte alt sein – und dich interessieren.«
Benedikt ging in die Hocke und schaute sich den Kasten genauer an. »Aber sehr wohl interessiert mich das. Habt ihr den genauen Fundort? Ich möchte das möglichst genau dokumentieren.«
Einer der Zimmerleute deutete auf eine Stelle zwischen zwei mächtigen Holzbalken. Im Staub war noch der Abdruck der Kassette zu sehen, wo sie wohl Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte gestanden hatte.
Benedikt ließ sich einen Stift und Zettel geben, schrieb Datum und den Ort darauf und legte den Zettel auf den Fundort. Dann holte er sein Handy aus der Jackentasche und machte mehrere Aufnahmen von der Fundsituation sowie von der noch geschlossenen Kassette.
»Was ist das für ein Material?«, fragte einer der Zimmerleute. Benedikt klopfte auf den Deckel der Kassette. »Dürfte ziemlich sicher Eisen sein … wie üblich für Geldkassetten oder Ähnliches.«
»Oh, wir haben also einen Schatz gefunden«, kommentierte der andere Zimmerer grinsend.
»Nicht so voreilig«, erwiderte Benedikt. »Wir wissen ja noch gar nicht, ob etwas drin ist.«
»Meinst du, wir können den Kasten öffnen?«, fragte der Bauleiter.
Benedikt erhob sich: »Ja, aber nicht hier. Bringt mir die Kassette in mein Büro. Unterdessen hole ich unseren Salemer Kunstschmied, er dürfte noch drüben in seiner Werkstatt sein. Er kennt sich mit alten Schließmechanismen aus und kann das Ding sicher öffnen, ohne Schaden anzurichten. Ich selber trau’ mich da nicht ran.«
Die beiden Zimmerleute schauten etwas enttäuscht drein, da ihnen ihr Schatzfund nun sogleich wieder abhandenkam. Benedikt lächelte sie an: »Keine Sorge: Ein Finderlohn ist euch sicher – was auch immer der Kasten vor uns verbirgt.«
*
Eine halbe Stunde später standen beide Zimmerleute zusammen mit dem Bauleiter in Benedikts Büro, wo der Schmied die auf einem Tisch abgestellte Kassette genauestens von allen Seiten betrachtete.
Benedikt bediente seine Kamera, um das Öffnen der Kassette zu dokumentieren.
Die Kassette war auf allen vier Seiten und auf dem flachen Deckel mit einem rautenförmigen Netz aus schmalen Eisenbändern überzogen, an den Kreuzpunkten waren die Eisenbänder mit buckelförmigen Nieten am Kasten fixiert. Den oberen Rand des Kastens, wo der leicht überstehende Deckel auflag, zierte ein eisernes Reliefband mit stilisierten Lilienblüten. An den Schmalseiten war jeweils an einer Öse ein eiserner Tragehenkel angebracht. Der Schmied strich mit den Fingern sanft über die Bänder, Nieten und Muster: »Sorgfältige Arbeit, alles handgeschmiedet …«
»Also alt«, sinnierte Benedikt.
»Sehr alt«, erwiderte der Schmied. »Das kann heute kaum noch einer.« Er schaute verschmitzt zu den Umstehenden. »Außer mir vielleicht …«
Er streichelte den Kasten weiter mit beiden Händen. Benedikt wurde etwas ungeduldig. »Bekommst du die Kassette auch auf?«
»Nur die Ruhe. Siehst du die beiden kleinen Schlösser hier vorne?«
Benedikt beugte sich vor. Die Finger des Schmieds deuteten auf zwei kleine Öffnungen – Schlüssellöcher offenbar.
»Du meinst, wir bräuchten nur den passenden Schlüssel hierfür?«
Der Schmied schaute ihn irritiert an. »Nein, das meine ich nicht, Schlüssel würden uns hier nichts nützen. Die Schlüssellöcher sind eindeutige Täuschungsmanöver – nur zum Schein. Würde ich mich daran zu schaffen machen, würde sich der Schließmechanismus komplett verhaken. Dann ginge gar nichts mehr.«
»Dann müssen wir die Kassette zerstören, um sie zu öffnen?«, warf der Bauleiter ein.
Der Schmied entgegnete entrüstet: »Nein, nein, auf keinen Fall, wir zerstören hier nichts, allein schon aus Respekt vor dem Kollegen, der das geschmiedet hat. Habt doch ein wenig Geduld. Ich muss ihm nur auf die Schliche kommen, was er sich da ausgedacht hat. Es gibt da sicher einen Trick, ein Sesam-öffne-dich …«
Er drückte sanft auf jede einzelne Niete und eiserne Lilienblüte – und es tat sich nichts.
»Vielleicht ist ja gar nichts drin«, bemerkte einer der Zimmerleute.
Der Schmied hob die Kassette an den beiden Henkeln etwas hoch und rüttelte daran. »Doch, da bewegt sich etwas. Nichts Schweres – also keine Goldmünzen, wenn ihr darauf hofft.« Er nahm sich von einem Papierstapel auf Benedikts Schreibtisch ein Blatt und schob es langsam zwischen Deckel und Kasten.
»Der Schließmechanismus ist, wie es sich gehört, im Deckel untergebracht«, kommentierte er seine Untersuchung. »Die beiden Schmalseiten scheinen innen mit dem Deckel verzapft zu sein. Wir müssen also die Verzapfung innen lösen, und zwar gleichzeitig, indem wir …« Dabei zog er mit einem kräftigen Ruck beide Henkel waagerecht nach außen. Dabei löste sich die Verankerung der Henkel ein Stück weit aus der Kassette. Dann drehte er beide Henkel gleichzeitig um 180 Grad. Mit einem klackenden Geräusch sprang der Deckel ein Stück weit auf.
»Voilà«, sagte der Schmied und klappte den Deckel vollends auf.
Vier neugierige Augenpaare stierten in die Kassette. Unter den enttäuschten Blicken des Bauleiters und der Zimmerleute hob Benedikt einige zusammengerollte Papiere und Papierbündel aus der Kassette. »Da haben wir unseren Schatz.«
»Nun ja«, meinte der Bauleiter. »Ein Schatz ist das ja nicht gerade.«
»Das wird sich zeigen, wenn wir die Papiere gesichtet haben«, entgegnete Benedikt. »Es gab wohl einen Grund, warum man diese Dokumente über Jahrhunderte so sorgfältig weggeschlossen hat. Mal sehen, welches Geheimnis unser Fund birgt.«
Benedikt legte ein Papierbündel nach dem anderen sorgfältig neben die Kassette auf den Tisch. Als Letztes holte er einen größeren Bogen aus dem Kasten und rollte ihn auf dem Tisch aus. Alle steckten nun wieder die Köpfe zusammen und starrten auf das Blatt. Benedikt rief laut aus: »Das ist ja prächtig, geradezu entzückend!«
Auf dem Blatt war der kunstvoll ausgeführte Akt einer jungen Frau zu sehen.
»Die Zeichnung eines nackten Mädchens in einem Kloster?« Der Bauleiter schüttelte den Kopf.
»Sag’ ich’s doch«, erwiderte Benedikt. »Wir sind etwas Besonderem auf der Spur.«
Mit dem Handy schoss er noch einige Fotos, die er sogleich weiterschickte. »Das ist etwas für Cornelius!«
*
Keine zwei Stunden später meldete sich Cornelius Bauer per Telefon aus Rom. »Da habt ihr ja einen großartigen Fund gemacht, Benny!«
»Ja, meinst du? Ich dachte, du kannst mir vielleicht weiterhelfen. Du kennst dich als Kunsthistoriker da besser aus.«
»Die Zeichnung ist alt, sehr alt … ich tippe auf spätes 15. oder frühes 16. Jahrhundert. Florentiner Schule, soweit ich das anhand der Fotos, die du mir geschickt hast, beurteilen kann.«
»Du solltest sie natürlich im Original sehen …«
»Und für die nähere Einordnung muss man untersuchen, welches Papier verwendet wurde, Kreide oder Metallstift und so weiter.«
»Du meinst, dann könnte man auch den Künstler oder die Werkstatt bestimmen?«
»Elenas Studienfreund ist Spezialist für Zeichnungen des Quattrocento. Er arbeitet in Florenz. Wenn du möchtest, stelle ich den Kontakt für dich her. Und übrigens waren wir schon lange nicht mehr im schönen Firenze. Was meinst du, sollen wir uns dort treffen?«
»Eine wunderbare Idee«, rief Benedikt begeistert.
»Und deine Maddalena ist doch derzeit als Stipendiatin in Florenz, stimmt’s?«
Benedikt überhörte Cornelius’ süffisanten Ton. »Stimmt!«, sagte er trocken. Die Erwähnung von Maddalenas Namen löste bei Benedikt ein flaues Gefühl im Magen aus. Denn seit ein paar Wochen herrschte eine gewisse Sprachlosigkeit zwischen beiden.
»Prächtig«, quäkte Cornelius’ Stimme aus der Leitung. »Dann machen wir vier eine kleine Forschungsexpedition nach Florenz! Und während Elenas Kollege den Künstler der Zeichnung ausfindig macht, erforschen wir, wer die Schöne war.«
Salem, 10. März 1498
Es nieselte, für März nicht ungewöhnlich. Der Winter war lang und hart gewesen, und an Fasnacht, kaum drei Wochen zuvor, war der Schnee noch kniehoch gelegen.
Jetzt aber war der Boden bereits aufgeweicht. Nun endlich konnte man loslegen mit dem Bauen, hatte Hans von Savoy gehofft. »Sauwetter, verda …« Hans konnte sich gerade noch das Fluchen verkneifen. Aber warum musste es gerade am heutigen Tag, an dem der Grundstein für sein Werk gelegt werden sollte, regnen? War die Madonna doch verstimmt, dass er ihre altehrwürdige Kapelle bis auf die Grundmauern hatte abreißen lassen? Hans trat ungeduldig von einem Bein auf das andere, die nasse Erde unter seinen Schuhen gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Die Schar der Mönche, die sich hier im Hof zwischen Kreuzgang, Infirmarium und Abtshaus aufgestellt hatten, blickte ihn erwartungsvoll an.
Hans, der Steinmetz, inzwischen befördert zum Bauleiter aller Bauten, die Abt Johannes in Auftrag gab, hatte schon seit Jahren die Pläne für die neue Marienkapelle fertig, mit einer richtigen Bibliothek im Geschoss darüber.
Schon vor einem Jahr hatte man den Platz, wo die alte Kapelle stand, eingeebnet, aber der Neubau hatte lange warten müssen. Viel zu lange, wie Hans meinte. Doch sein Abt und Brotherr wollte es so. Abt Johannes war es wichtig gewesen, dass der Vaterabt aus Lützel bei der Grundsteinlegung anwesend war und das neue Bauvorhaben segnete. Und so hatte man das Frühjahr abgewartet, bis Abt Theobald von Lützel mit einer kleinen Entourage zur Visitation des Tochterklosters nach Salem kam, wie es die Ordensregeln vorschrieben.
Johannes und Theobald verband seit Jahren eine tiefe Freundschaft, obwohl sich Hans das nicht erklären konnte, so grundverschieden waren beide in ihrem Charakter. Theobalds asketische Ernsthaftigkeit ließ sich allein an seiner Statur erkennen: groß gewachsen zwar, aber hager und feingliedrig, die Haut so dünn und blass, dass die Adern darunter Theobalds Antlitz eine fast bläuliche Färbung verliehen. Das konnte aber auch an der Kälte hier liegen, dachte sich Hans.
Zeit seines Lebens aber hatte Theobald nicht viel Zeit an der frischen Luft in der Sonne verbracht, sondern sich hingebungsvoll dem Schreiben gewidmet, als Bibliothekar tief gebeugt über Codices des Skriptoriums, später dann als Cellerar über Rechnungsbüchern.
Weder Hans noch Johannes hätten je gedacht, dass sich Theobald, einmal zum Abt gewählt, zu einer tatkräftigen Person entwickeln würde, der nicht nur in seinem eigenen Kloster, sondern auch in den Tochterklöstern die Fäden in der Hand behielt.
Tatkräftig war auch Johannes – schon immer; und im Gegensatz zu Theobald erschien sein Körper geradezu muskulös; zwar hatte auch Johannes, seit er ins Kloster eingetreten war, viel Zeit mit seinen geliebten Büchern verbracht, doch in seiner Jugend musste er, der Sohn eines Bauern, auf dem Feld arbeiten, was seine kräftige Statur und seine sonnengebräunte Gesichtsfarbe erklären mochte. Doch hatte sein Äußeres nie etwas Bäuerisches, Derbes; seine groß gewachsene Gestalt strahlte durchaus etwas Vornehmes, Erhabenes aus, umso mehr, seit er vor vier Jahren zum Abt gewählt worden war. Doch Hans, der ihn ja von Kindesbeinen an kannte, bemerkte seitdem auch etwas Grüblerisches an ihm, als sei ihm die Aufgabe als Abt der freien Reichsabtei Salem mehr Pflicht und Bürde.
Das mochte mit ein Grund sein, dass Johannes zu ihm, dem Steinmetzen, eine gewisse Distanz hatte aufkommen lassen, obwohl sie doch jahrelang stets vertrauten Umgang gepflegt hatten.
Sogar einige regelrechte Abenteuer hatten sie zusammen durchgestanden, auf ihren Reisen nach Rom und Cîteaux. Vielleicht wollte Johannes jetzt, da er Abt war, sich an gewisse Dinge, von denen Hans wusste, einfach nicht mehr erinnern, sie aus seinem Gedächtnis streichen.
Wie seine Zuneigung zu Magdalena, Tochter des berühmten Arztes Andreas Reichlin von Meldegg, dessen Grablege – als Gönner des Klosters – sich im Münster befand. Magdalena hatte durchaus einen guten Einfluss auf Johannes ausgeübt, da war sich Hans sicher, solange sie sich ab und an im Meldeggschen Haus im nahen Überlingen am Bodensee hatten treffen dürfen. Doch das ungebührliche Verhältnis zu einem Mönch hatte bei Magdalenas Brüdern zunehmend Missfallen erregt. Und so war Magdalena einem Wunsch von König Maximilian, dem noch nicht gesalbten Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, gefolgt, war als Hofdame in das Frauenzimmer der Königin Bianca eingetreten und weilte nun am Hof in Innsbruck. Seither hielt sie sich fern von Überlingen. Und seit Johannes zum Abt gewählt worden war, war Magdalena auch nicht mehr in Salem erschienen, um das Grab ihres Vaters zu besuchen, wie sie es noch zu Abt Stantenats Zeiten häufig getan hatte.
Hans ließ seinen Blick über die Ansammlung der Mönche schweifen, die hier im Nieselregen standen und geduldig auf ihren Abt warteten, während ihre wollenen Kukullen sich allmählich mit Wasser vollsogen.
Von seinen Werkstattgehilfen hatte Hans in der Mitte des Hofes einen kleinen Graben ausheben lassen. Dort sollte Johannes zusammen mit Theobald, dem Vaterabt aus Lützel, feierlich den Grundstein legen für die neue Marienkapelle. Hans hatte den Bau in allen Details geplant, das Baumaterial – frisch gebrochener Sandstein aus Rorschach vom anderen Ufer des Sees – lag bereit. Die neue Kapelle sollte etwas Besonderes werden; nicht nur die Kapelle für die Kranken, wie es die alte winzige Kapelle als Teil des Infirmariums war. Nein, größer und prächtiger sollte sie werden. Farbige, mit Heiligenfiguren verzierte Schlusssteine und fantastische Blattranken sollten das Gewölbe zieren, bunte Glasfenster den Innenraum erhellen. Und im Obergeschoss würde ein großer, lichter Saal entstehen, in dem Salems stets wachsender Bücherschatz Platz finden sollte. Hans hatte sich auf seinen Reisen zu dem Bau inspirieren lassen, anderswo, in französischen Klöstern und in Italien, gab es solche Säle schon längst. Aber Salem sollte eines der ersten Klöster am Bodensee sein, das einen solchen Bibliothekssaal hatte. Und Hans konnte so seine Baumeisterkunst unter Beweis stellen.
Plötzlich kam Bewegung in die durchnässte, verfrorene Schar der Mönche. Die Tür zum Abtshaus öffnete sich, und eine kleine Prozession trat heraus, angeführt von einem Mönch mit Vortragekreuz, dahinter in Zweierreihen acht Mönche als Zelebranten, ausgestattet mit Kerzenleuchtern, Weihrauchgefäß und Weihrauchschwenker. Die Mönche stellten sich zu beiden Seiten an dem ausgehobenen Graben auf, als Johannes und Theobald in den Hof traten, beide im Messgewand, mit Mitra auf dem Haupt und ihrem Abtsstab in der Linken. Ihnen folgte Jodokus, der zwei irdene Krüge mit sich trug.
Theobald segnete die Menge mit der Rechten, während Jodokus seinem Abt einen der Krüge reichte. Mit ausgesprochen kräftiger Stimme hielt nun Theobald eine kurze Ansprache, er freue sich, dass er der Grundsteinlegung der neuen Marienkapelle beiwohnen dürfe. Die Muttergottes möge fürderhin den Kranken Trost spenden, aber nicht nur den Kranken und Siechen, sondern allen, die hier in Salem leben und wirken, den Laien und Mönchen, jungen wie alten, noch lebenden und auch den toten, deren Leiber hier in diesem Hof zu Staub zerfallen. »Möge die Muttergottes ihrer Seelen gnädig sein und sie in den Himmel einlassen wie uns alle, wenn unsere Zeit gekommen ist.«
Daraufhin segnete Theobald die beiden mit Wein gefüllten Krüge. Der Cantor gab den Mönchen ein Zeichen. Unter dem Gesang einer uralten Hymne legte Hans einen Steinquader in die Grube, Jodokus und Johannes stellten die Krüge darauf. Aus einer Schatulle, die ihm ein junger Mönch entgegenhielt, nahm Johannes eine frisch geprägte Goldmünze und legte sie zwischen die Krüge auf den Stein. Sodann traten Gehilfen hinzu und ummauerten den Grundstein mit den Krügen und der Goldmünze. Derweilen schritten die Mönche singend durch die Tür zum Kreuzgang, um von dort in die Kirche einzuziehen, wo die Messe gefeiert werden sollte.
Der Letzte aus der Prozession der Mönche war soeben im Kreuzgang verschwunden, als Bruder Portarius über den Hof gelaufen kam und Hans, der seine Gehilfen beim Zuschütten der Grube beaufsichtigte, einen kleinen Umschlag zuschob. »Für dich, Meister Hans.«
Bevor Hans ihn etwas fragen konnte, war der Portarius schon wieder verschwunden.
Hans blickte auf das Papier in seiner Hand. Ja wirklich, auf dem Brief stand sein Name. Er brach das Siegel und las. Regentropfen verwässerten die Tinte und machten ein paar Wörter unleserlich. Doch was er da gelesen hatte, genügte ihm. »Heilige Maria Mutter Gottes«, murmelte er. Mit zitternden Händen faltete er den Brief wieder und steckte ihn in sein Wams.
»Macht den Boden ordentlich plan«, befahl er seinen Gehilfen. »Ich muss den Abt sprechen.« Dann rannte er in den Kreuzgang.
*
Hans kauerte auf einer Fensternische im Kreuzgang, gleich beim Bernhardusportal, das direkt in das Chorgestühl der Mönche führte. Hier mussten die Mönche herauskommen, wenn denn nun endlich die Messe zu Ende war. Hans wusste nicht, wie lange er schon hier wartete. Der Brief mit der Schreckensnachricht lag auf seinen Knien. Wieder und wieder hatte er ihn gelesen. Er musste schnell handeln, hoffentlich war es noch nicht zu spät. Denn der Brief war gut zwei, gar drei Wochen unterwegs gewesen, schätzte Hans.
Endlich, endlich öffnete sich das Portal, und der Geruch von feuchter Schafwolle, aus der die Kukullen der Mönche bestanden, schlug ihm entgegen. Die Mönche schritten schweigend, den Blick auf den Steinboden gerichtet, an ihm vorbei. Ihr Ziel war das Refektorium, wo sie gemeinsam das Abendbrot einnehmen sollten. Als Letzte betraten die beiden Äbte Theobald und Johannes den Kreuzgang.
Johannes warf einen erstaunten Blick auf Hans, der sich ihm in den Weg stellte und ihm den Brief entgegenstreckte. »Hans, was machst du hier? Was hast du als Laie hier in der Klausur zu suchen?«, flüsterte Johannes. Theobald zog ärgerlich eine Augenbraue hoch und ging schweigend weiter.
Hans hielt dem Abt immer noch den Brief unter die Nase. »Da, lies … äh, bitte lies, Reverendissime!«
Johannes nahm den Brief entgegen. Seine Augen flogen über die Zeilen. »Aber das ist Italienisch. Wer schickt dir diese Nachricht?«
Hans wurde ungeduldig: »Aber so viel Italienisch wirst du doch noch verstehen, Johannes. Unser gemeinsamer Freund Filippino, der Maler aus Florenz, bittet mich um Hilfe.«
Er riss Johannes den Brief aus den Händen und sagte ernst: »Ich muss sofort nach Florenz. Es geht um Markus, meinen Sohn!«
Salem, am Abend des 10. März 1498
Johannes hatte seinen jungen Bibliothekar Amandus, seinen Sekretär Jodokus und Abt Theobald ins Audienzzimmer rufen lassen.
Der Brief, den Hans, der Steinmetz, aus Florenz erhalten hatte, gab Anlass zur Sorge. Markus, des Steinmetzen Sohn, den er vor knapp einem Jahr zur Lehre nach Florenz geschickt hatte, war spurlos verschwunden. So jedenfalls berichtete es Filippino, der Markus in seiner Florentiner Werkstatt zum Maler ausbilden sollte.
Zwar waren die Zeiten in Florenz für Künstler nicht mehr so gut wie noch einige Jahre zuvor, als Lorenzo de’ Medici, genannt »der Prächtige«, Künstler, Dichter und Philosophen um sich versammelte und sie mit Aufträgen versorgte. Doch Lorenzo war längst tot. Seinem Sohn Piero fehlte das diplomatische Geschick des Vaters, und so hatte Piero die Bürgerschaft von Florenz gegen sich aufgebracht und war mit fast der gesamten Familie verbannt worden. Die Medici waren zu Tyrannen der Republik Florenz erklärt worden. Und ein alle zwei Monate neu ausgelostes Stadtparlament, die Signoria, bestehend aus Vertretern aller Stände, seien es Handwerker, Tuchhändler oder Bankiers, sollte den Einfluss allzu wohlhabender oder ehrgeiziger Familien fortan im Zaum halten.
Viele Künstler hatten das Weite gesucht – einige fanden Auftraggeber in Rom, Venedig oder Mailand. Filippino aber war, nachdem er einen großen Auftrag für Kardinal Carafa in Rom vollendet hatte, nach Florenz zurückgerufen worden, wo er nun die neue Grabkapelle der angesehenen Familie Strozzi ausmalen sollte.
Um die lukrativen Aufträge der alten und neuen einflussreichen Familien erfüllen zu können, war Filippino dem Ersuchen des Salemer Abtes bereitwillig nachgekommen, den jungen Markus von Savoy als Lehrling aufzunehmen. Vor Jahren hatten Johannes – damals noch lange nicht Abt – und Hans den aufstrebenden Florentiner Maler bei einer abenteuerlichen Reise in Rom kennen und schätzen gelernt. Hans, der Steinmetz, bewunderte die neuartige Kunst und den eleganten Zeichenstil des Florentiner Malers und betrachtete es als glückliche Fügung, dass er seinen leiblichen Sohn, den er ja erst vor einem Jahr kennengelernt hatte, nach Florenz schicken durfte. Hans war insgeheim auch froh gewesen, dass sich Gerüchte über seinen Sohn aus der Liebschaft mit der Müllerin nicht noch weiter verbreiteten. Womöglich konnte Markus aber auch einmal diese neue italienische Kunst mit an den Bodensee bringen, was dem Ansehen der Steinmetzfamilie Savoy sicherlich zuträglich sein würde und sogar weitere Aufträge einbringen konnte. Wenn denn Markus wieder auftauchte und ihm nichts zugestoßen war …
Der ominöse Brief lag auf dem großen Tisch im Audienzzimmer, daneben auf einem Blatt die deutsche Übersetzung, die Amandus, des Italienischen kundig, verfasst hatte.
Amandus, Jodokus und Johannes hatten auf Hockern am Tisch Platz genommen, der Lehnstuhl des Abtes war frei geblieben für Theobald, den ranghöheren Vaterabt, der nun als Letzter das Zimmer betreten hatte.
Johannes bot ihm seinen Lehnstuhl an und sagte: »Es trifft sich gut, dass du zurzeit hier in Salem weilst, Theobald. Wir brauchen deine Einschätzung in einer heiklen Angelegenheit.«
Johannes reichte Theobald das Schriftstück mit der deutschen Übersetzung. Noch während Theobald las, erklärte Johannes: »Wir müssen herausfinden, was Markus zugestoßen sein könnte. Da er auf mein Betreiben dorthin geschickt wurde, fühle ich mich verantwortlich. Außerdem möchte ich meinen Freund Hans nicht im Stich lassen.«
Dem sonst so blassen Theobald war ein Hauch von Zornesröte ins Gesicht gestiegen. Ärgerlich warf er das Papier auf den Tisch. »Wenn der Junge sich unter die Gottlosen und Häretiker begeben hat, wie sollen wir ihm da noch helfen? Der Apfel fällt ja nicht weit vom Stamm …«
»Aber Theobald, vergiss doch nur einmal deinen Zwist mit unserem Steinmetz: Es geht um ein Menschenleben.«
Tatsächlich hatte Hans bei früheren Zusammentreffen – als Theobald noch ein gewöhnlicher Mönch und noch lange nicht Vaterabt war – keine Gelegenheit ausgelassen, Theobald ob seiner Verschrobenheit zu necken und zu provozieren. Freunde würden beide nicht mehr werden.
»Was nützt es, das irdische Leben zu retten, wenn die Seele längst verdorben ist«, murmelte Theobald.
Johannes entgegnete beschwichtigend: »Er ist doch noch ein Junge, Theobald.«
Der Vaterabt schaute pikiert zum Fenster hinaus und schob seine Arme tief in die weiten Ärmel der Kukulle, als wollte er gänzlich darin verschwinden.
Als die drei Salemer ihn erwartungsvoll anblickten, sagte er schließlich: »Nun denn, was wollt ihr von mir wissen?«
Johannes wiederholte seine Frage: »Wie schätzt du die Lage in Florenz ein? Es heißt, ein Dominikanerprediger hat wesentlichen Einfluss auf die Politik und die Menschen in Florenz. Wie stehen die Dominikanerbrüder zu einem der Ihren?«
»Girolamo Savonarola meinst du?« Theobald sprach den Namen mit Verachtung aus. »Der Heilige Vater hat ihm das Predigen verboten, aber er schert sich nicht darum.«
»Predigen betrachten die Dominikaner als ihre wichtigste Aufgabe«, warf Jodokus ein.
»Wenn sie denn das Wort Gottes verkünden würden«, entgegnete Theobald. »Aber sie setzen den arglosen Menschen allerlei Flausen in den Kopf. Domini Canes sage ich nur, die Hunde des Herrn, die, scharf und bissig wie sie sind, sogar den Heiligen Stuhl angreifen.«
»Aber sie verteidigen doch die Kirche gegen Häresie, da braucht es doch oft ein hartes Vorgehen«, erwiderte Jodokus. »Und ist es nicht richtig, dass man wieder an die Armut erinnert und den schwelgerischen Luxus, vor allem auch an der Kurie, anprangert?«
»Aber wer möchte schon in dauernder Askese und Armut leben?«, sagte Amandus, und schlug sogleich die Augen nieder. »Außer er ist ein Mönch, natürlich! Ich meine, einen Gottesstaat nach Vorstellung der Dominikaner schätzen gewiss nicht alle Florentiner.«
»Bettelorden eben – Armut predigen und dabei aber ganz und gar nicht selber von ihrer eigenen Hände Arbeit leben«, nörgelte Theobald.
»… wie wir Zisterzienser es ja tun«, ergänzte Johannes genervt. »Das nimmt unser Orden heute ja auch nicht mehr so genau.«
»Wäre er beim Predigen geblieben! Aber Girolamo Savonarola musste ja den Papst höchstpersönlich beleidigen. Und er hat sich auch noch in die Politik eingemischt – auch wenn ein wenig mehr Gottesfurcht jedem Staat anzuraten ist.«
Theobald rutschte auf seinem Lehnstuhl hin und her. »Nun, ihr wolltet meine Einschätzung, meinen Rat als euer Vaterabt: Ich bezweifle, dass Savonarola der Prophet ist, als der er sich ausgibt. Auch wenn er scheinbar mit seinen Vorhersagen oft richtig lag. Aber der Heilige Vater wird sich das Gebaren dieses Bettelbruders nicht länger gefallen lassen. Ich denke, die Lage wird sich zuspitzen. Und ja, Amandus hat recht, wer möchte sich schon mit Leib und Seele dem Dominikaner ausliefern. Wenn erst der Kirchenbann alle Florentiner trifft: Werden sie sich dann gegen den Papst wenden oder nicht doch eher gegen den Prediger?«
»Du meinst, in Florenz könnte es noch gefährlicher werden, als es jetzt schon ist?«, fragte Johannes nach.
»Ich meine, es ist Eile geboten, wenn man den Jungen da rausholen will. Wer weiß schon, ob die derzeitige Stadtregierung sich lange halten kann. Wenn der Bußprediger fällt, dann die derzeitige Regierung mit ihm. Wen hat Florenz noch als Verbündeten? Den Papst nicht und auch den französischen König nicht. Piero de’ Medici, der Unglückliche, und seine Parteigänger stehen schon parat, so hört man.«
Johannes sprang von seinem Hocker auf. »Du hast recht, Theobald, es ist Eile geboten. Mein Entschluss steht fest. Ich muss nach Florenz.«
Kaum waren ihm die Worte über die Lippen gekommen, bereute er sie schon wieder. Jodokus hatte schon recht: Wohl gewählte Worte, um etwas zu erreichen, waren nicht seine Sache. Wie oft hatte er sich schon mit seiner offenen Rede und ungestümen Art, die auf nichts und niemanden Rücksicht nahm, in Schwierigkeiten gebracht. Selbst als Abt, oder eben besonders als Abt, als der er für ein bedeutendes Kloster, dessen Mönchsgemeinschaft und Untertanen verantwortlich war, sollte er sein Reden und Handeln sorgfältig abwägen.
Auch Theobald hatte sich von seinem Lehnstuhl erhoben. »Aber Johannes, du willst doch nicht selbst …? Ich meine, du bist Abt …«
»Und ich meine«, erwiderte Johannes entschlossen, »das bin ich meinem Freund Hans schuldig: Ich werde ihm helfen, seinen Sohn zu finden. Schließlich war ich es, der Markus fort von Salem und nach Florenz schickte.«
Johannes fiel vor Theobald auf die Knie, er wusste, dass er seinem Vaterabt Gehorsam leisten musste. Ungehorsam zog allerlei Strafen nach sich: Ausschluss von den gemeinsamen Mahlzeiten, Kerkerhaft bei Wasser und Brot und Stockhiebe waren da noch das Mindeste, wie Johannes schon am eigenen Leib erfahren musste. Johannes ergriff Theobalds Hand und sagte: »Reverendissime, ehrwürdiger Vaterabt, liebster Freund. Ich bitte dich ergebenst um Erlaubnis, in dieser Angelegenheit nach Florenz reisen zu dürfen.« Johannes verharrte tief gebeugt und kniend vor Theobald.
Amandus und Jodokus blickten stumm auf die beiden. Von Johannes hatten sie nicht erwartet, dass er vor jemandem auf die Knie fiel, schon gar nicht vor Theobald. Es war ihm also ernst.
Dass Johannes die Gelegenheit beim Schopf packte, um wieder einmal zu verreisen, überraschte Jodokus dagegen nicht. Seit einiger Zeit schon hatte er bei seinem Freund eine gewisse Unruhe bemerkt. Auch wenn Johannes bei seinen Mitbrüdern und Untertanen, aber auch bei Stiftern und Gönnern hohes Ansehen genoss, so waren ihm die vielen Pflichten als Abt immer noch eine Bürde. Jodokus wusste: Jeder Anlass für eine kürzere oder längere Reise kam da Johannes sehr gelegen, um sich – in Laienkleidern – aufs Pferd zu setzen und der Enge des Klosters zu entkommen. Und da war auch noch Johannes’ unbändige Neugier auf die Welt außerhalb des Klosters, die Jodokus gar nicht nachvollziehen konnte, fühlte er sich selber – wie viele seiner Brüder – sehr viel aufgehobener hinter den Klostermauern.
Theobald entzog Johannes irritiert seine Hand. »Wie stellst du dir das vor? Du kannst doch nicht alleine eine solche Reise wagen? Wer soll dich vertreten?«
Johannes hatte sich wieder aufgerichtet und lächelte Theobald schelmisch an: »Na du! Du kannst als Vaterabt deine Visitation noch etwas verlängern und unsere vielen, vielen Güter inspizieren.« Er wandte sich zu Jodokus um: »Mein Sekretär wird dir dabei zur Seite stehen.«
Dann machte er eine Schritt auf Amandus zu und klopfte ihm auf die Schulter: »Und ich reise ja nicht alleine. Amandus kommt mit mir, und Hans natürlich.«
Florenz, einige Wochen zuvor am Karnevalsdienstag, 17. Februar 1498
Francesca schmiegte sich an den Jungen, der ins lodernde Feuer starrte. Sie hatte sich verliebt. Das war es wohl, was sie so durcheinanderbrachte, dass sie sich von ihrer Großmutter fernhielt, gar ihre geliebte Amme anschwindelte, um unbemerkt aus dem Palast auszubüxen und sich in die Werkstatt des Meisters fortzustehlen.
Sie war zwar schon 16 Jahre alt, doch verliebt war sie das erste Mal in ihrem Leben. In diesem Alter waren einige ihrer Freundinnen schon verheiratet oder wenigstens einem Mann versprochen, auch wenn sich das Aushandeln der Mitgift zwischen den Familien noch Monate, gar Jahre hinziehen konnte. Francesca wollte sich dem nicht unterwerfen, wie ein Ballen Tuch an den Meistbietenden verkauft werden. Sie war fest entschlossen, sich ihren Ehemann selbst auszusuchen.
Doch davon, einen Ehemann zu finden, konnte nun keine Rede mehr sein. Denn der Großvater würde den Jungen niemals als Ehemann akzeptieren. Dabei war der Großvater doch schuld daran, dass sie sich verliebt hatte. Er, der Großvater, hatte sie schließlich in die Werkstatt des hochberühmten Malers Filippino Lippi geschickt, bei dem er ein Porträt seiner Enkelin in Auftrag gegeben hatte. Dort war sie dem Jungen begegnet. Sofort hatte sie ihm gegenüber eine seltsame Vertrautheit verspürt. Sie konnten sich mit Blicken, mit Gesten, mit kurzen Berührungen verständigen, ohne zu reden. Das war auch gut so, denn er sprach noch nicht einmal gut Italienisch. Er war als Lehrling von weit her, aus einem fremden Land nördlich der Alpen gekommen, um beim Meister zu lernen. Der Meister traute ihm wohl einiges zu, denn Marco, so nannten ihn alle, war ein gelehriger Schüler und obendrein sehr talentiert. Denn Marco durfte nicht nur Farbe mischen oder Verzierungen ausführen nach den Vorgaben des Meisters, sondern selber den Zeichenstift führen, nach Vorlagen zeichnen, ja sogar eigene Skizzen anfertigen.
Bei ihrem letzten Besuch in der Werkstatt, als sie Modell saß und die begabtesten der Lehrlinge unter Anweisung des Meisters aus verschiedenen Blickwinkeln ihr Gesicht zeichneten, hatte er es geschafft, ihr ein Zettelchen zuzustecken. Darauf war, ganz unverdächtig, die Piazza della Signoria skizziert mit dem alten Palast und seinem hohen Turm, darunter stand »Carnevale«. Sie hatte sofort verstanden.
Ja, Florenz feierte Karneval. Aber nicht so, wie es die Alten erzählten, als es Pferderennen und Ballspiele gab in den Straßen, Musik und Tanz in den Häusern, vor allem aber Umzüge mit prunkvollen Wagen und fantasievoll ausstaffierten Maskierten. Doch seit Piero, der glücklose Sohn des Magnifico, samt seiner Anhänger aus Florenz vertrieben worden war und Savonarola, den alle nur Frate nannten, Ratgeber der erneuerten Republik mit seiner großen, tausendköpfigen Signoria war, hatte man solch ausgelassenes Treiben, das nicht selten in Straßenkämpfen endete, rundweg verboten. Besonders die oft außer Kontrolle geratenen Banden von Kindern und Jungen, die Fanciulli, hatte der Frate