Der Amerikaner - Gabriele Reuter - E-Book

Der Amerikaner E-Book

Gabriele Reuter

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Beschreibung

Diese Ausgabe von "Der Amerikaner" wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. "Endlich kam es zwischen ihm, Debberitz und August zu einer heftigen Auseinandersetzung. Er forderte eine deutliche und klar abgegrenzte Stellung als dritter Leiter des Unternehmens. Er forderte ein bestimmtes hohes Gehalt und bedeutende Tantiemen. Das zu bewilligen war beiden Herren unbequem." Gabriele Reuter (1859-1941) war eine deutsche Schriftstellerin.

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Gabriele Reuter

Der Amerikaner

            Books

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Die Buchenwipfel schauerten im Morgenwind. Aus den schattigen Gründen stieg eine scharfe Kühle, ein feuchter Tauatem des jungen Gekräutes empor, und schwankend zitterten die beperlten Sträucher unter dem Sprühregen der stürzenden Wasser. Im brausenden Übermut der schneegenährten Frühlingswildheit sprang der Bergbach weißschäumend die Felsenwand hinab und übersprudelte im Grunde das glattgewaschene Gestein.

Der alte Herr von Kosegarten schlug den Kragen seiner Joppe in die Höhe, nahm den Stock unter den Arm und vergrub die Hände in den Taschen, weil es ihn fror, trotzdem die Sonne über den Bergen glitzerte. Neben ihm stand der Förster, das dicke Notizbuch in der Faust, machte sich mit dem kurzen Bleistiftstummel Notizen. Aus dem Wald an der Lehne klang der Axthieb der Holzfäller.

»Aufgeforstet mußte doch mal werden,« brummte der Beamte in den Schnauzbart, der ihm taugenäßt an den Mundwinkeln niederhing.

»Na, also, das sag ich auch. – Warum schließlich das Lamento? Donnerschockschwerenot, was sein muß, muß sein!« schimpfte der alte Herr. »Hundertjährig können die Bäume freilich nicht gleich wieder werden.«

»Das stimmt,« murrte der Förster verdrießlich.

Die beiden Männer schritten durch die Säulenhalle der grausilbernen Stämme, von denen jeder einzelne ihnen ein guter Bekannter war. Sie alle trugen das rote Merkzeichen des Forstbeamten, das sie dem Tod weihte: die Riesen, die mächtig zur Höhe wuchsen, mit ruhiger Majestät die weitgreifenden Kronen tragend.

Aus dem Walde auf eine vorgeschobene Felsenplatte tretend, stützte Herr von Kosegarten sich auf seinen Stock und starrte in das unbändige Tosen des weißen Gischtes. Mit Dröhnen und Donnern betäubte ihm der Gesang des Falles das Hirn und nahm alle die sorgenden Gedanken daraus fort, mit denen er sonst schlafen ging und wieder aufstand und aß und trank und durch seinen Wald und seine Fluren stapfte. Ein wohlig dumpfes Schauen des ewig Quellenden, ewig Strömenden, ewig sich Erneuernden und sich wieder Verschwendenden war es, das statt des bohrenden, unfruchtbaren Grübelns von seinem Geist Besitz ergriff und ihn lange in seinen großen, stillen Bann zog. Der Förster an seiner Seite sagte zuweilen gelassen: »Ja, ja, so is es ...« Aber auch diese philosophische Bemerkung verklang im Rauschen der Wasser.

Auf dem Felsen stand einzeln eine Buche; im unaufhörlichen Schwanken und Beben ihrer Zweige war sie erwachsen, lang und mühselig mußten ihre Wurzeln sich strecken, um, die Felsenplatte umwindend, zu fruchtbarem Erdreich zu gelangen. Ihr Leben war ein unerhörter Kampf gewesen. Gegen eine Unmöglichkeit, zu bestehen, hatte sie sich zähe durchgetrotzt; nun war sie stark und stolz in junger Schöne.

»Die bleibt stehen,« sagte Herr von Kosegarten und klopfte mit dem Stock gegen ihren Stamm. »Ich habe es meiner Frau versprochen. Na ja – item –« Er trat näher. Die glatte Rinde trug ein borkiges Mal, ursprünglich war es ein Herz gewesen, das zwei Buchstaben umschloß. Ein F und ein M konnte man noch ungefähr entziffern. Die Zahl darunter bedeutete einen Zeitabschnitt von elf Jahren.

Der Förster steckte sein Buch in die Tasche. »Also die bleibt stehen,« wiedelholte er. »Dachte mir's schon. – Soll ich die Auktion noch mal im Blättchen anzeigen?«

»Ist wohl kaum nötig – die Hauptreflektanten wissen ja Bescheid. Kostet alles Geld, Schwarze –. Na, und wir brauchen die Leute nicht noch aufmerksam zu machen, wenn ich von meinem Wald was runterschlagen lasse.«

»Dann guten Morgen, Herr von Kosegarten!«

»Morgen, Schwarze!« Kosegarten faßte mit der Hand an die Mütze.

Der Förster blieb zögernd stehen. »Haben Herr von Kosegarten schon die Geschichte von Debberitzen gehört?«

»Debberitz? Welcher Debberitz? – Das Luder, das ich damals fortgejagt habe?«

»Nee, der nich. Der soll tot sein. Der Sohn ist es. Thete ... Herr von Kosegarten müssen ihn doch noch kennen. Er strolchte doch immer mit dem Herrn Fritz herum.«

»Natürlich – nun besinne ich mich. Thete! So'n strohköpfiger, rotznasiger Bengel. Was is denn mit dem?«

»Soll zu Gelde gekommen sein. Die Leute reden, er will sich hier ankaufen.«

»Nee, Schwarze, was Sie sagen? ... Will sich hier ankaufen? Is ja woll nich möglich!«

Der Förster spuckte aus als Zeichen seines Mißvergnügens. »Ich hörte gestern, er wäre in Schäfers Gasthof abgestiegen. Tritt mächtig großspurig auf, traktiert seine alten Schulfreunde mit Bier und Zigarren. Was weiß ich, ich bin nicht dabei gewesen.«

»So – so – der will sich hier ankaufen – na ja. Schwarze, erstaunen tut mich nichts mehr. Das Leben ist nun mal putzwunderlich.«

»Ja, Herr von Kosegarten, das is es. Das is es wahrhaftig. So en Kerl – so en Schindluder – und macht sich hier mausig. – Wenn dem sein Vater nicht ins Zuchthaus kam, hat er's doch nur Ihrer Güte zu verdanken. Morgen, Herr von Rosegarten!«

Der Förster stieg hinauf zu den Arbeitern.

Kosegarten stand in Gedanken. ... Debberitz, Thete Debberitz – und will sich ankaufen! Er sah in seiner Erinnerung den breitschultrigen Bengel und den pfiffigen Blick seiner kleinen, grauen Augen, und neben ihm sah er einen gertenschlanken Jungen mit blitzschneller Beweglichkeit der feinen Glieder und des hübschen Kopfes...

Ein Stöhnen ging aus der Brust des alten Herrn. Er näherte sich wieder dem unförmig und borkig gewordenen Liebeszeichen an der Buche und strich mit dem Finger langsam, scheu liebkosend um das Herz. Hier hatte sein Sohn vor elf Jahren von Glück und Jugend Abschied genommen. – Elf Jahre Sorgen, elf Jahre nutzlose Arbeit – alle Opfer umsonst gebracht – –

Hätte man klüger sein sollen und sich den Opfern entziehen wie so mancher andere? Wer kannte sich noch aus in dem, was man gesollt und nicht gesollt hätte! –

Der alte Mann blickte verworrenen Sinnes in die tosenden Wasser. Gleich einem Kind wurde er überfallen von der Sehnsucht nach pflegender Liebe, nach kleinen Aufmerksamkeiten, nach all dem Freundlichen, das ihn dort unten im Schloß empfangen sollte. Sein Auge wurde heller, er nahm sich in acht, einen Blick noch auf die Buche zu werfen. Was da hinten lag, mochte in der Vergangenheit bleiben. Er stieg energischer den schmalen, steilen Weg unter den taurieselnden Ebereschen und Hainbuchen am Wasserfall nieder und kam bald, dem Lauf des wilden Baches folgend, hinaus auf die sonnige Wiese.

Ein Herr ging an ihm vorüber und zog den Hut. Herr von Kosegarten dankte, leicht an die Jagdmütze greifend, wie er es gewohnt war in dieser Gegend, wo ihn jeder kannte und grüßte. Er hatte den ihm Entgegenkommenden nicht weiter angeschaut. Dann drehte er sich plötzlich um, blickte ihm nach, und in dem gleichen Augenblick wendete sich auch der andere und kam zögernd auf ihn zu.

Eine breite, plumpe Gestalt war es, doch in einer Kleidung, die nicht auf einen Landbewohner schließen ließ. In dem Schnitt von Rock und Hose verriet sich die Meisterschaft eines denkenden großstädtischen Schneiders. Das derbe Gesicht des Mannes bekam durch den aufgedrehten starken Schnurrbart etwas Unternehmendes, aus den Augen glitzerten Pfiffigkeit und eine vergnügte Zufriedenheit mit dieser angenehmen Welt.

Er hob den Hut noch einmal, so daß die Glatze sichtbar wurde, und sagte höflich: »Herr von Kosegarten kennen mich wohl nicht wieder?«

»Wüßte nicht,« brummte Kosegarten, dem der Mann mißgefiel und den überdies nach seinem Frühstück verlangte.

»Dann erlauben Sie mir wohl, daß ich mich vorstelle: Theodor Debberitz! ... Nun werden sich Herr von Kosegarten schon erinnern?«

Der alte Herr sah die pompöse Erscheinung verblüfft an und brach in ein lautes Gelächter aus.

»Potzdonnerschockschwerenot!« rief er, sich auf den Schenkel schlagend, »da soll doch dieser und jener die Kränke kriegen –. Ja, was hab ich denn vorhin gehört! Sie treten hier als Volksbeglücker auf! Na, alle Achtung! Sie scheinen es ja zu was gebracht zu haben.«

Der Mann lächelte, und dieses Lächeln ließ in seiner beleidigenden Überlegenheit die gute Laune des alten Gutsbesitzers so schnell wieder versiegen, wie sie gekommen war.

»Ich kann mich nicht beklagen, Herr von Kosegarten. Na ja, ein Stück Arbeit steckt auch dahinter ... Das hätten Sie wohl nicht gedacht, als ich die Ehre hatte, mit Ihrem Herrn Sohn auf dem Gutshof spielen zu dürfen ...«

Herr von Kosegarten reckte sich in die Höhe. Was unterstand sich der Kerl!

»Also – wünsche Ihnen ferner Glück zu Ihren Unternehmungen. Bin jetzt eilig.«

Er wandte sich zum Gehen. Der prächtige Mann schien die Verabschiedung nicht zu bemerken und blieb an Herrn von Kosegartens Seite.

»Sie lassen den Wald über dem Wasserfall schlagen?« fragte er ruhig.

»Wenn Sie gestatten, lasse ich den Wald an dem Wasserfall schlagen,« antwortete Kosegarten in gereiztem Ton.

»Tun Sie das doch lieber nicht,« sagte der Pompöse gelassen.

Herr von Kosegarten blieb stehen und stieß ein kurzes erbittertes Gelächter aus. »Sind Sie etwa Holzhändler? Oder was geht es Sie sonst an, ob ich in meinem Wald Holz schlagen lasse oder nicht?«

»Scheinbar geht mich das gar nichts an – gebe ich zu. Könnte mich aber später was angehen. Der Rauschenfall ist sozusagen die Perle der Gegend. Wird in jedem Reisehandbuch erwähnt. Mit Sternchen. Na, die Leute sind ja jetzt kolossal hinter so was her ... Naturschönheiten – was weiß ich ... Muß man in seine Spekulationen mit aufnehmen!«

Kosegarten blieb stehen. Über seine Stirn jagte dunkelrot das Blut des aufsteigenden Jähzorns. »Kerl, was wollen Sie eigentlich? Suchen Sie sich jemand anders für Ihre Späße.«

»Herr von Kosegarten, ich erlaube mir zu bemerken, daß ich mich Ihnen einfach als einen zahlungsfähigen Käufer für Rauschenrode vorstelle. Im ersten Moment sind Sie davon vielleicht verblüfft. Aber Sie werden schon auf die Chose zurückkommen. Sie können sich in Berlin nach mir erkundigen: Theodor Debberitz & Komp., bekannte Firma für Käufe und Verkäufe in Grund und Boden.«

»So – Sie betreiben Vermittlungen von Käufen?« fragte Kosegarten ein wenig sanfter und aufmerksamer. »Wer steht da hinter Ihnen?«

»In diesem Fall niemand. Rauschenrode will ich als einen Ruheplatz für meine alten Tage erwerben. Ja, Herr von Kosegarten, man hat doch so ne Art von Anhänglichkeit an seine alte Heimat ... Wo man die Tage der Jugend verlebte ... wie der Dichter singt ...«

»Na, nu hören Sie aber auf!«

»Herr von Kosegarten, ich habe mich in Ihrem Haus immer wohl gefühlt – die schönen Stunden mit Fritzen ...«

Eine Nachdenklichkeit kam über Kosegarten – eine müde Schwäche. So viel Geld hatte dieser Kerl erworben, daß er Rauschenrode kaufen wollte – mir nichts, dir nichts kaufen – wie man sich ein belegtes Butterbrot auf dem Bahnhof kauft, wenn man Hunger hat. Und Fritz? ... Der alte Schmerz quoll wieder auf, wurde gewaltig, jäh – betäubend – raubte ihm jeden klaren Gedanken.

Debberitz beobachtete aus kleinen, scharfen Augen den leeren, dumpfergebenen Blick des andern. »Wann darf ich vorsprechen, Herr von Kosegarten?« sagte er milde, in der Gewöhnung, bei solchem Geschäft alle Register von Stimmen und Tönen spielen zu lassen. »Sie können sich ja mal die Chose überlegen. Ich bin in Schäfers Gasthof abgestiegen. Empfehle mich, Herr von Kosegarten!«

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Durch die offenen Glastüren fluteten Ströme von Morgensonnengold und frischer, herber Gebirgsluft. Die bunten Frühlingsblumen in den Korbtischen vor den Fenstern, an denen leichte, weiße Mullgardinen niederhingen, waren ganz durchleuchtet von all dem Licht und schimmerten in einer kostbaren Pracht der Farben. Die vergoldeten Tassen auf dem Frühstückstisch glitzerten und gleißten mit ihrem altmodischen Bilderprunk. Die Schale mit Honig erschien gefüllt von einem unerhört herrlichen Goldtopas. Die Kristalle des Kronleuchters funkelten in tiefem Blau, in zarten Rosenröten, in Grün und strahlendem Gelb. Sogar an den defekten Perlenstickereien der Kissen in den Lehnstühlen am Kamin ging der Triumphzug des Lichtes nicht vorüber, ohne Tausende von kleinen schimmernden Prismen aus ihrer schon längst verblaßten Pracht zu wecken. Wenn Hilde Kosegartens Kopf sich zu den Frühlingsblumen beugte, indem ihre Hand das Gießkännchen über die Töpfe führte, dann leuchtete auch ihr Haar in reichen Tönen von Braun und Gold. Bewegte die Tante in der Sofaecke ihre Stricknadeln, so sprang jedesmal ein flinker Blitz von einem der stählernen Stäbchen zum andern.

»Bitte, Hilde, zieh die Gardine zu, es ist unmöglich zu lesen in diesem Sonnenschein,« sagte August und hielt schützend ein Journal mit technischen Abbildungen vor die Augen. Gehorsam zog Hilde die Markise nieder. Ein stiller, ruhiger Schatten senkte sich plötzlich über die Seite des großen Saals, auf der der Frühstückstisch stand, mit seiner kleinen Teemaschine, mit geschnittenen und bereits butterbestrichenen Brotscheiben des säumigen Hausherrn wartend. Die Anwesenden hatten ihre Mahlzeit längst beendet.

»Weißt du, Hilde,« begann Frau von Kosegarten, nachdem sie an ihrer groben Wollstrickerei die Maschen gezählt hatte, »ich habe Onkel gebeten, die Buche stehen zu lassen, die einzelne am Wasserfall.« – Frau von Kosegarten wendete sich mit ihren Herzensergießungen stets an ihre Nichte. Männer pflegen selten die Geduld zu haben, Dinge, die sie bewegen, in weitläufigen Gesprächen so lange um und um zu wenden, bis alter Kummer ein neues und interessantes Gesicht bekommt. Hilde verstand es so gut, alles wichtig zu nehmen, was die Tante wichtig nahm, und sie niemals mit eignen Angelegenheiten zu unterbrechen. »Der alte Baum ist mir solch liebe Erinnerung.«

Hilde lächelte ein wenig, aber sie schwieg.

»Fritz muß Mimi doch sehr liebgehabt haben,« sagte Frau von Kosegarten wehmütig. »So rührend, daß er sie in seinem letzten Brief wieder grüßen läßt.«

»Den Gruß finde ich geradezu unverschämt,« brauste August auf und warf das Journal, in dem er gelesen hatte, heftig auf den Tisch. »Ich verstehe auch nicht, Mama, wie du Mimi den Gruß bestellen konntest. Fritz ist wahrhaftig keine Persönlichkeit mehr, von der es angenehm wäre, Grüße zu empfangen.«

»August, wie kannst du so hart von deinem Bruder reden!« begann Frau von Kosegarten bekümmert. »Du tust ja, als sei es ehrlos, kein Glück in der Welt gehabt zu haben.«

»Er scheint mir im Gegenteil viel zu viel vom Glücksritter zu besitzen, der edle Bruder Fritz,« sagte August, und sein ruhiges, blondbärtiges Gesicht bekam einen verdrossenen Ausdruck.

»Das ist wohl von hier aus schwer zu beurteilen,« bemerkte Hilde. Ihre Augen blickten nachdenksam ins Weite. »Solch ein fremdes Leben – wo man hart sein muß und listig, kühn und leichtsinnig zu gleicher Zeit, um den Vorteil des Augenblicks zu ergreifen und zu wahren ...«

»Nun, das ›wahren‹ scheint er wenig verstanden zu haben, sonst wäre er wohl nicht wieder so tief drin im Elend. Ich muß gestehen – mich ekelt diese ganze Geschichte – ja, Mama, mich ekelt sie. Ich bin froh, daß ich wenigstens zu rechter Zeit energisch war und dich und Papa verhindert habe, den Abenteurer zurückkommen zu lassen! Ihr ... wahrhaftig in eurer törichten Gutmütigkeit wäret ihr dazu imstande gewesen ...«

»Ach, August,« klagte die Mutter, »wenn einer aber doch solche Sehnsucht hat!«

»So soll er sie bezwingen. Jeder von uns hat sich zu bezwingen und liebe Wünsche der Pflicht zu opfern. Es war Ehrensache, für Fritzens Schulden aufzukommen. Selbstverständlich... Aber jetzt, wo sich's auch um meine Existenz handelt – wo ich den Leuten Vertrauen einflößen muß – da kann ich keinen verunglückten Abenteurer neben mir brauchen. Das darf mir niemand zumuten – am wenigsten meine Eltern!«

Frau von Kosegarten senkte den Kopf über ihre Arbeit, »Wir haben es dir ja auch nicht zugemutet,« sagte sie ergeben.

Mehr als irgend jemand in der Familie außer Hilde auch nur ahnte, lebte sie in der Erinnerung und in sehnsüchtiger Liebe zu ihrem Ältesten, der vor so vielen Jahren, ein blutjunger, leichtherziger Gesell, vor seinen Gläubigern über den Ozean geflüchtet war. Nicht Augusts geordnetes Dasein, das ihrer eingreifenden Fürsorge kaum bedurfte, sondern die spärlichen Briefe, die flüchtige Kunde brachten von einer unsicheren, überseeischen Existenz, bildeten den Hauptinhalt ihrer Phantasien und Träume. Wenig genug mochte die Frau, die niemals aus der friedlichen Enge der Harzberge herausgekommen war, die fürchterlichen und wilden Gefahren jener Untiefen, Klippen und Wirbelstürme, zwischen denen der Sohn umherschiffte, in diesen Träumen ermessen. Dennoch trug sie den unzerstörbaren Mutterglauben in sich, daß ihr Junge wie die guten Helden von Ritterbüchern und Indianergeschichten am Ende allen Schrecklichkeiten glücklich entrissen und als der gleiche liebe, unschuldige, lachende Knabe, wie sie sein Bild im Herzen hegte, dereinst zu ihr zurückkehren würde.

Vielleicht ist das blinde Vertrauen auf einen sehr stark im einzelnen Schicksal waltenden Vater im Himmel, der besonders für ferne Söhne eine Menge von umsichtigen Schutzengeln bereithält, von allen Menschen den Müttern am nötigsten. Selten mit der Lebenserfahrung ausgerüstet, die sie befähigen würde, sich einen deutlichen Begriff von der Existenz eines jungen Mannes schaffen zu können, fühlen sie diesen ins Unbegreifliche hinausstrebenden Jüngling doch so oft noch als ein Stück ihres eigenen Leibes und Herzens. Wie sollten sie die Qual, das Geliebteste im Dunkeln, Rätselvollen sich verlieren zu sehen, ohne es auch nur mit wertvollen Ratschlägen begleiten zu können, ertragen? Aber wenn sie ihm ein für allemal einen weisen Führer, als der das göttliche Wesen dem an abstrakten Begriffen schwer haftenden Frauengeist sich leicht verkörpert, übergeben, dann haben sie zugleich sich jemand geschaffen, mit dem sie sich fortwährend innerlich wie mit einem Freund unterhalten können. Auch scheint es ihnen, daß sich dieser Mittler, obwohl erfahrener und klüger als sie selbst, doch ihren freundlichen Vorstellungen und mütterlichen Wünschen nicht immer unzugänglich erweist.

So war Marie von Kosegartens Verhältnis zu ihrem Gott. Er war ein Mann; darum tat er oft unbegreifliche Dinge, die Männer nun einmal zu tun pflegen. Darein hatte man sich zu fügen. Wie gegen Augusts Bestimmungen wagte Frau von Kosegarten aber auch gegen die des lieben Gottes ganz heimlich in ihren Gedanken ein wenig zu rebellieren. Das hatte erstens den Reiz der Sünde, und zweitens konnte man auch nicht wissen, ob der Herr sich doch nicht endlich zugunsten ihrer Wünsche beeinflussen ließe, wenn er sah, daß man unzufrieden mit ihm war.

Und nun hatte der Herrgott ihr etwas angetan, darüber konnte und konnte sie nicht einig werden mit ihm. Daß er die Menschen prüft, hart prüft, das gehörte ja wohl einmal zu seinem Regiment. Wie sollte man auch auf anderm Weg die nötige Läuterung empfangen? – So hatte sie sich auch allmählich hineingefunden, daß Fritz des Königs Rock, der ihm so gut stand, ablegen mußte, daß er niemals mehr zu Weihnachten oder zu Ostern auf Urlaub kommen konnte, daß das Haus still geworden war – denn weder August noch Hilde lachten wie er –, und daß er dort drüben mit seinen hübschen wohlgepflegten Händen, von denen sie sich so gern hatte streicheln und liebkosen lassen, arbeiten mußte wie ein Knecht, ihr verwöhnter schlanker Herzensjunge! Nun, er nahm ja wenigstens das schreckliche Leben mit seinem gewohnten Humor. Manchmal konnte man über seine Schilderungen von Land und Leuten geradezu Tränen lachen.

Weil er so drollig schrieb, befestigte sich die Anschauung bei ihr, es müsse ihm doch nicht allzu schlecht gehen. Er verdiente auf eine rätselhafte Weise sogar sehr viel Geld. Eigentlich klang es ja wie ein Spaß und war kaum zu glauben. Er hatte nämlich eine merkwürdige Art von Lederstrippchen mit verschiedenen verstellbaren Haken erfunden, an dem die Gold- und Kupfergräber im Westen ihre Werkzeuge am Gürtel tragen konnten. Seitdem er dieses Strippchen erfunden, hatte rr das Graben aufgegeben. Seine Briefe wurden nun wie eine von köstlichen Freudenschätzen schimmernde Mine: er war auf dem Weg, ein reicher Mann zu werden – er kaufte Häuser – er baute Straßen – er richtete Fabriken ein – er fuhr im Auto durch seine Besitzungen ...

Endlich wollte er auch seine Absicht ausführen und einmal hinüberflitzen, die Eltern zu besuchen, um dem Vater seine Schulden abzutragen und mit August wegen seiner Zukunft zu sprechen. Hinter allen Geldsorgen, die sie in ihrem Rauschenrode plagten, stand diese am Horizont ihres Lebens glänzende Hoffnung.

Da wurde der liebe Gott grausam ... Ja, Frau von Kosegarten konnte es nicht anders bezeichnen: Er wurde grausam. Fritz schrieb nach einer beängstigend langen Pause aufs neue: sein lange gehegter Plan solle nun zur Tat werden. er wolle heimkehren ins alte Vaterhaus. Aber sie sollten sich keine Illusionen machen, er sei kein reicher Mann mehr. Was er so jäh gewonnen, sei alles wieder verloren. Sein Sozius habe ihn fürchterlich betrogen. Er wolle nicht klagen, er trage selbst einen Teil Schuld an dem Zusammenbruch, und die Wahrheit zu sagen, stehe er nackt und bloß wie am Tag seiner Ankunft in Neuyork dem Schicksal gegenüber. Und nun sei es wunderlich, seine Nerven müßten wohl durch die geschäftlichen Mißgeschicke etwas angegriffen sein, kurz, er fühle sich sonderbar weichmütig ums Herz und habe ein blödsinniges Verlangen, sie alle wiederzusehen. Da er ja doch im Augenblick nichts in Amerika versäume, bitte er den Vater, ihm das Reisegeld zu einem Besuch in Deutschland zu schicken, vielleicht könne er ihm auch mit der geschäftlichen Erfahrung, die er inzwischen gewonnen habe, beratend zur Seite stehen.

Dieser letzte Satz weckte nur ein lautes, unfrohes Gelächter bei August und bei ihrem Mann. Sie empfanden es wie eine Beleidigung, die Fritz ihnen angetan hatte, indem er das Gewonnene wieder verlor.

Aber Frau von Kosegartens Verstand kam, trotzdem sie den Brief ihres Sohnes mit reichlichen Tränen netzte, kaum dazu, das über ihn hereingebrochene Unglück recht zu fassen. War es nicht der Grund, der Fritz bewog, endlich ernstlich an die Heimkehr zu denken? In der betäubenden Freude, ihn bald sehen zu dürfen, versank alles andere wie nebensächliche Kleinigleiten. –

Doch es folgten peinvolle Verhandlungen zwischen August und dem alten Herrn. Beide Männer entschieden, daß Fritzens Besuch unter diesen Umständen in keiner Weise erwünscht sei. Frau von Kosegarten hielt noch eine kleine, letzte Hoffnung im Hinterhalt. Tante Trinette hatte für die nächste Zeit ihren Frühlingsbesuch angesagt. Und Tante Trinette hatte ja so sündhaft viel Geld, sie konnte ihr schon den Jungen kommen lassen. Aber Trinette von Kosegarten war immer für alle Einrichtungen begeistert, die ihr gestatteten, ihr Portemonnaie in der Tasche zu behalten. Sie machte ihrer Schwägerin begreiflich, daß es ein törichter Übermut des Herzens wäre, wenn sie es unter den jetzigen bedrückten Verhältnissen der Familie gestatten wollte, Fritz mit Reisegeld zu versehen. So bedrängte man Frau Marie von allen Seiten mit Vernunftgründen, bis sie selbst an Fritz den Brief schreiben mußte, der ihm die Rückkehr im Namen seines Vaters untersagte.

Tag und Nacht stellte sie sich nun jenen Augenblick vor, in dem er das Schreiben empfangen und das Kuwert öffnen würde, und wie die Ablehnung seiner Bitte auf ihn wirken mußte. Die Mutter faßte einen heimlichen Groll gegen ihren Mann, gegen August, gegen Trinette, aber vor allem gegen ihren Herrgott, der es hatte zulassen können, daß sie mit eigener Hand diesen abscheulichen Brief schreiben mußte. Ihr Sohn würde sie nun hassen, und niemals wieder würde sie von ihm hören!

Das Gekläff der Hunde kündigte den Herrn an. Frau von Kosegarten legte ihr Strickzeug in den geräumigen Strohkorb und zündete mit ihren schönen, großen, weißen Händen das Flämmchen unter der Teemaschine an. Hilde kam näher, nahm dem Onkel Stock und Mütze ab, und während er seiner Frau die Hand küßte und August den Teckeln die Schinkenränder von seinem Teller zuwarf, rückte sie dem alten Herrn den Stuhl vom Tisch, schenkte ihm Tee ein mit viel Zucker und noch mehr Rum, wie er es liebte, wenn er frühmorgens aus dem Wald kam. Herr von Kosegarten hatte es gern, daß die Frauen seines Hauses um ihn beschäftigt waren. Je mehr, je besser. Er bedauerte oft, nicht ein halbes Dutzend Töchter zu besitzen, er hätte sie alle in Atem zu halten gewußt. Es war ihm behaglich, wenn es laut und wichtig um ihn zuging. »Ärger gehabt, Alterchen?« fragte Frau von Kosegarten besorgt. »Die liederlichen Bengels, die Volontäre?«

Er ließ sich schwer in den großen geschnitzten Lehnstuhl fallen.

»Mariechen, das Leben ist putzwunderlich. Ich versteh's nicht mehr – ich mache nicht mehr mit.« Die Fäuste auf den Knien saß er da, mochte nicht essen, grübelte und sah sie mit seinen blauen Augen verwirrt und hilflos an.

»Du hast doch etwas Besonderes erlebt?« fragte Mariechen ängstlich, aber Hilde nötigte ihn zum Essen, und er folgte ihr auch schweigend, langte plötzlich tüchtig zu, aß und trank gierig und ohne Behagen.

Plötzlich begann er zu singen, mit einer tiefen, dröhnenden Stimme und einer Melodie, die keinen Anspruch auf musikalische Anklänge machte:

»Freut euch des Lebens, weil noch das Lampchen glüht, Fresset den Schinken, so lange das Schwein noch blüht.«

Und lachte dann laut über seinen eigenen Witz. Mariechen lachte mit, aber ihre Augen forschten unruhig.

»Kinder, man ist runtergekommen – ich sag's ja immer –, auf den Hund sind wir gekommen ...« Er lehnte sich in den Stuhl zurück. »Was ich erlebt habe – nee, nee, Kinder, da ist schon das Ende von weg. Das – das ist rein, um aus der Haut zu fahren ... Wißt ihr, wer sich mir eben als Käufer für Rauschenrode angeboten hat?«

»Ein Käufer!?« rief Marie erregt. »Aber nein, Friedrich, das wär doch herrlich...«

»Herrlich? Na, ich danke. Thete Debberitz, das unverschämte Aas!«

»Ja, der macht jetzt hier die Gegend unsicher,« bemerkte August, nicht so erschüttert durch die Mitteilung, wie sein Vater erwartet hatte.

Bei Marie wirkte die Neuigkeit stärker. Es dauerte eine Weile, bis sie sich fassen konnte. Thete Debberitz, der Sohn ihres vor manchem Jahr nicht eben in Gnaden entlassenen Rechnungsführers, trat hier auf und wollte Rauschenrode an sich bringen? Auch sie empfand dies einfach als eine Unverschämtheit.

Wo er sein Geld erworben hatte?

In Berlin mit Terrain- und Häuserspekulationen, wußte Hilde zu berichten. Millionen sollte er besitzen, so erzählten sich die Dorfleute, die den prachtvollen Mann wie ein leibhaftiges Wunder anstarrten, seit er in Schäfers Gasthof abgestiegen war. Die Unterhaltung wurde plötzlich sehr belebt am gutsherrlichen Teetisch, seit das Thema Debberitz angeschlagen worden war.

Während der alte Herr sich ereiferte, nahm August eine ernste, nachdenkliche Miene an.

»Na – und ich sag euch,« rief Kosegarten, »in welchem Ton sich der Kerl nach Fritz erkundigte ... Dabei – ich seh den Bengel noch hier herumstrolchen mit nem zerrissenen Hosenboden. Habe Fritzen so und so oft verhauen, weil er immer mit ihm zusammensteckte.«