Der amerikanische Agent - Fabrizio Gatti - E-Book

Der amerikanische Agent E-Book

Fabrizio Gatti

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Beschreibung

Ein Tatsachenroman über die geheimen Aktionen der CIA, über die Schattenwelt von Politik und Macht und den »amerikanischen Geist« in Europa. Als der Journalist Fabrizio Gatti von einem angeblichen CIA-Agenten kontaktiert wird, der ihm seine Geschichte anvertrauen will, ist er zunächst skeptisch. Doch als »Simone Pace« ihm bei ihren klandestinen Treffen von den unzähligen verdeckten Aktionen des mächtigsten Geheimdienstes der Welt erzählt, in die er selbst involviert war, beginnt Gatti ihm zu glauben, recherchiert, führt Interviews mit Zeugen. Dieses Buch erzählt die wahre Geschichte einer geheimen Einheit der CIA, die versteckt Einfluss auf die europäischen Demokratien nimmt. Sie haben getötet, Parteien finanziert, Anschläge unterstützt. Die Liste ihrer Operationen umfasst Verbrechen, die in einem Zeitraum von dreißig Jahren verübt wurden. In Brüssel sind sie an der Ermordung Gerald Bulls beteiligt, in Italien haben sie bei der Revolution der Justiz ihre Hand im Spiel. Sie stehlen die Kommunikationscodes von Putins Russland, Bankgeheimnisse aus der Schweiz. Sie entführen islamistische Imame. Fabrizio Gatti rekonstruiert die Ereignisse in Form eines Tatsachenromans, der sich wie ein Thriller liest und uns einen Einblick verschafft in die Abgründe eines Geheimdienstes und der die amerikanische Politik in Europa in neuem Licht erscheinen lässt.

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Zum Buch

Ein Tatsachenroman über die geheimen Aktionen der CIA, über die Schattenwelt von Politik und Macht und den »amerikanischen Geist« in Europa.

Als der Journalist Fabrizio Gatti von einem angeblichen CIA-Agenten kontaktiert wird, der ihm seine Geschichte anvertrauen will, ist er zunächst skeptisch. Doch als »Simone Pace« ihm bei ihren klandestinen Treffen von den unzähligen verdeckten Aktionen des mächtigsten Geheimdienstes der Welt erzählt, in die er selbst involviert war, beginnt Gatti ihm zu glauben, recherchiert, führt Interviews mit Zeugen.

Dieses Buch erzählt die wahre Geschichte einer geheimen Einheit der CIA, die versteckt Einfluss auf die europäischen Demokratien nimmt. Sie haben getötet, Parteien finanziert, Anschläge unterstützt. Die Liste ihrer Operationen umfasst Verbrechen, die in einem Zeitraum von dreißig Jahren verübt wurden. In Brüssel sind sie an der Ermordung Gerald Bulls beteiligt, in Italien haben sie bei der Revolution der Justiz ihre Hand im Spiel. Sie stehlen die Kommunikationscodes von Putins Russland, Bankgeheimnisse aus der Schweiz. Sie entführen islamistische Imame.

Fabrizio Gatti rekonstruiert die Ereignisse in Form eines Tatsachenromans, der sich wie ein Thriller liest und uns einen Einblick verschafft in die Abgründe eines Geheimdienstes und der die amerikanische Politik in Europa in neuem Licht erscheinen lässt.

Über den Autor

Fabrizio Gatti, geboren 1966, ist Journalist und Autor. 2007 erhielt er den Europäischen Journalistenpreis. Für sein Buch “Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa” wurde er mit dem Premio Terzani ausgezeichnet (2008).

Fabrizio Gatti

DER AMERIKANISCHE AGENT

Tatsachenroman

Aus dem Italienischen vonFriederike Hausmann und Rita Seuß

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

Der Anruf

Prolog

Das verspiegelte Zimmer

Vor dem Moses

Die Phantome Washingtons

Das erste Treffen

Schnee in Mailand

Der Lügendetektor

Ein Koffer für den Abgeordneten

Gerald Bull muss sterben

Die Geheimnisse des Pio Albergo

Bürgerkrieg in Italien

Zwei Minuten und neun Sekunden

Die Zeit der Bomben

Terroristen auf freiem Fuß

Dank von Bill Clinton

Craxis Kassen

Der Spion der Russen

Der Mord in Paris

Unschuldig verurteilt

Das Geld des Papstes

Eine Falle in Tel Aviv

Der gelobte Krieg

Putins Code

Im Leichenregister

Abu Omar muss entführt werden

Geheimmission in Marrakesch

Wasserfolter

Die Regierung ist auf unserer Seite

Geiseln in der Sahara

Latifas Foto

Die Rose von Rialp

Dank

Angst ist etwas Gutes. Angst bringt dich dazu, zu handeln.

Fear is a good thing. Fear is going to lead you to take action.

Steve Bannon, Chefstratege und Berater des US-Präsidenten Donald Trump (2017)

Das Illegale erledigen wir sofort, das Verfassungswidrige dauert etwas länger.

The illegal we do immediately, the unconstitutional takes a little longer.

Henry Kissinger, amerikanischer Außenminister (1973–1977) und Friedensnobelpreisträger (1973)

Wer sich in den handelnden Personen dieses Buches wiedererkennt, besitzt ein Übermaß an Fantasie.

DER ANRUF

Eines Morgens meldet sich in der Telefonzentrale der Redaktion, in der ich arbeite, ein Mann und lässt sich meine Durchwahl geben.

»Bitte entschuldigen Sie, aber ich kann Ihnen meinen Namen nicht gleich nennen«, sagt er, nachdem er sich vergewissert hat, dass ich selbst am Apparat bin. »Ich habe schon mehrmals versucht, Sie zu erreichen, heute habe ich Glück. Ich freue mich, mit Ihnen zu sprechen.«

Er spricht perfekt Italienisch. Nur die Vokale sind etwas gedehnt wie bei Italienern, die schon lange in den Vereinigten Staaten leben.

»Ich bin beruflich viel unterwegs«, antworte ich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich hätte eine interessante Geschichte zu erzählen«, fährt er fort, »und möchte fragen, ob Sie sie hören möchten.«

»Wenn Sie wollen, jetzt gleich.«

»Nein, nicht am Telefon. Aber vorher möchte ich wissen, wie viel Ihnen eine Geschichte wert ist.«

»Sie meinen, wie viel ich Ihnen dafür zahle?«

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagt der Unbekannte, »aber es ist eine Geschichte, die niemand kennt, und ich möchte mich absichern. An meine Zukunft denken, verstehen Sie?«

Er ist nicht der Erste, der anruft, um mir etwas zu verkaufen. Ich wimmele ihn sofort ab: »Ich verstehe. Aber wenn Sie mit mir sprechen wollen, dann nur, weil die Geschichte es wert ist, erzählt zu werden, und weil mehr Menschen Dinge erfahren sollten, die für sie wichtig sein könnten. Ich habe noch nie eine Nachricht gekauft.«

»Es geht nicht ums Kaufen.« Der Mann lässt nicht locker.

»Sie schlagen mir aber doch ein Tauschgeschäft vor. Danke, dass Sie mich kontaktiert haben, aber probieren Sie es bei jemand anderem.«

Ein paar Monate später, als ich zur Abendessenszeit in Rom unweit der Kirche San Pietro in Vincoli unterwegs bin, sehe ich, dass jemand auf meinem Handy angerufen hat, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Die Nummer beginnt mit 0048, der Ländervorwahl von Polen. Ich rufe zurück. Eine Männerstimme meldet sich. Der Mann spricht nur Polnisch. Er versteht mich nicht, ich verstehe ihn nicht. Im Hintergrund Kinderlachen. Ich bitte auf Englisch um Entschuldigung und beende unser absurdes Gespräch.

Kurz danach vibriert mein Handy erneut. Es ist dieselbe polnische Nummer. Ich gehe ran. »Buongiorno«, sagt eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung in tadellosem Italienisch. »Oder vielmehr buonasera, denn bei euch ist ja jetzt Abend. Wir haben vor ein paar Monaten miteinander telefoniert. Ich wollte Ihnen sagen, dass ich bereit bin, Ihnen alles zu erzählen, ohne irgendetwas dafür zu verlangen. Ich teile das, was Sie mir über den Wert einer Geschichte gesagt haben. Und was ich erlebt habe, ist wirklich für alle wichtig.«

Es ist der Unbekannte, der in der Redaktion angerufen hatte.

»Aber von wo rufen Sie an? Um diese Uhrzeit ist es auch in Polen Abend«, sage ich verblüfft, und er fängt an zu lachen.

»Mit meinem Computer ist nichts unmöglich. Ich telefoniere über die Nummer einer ahnungslosen polnischen Familie«, erklärt mir der Mann, »aber ich bin nicht in Polen. Wenn Sie Telegram noch nicht auf Ihrem Mobiltelefon haben, installieren Sie es. Kennen Sie es? Es ermöglicht den Austausch verschlüsselter Nachrichten, die von niemandem abgehört werden können. Verzeihen Sie, aber ich habe mir unerlaubt Ihre Handynummer verschafft. Sobald Sie Telegram heruntergeladen haben, schreibe ich Ihnen über diesen Messaging-Dienst. Aber jetzt würde ich lieber Schluss machen, bevor der Pole merkt, dass ich seine Leitung gekapert habe.«

Ich lade mir die Telegram-App aufs Handy. Und er schreibt mir wie versprochen. Er stellt sich mit Vor- und Zunamen vor: Simone Pace. Mehr nicht. Eine Minute nachdem ich die Nachricht gelesen habe, löscht sie sich automatisch. So hat es begonnen. Wir haben uns auch in den Vereinigten Staaten getroffen, in einer billigen Pension nahe dem Flughafen von Las Vegas. Was Simone Pace erzählt, entspricht dem, was wir Europäer gesehen, erlebt und erlitten haben. Sein Name ist garantiert falsch. Aber sein Leben ist eng mit unserem verknüpft. Zusammen ergeben wir ein perfektes Puzzlebild. Deshalb habe ich beschlossen, seine Geschichte aufzuschreiben: weil – und davon bin ich überzeugt – die amerikanische Erziehung existiert und bis heute im Verborgenen überall ihre Wirkung entfaltet.

PROLOG

Brahims Arme schlagen wie Flügel in der Luft. Er versteht nicht, warum es passiert ist. Der Schreck hat ihm den Atem geraubt. Seine Füße suchen einen Halt, die Hände etwas, wonach sie greifen können. Aber der Himmel über Paris ist so flüchtig. Eine Möwe gleitet vorüber und scheint ihn auszulachen mit ihrem Schrei.

Brahim fliegt an einem Frühlingsvormittag. Später wird ihm vielleicht kalt werden. Seine Bewegungen sind absolut lautlos. Die Angst erstickt seine Schreie. Eine Beklemmung in der Brust schnürt ihm die Kehle zu. Niemand hört ihn. Er wäre gern diese Möwe. Er möchte wieder aufsteigen und so ruhig wie sie durch die Luft gleiten. Er möchte das ferne Glitzern der Fenster am Quai Voltaire zu fassen bekommen. Sich am imposanten Louvre jenseits des Flusses festklammern. Oder sich sogar an die Wolken hängen, die den Himmel bis zum Horizont sprenkeln. Aber die Luft hier unten wird immer kühler. Und mit dem Geruch der Luft verschwindet das letzte Bild. Beim Aufprall zieht sich die Haut vor Kälte zusammen. Das Wasser trübt die Sicht. Die Seine schmeckt eklig. Verzweifelt rudert er mit den Armen, aber die Strömung reißt ihn fort. Während oben, über den Bögen des Pont du Carrousel, die Festparade und die blauen Fahnen des Front National vorüberziehen. Sie feiern den 1. Mai, aber zum Gedenken an Jeanne d’Arc. Die Verfluchten.

Brahim Bouarram ist neunundzwanzig Jahre alt. Er ist in Marokko geboren. Zu Hause warten zwei Kinder auf ihn. Aber der Fluss trägt ihren Vater weit weg. Das Wasser, grau wie Gewitterwolken, hat ihn aufgenommen. Es zieht bereits das Leben aus seinem Körper. Und oben, zwischen den Fahnen der Parade auf der Brücke, beschleunigt der Mörder seinen Schritt.

Es ist kalt. Jetzt ist es dunkel und kalt. Wer war das? Warum hat er mich von der Brücke gestoßen? Warum? fragt sich Brahim immer und immer wieder. Er ist so auf diese Fragen fixiert, dass er seine junge Stimme zu hören glaubt. Einen Moment lang vergisst er sogar, dass sein Mund mit Wasser gefüllt ist, das er nicht ausspucken kann. Kaltes, ekliges Wasser. In diesem Moment gewinnt das Gehirn die Oberhand über den Körper. Das Gehirn verschafft immer Erleichterung. Es lässt einen an Dinge glauben, die gar nicht existieren. Brahim denkt, gleich wird er aufwachen und feststellen, dass er den Tod nur geträumt hat. Seine Hände greifen immer noch nach einer Materie, die keine Konsistenz besitzt. Seine Füße suchen nach einem Halt, ohne ihn zu finden. Aber was ist das für ein Geräusch? Es ist jetzt so laut, dass er das Gefühl hat, aus dem Abgrund hallten ihm seine eigenen Fragen entgegen.

Und das Tosen des Flusses verebbt ganz und gar.

»Die Anweisungen hatte ich zwei Wochen zuvor bekommen.« Simone Pace spricht leise und blickt geradeaus zum Altar. »Die Nachricht enthielt alles: die Route, der ich folgen, und das Datum, an dem ich mich in Langley in der CIA-Zentrale vorstellen sollte. Sie wollen nicht, dass man auf direktem Weg hingeht. Zuerst sollte ich nach Paris fahren …« Er hält inne und lächelt. Wie immer, wenn er den Namen dieser Stadt ausspricht, für ihn die schönste, die die Menschheit jemals erbaut hat.

Paris ist die erste Etappe seiner Reise in die Vereinigten Staaten. »Ich soll mich wie ein Tourist verhalten, und das tue ich. Dasselbe Drehbuch in London und in Madrid«, fährt er in seiner ruhigen, tiefen Stimme fort. »Niemand, der mich eventuell beschattet, soll vermuten können, dass ich auf dem Weg nach Langley bin. Es sind meine üblichen Augustferien. Jeder weiß, dass ich das Meer nicht mag. Und dass ich meinen Urlaub jedes Jahr in den schönsten Städten Europas verbringe und Museen und Restaurants besuche. Dass ich fünf Sprachen – Englisch, Französisch, Deutsch, Arabisch und natürlich Italienisch – fast perfekt spreche, macht das Ganze einfach.«

Am 30. August, so erzählt Simone Pace weiter, lande ich, wie verlangt, in Washington. Und wie üblich wundere ich mich nicht, als kaum eine Stunde nach meiner Ankunft in meinem Hotelzimmer das Telefon klingelt. Sie sind am Apparat. Sie heißen mich willkommen. Ich frage mich längst nicht mehr, woher sie sogar das wissen, was ich ihnen gar nicht mitgeteilt habe. Aber es ist nicht allzu schwer, sich die Passagierlisten eines Fluges oder die Hotelbuchungen zu beschaffen. Auch nicht, jemanden zum Flughafen zu schicken, der dich aussteigen sieht: um dich anschließend zu überraschen. Sie geben dir das Gefühl, dass du immer überwacht wirst. Das erhöht die Anspannung. Du hast keine Zeit für Ablenkungen. Damit verringert sich die Möglichkeit eines Fehlers. Denn du kannst es dir nicht leisten, einen zu machen. Wenn du einen Fehler machst, gibt es kein Zurück. Es ist ein Sprung ins Ungewisse, und du weißt, dass nichts deinen Sturz abfedern wird.

Am Nachmittag kommt Eduard, mein Controller, und holt mich ab. Er hat sich mir gegenüber immer freundschaftlich verhalten. Auch wenn in der Art von Beziehung, die uns verbindet, Freundschaft nicht existiert. Sie ist sogar verboten. Der Controller kontrolliert dich nicht nur, er weist dir Operationen zu, er sammelt die Informationen, die du ihm übermittelst, vor allem aber zahlt er dir Spesen und Gehalt. Der Controller ist der Einzige in und außerhalb des Milieus, der wirklich weiß, wer du bist und was du tust. Und nach drei gemeinsam verbrachten Jahren kennen wir einander ziemlich gut. An diesem Nachmittag bietet er an, mir die Stadt zu zeigen. Wir gehen in den wunderbaren Parks an den Straßen zwischen Kapitol und Weißem Haus spazieren. Es bleibt sogar Zeit für einen Besuch des National Air and Space Museum.

Am Abend bringt er mich ins Hotel zurück, und beim Abschied bestätigt er mir, dass ich am nächsten Tag die Ehre haben werde, im Hauptquartier in Langley empfangen zu werden. Weil es sich nicht gehört, mit dem Taxi zur CIA-Zentrale zu fahren, vor allem nicht als verdeckter Agent, der an Geheimoperationen beteiligt ist, sagt er, ich müsse allein hinfinden. Vor dem Eingang zum Park Hyatt, meinem Hotel in Washington, deutet er auf einen schwarzen SUV, einen Ford Escape. Er gibt mir die Schlüssel, aber ich weise ihn darauf hin, dass ich den Weg nicht kenne und das Autofahren in Washington … Er lässt mich den Satz nicht zu Ende sprechen. Er schaut mich mit einer Miene an, die mir zu verstehen gibt, dass er an alles gedacht hat. Ich bräuchte, sagt er, nur die Satellitennavigation einzuschalten und den Anweisungen zu folgen, die mich ans Ziel bringen werden.

Ich bin es gewohnt zu lügen und zu täuschen. Und ich bilde mir ein, dass nur ein Zuviel an Sonne meine Wangen erröten lässt. Aber bei der Vorstellung, nach Jahren des loyalen Dienstes im Hauptquartier empfangen zu werden, überkommt mich ein Schauder, der meinen Kopf heiß werden lässt. Vielleicht habe ich sogar die Augen aufgerissen. Eduard bemerkt es und klopft mir lächelnd auf die Schulter. So verabschieden wir uns.

Am Tag darauf sitze ich am Steuer des schwarzen SUV. Ich tauche in den Verkehr auf der Vierundzwanzigsten Straße ein. In südliche Richtung. Dann nach rechts in die K Street. Bis zum Potomac. Hat man die sechsspurige Brücke passiert, ist man im Bundesstaat Virginia. Die Straße durchschneidet das dichte Grün von Wiesen und Bäumen wie eine scharfe Klinge aus Asphalt. Man atmet spätsommerliche Feuchtigkeit, denn jenseits der Vegetation liegt der Fluss. Nach zwanzig Minuten habe ich das Gefühl, ich hätte mich verfahren. Doch plötzlich taucht zwischen den Bäumen ein Gebäude mit Schranken und Kabinenhäuschen auf, das an die Mautstelle einer europäischen Autobahn erinnert. Ich fahre darauf zu. Ein Mann in Uniform verlässt seinen Posten, um mich zu kontrollieren. Und nun? Ich lasse meinen Blick blitzschnell durch die Fahrerkabine gleiten, ob es nicht irgendwo einen Ausweis gibt, einen Passierschein. Nichts. Vor der Schranke bleibe ich stehen. Durch das Autofenster nuschle ich etwas auf Englisch, das nicht einmal ich verstehe.

Der Posten lächelt mich an. »Hier gleich nach links bitte. Halten Sie vor der Treppe zum Eingang an.« Er verlangt nichts von mir. Weder fragt er nach meinem Namen noch nach meinem Ausweis.

Ich bin im Herz und Hirn der Central Intelligence Agency. Ich wage es nicht einmal, mich umzuschauen.

Den Wagen parke ich vor einem imposanten Treppenaufgang. Fünf, sechs Stufen führen zu einem breiten Eingang mit einer automatischen Glastür. Ein bekanntes Gesicht kommt mir entgegen. Ich kann es kaum glauben. Es ist Patrick. Er passiert die lange Reihe Drehkreuze und kommt auf mich zu. In Filmen sieht der Eingangsbereich aus wie ein großes Atrium. Aber das entspricht nicht der Wirklichkeit. Patrick legt zur Begrüßung nach arabischer Art die rechte Hand auf sein Herz und neigt leicht den Kopf. Später erzählt er mir, in den Jahren, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben, sei er verdeckt im Irak tätig gewesen.

Patrick ist der Controller, der mich angeworben hat. Ich habe nur gute Erinnerungen an ihn. Aber den ungeschriebenen Regeln folgend, konnten wir, nachdem er mich an seinen Nachfolger übergeben hatte, unter keinen Umständen weiter miteinander in Kontakt bleiben.

»Ciao, ich freue mich, dich hier zu sehen«, sagt er in perfektem Italienisch, aber mit einem unverkennbaren Yankee-Akzent. »Du hast Karriere gemacht, ich hatte mich nicht in dir getäuscht«, fügt er zufrieden hinzu.

»Danke, Patrick, ich freue mich auch, dich zu sehen«, antworte ich, und wir drücken uns fest die Hand.

Leise sprechen wir weiter, und er erzählt mir, dass er befördert worden ist. Patrick ist jetzt der neue CIA-Direktor für den Nahen Osten. Wir warten etwa zehn Minuten. Ich betrachte ein dickes Buch auf einer Konsole rechts von uns, zwischen der Fahne der Vereinigten Staaten und der Fahne der Behörde vor der Marmorwand mit den vier Reihen silberner Sterne. Ihre Farbe lässt das metallische Licht, das uns umgibt, noch kälter erscheinen. »Zu Ehren der Mitarbeiter der Central Intelligence Agency, die ihr Leben im Dienst ihres Landes geopfert haben«, steht in den Stein über unseren Köpfen gemeißelt. Jede Buchseite dokumentiert die Jahre, in denen Geheimagenten ums Leben gekommen sind: neben jedem Jahr ein goldener Stern und die Namen. Oder, wenn ihre Identität geheim bleiben muss, nur der Stern. 2003, das Jahr meines Besuchs, verzeichnet bisher nur einen einzigen Namen: Helge P. Boes. Patrick erklärt mir, Boes sei in Afghanistan ums Leben gekommen, wo er als Offizier in der Terrorabwehr, dem Counterterrorism Center CTC, tätig gewesen war. Es gibt Jahre mit vielen kleinen Sternen, aber ich stelle keine Fragen. Vom Buch wandert mein Blick zu dem großen Wappen auf dem glänzend polierten Fußboden mit weißen und schwarzen Rechtecken. Er stellt ein Schachbrett dar und das weltumspannende Spiel, das von hier aus gespielt wird. Dann nähert sich von jenseits der Schranke eine Frau. Sie gibt dem Wachmann ein Zeichen, das Drehkreuz zu entsperren, damit wir eintreten können, und bittet uns, ihr zu folgen.

Die Frau stellt sich als Louise vor und begrüßt mich, als wären wir alte Freunde. Sie erkundigt sich nach dem Verlauf meiner Reise, fragt nach meinen Eindrücken von Washington und gratuliert mir zu meinem Englisch, das, wie sie versichert, exzellent ist. Dann wendet sie sich an Patrick: »Wir sollten gehen, wir werden erwartet«, sagt sie. Sie ist unsere Begleiterin.

Wir nehmen den Korridor rechts. Fast unmittelbar danach bleiben wir vor einem Aufzug stehen, einem jener schmalen Aufzüge, durch deren Tür immer nur eine Person eintreten kann. Er sieht aus wie ein kleiner Lastenaufzug. Louise legt die flache linke Hand auf ein Quadrat aus Glas, das sich an der Stelle befindet, wo bei allen Aufzügen der Welt die Knöpfe für die einzelnen Etagen sind. Der Druck ihrer Hand aktiviert einen Scanner zur Erkennung der persönlichen Daten. Patrick sagt zu mir, dass auch er zum ersten Mal diesen Aufzug nimmt, der direkt ins Büro des Direktors führt. Diese vertrauliche Mitteilung macht er so feierlich, dass »Direktor« in Großbuchstaben geschrieben scheint. Der Scanner erkennt Louises Handabdruck, und die Tür öffnet sich. Wir betreten die Aufzugskabine, und der Schauder einer Erregung, die dieses Wärmegefühl auslöst, kehrt zurück …

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihre Erzählung unterbreche«, falle ich Simone Pace ins Wort. »Ihr Besuch in Langley war für Sie gewiss bewegend, aber …«

»Ich bitte Sie um Geduld«, unterbricht er mich. »Ich möchte Ihnen alles ganz genau erzählen. Ich bitte Sie nur um etwas Geduld. Nicht alle Agenten, Informanten und operativen Phantome der CIA können sich rühmen, ins Hauptquartier nach Langley und ins Büro des Direktors gerufen worden zu sein. Wenn Sie das alles schreiben, wird es mit Sicherheit jemand nachprüfen. Und er wird feststellen, dass das, was ich sage, der Wahrheit entspricht. Wenn ich meinen Besuch in den Vereinigten Staaten so ausführlich schildere, dann nur, um Sie und das, was Sie veröffentlichen werden, zu schützen.«

»Wie Sie meinen. Fahren Sie fort, ich höre Ihnen zu.«

DAS VERSPIEGELTE ZIMMER

An diesem Punkt muss Simone Pace Simone Pace eliminieren. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Nicht, dass ihm der Mut zum Töten fehlen würde. Das hat er öfter miterlebt. Aus der Nähe, aus allernächster Nähe. Er kennt den Ammoniakgeruch des Schießpulvers. Das Plopp des Schalldämpfers. Den letzten erstickten Klagelaut in der Luft. Das Opfer, das in sich zusammensackt wie ein Haufen leere Kleider. So wie an jenem Abend in Brüssel vor vielen Jahren. Ein leises Plopp ins Genick. Zwei. Beim dritten war Gerald Bulls Körper schon erschlafft. Das vierte und fünfte Plopp waren nur zwei Pinselstriche, dem Schauplatz des Verbrechens hinzugefügt. Dann nur noch das reglose, stumme Licht des Treppenabsatzes. Und die Geschichte nahm einen anderen Verlauf. Jerusalem war gerettet. Die Israelis waren gerettet. Die Palästinenser auch. Wir sind bis heute gerettet. Ein einziger, nicht Zehntausende von Toten. Ein einziger Toter, und Saddam Hussein stand nackt da. Die Superkanone sollte seine Geheimwaffe sein. Von großer Zerstörungskraft, treffsicher, zuverlässig. Sie hätte das Gleichgewicht der Kräfte verändert. Wer erinnert sich noch daran? Fünf schallgedämpfte Schüsse aus einer Pistole Kaliber 7,65 Millimeter. Und der Konstrukteur der tödlichen Waffe, der zynischerweise mit einem Baguette unter dem linken Arm überrascht wurde, den Schlüssel schon in der Tür seiner Wohnung, wanderte vom Schlachtfeld direkt auf den Friedhof. Ende der Geschichte.

Gerald Bull hat ihm immer leidgetan. Er hat ihn stets als ein Opfer betrachtet. Als Gefangenen seines Genies, seines Ehrgeizes, seines Projekts, das er in die falschen Hände legte. In die Hände des Diktators von Bagdad. Der Zug schießt aus dem Tunnel. Die plötzliche Helligkeit rüttelt Simone Pace aus seinen dumpfen Gedanken. Seine Augen sind geblendet. Die ins Licht der Morgensonne getauchte Landschaft löscht das Spiegelbild seines Gesichts im Fenster. Es scheint auf und verschwindet wieder. Ein Schlag so dumpf, als hätte er Stöpsel in den Ohren. Der Zug rast in einen neuen Tunnel. Zweihundertsiebzig Stundenkilometer, verrät der an der Decke aufgehängte Plasmabildschirm. Von Florenz nach Rom in eineinhalb Stunden. Licht. Sonne. Die toskanischen Hügel mit ihrem reinen Grün, die von Feuchtigkeit glitzernden Reflexe. Ein Morgen Ende November. Manchmal ist Töten keine Straftat.

Es muss nicht immer ein Verbrechen sein. Manchmal ist Töten die einzige Möglichkeit, den Frieden zu sichern. Der einzige Ausweg. Davon ist Simone Pace überzeugt. Damals in Paris war es anders. An jenem Vormittag auf dem Pont du Carrousel geschah zweifellos ein Verbrechen. Ein vorsätzlicher Mord. Punkt. Die abscheuerregende Szene, als der Amerikaner den jungen Mann in die Seine warf. Brahim Bouarram ertrank ohne jeden Grund. Am Ende des Tages konnte niemand sagen, die Welt sei sicherer geworden. Die Welt hatte nur ein unschuldiges Opfer mehr. Auf dem Pont du Carrousel sollten sie Ali Belkacem anwerben, einen Algerier mit Kontakten zur berüchtigten GIA, der Groupe Islamique Armé. Simone Pace weiß es genau, weil er an jenem Tag auf der Brücke zwischen dem Quai Voltaire und dem Louvre dabei war. Er war der Köder, um Belkacem an den Haken zu bekommen. Aber die Operation misslang. Und die Franzosen haben die Konsequenzen bis heute zu tragen. Seither haben die Terroristen nicht mehr aufgehört, Frankreich anzugreifen.

›Vielleicht haben wir Israel und Palästina gerettet. Aber die Rechnung bezahlt der Rest der Welt‹, sagt sich Simone Pace, zufrieden und zugleich erschrocken, dass ihn seine Überlegungen zu diesem Fazit geführt haben. Anerkennend betrachtet er sein Gesicht im Spiegel der Scheibe, als der Zug durch einen weiteren Tunnel fährt. Obwohl schon über fünfundfünfzig, hat Simone Pace kaum Falten. Ein längliches Gesicht. Immer noch schwarze Haare, etwas schütter über der Stirn. Schmale Brille, das Gestell fast unsichtbar. In Wirklichkeit ist sein Sehvermögen ausgezeichnet. Die Brille hat ungeschliffene Gläser. Sie dient dazu, die Passanten abzulenken, die Neugierigen, den üblichen Voyeur, der sich gern in fremde Angelegenheiten einmischt. Er will keine Zeugen jetzt, wo er dem Ort des Verbrechens immer näher kommt. Denn falls er noch irgendeinen Zweifel hegte, hat er ihn beiseitegeschoben: Simone Pace muss Simone Pace eliminieren.

Mit schnaubenden Bremsgeräuschen fädeln sich die Waggons des Schnellzugs Frecciarossa 9509 durch das Gewirr der Gleise und zwischen den grauen Pfeiler unter den Viadukten hindurch, die Rom ankündigen. Türme schneeweißer Wolken wachsen in den azurblauen Himmel über den pastellfarbenen Fassaden der Vorstädte. Der Zug verlangsamt sein Tempo und fährt zwischen zwei Schutzdächern und Plattformen in den Bahnhof ein.

Das Hotel Mediterraneo, in dem Simone Pace für ein paar Nächte ein Zimmer reserviert hat, liegt in der Via Cavour 15, gegenüber dem Platz und dem multiethnischen Chaos vor der Stazione Termini. Ein zehnstöckiges Hochhaus, 1936 entworfen und im Art-déco-Stil eingerichtet. Er hat hier schon öfter übernachtet. Für ihn ist dieses Hotel eine Zeitmaschine. Mit dem Duft der Edelhölzer, dem Stil des Jahres 1925, als Paris die Kapitale des Fortschritts war und Rom in die dunkelsten Jahre des Faschismus stürzte, atmet er das Flair vergangener Epochen.

Er bekommt Zimmer Nummer 922 im neunten Stock mit Spiegeln und Holzvertäfelungen. Sein Lieblingszimmer. Nicht zu groß und nicht zu klein. Das vom Fenster hereinflutende helle Licht empfängt ihn. Er öffnet seinen Rucksack. Die alten Eichentüren des Einbauschranks quietschen wie immer. Er legt die vier weißen Hemden ins Regal, die einzigen Jeans zum Wechseln und das bisschen Unterwäsche, das er mitgenommen hat. Aus dem zweiten Rucksackfach holt er seinen Laptop heraus und versteckt ihn unter der Matratze. Mehr aus Paranoia als aus Notwendigkeit. Er betrachtet sich im Spiegel, der die gesamte Wand mit dem Schreibtisch einnimmt. Er gefällt sich. Sein breiter Rücken wird von der verspiegelten Wand mit dem Doppelbett hinter ihm reflektiert. Er dreht sich zur Seite, um seinen Rücken besser zu sehen, aber die Spiegel vor und hinter ihm vollziehen die Bewegung seines gesamten Oberkörpers mit. Und verdecken ihn. Wenn er sich jedoch in die richtige Position bringt, spiegeln sich aufgrund der optischen Täuschung Gesicht, Augen und Hände, sein Körper, die große Stehlampe aus weißem Porzellan zu seiner Linken, das ganze Zimmer, das Bett, die beiden Wandleuchten, die grünen Karos des Bettüberwurfs, sein Lächeln und erneut sein Profil: tausendfach, millionenfach, in immer kleiner werdenden Quadraten. Er spielt damit jedes Mal wie ein Kind, sobald er sich in diesem endlosen Tunnel befindet, den die beiden einander unaufhörlich reflektierenden Spiegel bilden. Ein Schwindel erfasst ihn. Er konzentriert sich auf das Etikett der Flasche Rotwein neben dem Fernseher. Aglianico di Benevento, ein Geschenk des Hotels. Dann schaut er auf die stählerne Uhr an seinem Handgelenk. Es ist zwei Minuten nach elf. Jetzt darf er keine Zeit mehr verlieren. Er muss sofort einen Anruf erledigen. Er muss sich um den Tod von Simone Pace kümmern.

VOR DEM MOSES

Beim zweiten Handyklingeln gehe ich ran.

»Buongiorno, ich bin Saimon Peis«, höre ich eine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Wer bitte?«

»Saimon Peis … oder Pace, wie Sie wollen«, sagt er, als er merkt, dass ich die englische Aussprache seines Namens nicht sofort verstanden habe.

»Entschuldigen Sie, aber in Ihrer Nachricht auf Telegram hatte ich Simone Pace gelesen. Ich wusste nicht, dass es so ausgesprochen wird«, rechtfertige ich mich.

»Kein Problem. Wo sind Sie?«

»Ich bin da, wo Sie mich hinbestellt haben, vor dem Bahnhof Termini. Ich warte hier auf Sie.«

»Nein, besser nicht. Es ist nicht ratsam, sich im Bahnhof zu treffen. Wissen Sie, wo San Pietro in Vincoli liegt?«, fragt Simone Pace.

Ich zwinge mich, mir meinen Ärger über diesen Zeitverlust nicht anmerken zu lassen. Schließlich war er es, der mir in seiner letzten Nachricht den Bahnhof als Treffpunkt vorgeschlagen hat. »Natürlich weiß ich, wo San Pietro in Vincoli liegt«, antworte ich höflich.

»Dann treffen wir uns dort in einer halben Stunde. Warten Sie vor der großen Mosesstatue auf mich. Sie befindet sich vorne rechts, neben dem Altar.«

»Ich bin zu Fuß unterwegs, so lange werde ich brauchen.«

Ein schlanker Mann, der sich für sein Alter gut gehalten hat, erscheint mit entschlossenem Schritt auf der Treppe, die von der Via Cavour zur Piazza San Pietro in Vincoli hinaufführt. Er trägt einen schwarzen Rucksack über einer gleichfalls schwarzen, wasserdichten Jacke mit Taschen und Reißverschlüssen und eine blaue Baseballkappe, deren Schirm fast sein ganzes Gesicht verdeckt. Er wirkt ruhig. Aber ich bin mir nicht sicher, dass es Simone Pace ist. Ich habe ihn noch nie gesehen. Er bleibt in der Säulenhalle am Eingang zur Basilika stehen. Bestimmt will er sehen, wie ich an ihm vorbeigehe. Er muss sich vergewissern, dass ich keine Dummheiten mache: dass ich keinen Fotografen vor der Kirche postiert habe und dass ich meinerseits nicht beschattet werde. Er hat sich mein Gesicht eingeprägt. Er hat es genau studiert, und er kennt meine Stimme aus den Interviews, die jeder im Internet finden kann. Diese paranoiden Angewohnheiten wird er mir eines Tages gestehen.

Touristengruppen kommen und gehen. Die Hautfarbe, die Sprache der Besucher bezeugen ihre Herkunft besser als ein Pass. Ich verlasse das Halbdunkel des Eingangsportals und trete vor ihm ein, aber er nimmt mich nicht wahr. Ich gehe auf den Altar zu. Ab und zu drehe ich mich um, weil ich ihn nicht aus den Augen verlieren will. Simone Pace greift zu seinem Handy. Er liest die Nachricht, die ich ihm soeben über Telegram geschickt habe: »Ich stehe vor dem Moses.« Aber das stimmt nicht. Ich warte in sicherer Entfernung. Ich möchte sehen, wer er ist. Kontrollieren, dass er wirklich allein ist. Da ist er.

Es dauert einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit der Basilika gewöhnt haben, wo die Ketten aufbewahrt sind, mit denen der Legende zufolge der heilige Petrus im Gefängnis in Jerusalem und Rom gefesselt war. Giovanni Battista Parodis Deckenfresko mit dem Kettenwunder erstrahlt, von Stuck umrahmt, über dem Hauptschiff. Aber Simone Pace würdigt es keines Blickes. In dem großen Kirchenraum mit nur wenigen Reihen Knie- und Sitzbänken geht er zielstrebig auf Michelangelos monumentale Skulptur zu. Nur zwei Besuchergruppen umringen sie. Er blickt sich argwöhnisch um. Schließlich entdeckt er mich im gegenüberliegenden Schiff, wo ein Priester die Messe liest. Es ist offenkundig, dass ich kein Tourist bin, dafür stehe ich viel zu lange auf einem Fleck. Und ich bin auch nicht wegen der Messe hier, denn ich drehe der Kapelle den Rücken zu. Ich betrachte die mächtige Mosesstatue, aber die Skulptur interessiert mich nicht, sonst würde ich näher herantreten. Als sich die beiden Gruppen entfernen, bleibt Simone Pace allein zurück, während ich auf der anderen Seite des Raums stehe. Ich habe ihn zweifelsfrei identifiziert und bewege mich langsam auf ihn zu.

»Signor Peis?«, frage ich und wähle mit einem Anflug von Zynismus die englische Aussprache seines Namens. Ich strecke den rechten Arm aus, um ihm die Hand zu geben. Er mustert meine grüne Jacke, die mir an den Schultern etwas zu weit ist und mir bis zu den Oberschenkeln reicht. Ich trage Jeans, ein dunkelblaues Hemd und bequeme Halbstiefel aus braunem Leder. In dem kurzen Moment, in dem er seinen Arm zu einem energischen Händedruck ausstreckt, scheint Simone Pace jedes Detail meiner Kleidung zu studieren. Erst dann hebt er den Blick, um mir ins Gesicht zu sehen. »Wir sind in Italien, nennen Sie mich ruhig Pace oder noch besser Simone«, kommt die schnelle Antwort.

»Da bin ich«, sage ich zu ihm. Und drehe mich um, um mir die Skulptur genauer anzusehen. Ich war schon öfter hier. Aber der visuellen Faszination dieser Marmorstatue, modelliert, als wäre sie aus weichem Ton, den Gewandfalten, der Anatomie der Muskeln, der Bewegung des Körpers und der Strenge des Antlitzes kann man sich nicht entziehen.

»Warum sprichst du nicht?«, sagt Simone Pace und wiederholt die Frage, die der Überlieferung zufolge Michelangelo stellte, als er sein Meisterwerk vollendet hatte.

»Unglaublich, wie es ihm gelungen ist, Moses’ Gesicht zu drehen.«

»Das wusste ich nicht. Drehen in welchem Sinn?«, fragt Simone Pace.

»Das Gesicht war auf einer Linie mit dem Bart. Wie Sie sehen, ist der Bart jetzt im Vergleich zum Gesicht nach rechts gewendet.«

»Während vorher …«

»Vorher hat Moses geradeaus geblickt. Fünfundzwanzig Jahre lang nahm er eine statische Position ein. Der Moses war die erste von vierzig Statuen, die das Mausoleum für Papst Julius II. schmücken sollten. Als dann das Projekt aus Kostengründen aufgegeben wurde, wies um 1540 ein Freund Michelangelo darauf hin, dass ein Moses in Bewegung realistischer gewesen wäre. Doch um den Kopf zu drehen, musste auch der Körper eine Drehung vollführen. Natürlich mit Hammer und Skalpell. Wenn Sie sich Moses’ linkes Knie anschauen, werden Sie feststellen, dass es dünner ist als das rechte. Um den linken Fuß nach hinten zu bringen, musste der Künstler Marmor wegnehmen. Es ist eine Skulptur, keine Marionette. So etwas konnte nur der große Michelangelo zustande bringen.«

»Ich habe mich immer gefragt, warum Moses nicht zum Altar blickt«, sagt er.

»Das hat sich Sigmund Freud auch gefragt.« Ich wende mich Simone Pace zu und blicke zum ersten Mal direkt in seine Augen hinter der schmalen Brille. Mir fällt auf, dass die Gläser die Pupillen seiner grünen Augen nicht vergrößern. »Moses zürnt seinem Volk«, fahre ich fort, »weil es in seiner Abwesenheit angefangen hat, das Goldene Kalb anzubeten. Er ist im Begriff aufzustehen und zu gehen, aber er lässt sich Zeit. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand spielen ungeduldig mit den Bartlocken, sodass ihm die Gesetzestafeln zu entgleiten drohen. Er zögert, ist unschlüssig, was er machen soll. Er liegt im Widerstreit mit sich selbst. Noch hat er sich nicht entschieden, ob er bleiben oder gehen soll. Das ist allerdings nur die offizielle Lesart des Werks. Diejenige, die verhindert hat, dass Michelangelo gehängt wurde. Ich dagegen glaube, dass der Moses die Ansichten Michelangelos über die römische Kirche zum Ausdruck bringt.«

Simone Pace betrachtet schweigend das große Marmorantlitz.

»Sehen Sie sich die Statue von Papst Julius II. hier oben an, der die Skulptur in Auftrag gegeben hat. Er liegt ausgestreckt da und blickt fröhlich zu uns herunter. Finden Sie, das ist eine würdevolle Pose für einen Papst? Fast scheint es, als würde er vor sich hin pfeifen. Er sieht aus wie ein Gigolo nach einer Zecherei. Vielleicht entsprach dies Michelangelos Bild von der Kirche. Denken Sie nur an den Ablasshandel, mit dessen Geldern Julius II. die Bauarbeiten für Sankt Peter finanziert hat.«

»Ich wusste nicht, dass Julius II. etwas mit dem Bau der Peterskirche zu tun hat«, gibt Simone Pace zu.

»Verstehen Sie, warum Moses nicht zum Altar blickt und der Papst über ihm leicht angetrunken aussieht? Michelangelo hatte Mut, denn die Kirche duldete damals keine Kritik. Diese Statue zeigt einen rebellischen Geist. Michelangelos Darstellung ist satirisch. Jedenfalls möchte ich es so sehen. Aber kommen wir zur Sache. Warum hatten Sie um dieses Treffen gebeten?«

»Ich möchte mit Ihnen über die Zehn Gebote sprechen«, verrät Simone Pace.

Ich verschränke die Arme und sehe ihn schief an, ein Blick, der meine Enttäuschung ausdrücken soll. »Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Ich beschäftige mich nicht mit Religion.«

»Bis auf das vierte habe ich alle Gebote übertreten«, fährt Simone Pace fort. Ich seufze. Dann habe ich es also mit einem Mythomanen zu tun, der mir nur meine Zeit stiehlt.

»Nun gut, Sie wollen mir sagen, dass Sie Vater und Mutter geehrt haben, aber am Sonntag nicht zur Messe gegangen sind. Dann brauchen Sie wahrscheinlich einen Priester, keinen Journalisten. Den Feiertag nicht zu heiligen oder unkeusche Handlungen zu begehen ist heute nicht mehr von öffentlichem Interesse. Zum Glück sind wir frei.«

Der ironische Unterton meiner Stimme ist Simone Pace gewiss nicht entgangen. Vielleicht hat er mit dieser Reaktion gerechnet. Die Mauer muss übersprungen, die Grenze niedergerissen, die Waffe geladen werden, wenn er, wie ich am Ende verstehen werde, Simone Pace tatsächlich eliminieren will. Jetzt oder nie. Aber es fällt ihm leichter als gedacht. Meine Ironie stört ihn überhaupt nicht. Die Worte kommen wie von selbst aus seinem Mund: »Ich meine das achte Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Ich meine das siebte: Du sollst nicht stehlen. Vor allem aber meine ich das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten«, flüstert er.

Ich drehe mich kurz um und vergewissere mich, dass die Gesetzestafeln noch da sind, zwischen Moses’ rechtem Arm und seiner rechten Hüfte. Dass er sie nicht hat fallen lassen. Der Blick des Propheten scheint sich auf uns zu senken. Eine Gruppe amerikanischer Touristen nähert sich.

»Setzen wir uns in eine der Bänke«, schlägt Simone Pace vor. »Da wird uns niemand hören. Dann erkläre ich Ihnen, warum ich mit Ihnen sprechen wollte.«

DIE PHANTOME WASHINGTONS

Wir setzen uns in eine leere Bank mitten im Hauptschiff. Von den drei großen Seitenfenstern über der linken Säulenreihe flutet das Novemberlicht herein. Das Strahlenbündel fällt im 45-Grad-Winkel vom Himmel direkt auf die Marmorskulpturen der Basilika. Nur von dieser Seite aus. An der rechten Wand gibt es kein einziges Fenster.

»Signor Pace, bevor Sie anfangen zu sprechen, muss ich Ihnen zwei Fragen stellen. Die erste: Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt?«

»Das kann ich Ihnen sofort erklären«, sagt er, ohne zu zögern. »Sie begegnen mir zum ersten Mal, aber ich kenne Sie gut. Ich habe viele Ihrer Enthüllungen als verdeckt ermittelnder Journalist verfolgt. Besonders, als Sie sich als Migrant ausgegeben, die Sahara durchquert und sich in Lampedusa aus dem Meer haben fischen lassen. Ich kenne auch Ihre Bücher. Es waren fast militärische Operationen, die Sie da unternommen haben. Sie sind große Risiken eingegangen, und ich glaube nicht, dass Ihr Arbeitsvertrag das von Ihnen verlangt. Ich erkenne daraus Ihre Entschlossenheit, die Realität von innen zu erleben, Ihre Leidenschaft, und das Adrenalin spielt sicher auch …«

»Ich habe es nie wegen des Adrenalin-Kicks gemacht«, unterbreche ich ihn. »Adrenalin versuche ich zu meiden. Es lässt einen den Bezug zur Realität verlieren und ist gesundheitsschädlich. Wie Nikotin. In manchen Situationen führt Adrenalin zum Tod.«

»Ich bin jedenfalls überzeugt, dass ich Ihnen vertrauen kann, und ich denke, wir haben dieselbe Arbeitsmethode«, erläutert er.

»Dann sind Sie also Journalist?«

»Nein, haben Sie nur Geduld, ich werde Ihnen alles erzählen.« Simone Pace spricht immer noch gedämpft, und er blickt dabei geradeaus zum Altar. Inmitten all der Touristen sehen wir aus wie zwei Gläubige im Gebet. »Und Ihre zweite Frage?«, fragt er jetzt.

»Als Sie vorhin vom fünften Gebot sprachen, meinten Sie damit, dass Sie auch getötet haben?«

Simone Pace schüttelt den Kopf. »Nein, die Antwort ist Nein. Aber ich habe es aus nächster Nähe miterlebt. Ich war beteiligt und bin Zeuge von Operationen geworden, die mit einem Mord endeten. Operationen, gegen die ich nichts tun konnte. Besonders von einer haben Sie bestimmt gehört.«

Ich sehe ihn weiter schweigend an.

»Erinnern Sie sich an den Konstrukteur von Saddam Husseins Superkanone?«

»Gerald Bull? Ja, sicher. Er wurde in Brüssel ermordet. Man sprach von einer verdeckten Operation des Mossad.«

»Die Amerikaner waren auch dabei«, verrät Simone Pace und deutet ein Lächeln an. Er blickt weiter zum Altar. Der Einzige, der uns anzuschauen und uns zuzuhören scheint, ist der große Moses. Der bärtige Prophet beobachtet uns von der Seite, verborgen zwischen der neunten und der zehnten Säule, der vorletzten und letzten rechts vor der Statue.

»Und Sie, waren Sie aufseiten der Amerikaner oder der Israelis?« Ich werfe die Frage in den Ring und bin mir meines Wagnisses bewusst. Aber ich habe Gespräche um den heißen Brei herum stets gehasst. Und ich weiß immer noch nicht, wer dieser jugendlich wirkende Mittfünfziger wirklich ist, der eine geradezu manische Diskretion an den Tag gelegt hat, um sich mit mir zu treffen.

Simone Pace wendet sich ruckartig nach links, mir zu. Er sieht mich ein paar Sekunden an. »Aufseiten der Amerikaner«, sagt er dann und sucht meine Augen.

»CIA?«

»Ja«, sagt er und unterstreicht sein Geständnis mit einem Kopfnicken.

»Dann sind Sie also CIA-Agent?«

»Mehr als das. Operativer Agent.«

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Einen großen. Der operative Agent agiert an vorderster Front. Er führt die Operationen vor Ort durch. Und von diesen Operationen möchte ich Ihnen erzählen.«

»Aber Sie sprechen perfekt Italienisch«, sage ich. »Sind Sie italienischer oder amerikanischer Staatsbürger?«

»Man muss nicht unbedingt Amerikaner sein, um mit der CIA zusammenzuarbeiten. Aber ich könnte es genauso gut sein.«

Ich sehe ihn schweigend an. Ich versuche herauszufinden, ob ich es mit einem der vielen Mythomanen zu tun habe, die sich einbilden, sie seien die Reinkarnation Jesu, Napoleons Erben oder Doppelgänger des Lawrence von Arabien. Simone Paces hellgrüne Augen sind reglos hinter seinen Brillengläsern, durch die sie nicht vergrößert werden. »Und warum sollte sich ein CIA-Agent an einen italienischen Reporter wenden statt an einen Starjournalisten der New York Times?«, frage ich unvermittelt.

Simone Paces Hände liegen ruhig auf seinen Oberschenkeln. Er wendet, nur ganz kurz, den Blick zu dem bärtigen Moses und dann wieder zu mir. »Ich kenne keinen Starjournalisten der New York Times«, erwidert er. »Und ich habe Ihnen schon gesagt, warum ich mich an Sie gewandt habe.«

»Dann frage ich Sie, warum Sie sich entschlossen haben, ausgerechnet jetzt zu reden?«

Wahrscheinlich hat Simone Pace mit all diesem Misstrauen gerechnet. Er antwortet aufrichtig, jedenfalls kommt es mir so vor. »Ich habe mich entschieden, meine Wahrheit zu erzählen, weil ich Italien für immer verlasse. Ich würde es bedauern, all das, was ich und Sie erlebt haben, mit fortzunehmen, ohne dass es jemand erfährt.«

»Ich und Sie?«

»Was ich getan habe, habt ihr erlitten. Ihr Bürger, meine ich. Wir haben dieselbe Geschichte erlebt«, fügt Simone Pace hinzu, »wenn auch aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Außerdem bin ich bereits über fünfzig, und in diesem Alter muss man mit seiner Vergangenheit abschließen und an seine Zukunft denken.«

»Und Sie haben keine Angst, dass ich Sie verraten könnte? Ich könnte Ihren Namen veröffentlichen und Ihnen eine Menge Ärger machen.«

Zum ersten Mal zeigt er ein kaltes Lächeln. Er seufzt. »Wenn das Ihre Absicht ist«, sagt er, »dann verabschieden wir uns jetzt sofort, und Sie werden keine Möglichkeit haben, mich jemals wiederzufinden. Die Nummer, die ich in den Telefonaten mit Ihnen benutzt habe, läuft auf den Namen eines Chinesen, den es gar nicht gibt. Und falls Sie mich jemals aufspüren sollten, werde ich sagen, wir haben uns missverstanden oder alles war erfunden. Sie haben mich sicher nicht auf Tonband aufgenommen. Ich bin überzeugt, dass Sie nicht der Typ sind, der mit einem Aufnahmegerät in der Tasche zu einer Verabredung kommt.«

»Wenn ich Sie verraten wollte, würde ich es ganz am Ende tun, wenn Sie mit Ihrer Geschichte fertig sind. Nicht am Anfang.« Ich provoziere ihn. Ich möchte ihn auf die Probe stellen, sehen, wozu er fähig ist.

Simone Pace scheint genau zu wissen, was er antworten muss. Sein Ton, immer noch mit gedämpfter Stimme, klingt noch entschiedener als zuvor: »Das wird nicht passieren. Ich habe Ihnen nicht meinen richtigen Namen genannt, wenn ich überhaupt einen habe. Sie wissen nicht, wo ich wohne. Sie wissen gar nichts von mir. Ich bin für Sie nur ein Phantom. Und Phantome existieren nun mal nicht.« Er richtet den Blick wieder geradeaus auf den Altar, wo in einer beleuchteten Vitrine die Ketten liegen, mit denen der heilige Petrus gefesselt war. Er ist gewieft. Wenn er tatsächlich ein operativer CIA-Agent sein sollte, ist Simulation und Verstellung sein Beruf.

»Wenn Sie nicht überzeugt sind, lassen wir es bleiben«, beginnt Simone Pace erneut und blickt weiter geradeaus. »Hören Sie«, und jetzt sieht er mir entschlossen in die Augen. »Wenn Sie mir zugehört haben, werden Sie mich, glaube ich, nicht verraten. Sie sind an das Berufsgeheimnis gebunden. Sollte mich eines Tages tatsächlich jemand aufspüren, werde ich sagen, dass ich alles erfunden habe. Aber wenn Sie mir glauben, werden Sie erzählen können, was in den vergangenen Jahren in Europa tatsächlich passiert ist. In Italien, in Frankreich, in Belgien.«

»Werden Sie mir auch Beweise für das liefern, was Sie mir erzählen?«

Simone Pace lächelt erneut und schüttelt den Kopf. »Beweise sind etwas, das man konstruiert. Nein, für reale Vorkommnisse gibt es keine Beweise. Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Bei den Operationen, an denen die Vereinigten Staaten beteiligt sind, agiert die CIA so, dass es keine Beweise gibt. Und wenn es welche gibt, werden sie getilgt.«

»Aus den CIA-Archiven?«

»Nein, überall. Auch in den italienischen Institutionen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Leute eingeschleust wurden. Sie sind überall. Du klopfst an eine Bürotür und findest sie selbst da, wo du es nicht erwartest. Die CIA ist ihr Nebenberuf. Vielleicht aber auch ihr Hauptberuf. Nach einiger Zeit weißt du nicht mehr, wer dein wahrer Arbeitgeber ist, und du weißt auch nicht mehr, welches deine Fahne, deine Regierung, dein Staat, dein Volk ist.«

»Ihr treibt also ein doppeltes Spiel?«

»Wir sehen uns eher als Phantome.«

»Und in welchem Büro arbeitet Simone Pace noch, außer für die CIA?«, frage ich mit leiser Stimme.

Er wirkt überrascht. Er musste mit dieser Frage rechnen, hat sie aber offenkundig nicht so früh erwartet. »Ich arbeite für den öffentlichen Dienst«, sagt er. Er merkt, dass seine Antwort nicht präzise genug ist. »Beachten Sie, dass ich für und nicht im gesagt habe.« Er wird von lauten Stimmen in seinem Rücken unterbrochen.

Eine Schulklasse kommt herein, etwa sechzig Gymnasiasten. Sie sind so unkonzentriert und lärmend, dass ihre beiden schon etwas älteren Lehrerinnen schreien müssen, um sie zur Ordnung zu rufen. Es sind keine Italiener, aber mir ist unklar, woher sie kommen. Drei Mädchen setzen sich in unsere Bank. Eine der Lehrerinnen ruft sie zurück, und dann bleibt die ganze Gruppe vor dem Moses stehen. Es wird wieder still.

»Von welchen Operationen wollen Sie mir erzählen?«, frage ich, als sich die drei Mädchen weit genug entfernt haben.

»Operationen in Italien, Frankreich, Belgien, der Schweiz, Österreich, Russland, Israel. Geldübergabe an politische Parteien. Diebstahl geheimer Dokumente. Anschläge der Mafia. Einschleusung von Informanten in feindliche Territorien. Rekrutierung weiterer operativer Agenten. Beschaffung der Kommunikationscodes von Moskau. Jagd auf Terroristen in Paris. Entführungen. Mindestens drei Morde. Aber Sie müssen Geduld haben. Ich liefere Ihnen kein Material für einen Artikel, sondern eine lange Geschichte in Fortsetzungen. Ich werde Ihnen nicht alles auf einmal erzählen. Es braucht Zeit. Sie müssen Schritt für Schritt herangeführt werden, sonst glauben Sie mir nicht. Ohne die Kenntnis der Vergangenheit können Sie die Gegenwart nicht verstehen.«

Ich fixiere ihn eine halbe Minute. Das reglose Licht der Basilika scheint sich in den Schatten der Säulenreihen aufzulösen wie Dunst. Meine nächste Frage ist nur ein leises Murmeln. »Kommen auch die Verbrecher vor, die die jüngsten Anschläge in Paris verübt haben?«

»Ihre großen Brüder kommen vor, ihre Lehrer, die vorige Generation. Bei ihnen muss man anfangen, um zu verstehen, wer die Terroristen von heute sind.«

»Und was riskieren wir, wenn die CIA erfährt, dass einer ihrer Leute redet?«

Simone Pace fällt sofort auf, dass ich im Plural gesprochen, dass ich »wir« gesagt habe: für ihn womöglich ein Zeichen, dass ich mich entschieden habe.

»Sie würde versuchen, uns zu stoppen«, ist seine trockene Antwort.

»Aber wenn Sie in die Vereinigten Staaten zurückkehren, landen Sie im Gefängnis. Es gibt schwere Strafen für CIA-Agenten, die Geheimnisse …«

»Lassen Sie es mich erklären«, fällt mir Simone Pace ins Wort. »Ich war Teil eines geheimen Netzwerks, das die CIA für ihre schmutzigen Operationen in Europa benutzt hat. Wir arbeiten mit der Behörde zusammen, aber wir gehören nicht ganz zu ihr. Unsere Identität kennt nur unser Controller, so wird er genannt. Er gehört natürlich schon zur CIA. Die Gesetze der Vereinigten Staaten gelten für ihn, nicht für uns. Uns gibt es gar nicht. Deshalb habe ich Ihnen vorhin gesagt, dass es zwischen uns operativen Agenten und den CIA-Agenten einen gewaltigen Unterschied gibt. Auch der Geheimdienst hat eine Ethik. Bei bestimmten Dingen macht sich die CIA nicht die Hände schmutzig, das würde die Regierung in Washington kompromittieren. Also greift sie auf Leute wie mich zurück. Auf Phantome. Ich habe aufgehört. Aber viele andere, die mit mir zusammen angeworben wurden oder die ich rekrutiert habe, sind weiter im operativen Einsatz.«

»Dann existiert dieses geheime Netzwerk für schmutzige Operationen also immer noch?«

Simone Pace lächelt und nickt. »Es wird immer existieren, und wie! In Italien und in ganz Europa. Die Welt ist wie ein großes Gemälde, auf dem sich die ahnungslosen Bürger, die Regierungen und Staaten bewegen. Es sind Leute wie ich, die neue Figuren darauf malen und die Farben hinzufügen. Farben, die manchmal rot sind wie Blut. Und von diesem Gemälde möchte ich Ihnen erzählen.«

Ein paar Minuten verharren wir erneut in Schweigen und sehen dem Gewusel zu, als sich die Schulklasse wieder in Bewegung setzt. Hintereinander treten die Schüler und Schülerinnen in die kleine Vertiefung unter dem Altar, um die Ketten des heiligen Petrus aus der Nähe zu betrachten, bevor sie mit einem Höllenlärm von Stimmen und Schritten wieder herauskommen.

»Kennen Sie den Film Insider von Michael Mann mit Russell Crowe und Al Pacino?«, frage ich jetzt.

Simone Pace sieht mich an, ohne zu antworten.

»Er erzählt davon, wie die internationalen Tabakkonzerne die Inhaltsstoffe der Zigaretten falsch deklarieren.«

»Ich erinnere mich nur vage«, gesteht er. »Aber was hat dieser Film mit mir zu tun?«

»Sehen Sie ihn sich an, wenn Sie können. Er ist ein Lehrstück darüber, wie sich ein Journalist gegenüber seiner Quelle verhalten sollte. Und umgekehrt. Die Quelle muss alles über sich sagen, sie muss vertrauen und sich anvertrauen. Ein Fehler, ein Laster, eine Perversion der Quelle kann alle ihre Aussagen zunichtemachen. Das, was Sie mir vorschlagen, ist kein Interview, an dessen Ende jeder wieder in sein eigenes Leben zurückkehrt. Ich werde alles über Sie wissen müssen. Auch alles über Ihr Privatleben. Familie, Liebschaften, Geliebte, Laster, Vorstrafen.«

Simone Pace – wer weiß, was er befürchtet hat – lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, seine Antwort kommt prompt. »Ich habe derzeit keine Liebesbeziehung und nicht einmal eine Geliebte. Aber ich werde Sie diesbezüglich auf dem Laufenden halten. Ich bin geschieden. Meine Frau wusste nichts. Wir haben sehr jung geheiratet. Irgendwann konnte sie meine ständige Abwesenheit nicht mehr aushalten. Und weil mir keine Ausreden mehr eingefallen sind, habe ich ihr eines Sonntagabends die Wahrheit gesagt. Ich sagte zu ihr: Ich bin ein Informant der CIA.«

»Und Ihre Frau?«

»Sie sagte, dann sei sie die Jungfrau Maria. Sie ging ins Schlafzimmer und räumte meine Hälfte des Kleiderschranks aus. Sie packte meine Hosen, Hemden und Schuhe in eine große Reisetasche und warf sie hinaus auf den Treppenabsatz. Das letzte Bild, das ich von meiner Familie habe, ist meine Frau auf der Türschwelle: Verschwinde, sagte sie immer wieder, verschwinde von hier, verschwinde, verschwinde. Als ich draußen war, schrie sie mir nach, ich solle zu meinen Huren gehen, mit denen ich ihrer Ansicht nach auch dieses Wochenende verbracht hatte.«

»Und gab es in Ihrem Leben Huren?«

»Keine einzige. Die Hure war ich.«

»Haben Sie Kinder?«

»Eine erwachsene Tochter, die heute nichts mehr von mir wissen will. Ihr habe ich nie etwas gesagt.«

»Sie haben einen hohen Preis bezahlt. Hatten Sie keine Angst, dass Ihre Frau Ihr Geheimnis herumerzählt?«

»Nein, denn sie hat mir ja nicht geglaubt. Vielen passiert es, dass sie ihre Familie opfern müssen. Wenn du all deinen Mut zusammennimmst und zu Hause die Wahrheit sagst, glaubt dir keiner. Deshalb lautet der Spitzname der CIA auch die Mama. Denn wenn du aus dem Haus geworfen wirst, nimmt sie dich in ihre Obhut wie eine Mutter. Und dann liegt dein Leben ganz in ihren Händen. Du wirst ihr Eigentum.«

»Irgendwelche Laster, die Sie in Misskredit bringen könnten? Vorstrafen?«

»Ich nehme keine Drogen, ich besaufe mich nicht, ich trinke keine hochprozentigen Sachen, ich rauche nicht. Wenn mir aber eine Frau gefällt, ziehe ich mich nicht zurück. Keine Vorstrafen. Oder vielmehr: Man hat mich nicht erwischt. Aber verlangen Sie kein polizeiliches Führungszeugnis von mir.«

»Das Problem ist nicht das polizeiliche Führungszeugnis. Sie waren es, der gesagt hat, Beweise kann man fälschen. Es geht darum, wie ich Ihre Aufrichtigkeit überprüfen kann. Aber das werde ich im Laufe unserer Treffen herausfinden. Also, wie machen wir’s?«

Simone Pace ist jetzt wieder ganz in seinem Element. Er erklärt mir, wie wir verfahren. Wir werden uns jeden oder fast jeden Tag treffen. Und zwar hier, in San Pietro in Vincoli. Aufnahmegerät, Filmkamera und Fotoapparat sind nicht gestattet. Nur Kugelschreiber und Notizheft.

»Wenn Sie einverstanden sind, können wir gleich morgen früh anfangen«, sagt er.

»Morgen früh um neun hier auf dieser Bank.«

»Also dann bis morgen. Aber ich gehe zuerst hinaus. Sie warten zehn Minuten und folgen mir nicht«, weist Simone Pace mich an. Er steht auf und geht hinaus in das gleißende Licht des geöffneten Hauptportals.

Die Welt der Phantome darf ihre Geheimnisse niemals dem Unterland der Ahnungslosen preisgeben. Wer es getan hat, bekam Schwierigkeiten. Manche wurden getötet. Hier, vor dem Moses der Basilika San Pietro in Vincoli, weiß Simone Pace ganz genau, dass er eine weitere Schwelle seines Lebens überschritten hat. Wie an jenem Sonntagabend vor vielen Jahren, als er für immer sein Zuhause verlassen hat. Und während er jetzt die Via Cavour hinunter zum römischen Hauptbahnhof zurückgeht, fühlt er sich nicht einmal erleichtert. Er empfindet Gleichgültigkeit, wie immer. Das Motto eines Frontkämpfers lautet fight or flight, kämpfe oder fliehe. Und er, der an der schmalen, unsichtbaren Grenze überlebt hat, die die Welt der Phantome vom Unterland der ahnungslosen Bürger, Regierungen und Staaten trennt, weiß genau, dass ein operativer Agent keine Fluchtmöglichkeit hat. Er kann nur kämpfen. Mit Vorsicht und Geduld, aber er muss kämpfen. Simone Paces Ermordung vollzieht sich sehr langsam.

Die vergoldete Statue von Christus dem Erlöser auf der Spitze des Campanile von Sacro Cuore steigt immer höher in den Himmel, je näher man kommt. Jetzt glänzt sie im Sonnenlicht hinter dem Bahnhofsplatz am Ende der Via Cavour. Dieser Christus ist nicht nur eine der zahllosen religiösen Ikonen, die auf Rom hinabblicken. Er ist auch seit Jahrzehnten ein Orientierungspunkt für Spione, Terroristen, Kriminelle und Geheimagenten, sobald sie aus dem Zug steigen. Das zumindest ist die Funktion, die Simone Pace der Statue zuschreibt, wenn er das Haus des Friedens sucht oder jemandem den Weg dorthin beschreiben muss.

Der doppelte Eingang aus verspiegeltem Glas befindet sich am Anfang einer kleinen Seitenstraße, nur ein paar Häuserblocks von Christus dem Erlöser entfernt. Eine abgelegene Kreuzung mit wenig Verkehr. Simone Pace rückt die blaue Baseballmütze auf seinem Kopf zurecht, schiebt die gefakte Brille auf der Nase zurück, ein Tick von ihm, und überquert die Straße exakt gegenüber der Tür, die sein Spiegelbild immer größer zurückwirft. Das Haus sieht von außen aus wie eines der vielen eleganten Bed & Breakfast der italienischen Hauptstadt, wo Touristen und die Wasserträger der Politik übernachten. Innen ist es sehr viel mehr. Sein Luxus und seine Ruhe sind heute nur mit der VIP-Lounge am Flughafen von Dubai vergleichbar, die jenen Passagieren vorbehalten ist, für die Geld keine Rolle spielt. Auf dem Klingelschild aus Messing funkelt die gravierte Schrift in arabischen und lateinischen Buchstaben: Bait as-Salaam – Casa della pace. Haus des Friedens.

Simone klingelt und senkt den Blick auf seine Schuhe. Er weiß, dass die Videokamera läuft, sobald er den Finger auf den Knopf legt. Das winzige Objektiv befindet sich mit Sicherheit hinter den verspiegelten Eingangstüren, die sich gleich öffnen werden, eine nach der anderen. Aber niemand öffnet, niemand meldet sich. Er klingelt ein zweites Mal. Und erst jetzt nehmen seine Augen etwas wahr, was ihnen bisher entgangen ist. Die Glastür ist mit einer Staubschicht bedeckt und von unten bis oben hoffnungslos schmutzig. Unten links hat jemand seine Notdurft verrichtet, und das eklige Rinnsal auf der Türschwelle aus schwarzem Marmor verläuft bis zum Asphalt des Gehsteigs. Reste von Altpapier und aufgeweichtem Laub füllen den schmalen Spalt zwischen Schiebetür und Boden. Laub. Folglich wurde die Tür schon seit Wochen nicht mehr geöffnet. Das sagt ihm seine lange Erfahrung als Polizist sofort. Bei genauerem Hinsehen weist sogar das Messingschild dunkle Oxidationsflecken auf, es wurde also schon lange nicht mehr gereinigt. Er läutet ein drittes Mal. Und endlich merkt er, dass die Klingel, die ein aufmerksames Ohr auch hier draußen hören müsste, stumm bleibt. Der Strom ist abgeschaltet. Das Haus des Friedens existiert nicht mehr. Er bekommt ein flaues Gefühl im Magen. Er ist nicht enttäuscht, sondern erschrocken.

Simone Pace dreht sich auf dem Absatz um und geht. Die Brille auf der Nase, den Blick immer noch auf seine Schuhe gesenkt. Und jetzt ist da ein neuer Gedanke, der erste Schritt auf einem Weg, der bergauf führt. Er war sicher, sie hier anzutreffen. Nur sie könnte seine wahre Identität enthüllen und das Phantom wieder zum Leben erwecken. Soweit er weiß, ist sie wütend auf ihn. Bestimmt wegen dieser Verhaftung in Mali. Eine Frau, die in einer solchen Gegend der Welt wegen Terrorismus eingesperrt ist, hat, wenn sie bei ihrer Befreiung nicht stirbt, alles überlebt. Wirklich alles. Deshalb könnte sie von maßloser Wut erfüllt sein. Und deshalb könnte sie allein das Schweigen brechen und Simone Pace, wenn er tot und begraben ist, ins Leben zurückbringen. Er muss sie sehen. Er muss mit ihr sprechen. Er muss wissen, was sie vorhat. Seine ganze Angst spiegelt sich in der einzigen Frage, die seine Gedanken beherrscht: Wie finde ich Latifa?

Die Statue von Christus dem Erlöser immer noch im Blick, macht sich Simone auf den Weg zum Immobilienbüro des Viertels. Vor ein paar Tagen hat er im Internet die Anzeige für eine Zweizimmerwohnung im obersten Stock eines Altbaus gesehen. Zimmer, Wohnküche, Bad, Balkon und Fenster mit Blick auf den Sonnenuntergang und über die Dächer Roms. Er muss den Mietvertrag unterschreiben und die Kaution bezahlen. Fehlt nur noch die Anmeldung für Wasser, Gas und Strom, und er kann sein römisches Leben beginnen. Vorbei die Zeit, als er es sich leisten konnte, wochenlang zwischen den Edelholzmöbeln seines Lieblingshotels zu logieren.

Es bleibt sogar noch Zeit für einen langen Spaziergang in der frühlingshaften Sonne dieses ungewöhnlich warmen Novembertags. Wie ein Tourist, bis zum Forum Romanum. Dann das Warten auf den Sonnenuntergang in den Ruinen des antiken Rom. Und ein Abendessen im Restaurant der Schauspieler, im La Matriciana gleich gegenüber der Oper. Es ist berühmt für seine Pasta all’amatriciana, für seine Mezze maniche mit Muscheln und Pecorino und für viele andere Gerichte. In den Tiefen seines narzisstischen Bewusstseins fühlt sich Simone Pace wie ein großer Schauspieler. Nur dass die Filme, deren Hauptdarsteller er ist, immer live gedreht werden: ohne Double und ohne die Möglichkeit, eine Szene zu wiederholen. Wie im Theater.

Um Mitternacht liegt er schon in seinem Doppelbett und denkt nach, eingehüllt in die Duftessenzen von Zimmer Nummer 922. Das Licht gelöscht. Vom offenen Fenster das Rauschen der Stadt. Die Hände im Nacken verschränkt und noch einmal die Gewissheit, die Welt in der Hand zu haben. Er ist lange nicht mehr in Rom gewesen, und Rom fehlt ihm immer. Und so schläft er, noch angekleidet, ein.

Der Tag kündigt sich mit der Kühle der Morgendämmerung an, die vom offenen Fenster hereindringt. Simone Pace steht auf, um es zu schließen. Doch dann verharrt er am Fenster und betrachtet die beiden großen Kuppeln der Basilika Santa Maria Maggiore, wo Gian Lorenzo Bernini, der Bildhauer der Päpste, begraben liegt: zwei Kuppeln nebeneinander wie ein praller junger Busen, eine Hommage an die weibliche Fruchtbarkeit. Er wendet sich etwas nach rechts und nimmt zwischen den im ersten Tageslicht rosa schimmernden Ziegeln, den ausgedehnten, noch dunklen Terrassen und den schirmförmigen Kronen der Pinien das obere Gesims des Kolosseums in den Blick. Gleich dahinter, weit hinten in der Ebene, entdeckt er die Konturen des Colosseo quadrato, des E.U.R.-Palasts, die schönste und eleganteste architektonische Parodie aus der Zeit des italienischen Futurismus. Simone Pace findet das Bauwerk sogar eleganter als das Original. Ein Stück weiter rechts zeichnen sich am heller werdenden Himmel die Umrisse der Zypressen ab, hinter denen sich der Palatin verbirgt, die Residenz der römischen Kaiser. Und noch weiter rechts verschönert die Morgenröte eine chaotische Landschaft aus Dächern, Schornsteinen, Klimaanlagen, Antennen und Fernsehkabeln, die kreuz und quer aufgehängt sind. Über diesem Wirrwarr, höher als alles andere, bläht sich auf der Fahnenstange des Quirinalspalastes, dem Sitz des Präsidenten der Republik, die italienische Fahne im Wind. Gleich dahinter, isoliert und noch größer, scheint sie von der riesigen, unbewegten Halbkugel der Kuppel von Sankt Peter beobachtet zu werden. Erstaunt, als wäre es das erste Mal, bemerkt Simone, dass man von seinem Standort aus sogar den Dreiecksgiebel der Basilika sieht. Und daneben die Fassade mit dem Fenster der Papstwohnung. Von Zimmer Nummer 922 erfasst man mit einem einzigen Blick mehr als zweitausend Jahre Geschichte.

Tief einatmend, genießt er die Schönheit dieser Szenerie. Plötzlich ist ihm kalt. Er erinnert sich, dass er das Fenster schließen wollte, dann setzt er sich im perfekten Schneidersitz aufs Bett. So verharrt er fast eine Stunde. Er nimmt eine heiße Dusche. Dann geht er hoch zur Terrasse des Hotels. Frühstück im Freien mit einem Panoramablick über die Stadt. Fast wie im Frühling. Frisches Obst, Ziegenkäse, Brot, Honig. Und Espresso, sehr schwarz, sehr stark.

Um neun Uhr erstrahlt die Fassade von San Pietro in Vincoli in der Sonne. Das Portal ist bereits geöffnet und gibt das Halbdunkel des weiträumigen Kircheninnern frei. Erst nach vielen Schritten haben sich die Augen an den Dämmer gewöhnt. Wenige Bänke, wie am Tag zuvor. Ich sitze in der letzten gegenüber dem Altar. Ich drehe mich um. Simone Pace lässt seine Augen umherschweifen, eine letzte Kontrolle. Dann nimmt er neben mir Platz. Vor den Ketten des heiligen Petrus, Moses’ gestrengem Blick ausgesetzt.