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Im eisigen Winter des Jahres 1984 begibt sich eine kleine Gruppe ins unwirtliche Forste By, auf der Suche nach Antworten zum mysteriösen Island-Dreieck. Doch statt Antworten finden sie sich in einem albtraumhaften Wettlauf gegen übernatürliche Kräfte wieder. Unerklärliche Phänomene und düstere Offenbarungen holen sie ein, während sie verzweifelt um ihr Überleben kämpfen. "Der Anchor" ist ein packender Mystery-Thriller mit Horrorelementen, der die Leser in die unbarmherzige Polarnacht entführt. Zwischen Dunkelheit und Gefahr erkennen die Freunde, dass die Suche nach der Wahrheit tödliche Konsequenzen hat und das, was sie im Schatten finden, könnte ihre Vorstellung von Realität für immer verändern.
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Traue deinen Ohren nicht!
Traue deinen Augen nicht!
RENN!
Hinweis zur Aussprache: Forste By wird im Norwegischen ‚Foschte Bie‘ ausgesprochen.
Contentwarnung:
Um Ihnen nicht vorab Hinweise auf den Inhalt zu verraten, habe ich die Auflistung der sensiblen Themen, die in dieser Geschichte behandelt werden, an das Ende des Buches gesetzt.
Dieses Buch widme ich mir selbst – für die Herausforderungen, die ich überwunden habe, und für die Kraft, immer wieder aufzustehen. Durch das Schreiben habe ich nicht nur vieles verarbeitet, sondern auch erkannt, dass ich mehr gewinnen kann, als ich jemals gedacht hätte. Trotz der Hindernisse, die mich gebremst haben, habe ich begonnen, mein wahres Potenzial zu entfalten – und dieses Buch ist der Beweis dafür.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Die tobenden Wellen schleuderten das Schiff erbarmungslos umher, während Kapitän Veland Brown unerschütterlich am Steuerrad seines Segelschiffs stand.
Der Sturm entlud seine unbändige Wut über das aufgewühlte Meer. Gischt und Salzwasser peitschten gegen das Holz, die Wellen türmten sich bedrohlich auf, als wollten sie das Schiff in die Tiefe reißen.
Der Wind heulte und zerrte an den Segeln, als Veland verzweifelt gegen die entfesselten Naturgewalten kämpfte. Ein ohrenbetäubender Knall durchbrach die tosende Geräuschkulisse des Sturms. Mit einem donnernden Krachen brach ein Mast entzwei und stürzte herab. Splitter schleuderten und wehten in alle Richtungen und die Männer auf dem Deck schrien entsetzt auf.
John Hartley, der Bootsmann, kämpfte sich durch den Sturm zu Veland vor. »Kapitän! Der Rumpf hat schweren Schaden genommen! Wir nehmen Wasser auf! Das Schiff wird untergehen. Wir müssen es aufgeben, bevor es zu spät ist!«, schrie er gegen das Heulen des Windes an.
Velands Herz raste vor Angst. Er wusste, dass es keine Rettung für das Schiff gab und mit einer Mischung aus Verzweiflung und eiserner Entschlossenheit rief er über das Gebrüll des Sturms hinweg: »Alle Mann von Bord! Das Schiff ist verloren! Rettet euch, solange ihr noch könnt!«
Ein blendend heller Blitz durchzuckte den pechschwarzen Himmel, traf das Hauptsegel des Schiffes und setzte es augenblicklich in Flammen. Das Feuer breitete sich rasend schnell über das hölzerne Schiff aus, seine sengende Hitze schien selbst den Sturm zu übertrumpfen.
Verzweiflung und Entsetzen griffen um sich, als einige Männer von herabstürzenden Splittern getroffen und von den Flammen verschlungen wurden.
Eine gigantische Welle schlug über das Schiff und spülte die Männer ins aufgewühlte Meer.
Veland hastete durch das bereits knöchelhohe Wasser zur Zelle der Gefangenen und riss die Tür auf.
»Das Schiff ist dem Untergang geweiht«, rief er, während der Sturm um sie tobte. »Solange ihr an Bord meines Schiffes seid, hat euer Leben noch einen Wert für mich und ihr bekommt noch eine Chance. Ich befreie euch, damit ihr überleben könnt.« Seine Stimme war von Dringlichkeit erfüllt.
Er befreite die Gefangenen, die sofort in Richtung Deck rannten, doch im trüben Licht der Laternen verlor er sie bald aus den Augen.
Ein großer Engländer blieb regungslos zurück. Ihre Blicke trafen sich und in diesem Moment sah Veland mehr als nur die erwartete Leere in den Augen des Mannes. Stattdessen erkannte er darin einen tiefen, glühenden Zorn, der von einer endlosen Trauer durchdrungen war – ein Schmerz, der weit über das Sichtbare hinausging.
Plötzlich erschütterte ein gewaltiger Stoß das Schiff - ein Spektakel, das die Sinne betäubte. Veland spürte die unbändige Kraft der Welle, die über das Schiff hereinbrach, und er klammerte sich an eine Stütze, um nicht von den Beinen gerissen zu werden.
Als er das kalte Wasser an seinen Knien bemerkte, fiel sein Blick zur Luke.
Hartley hatte recht: Wasser stand bereits im Rumpf und jetzt drang noch mehr Wasser ein, und Veland konnte sehen, wie der Wasserspiegel schnell stieg.
Der Engländer war durch den Stoß von der Bank gestürzt, Veland packte seinen Arm und half ihm auf die Beine.
»Komm schon, wir müssen hier raus!«
Gemeinsam kämpften sie sich durch das einströmende Wasser an Deck, in der Hoffnung, ein Rettungsboot zu erreichen.
Doch noch bevor sie an ihrem Ziel ankommen konnten, erfasste sie eine gewaltige Welle und riss sie mit unbändiger Kraft mit sich ...
Livia erwachte mit einem Ruck – mit dem Gefühl zu ertrinken. Das Salz des Meeres brannte in ihrem Mund und auf ihrer Haut, sie war klitschnass und zitterte. Es war nur ein Traum, aber er hat sich so echt angefühlt. Solche Träume plagten sie oft, zeigten ihr Dinge, die sie nicht verstand und deren Bedeutung ihr verborgen blieb. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah auf ihren Wecker, es war kurz vor sechs und von unten hörte sie bereits die Stimmen ihrer Mutter und ihres Bruders.
Ihre Mutter, eine Krankenschwester, arbeitete oft in Schichten und ihr Bruder war Mechaniker und betrieb die hiesige Werkstatt, die er früh öffnete.
Livia sprang aus dem Bett, zog sich an und ging ins Bad. Sie putzte sich die Zähne und kämmte ihr widerspenstiges Haar. Ein kurzer Blick in den Spiegel zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie mochte ihr Aussehen: die grünen Augen, die Sommersprossen, das rote Haar – alles Erbe ihres Vaters.
Ihr Vater war ihr Held, er starb vor einigen Jahren bei einem Feuerwehreinsatz, doch die Erinnerungen an ihn waren noch lebendig. Sie dachte gern an die gemeinsamen Campingausflüge in die Wildnis Schwedens und Norwegens. Er hat ihr die Besonderheiten der Natur, die Eigenarten der dort lebenden Tierarten und die Sternbilder mit ihren Bedeutungen beigebracht und ihr versprochen, dass sie alles sein und tun kann, wenn sie mit einem offenen und lernwilligen Geist durchs Leben geht.
Ihre Mutter hingegen sprach nur ungern über ihn, sie war nie einverstanden mit seiner Berufswahl gewesen, hatte Angst und Wut in sich getragen. Sie nannte ihn unverantwortlich und egoistisch, warf ihm vor, sie im Stich gelassen zu haben. Für sie war er kein Held, sondern ein Narr, weil er sich regelmäßig in brennende Häuser und Gebiete begab, obwohl er eine Familie hatte, die auf ihn angewiesen war. Livia verstand ihre Mutter nicht, sie liebte ihren Vater und vermisste ihn schmerzlich.
Sie ging zu ihrer Mutter in die Küche. »Ist Ansgar schon weg?« Ihre Mutter nickte und kaute auf ihrem Brot. Sie sah müde aus, aber lächelte. »Du bist aber früh dran, was ist los?«
Livia zuckte nur mit den Schultern und murmelte: »Bin einfach heute mal früher aus dem Bett gefallen.« Sie vermied den Blick ihrer Mutter, unsicher, ob sie von ihrem Traum sprechen wollte.
Sie schüttelte den Kopf. Heute war keine Zeit für Träumereien, sie hatte eine Mathearbeit vor sich, die wichtig für ihre Zukunft war. Sie wollte so weit wie möglich von diesem Ort wegkommen und die Welt sehen, Abenteuer erleben und etwas bewirken. Sie aß schnell auf und machte sich auf den Weg zur Schule.
Es war noch stockfinster, als sie durch den frischen Schnee stapfte, der unter ihren Füßen knirschte und im Sternenlicht funkelte. Sie zog ihren Mantel enger um sich, atmete die kalte, klare Luft ein und ging an vereinzelten Häusern vorbei, in denen schon Licht brannte. Die meisten Fenster waren aber noch schwarz. Sie sah die Rauchfahnen aus den Schornsteinen steigen und roch den Duft von Kaffee.
Nach einer Weile erreichte sie das Zentrum der kleinen Stadt Gards Träsk. Dort stand die alte Ruine, die sie jeden Tag passieren musste, es war das Haus, in dem ihr Vater umgekommen war. Es war vor Jahren bei einem Brand zerstört worden und niemand hatte es je wieder aufgebaut. Es war ein trauriger Anblick – ein Mahnmal für den Verlust, den sie erlitten hatte.
Livia blieb stehen und holte eine rote Rose aus ihrer Tasche, die sie aus dem kleinen Laden hatte, der sein Gemüse in einem überschaubaren Gewächshaus neben dem Haus anbaute und daneben noch eine kleine Auswahl Blumen verkaufte. Sie ging zu dem verkohlten Torbogen, der noch stand, und legte die Rose davor.
Seit ihr Vater gestorben war, tat sie dies an jedem besonderen Tag – wie heute, an seinem Geburtstag, und auch morgen, an Nikolaus, würde sie ihm eine Rose hinlegen. Es war ihr Ritual, ihr Zeichen der Erinnerung und der Liebe.
Sie schloss die Augen und dachte an ihn, sie dachte an seine Stimme, sein Lachen, seine Umarmungen. Sie dachte an die guten Zeiten, die sie mit ihm verbracht hatte. Sie dachte an seine Worte, seine Ratschläge, seine Träume.
Dann spürte sie einen Stich in ihrem Herzen und eine Träne lief ihr über die Wange. Livia vermisste ihn so sehr und mit dem Blick auf das Haus öffnete sie die Augen. Ihr war klar, was sie wollte – ihren Vater mit Stolz erfüllen. Sie atmete tief ein und aus, richtete sich auf und ging weiter.
Auf der anderen Straßenseite befanden sich ein American Diner und eine alte Poststation. Das Diner war noch geschlossen, aber sie konnte die roten Stühle und die weißen Tische durch das Fenster sehen.
Das war der Ort, wo sie oft mit ihren Freunden hinging. Sie verbrachten dort viel Zeit, wenn sie nichts anderes zu tun hatten. Sie lachten, redeten, hörten Musik, aßen Pfannkuchen und tranken Kakao.
Sie ging weiter an der Polizei, der Feuerwehr und dem Krankenhaus vorbei. Die Polizei war eine mittelgroße Wache, die aus drei Wagen und sieben Angestellten bestand. Die Feuerwehrwache war klein, nur ein paar Fahrzeuge und eine Handvoll Freiwillige. Doch beim Anblick der Wache spürte sie ein leichtes Ziehen in der Brust – eine Erinnerung an das, was sie verloren hatte. Seit dem Tod ihres Vaters lösten die Wache und das Heulen der Sirenen ein unbehagliches Gefühl in ihr aus, das sie nie ganz loslassen konnte.
Das Krankenhaus war das einzige Gebäude, das etwas moderner aussah. Es war ein flacher Bau aus Beton und Glas, mit einem roten Kreuz an der Fassade. Livia hatte dort schon als Praktikantin gearbeitet und half den Schwestern und Ärzten, wo sie konnte. Häufig konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie die Arbeit interessant und abwechslungsreich oder anstrengend und traurig fand. Denn Menschen, die leiden oder sterben, gehörten dort zum Alltag.
Die Straße endete in einem großen Wendekreis. Dort begann der Weg zur alten Schule, die aus roten Ziegelsteinen gebaut war. Neben ihr stand die Bibliothek. Beide Gebäude sahen aus, als hätten sie schon immer hier gestanden. Sie waren von Schnee bedeckt und wirkten wie aus einer anderen Zeit.
Sie sah die hohen Fenster und die schweren Türen, das Knarren des alten Holzes und das Rascheln von Papier, das durch die offenen Fenster getragen wurde, drangen an ihre Ohren.
Sie stieg die steinerne Treppe hinauf und ging hinein. Ein abgestandener Geruch von Staub und verwittertem Holz schlug ihr entgegen. Sie folgte dem Gang mit dem grauen Boden und den gelben Wänden. Diese Wände – sie hasste sie. Dieses grelle, eintönige Gelb, das allgegenwärtig war und sie daran erinnerte, wie fest sie in dieser Stadt steckte. Das Gelb wirkte aufdringlich und doch leblos zugleich, wie eine ständige Erinnerung daran, dass sich hier nie etwas veränderte. Alles blieb gleich, Tag für Tag. Es war, als ob diese Wände sie in einer trostlosen, sich endlos wiederholenden Welt festhielten.
Sie kam an ihrem Klassenzimmer an, öffnete die Tür und sah sich um. Keiner ihrer Freunde war da. Sie ging zu dem ersten Tisch, an dem zwei Mädchen redeten. »Guten Morgen, ist Hanna schon da?«, fragte sie. Die Mädchen schüttelten den Kopf. »Hm, komisch, sie ist doch sonst immer die Erste.«
Livia ging zu ihrem Platz, setzte sich und schlug ihr Mathebuch auf. Sie wartete auf Hanna, während sie ihre Matheaufgaben durchging. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, aber ihr Traum ließ sie nicht los …
»Brot oder Cornflakes?«, fragte Helga Asgirsson, Hannas Mutter, die mit einem Buttermesser in der Hand in der Küche stand. Sie sprach zu ihrer Tochter, die noch verschlafen am Küchentisch saß. »Hey, hast du mich gehört? Was ist denn heute mit dir los?«
Hanna schaute auf und deutete auf die Cornflakes. Sie streckte sich, fuhr mit ihren Fingern durch ihr langes blondes Haar und seufzte tief.
»Ich kann dir nicht sagen, was los ist. Ich habe nicht so gut geschlafen und bin etwas schlecht drauf. Diese Träume werden von Mal zu Mal komischer.«
»Wenn du mir erzählen möchtest, was du geträumt hast, tu dir keinen Zwang an«, bot ihre Mutter an.
Hanna schmunzelte: »Seit ein paar Tagen träume ich immer wieder dasselbe. Ich stehe an einem Steg und schaue auf eine Insel vor einer Bucht. Dem Wasser fehlt jegliche Bewegung, es ist glatt wie ein Spiegel. Die Insel ist von einem dichten Wald bedeckt und in der Mitte ragt ein hoher Berg auf. Auf der anderen Seite der Bucht steht ein Mann – ganz in Schwarz. Er steht auf dem Wasser, als ob es fester Boden wäre. Ein weißes Auge schimmert mich an. Er hebt seine Hand und von seiner Fingerspitze tropft Wasser.
Als der Tropfen auf die stille Oberfläche aufkommt, bebt es leicht. Ich drehe mich um und sehe eine riesige Welle, die auf mich zukommt. Dann klingelt der Wecker und das war’s.«
Hanna versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber in Wahrheit beschäftigte sie der Traum sehr. Sie hatte das Gefühl, dass er eine Ahnung war, die sie warnen wollte und sie fragte sich, wer der Mann in Schwarz war und was er von ihr wollte.
Und warum träumte sie immer von dieser Insel? Sie hatte noch nie in ihrem Leben das Meer gesehen. Sie lebte in Gards Träsk, einer Kleinstadt im Polarkreis, wo es im Winter fast immer dunkel war und im Sommer fast immer hell. Sie hatte noch nie etwas anderes gekannt.
»Weißt du, Träume können manchmal seltsame Wege gehen, um uns zu sagen, was wir fühlen«, sagte ihre Mutter nachdenklich, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, »Vielleicht spiegelt dieser Traum einfach wider, wie sehr du deinen Vater vermisst. Er ist schon eine Weile nicht zuhause, und das macht sich auch in deinen Träumen bemerkbar.«
Sie hielt kurz inne, trocknete einen Teller ab und stellte ihn ins Regal.
»Der Mann in Schwarz könnte eine Verkörperung deiner Sehnsucht nach ihm sein, und die Insel und die Bucht, all das Unbekannte, könnten für die Unsicherheit stehen, die du empfindest, wenn er nicht da ist. Aber mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Träume sind nur Träume. Sie können uns nichts anhaben.«
Mit einem sanften Lächeln fuhr sie fort, während sie ein Glas abtrocknete, »Ich weiß, wie sehr du ihn vermisst. Deine täglichen Briefe an ihn sind so voller Liebe und Sehnsucht. Es ist wirklich rührend zu sehen, wie du deine Gedanken und Gefühle mit ihm teilst, auch wenn er weit weg auf dem Meer ist. Diese Verbindung, die ihr habt, ist etwas ganz Besonderes.« Sie seufzte leicht und stellte das Glas ins Regal.
»Ich vermisse ihn auch sehr. Aber wir werden diese Zeit überstehen, wie wir es immer tun. Und denk daran, vor Weihnachten wird er sicher wieder hier sein. Dann können wir die Feiertage zusammen verbringen und all die schönen Dinge nachholen, die wir vermisst haben.«
Es wurde still in der Küche, nur das Ticken der Uhr war zu hören.
»Iss schnell auf und zieh dich an. Ich mache das noch schnell fertig und fahre dich dann. Sonst kommst du zu spät.«
Helga drehte sich um und machte sich weiter an den Abwasch.
Gesagt, getan. Hanna leerte die Schüssel, putzte ihre Zähne, zog Jacke und Schuhe an und keine fünfzehn Minuten später saßen sie im Auto auf dem Weg zur Schule.
Das Auto war ein alter Käfer, den Helga von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte. Er war rot und hatte einige Beulen und Kratzer, aber er fuhr noch zuverlässig. Helga liebte ihn wie ein Familienmitglied. Er war das einzige Geschenk, das ihr Mann ihr je gemacht hatte.
Er war Fischer, der zwischen Island und Norwegen mehrere Wochen auf hoher See verbrachte. Er hatte lange dafür gespart, um ihr den Käfer zu kaufen, denn die Familie hatte nicht viel Geld.
Er war gerade auf einer seiner langen Touren und würde erst in ein paar Wochen zurückkehren. Hanna vermisste ihn sehr, aber sie sprach nicht gerne darüber. Sie wusste, wie hart er arbeitete, um für sie zu sorgen.
Sie fuhren an dem Diner und der Poststation vorbei und erreichten die Schule. Hanna sprang aus dem Wagen und rannte den Weg zum Gebäude entlang, die Treppe hinauf und stürzte noch vor dem Gong mit der Tür in den Raum. Sie schlängelte sich an den Tischen der bereits sitzenden Schüler vorbei und nahm neben Livia Platz.
»Das war aber knapp, bist doch sonst nie so spät dran«, flüsterte Livia Hanna zu. Sie schmunzelte und breitete ihre Bücher auf dem Tisch aus, nahm einen Bogen Papier aus der Tasche und fing an zu schreiben.
Heute ist der 05.12.1984, auch wenn dich dieser Brief erst nach Nikolaus erreicht...
Der Junge vor ihnen drehte sich um: »Na ihr zwei, habt ihr eure Stiefel auch gründlich geputzt, damit der Nikolaus euch morgen nicht vergisst?«
Livias blasse Haut wurde leicht rot und sie schmunzelte, ihre grünen Augen funkelten ihn an. »Aber natürlich, Otto, und guten Morgen.«
Dieser Junge war Otto Lund, ein schmächtiger Geselle mit braunem Haar und Hornbrille. Daneben saß Lars Larsson, ein groß gewachsener Junge mit blondem, kurzem Haar. »Was schreibst du da überhaupt?«, fragte er sie neugierig.
»Ich schreibe einen Brief an meinen Vater, so eine Art Tagebuch.« Sie lachte leicht und schrieb weiter.
Lars drehte sich um. »Guten Morgen, ihr beiden, habt ihr die Hausaufgaben von gestern schon fertig?«
Er hatte es nicht so mit Lernen und Hausaufgaben machen und verbrachte seine Zeit nach der Schule lieber in der Werkstatt neben der Tankstelle, um sich etwas dazu zu verdienen.
»Was denkst du denn?«, fragte Livia, »Würdest du dich mal mehr um die wichtigen Dinge kümmern, müsstest du nicht jeden Morgen versuchen, die Lösungen von uns zu bekommen. Zumal du doch eh bei Otto lebst und er scheint die Aufgaben ja auch gelöst zu haben.«
Otto, der sehr wissbegierig war und Bücher mindestens so sehr liebte wie Hanna, meldete sich zu Wort, »Wie soll er denn etwas lernen, wenn er nur am Abschreiben ist? Wir werden nächstes Jahr alle 18, wir sind keine Kinder mehr und wir sind im letzten Jahr. Bald ist die Schule zu ende, zumindest jetzt sollte er es alleine schaffen. Wenn wir unseren Abschluss haben, wird ihm auch keiner mehr helfen können.«
Lars, der mittlerweile sehr niedergeschlagen wirkte, stieß nur ein Raunen aus und richtete seinen Blick wieder nach vorne.
Plötzlich schlug die Tür zum Klassenzimmer auf und eine Dame mittleren Alters stapfte in den Raum. Diese Dame war Frau Holm, die Lehrerin der Klasse und zugleich Leiterin der Schule. Die Schule war sehr klein und hatte nicht mehr als drei Klassen: Vor-, Grund- und Oberschule. Das war total ausreichend für Gards Träsk, das verschlafene Örtchen im hohen Norden Schwedens, das an der Grenze zu Norwegen lag.
Anders als in größeren Städten blieb man hier in der Schule oft bis zum 18. Lebensjahr.
Da weiterführende Schulen in der Ferne lagen und die kalten Wintermonate den Zugang erschwerten, bot die Schule eine Art erweitertes Programm an, das sowohl Grund- als auch weiterführende Bildung abdeckte.
Die Schüler lernten hier alle Grundlagen und auch praktische Fähigkeiten, die man fürs Leben in der abgeschiedenen Region brauchte. In diesem System, das weniger strikt auf Altersgrenzen achtete, lernten jüngere und ältere Schüler häufig gemeinsam in einer Klasse – und das oft bis zum Ende ihrer Schulzeit.
»Kommt bitte nach vorne und legt mir eure Hausaufgaben auf den Tisch, danach räumt alles von euren Plätzen bis auf einen Stift und ein Radiergummi«, befahl sie. Ein Kratzen und Schleifen zog durch die Klasse, gefolgt vom Geräusch des knarrenden Holzbodens, als die Schüler der Reihe nach zum Pult gingen, um ihre Hefte abzulegen. Im Anschluss räumten sie ihre Plätze frei und Frau Holm verteilte die Klausuren.
»Ab jetzt ist Ruhe, in einer Stunde sammle ich die Arbeiten wieder ein«, sagte sie streng.
Livia schlug die erste Seite auf und fing an zu schreiben.
Das Lernen hatte sich bezahlt gemacht – die Aufgaben waren fordernd, aber nicht schwer.
Sie schaute auf und konnte an Lars’ Körperhaltung erkennen, wie überfordert er war. Bei Hanna und Otto schien es gut zu laufen und nach einer Stunde war es geschafft.
Nach und nach sammelte Frau Holm die Arbeiten ein und entließ die Klasse in eine kurze Pause.
»Mann, warum war die Arbeit denn so schwer?«, jammerte Lars.
Livia beugte sich zu ihm runter: »Vielleicht solltest du mal anfangen zu lernen, statt deine ganze Zeit für andere Dinge zu verschwenden.«
Er stöhnte, richtete sich auf und ging zurück in den Raum. Die Pause war rum und nach und nach füllte sich die Klasse wieder mit den Schülern.
»Schlagt bitte Seite 38 in eurem Geschichtsbuch auf«, das Geräusch der aufschlagenden Bücher und das Durchblättern füllten den Raum wie ein Papierorchester.
»Hanna, bitte lies uns den Text auf dieser Seite laut vor.«
Hanna erhob sich.
»Im Jahr 1388 wurde die dänische Königin Margarethe I. von einer aufständischen Adelsfraktion als schwedische Herrscherin anerkannt. Nach ihrem Sieg über Albrecht von Mecklenburg im darauffolgenden Jahr wurden die skandinavischen Königreiche Dänemark, Norwegen und Schweden unter einem Regenten vereint. Im Jahr 1397 erfolgte die Krönung von Margarethes Neffen, Erich von Pommern, zum König der drei Reiche, wodurch die Kalmarer Union entstand. Diese politische Union dauerte bis 1523, als Schweden unter Gustav Vasa seine Unabhängigkeit von der Union erlangte, was das Ende der Union markierte …«
Hanna las weiter, während die anderen Schüler ihr zuhörten.
Sie war fasziniert von der Geschichte, die sich vor ihren Augen entfaltete. Sie stellte sich vor, wie es wohl gewesen wäre, in dieser Zeit zu leben, welche Abenteuer sie erlebt hätte, welche Gefahren sie überstanden hätte. Sie träumte davon, eines Tages die Welt zu bereisen und neue Orte zu entdecken. Sie wusste, dass sie bald die Schule verlassen würde, und sie freute sich auf die Zukunft.
Es war kurz vor 11, als der Gong zur Pause ertönte.
Die Schüler sprangen von ihren Plätzen auf und stürmten aus dem Raum. Sie freuten sich auf eine kurze Pause von dem Unterrichtsstoff. Doch einer von ihnen wurde aufgehalten.
»Nicht so schnell, Herr Larsson. Wie mir beim Durchblättern der Hausaufgaben auffiel, fehlt Ihre. Da ich davon ausgehe, dass Sie keine gemacht haben, werden Sie ab heute den Rest der Woche lang nachsitzen, um sie unter meiner Aufsicht in der Schule nach dem Unterricht zu bearbeiten.«
Lars seufzte und nahm sein Heft entgegen. Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte, und bereute es. Er verließ das Klassenzimmer und traf vor der Tür auf seine Freunde.
Otto, Hanna und Livia sahen ihn mitleidig an. Sie wollten ihm helfen, aber sie wussten, dass er seine Lektion lernen musste. Er nickte ihnen zu und ging mit ihnen in die Pause. Er wusste, dass er die Schule bald verlassen würde, und er fürchtete sich vor der Zukunft.
Hanna, Livia, Otto und Lars ergatterten den letzten freien Tisch in der kleinen Kantine und packten ihre Brote aus.
Lars’ tiefes Seufzen unterbrach die Stille am Tisch, die nur von gelegentlichem Schmatzen gestört wurde. Er biss in sein trockenes Käsebrot und schob es mit einem Schluck Wasser hinunter.
»Wie kann sie mir nur Nachsitzen aufbrummen?«, klagte er. »Wie soll ich denn jetzt meiner Arbeit in der Werkstatt nachkommen, wenn ich den ganzen Tag hier festsitze?«
Er sah seine Freunde flehend an, als ob sie ihm eine Lösung bieten könnten. Alle am Tisch legten ihre Brote nieder und blickten fragend in seine Richtung.
Die erneute Stille wurde von Otto durchbrochen, der aufstand, um seinen Müll in den Mülleimer an der Tür zu bringen.
»Wir hatten das Thema doch erst kurz vor dem Unterrichtsbeginn«, sagte er vorwurfsvoll.
»Und nicht nur dann, wir sagen dir schon die ganze Zeit, dass du aufpassen musst.«
Er schüttelte den Kopf, warf seinen Beutel in den Eimer und setzte sich wieder.
»Jetzt musst du halt den Rest der Woche nachsitzen, aber vielleicht bringt es ja endlich mal was.«
Diese Worte kamen von Hanna, die ihn erwartungsvoll anschaute. Sie hatte ein leises Lächeln auf den Lippen, als ob sie sich insgeheim freute, dass er endlich seine Lektion lernte.
Sie war immer die Beste in der Klasse und hatte kein Verständnis für Lars‘ Faulheit.
Lars ließ seinen Kopf auf den Tisch sinken, stieß einen Seufzer aus und vergrub sich in seinen Armen. Er spürte, wie die Blicke seiner Freunde auf ihm ruhten, aber er wollte ihnen nicht in die Augen sehen. Sie hatten recht, aber er konnte sich einfach nicht für die Schule begeistern. Er wollte lieber in der Werkstatt sein, wo er als Aushilfe arbeitete, dort half er Ansgar, ein altes Segelboot zu reparieren, das dieser in der Werkstatt stehen hatte. Es war ein spannendes Projekt, das Lars viel Spaß machte. Er hatte gehofft, dass er heute Nachmittag mit ihm daran arbeiten könnte, aber nun war alles ruiniert.
»Hat dein Vater dir eigentlich pünktlich zu Nikolaus einen Brief geschickt?«, fragte Livia Hanna ganz aufgeregt.
Sie wechselte das Thema, um die Stimmung aufzuhellen. Sie wusste, dass Hanna sich immer Sorgen um ihren Vater machte, der als Fischer in der norwegischen See arbeitete. Er war schon seit Wochen weg und hatte sich nur selten gemeldet. Livia hoffte, dass er ihr wenigstens zu Nikolaus eine Überraschung geschickt hatte.
»Nein, leider nicht. Kein Lebenszeichen, nicht einmal ein Anruf, obwohl er normalerweise Bescheid gibt, wenn er Landgang hat. Das passt eigentlich gar nicht zu ihm, vor allem, wenn er so lange weg ist. Vielleicht übertreibe ich auch nur – Nikolaus ist ja erst morgen. Und wenn ich nachher zu Hause bin, warten bestimmt schon ein Haufen Briefe von ihm auf mich.«
Sie kämpfte tapfer darum, ein Lächeln zu zeigen, aber in ihren Augen spiegelte sich unübersehbar die tiefe Traurigkeit wider. Jedes Zucken ihrer Lippen war ein mühsamer Versuch, den Schmerz in ihrem Herzen zu verbergen. Doch die Furchen auf ihrer Stirn und die zitternde Unsicherheit in ihrem Blick verrieten ihre wahre Gefühlslage.
Der Verlust ihres Vaters wog schwer auf ihrer Seele, und die Leere in ihrem Leben schien mit jedem Tag größer zu werden. Die Sorge um sein Wohlergehen lastete wie ein bleierner Mantel auf ihren Schultern, drückte sie nieder und raubte ihr den Schlaf. Jede Minute, die er fernab war, fühlte sich an wie eine Ewigkeit voller quälender Ungewissheit.
Die Gedanken an die Gefahren, die in der eisigen Weite der norwegischen See lauerten, quälten sie unaufhörlich.
Bilder von tosenden Stürmen, unerbittlichen Eisbergen und den unberechenbaren Kreaturen des Nordens fanden ihren Weg in ihre Gedanken und verstärkten ihre Angst.
Sie konnte sich kaum vorstellen, welche Prüfungen ihr Vater in dieser lebensfeindlichen Umgebung bestehen musste, und jeder Augenblick des Wartens fühlte sich an wie eine schmerzhafte Ewigkeit.
Trotz aller Bemühungen, sich Mut zuzusprechen, blieb ein nagender Zweifel in ihrem Inneren zurück.
Die Hoffnung, dass ihr Vater bald sicher nach Hause zurückkehren würde, war das einzige Licht in der düsteren Dunkelheit ihrer Gedanken, doch es flackerte unsicher, von Ängsten und Unsicherheiten bedroht.
»Ach, wird schon nichts sein«, erwiderte Livia beruhigend. Sie nahm Hannas Hand und drückte sie sanft. »Er ist nun mal Fischer. Du sagst doch selbst immer, dass er über Wochen auf dem Meer ist und nur dann Briefe senden oder anrufen kann, wenn er Landgang hat. Da kann man wohl nicht immer davon ausgehen, dass ein Brief pünktlich kommt und wie du schon sagst, nachher werden sicher ein Haufen Briefe auf dich warten.«
Sie versuchte, einen Scherz zu machen, aber spürte, dass Hanna nicht lachte.
Ein Teil von ihr wünschte, sie könnte mehr tun, um Hanna zu helfen – und doch war sie selbst kaum in der Lage, mit dem Verlust ihres Vaters umzugehen. Die eigene Trauer saß tief, machte sie hilflos und verschloss ihr die Worte. Wie sollte sie Stärke zeigen, wenn sie selbst noch auf wackeligen Beinen stand?
Hanna bemerkte die kippende Stimmung und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen.
»Oh, verdammt, Liv, es tut mir so leid! Ich jammere dir hier die ganze Zeit die Ohren voll, weil ich keine Briefe von meinem Vater bekomme, und dabei ist heute der Geburtstag deines Vaters. Es tut mir wirklich leid … wie geht es dir?«
Livia fühlte sich ertappt und rang sich ein Lächeln ab. »Alles gut, mach dir keine Sorgen um mich. Es ist schon so viele Jahre her, auch wenn es an Tagen wie heute schwerer ist. Das Einzige, was mich wirklich trifft, ist, dass es meiner Mutter an solchen Tagen völlig egal zu sein scheint.« Sie zuckte die Schultern. »Also, wirklich, mach dir keine Gedanken um mich. Wenn es dir schlecht geht, erzähl mir davon – dafür sind Freunde doch da.«
»Das stimmt schon«, erwiderte Hanna und schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
»Na siehst du, du lächelst! Also mach dir keine Sorgen, Hanna.« Livia nahm noch einen Bissen und sah zur Uhr. »Lass uns aufessen, die Pause ist gleich rum.«
Sie beendeten ihre Mahlzeit, und gerade, als sie den letzten Bissen genommen hatten, ertönte die Glocke. Gemeinsam gingen sie zurück in den Unterricht.
Der Rest des Tages verlief ohne große Aufregungen. Um 14:30 Uhr ertönte die Schulglocke das letzte Mal für diesen Tag und beendete den Unterricht.
Es war immer noch dunkel, nicht verwunderlich für den hohen Norden, an dem die Polarnacht dafür sorgte, dass die Sonne für einige Tage nicht aufging und die Dunkelheit die Oberhand gewann, nur vereinzelt erhellten Laternen ihnen den Weg. Der Schnee fiel unaufhörlich, als sich Hanna, Livia und Otto durch die Straßen Gards Träsks begaben.
Sie zogen ihre Mützen tief ins Gesicht und stampften durch die weiße Pracht. Sie spürten, wie die Kälte ihnen in die Knochen kroch, aber sie ließen sich nicht unterkriegen. Sie freuten sich auf das warme Diner, auf den heißen Kakao und auf die Gesellschaft ihrer Freunde.
Sie kamen an der Tankstelle mit der angrenzenden Werkstatt an, wo Ansgar arbeitete. Mit seinen 20 Jahren war er noch recht jung, um ein eigenes Unternehmen zu führen.
Er war groß gebaut, mit dichtem schwarzem Haar und kräftiger Statur – die er deutlich von seinem Vater geerbt hatte.
Obwohl er äußerlich seinem Vater ähnelte, fehlten ihm dessen markante roten Haare, Sommersprossen und grünen Augen. Stattdessen hatte Ansgar das dunklere Haar und die blauen Augen seiner Mutter.
Sie kamen am Tor an und sahen ihn hinter dem Boot stehen, das er für einen Kunden reparierte. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er sie nicht bemerkte.
»Hey Brüderchen, wir sind’s.«, rief Livia in die Werkstatt.
»Wir wollten dir nur sagen, dass Lars heute nicht kommen kann, er muss nachsitzen.«
Ansgar schaute auf und lächelt.
»Hey, ihr seid ja früh dran. Kein Problem, ich komme auch ohne Lars klar. Das Boot ist fast fertig, ich muss nur noch ein paar Kleinigkeiten machen.«
Er strahlte vor Begeisterung und winkte sie zu sich, um ihnen das Boot zu zeigen. Es war ein altes Segelboot mit einem weißen Rumpf und einem roten Segel.
»Aber genug jetzt, wir wollen ja nicht zu spät kommen. Frey wartet bestimmt schon auf uns.«
Er führte die Freunde hinaus und schloss die Halle ab.
Wenig später erreichten sie das Diner und sahen Frey durch die Scheibe hinter der Theke stehen. Sie war die Freundin von Ansgar und 19 Jahre alt. Frey hatte blondes Haar, blaue Augen und eine schneeweiße Haut. Sie war relativ schüchtern und hatte außerhalb der Clique keine Freunde. Mit ihren 1,80 m überragte sie zudem die meisten anderen, was es für sie schwerer machte, sich anzupassen – zumindest in ihren Augen.
Kopps Diner war mehr als nur ein Diner – es war ein zweites Zuhause für Livia, Otto, Lars und Hanna. Seit sie sich vor 16 Jahren im Kindergarten kennengelernt hatten, verbrachten sie fast jeden Tag zusammen. Ihre Eltern waren schon damals alle befreundet und hatten sich regelmäßig mit den Kindern dort getroffen.
Inzwischen waren sie 17 Jahre alt, aber ihre Freundschaft war so eng wie am ersten Tag.
Der Besitzer und Vater von Frey, Johann Aström, hatte das Haus mit angrenzender Wohnung in den frühen 60ern gebaut, da er die Diner aus Amerika liebte und benannte es nach seinem Spitznamen. Er fand es immer sehr amüsant, wenn die Leute fragten, ob er Kopp heiße.
Das Diner hatte sechs weiße Tische – drei lange in der Mitte mit je acht roten Polsterstühlen und drei am Fenster, die sechs rote Polsterbänke zierten. Die Wand war mit Schallplatten-Covern tapeziert, die Johanns Musikgeschmack widerspiegeln. Neben der Tür zum Wohnbereich stand eine Jukebox, die immer eine Auswahl daraus spielte. Der Boden war schwarz-weiß gekachelt und glänzte vor Sauberkeit.
Frey, die, seit sie 16 war, im Diner mithalf, kümmerte sich liebevoll um die Gäste und das Essen.
Die vier betraten die Räumlichkeiten, die schon stark gefüllt waren, und vernahmen den Duft von frischen Pfannkuchen. Aus Richtung der Jukebox schallte ihnen »Mamma Mia« von ABBA entgegen.
Frey, die mit ihrem Vater gerade hinter dem Tresen stand und scheinbar diskutierte, lächelte ihnen zu und gab Ansgar einen Kuss, als er an ihr vorbeiging.
»Hey ihr, wie war die Schule und wo ist Lars?«, fragte sie in die Runde.
Die vier gingen zu ihrem Stammplatz am letzten Tisch und setzten sich hin.
Livia ergriff das Wort: »Also Lars muss nachsitzen, den werden wir die Woche wohl nicht mehr sehen. Was war gerade bei dir und deinem Vater los?«
Frey, die gerade an den Tisch kam, stellte dort viermal heißen Kakao ab und setzte sich. »Ah ok, dann weiß ich Bescheid, wird sicher seine Gründe haben, dass er nachsitzen muss. Ach, alles gut, er hat sich nur wieder etwas künstlich aufgeregt.«
Die vier bestellten ihre Pfannkuchen, die Frey ihnen kurz darauf brachte. Sie waren dick und fluffig, mit Ahornsirup und Butter bestrichen. Otto, der ein großer Fan von Pfannkuchen war, biss genüsslich in seinen ersten und seufzte zufrieden.
»Das sind die besten Pfannkuchen der Welt«, schwärmte er.
»Kein Wunder, dass du hier immer so viel isst«, neckte ihn Livia.
»Hey, das ist ein Wunder und kein Wunder ... du weißt doch selber, dass ich nie so viel essen würde, wenn es nicht lecker wäre«, verteidigte er sich.
Die vier lachten und genossen ihre Pfannkuchen. Sie fühlten sich wohl und geborgen im Diner, das sie so gut kannten. Sie kannten jeden Winkel, jede Macke, jede Geschichte. Sie kannten das Brandloch auf dem Tisch, das von einer Kerze stammte, die sie an Livias 13. Geburtstag angezündet hatten. Sie kannten die Risse in der Jukebox, die von einem Streit zwischen zwei betrunkenen Gästen herrührten, die sich nicht auf einen Song einigen konnten. Sie kannten die Unterschriften an der Wand, die von den vielen Freunden und Bekannten zeugten, die hier schon eingekehrt waren. Sie kannten das Diner wie ihre eigene Westentasche.
»Wisst ihr, manchmal habe ich das Gefühl, dieses Diner ist mehr Zuhause als mein eigenes Bett«, sagte Livia schmunzelnd, während sie ihren Kakao hochhob.
»Na, darauf sollten wir anstoßen«, erwiderte Ansgar mit einem breiten Grinsen und hob sein Glas.
»Auf das beste Diner der Welt«, fügte Hanna hinzu und stieß ihrs gegen Livias.
»Und auf uns, die besten Gäste, die es je hatte«, ergänzte Otto, wobei er gespielt selbstgefällig die Nase rümpfte.
Alle brachen in Gelächter aus, ihre Gläser klangen sanft aneinander, und für einen Moment schien die Welt perfekt.
Um 19 Uhr erhob sich die Gruppe schließlich und Livia und Ansgar begleiteten Hanna und Otto zur Tür, um sich dort von ihnen zu verabschieden. Es wurden noch ein paar letzte Worte gewechselt und Hanna umarmte Livia herzlich, bevor sie zusammen mit Otto in der kalten Abendluft verschwand.
Als die Tür hinter den beiden ins Schloss fiel, wandten sich Livia und Ansgar an Frey. »Sollen wir dir noch ein bisschen beim Aufräumen helfen?« fragte Ansgar, und Livia nickte zustimmend.
»Das wäre toll, danke euch«, antwortete Frey mit einem dankbaren Lächeln. Gemeinsam machten sie sich daran, das Geschirr zu spülen, die Tische abzuwischen und den Müll hinauszubringen, während das Diner langsam zur Ruhe kam.
Während Livia die letzten Teller abwischte, sah sie aus den Augenwinkeln in die Küche. Frey stand dicht neben Ansgar, ihre Hand leicht auf seinem Arm ruhend. Sie lächelte ihn an, und als er sich zu ihr hinunterbeugte, legte sie den Kopf an seine Schulter. Es war ein kurzer Moment, doch die Zärtlichkeit darin ließ Livia innehalten.
Sie beobachtete, wie sich ihre Lippen fast unmerklich berührten, ein zarter Kuss, der mehr sagte, als Worte es könnten. Livia fühlte ein leises Ziehen in ihrer Brust – eine Mischung aus Freude für die beiden und einer Melancholie, die sie nicht ganz einordnen konnte.
Es war ein stiller Moment der Verbundenheit, der ihr klar machte, wie tief die Beziehung zwischen Frey und Ansgar wirklich war.
Sie räusperte sich leise und wandte sich wieder den Tischen zu, während ein schwaches Lächeln ihre Lippen umspielte.
Sie waren müde, aber zufrieden, als sie sich schließlich von Frey und ihrem Vater verabschiedeten und gemeinsam nach Hause gingen.
Der nächste Tag begann wie jeder andere, Livia saß mit Otto und Lars in der Schule. Nur Hanna fehlte.
Die Tür öffnete sich und Frau Holm betrat den Raum. »Setzt euch, Hanna wurde von ihrer Mutter aufgrund von Krankheit entschuldigt«, ermahnte Frau Holm die Klasse.
Livia tippte Otto an, der vor ihr saß.
»Ihr ging es doch gestern noch gut, was soll sie denn haben, dass ihre Mutter sie von der Schule abgemeldet hat?«
»Ich habe keine Ahnung, wir sollten nach der Schule mal bei ihr vorbeigehen.«
Gesagt, getan: Nach der Schule machten sich Otto und Livia auf den Weg zum Diner, um Hanna etwas Gebäck zu kaufen.
Livia mochte die Auswahl, die Freys Vater anbot – eine bunte Mischung an süßen Köstlichkeiten, die sie und ihre Freunde sogar mit ausgesucht hatten. Neben den klassischen Donuts gab es hier auch Muffins, saftige Brownies, warmen Apfelkuchen, cremigen Käsekuchen und viele weitere Süßspeisen, die im Diner immer frisch zubereitet wurden. Livia fühlte sich fast ein bisschen stolz darauf, wenn sie daran dachte, wie ihre Ideen im Angebot gelandet waren und nun Teil des kleinen, gemütlichen Diners waren.
Der Schneefall machte das Vorankommen nicht gerade angenehmer und so brauchten sie ein Vielfaches an Zeit, die sie sonst zum Diner unterwegs gewesen wären.
Nach einer Dreiviertelstunde betraten sie die warmen Räumlichkeiten.
Auf dem Weg zu ihrem Stammplatz hörten sie Gesprächsfetzen der anderen Gäste mit. Sie vernahmen Sachen wie:
»...armen Asgirssons...«
»...arme Mädchen. Was wohl aus ihnen werden sollte...«
Frey, die alles aufmerksam verfolgt hatte, eilte zu Livia und Otto.
»Kommt an den Tisch, ich erkläre euch alles« und führte sie an ihren Stammplatz.
»Raus mit der Sprache, Frey, was ist passiert? Und ich will nicht, dass du was auslässt«, funkelte Livia sie wütend an.
»Ja, ist ja gut, könnt ihr euch an die Diskussion zwischen mir und meinem Vater von gestern erinnern? Er erzählte mir dort, dass Hannas Vater verschollen war und vielleicht sogar gestorben ist.« ... »Ich wollte es euch gestern schon sagen, aber mein Vater trieb mir die Idee aus, aus dem Grund die Diskussion mit ihm.«
Livia und Otto schauten Frey mit großen Augen an. »Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?«, fragte Livia aufgewühlt.
Frey setzte ein besorgtes Gesicht auf, »Doch, leider schon. Die beiden waren auch 15 Minuten vor euch hier, haben sich etwas zu essen geholt und sind dann nach Hause gefahren.«
Livia spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte es nicht fassen. Hannas Vater war wie ein Onkel für sie gewesen.
Er hatte sie in ihrer schweren Zeit unterstützt, als ihr eigener Vater gestorben war. Er war ein guter Mensch. Und jetzt war er vielleicht tot. Sie stand auf und rannte zur Tür.
Sie rief Otto zu, dass er nach Hause gehen solle.
Ihre Beine trugen sie schneller zu Hannas Haustür, als sie es geahnt hätte. Sie hämmerte wie wild an die Tür, klingelte mehrfach, bis sich nach einer gefühlten Ewigkeit etwas regte.
Hanna öffnete die Tür, ihre Augen waren dick vor lauter Weinen. Sie wollte gerade etwas sagen, als Livia ihr weinend in die Arme fiel.
Beide Mädchen standen wortlos in der Eingangstür und um sie herum fing langsam an, ein kleiner Schneesturm zu toben.
Hanna zog Livia ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Sie gingen ins Wohnzimmer, wo sie sich auf dem Sofa niederließen.
Livia hielt Hanna fest im Arm und streichelte ihr über den Rücken. »Es tut mir so so leid, Han, ich bin für dich da...«
Hanna schluchzte und kuschelte sich an Livia. Sie erzählte ihr, was die Polizei ihr und ihrer Mutter gestern gesagt hatte. »Sie sagten, dass das Schiff in einen Sturm geraten ist, als es auf dem Weg nach Norwegen war. Sie sagten, dass sie das Schiff an der Küste gefunden haben, aber ohne die Besatzung. Er und die anderen gelten als verschollen …« Hanna brach erneut in Tränen aus. »Die Polizei sucht noch, aber die Hoffnung sei gering. Sie sagten, dass es vielleicht besser wäre, wenn wir uns auf das Schlimmste gefasst machen.«
Livia schüttelte den Kopf und sah Hanna mitfühlend an. »Das darfst du nicht glauben. Es gibt immer noch eine Chance, dass er lebt. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht gibt es ja noch irgendwelche Hinweise oder Spuren, die uns helfen können.«
»Nein, es gibt nichts«, sagte Hanna bitter.
»Das einzige, was wir noch haben, ist die Info, dass der Kontakt zu dem Schiff am 03.12. abgebrochen ist. Die Polizei meinte, das wäre normal, weil die Verbindung in dieser Gegend oft schlecht ist. Aber das ist doch keine Erklärung, oder?«
Livia seufzte und drückte Hanna noch fester.
»Ich weiß es nicht, Hanna … ich bin genauso ratlos wie du. Aber wir müssen stark sein, auch für deine Mama … wo ist sie eigentlich?« Sorge lag in ihrer Stimme.
»Sie ist noch mal zur Wache gefahren, um zu sehen, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt. Sie wollte nicht, dass ich mitkomme.«
Hanna räusperte sich. »Livia, ich muss dir etwas erzählen. Etwas, das mir schon seit Tagen im Kopf herumspukt. Etwas, das mir Angst macht.«
Livia sah sie aufmerksam an. »Was ist es, Hanna? Du kannst mir alles sagen.«
Hanna atmete tief ein und aus. »Es geht um einen Traum, den ich immer wieder habe. Einen, der mir sehr real vorkommt.«
Livia runzelte die Stirn. »Einen Traum? Was meinst du?«
Hanna erzählte ihr, was los war. Sie erzählte ihr von der Insel, dem Mann in Schwarz, der Welle. Sie erzählte ihr, wie sie sich dabei fühlte. Sie erzählte ihr, was sie darüber dachte. Livia hörte ihr aufmerksam zu. Sie versuchte, den Traum zu verstehen. Sie versuchte, ihn zu deuten.
»Das ist ein merkwürdiger Traum, Hanna. Träume sind manchmal nur ein Spiegel unserer Ängste und Wünsche. Vielleicht hast du diesen Traum, weil du dir Sorgen um deinen Papa machst. Vielleicht hast du diesen Traum, weil du dir wünschst, dass er zurückkommt.«
Hanna schüttelte den Kopf. »Das sagte Mama auch, aber das glaube ich nicht. Dieser Traum ist anders. Er fühlte sich so real an.«
Livia sah sie skeptisch an. »Wie meinst du das?«
Hanna hob den Kopf und schaute sie mit ernstem Blick an. »Ich meine, dass dieser Traum mir vielleicht gezeigt hat, was Papa gesehen hat, was Papa gefühlt hat, was Papa gedacht hat.«
Livia schüttelte den Kopf und lächelte ungläubig. »Das ist doch Unsinn.«
»Livia, bitte, glaub mir. Ich weiß, wie es klingt. Ich weiß, dass es verrückt ist. Aber ich spüre es. Ich spüre, dass dieser Traum wichtig ist. Ich spüre, dass dieser Traum echt ist. Ich spüre, dass dieser Traum eine Verbindung ist. Eine Verbindung zu Papa.«
Hannas Stimme bebte leicht, ihre Augen flehten um Verständnis.
Livia ließ Hannas Worte auf sich wirken, dann atmete sie tief durch ...
»Ja, vielleicht hast du ja doch irgendwo recht mit dem, was du sagst. Ich hatte auch einen schlimmen Traum. Ich erinnere mich nicht an den Inhalt, aber es ist nicht das erste Mal, dass ich diesen Traum habe, und jedes Mal habe ich das Gefühl, ich würde ertrinken.«
Hanna schaute überrascht auf, »Was hat er zu bedeuten?«