Der andere Iran - Sophie Namini - E-Book

Der andere Iran E-Book

Sophie Namini

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Beschreibung

Durch Heirat wird Sophie Namini Iranerin. 2005 fliegt sie zusammen mit ihrem Mann und ihren kleinen Kindern zum ersten Mal in ihre neue Heimat. Hier taucht sie tief ein in den iranischen Alltag. Dieser ist nicht immer einfach, denn das Leben in Iran ist vielfältig, bunt und lebensfroh, aber auch laut, kompliziert und oft unberechenbar. Die Autorin nimmt die Leserschaft mit auf ihre ersten fünf Reisen. Sie gewährt einen sehr persönlichen Einblick in die Kultur, das Alltagsgeschehen sowie das Leben der Menschen in Iran. Nebenher lässt sie die Leserinnen und Leser eintauchen in die Schönheit des Landes, aber auch in seine wechselvolle Geschichte. In diesem Buch steht für einmal nicht die Politik Irans im Mittelpunkt. Vielmehr ist «Der andere Iran» eine Liebeserklärung an ein faszinierendes Land und vor allem an seine warmherzige Bevölkerung.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Für all die wun­der­vol­len Men­schen in Iran

Die Reisen in diesem Buch

2005 Te­he­r­an – Ka­ra­dj

2006 Te­he­r­an – Nord­i­ran (Scho­mal)

2013 Schi­raz – Per­se­po­lis – Te­he­r­an

2015 Is­fahan – Yazd – Kaschan – Te­he­r­an

2016 Te­he­r­an

Weitere Reisen

2016 Ker­man – Mahan – Ray­en – Bam – Dascht-e Lut – Te­he­r­an

2017 Te­he­r­an – Mt. Tot­schal – Mt. Da­ma­vand – Kaschan – Aby­a­neh – Dascht-e-Ka­vir – Fard­jam

2018 Te­he­r­an – Ha­me­dan – Kan­ga­var – Bi­so­tun – Ker­man­sch­ah

2019 Te­he­r­an – Chor­ra­ma­bad – Schusch (Susa) – Ahwaz – Aba­dan – Schusch­t­ar – An­di­meschk – Dorud – Borud­jerd

Inhalt

Die Au­to­rin

Vor­wort

Te­he­r­an, März 2005

An­kunft in Te­he­r­an

Noruz

Bei Reza

Bei Zan-Amu

Shop­ping

Bei Behzad

Nach­trag

Te­he­r­an und Scho­mal, April 2006

Te­he­r­an zum Zwei­ten

Auf Braut­schau

Ein ei­ge­ner Pass

Te­he­r­an für Kin­der

Im­mo­bi­li­en­boom

Wie­der­se­hen mit Reza

Scho­mal, Nord­i­ran

Na­ma­ka­brud

Zu­rück nach Te­he­r­an

Ein ei­ge­ner Pass II

Auf Braut­schau II

Nach­trag

Schi­raz, De­zem­ber 2013

An­kunft in Schi­raz

Schi­raz

Per­si­sche Gär­ten und Mo­scheen

An­ti­kes Per­si­en – Pa­sar­ga­dae

Naqsch-e Rostam

Per­se­po­lis

His­to­ri­sches Schi­raz

Dich­ter und Gär­ten

Te­he­r­an

Is­fahan, De­zem­ber 2015

An­kunft in Is­fahan

Kö­nig­li­ches Is­fahan

Von Mo­scheen, Ka­the­dra­len und schwan­ken­den Mi­na­ret­ten

Is­fa­hans Brü­cken und Hand­wer­ker

Nain und Mey­bod

Yazd

Kaschan

Te­he­r­an

Te­he­r­an, März 2016

Nach­wort

Dank

Li­te­ra­tur

Die Au­to­rin

So­phie Na­mi­ni wuchs in ei­nem mul­ti­kul­tu­rel­len Um­feld in der Ban­lieue von Pa­ris auf. Spä­ter zog sie in die Schweiz, wo sie heu­te am Zü­rich­see lebt.

Zu­sam­men mit ih­rem Mann, ei­nem ge­bür­ti­gen Ira­ner, hat sie drei Kin­der. Seit 2005 be­reist die Fa­mi­lie re­gel­mäs­sig den Iran.

So­phie Na­mi­ni ist aus­ge­bil­de­te Pri­ma­r­leh­re­rin und un­ter­rich­tet tex­ti­les und tech­ni­sches Ge­stal­ten an ei­ner öf­fent­li­chen Schu­le.

Mehr über So­phie Na­mi­ni so­wie Bil­der von ih­ren Ir­an­rei­sen fin­den Sie auf ih­rer Web­si­te

www.be­au­ti­ful-iran.com

Vor­wort

Als ich im Jahr 2005 mit mei­nem Mann und un­se­ren da­mals zwei klei­nen Kin­dern – das Jüngs­te war zu je­nem Zeit­punkt noch nicht ge­bo­ren – zum ers­ten Mal nach Te­he­r­an reis­te, um dort mit der Fa­mi­lie das per­si­sche Neu­jahrs­fest zu fei­ern, hat­te ich zwie­späl­ti­ge Er­war­tun­gen in Be­zug auf mein neu­es Hei­mat­land.

Auch ich kann­te die Bil­der von tie­f­re­li­gi­ös wir­ken­den, bär­ti­gen Mul­lahs und den in schwa­r­ze Tscha­dors gehüll­ten Frau­en. Auch ich hat­te Do­ku­men­ta­ti­o­nen ge­se­hen über wü­ten­de De­mon­s­tran­ten, wel­che durch die Stras­sen der Städ­te mar­schie­ren. Auch ich hat­te Be­rich­te ge­le­sen über miss­ach­te­te Men­schen­rech­te, ver­steck­te Kriegs­hand­lun­gen und eine kor­rup­te Wirt­schaft.

An­de­rer­seits hat­te ich in mei­nem Um­feld so viel Gu­tes über das Land ge­hört. Freun­de und Be­kann­te hat­ten ge­schwärmt von an­geb­lich über­wäl­ti­gend schö­nen Land­schaf­ten, von ein­zig­ar­tig freund­li­chen Men­schen so­wie von al­ten Kul­tu­ren und ein­drü­ck­li­chen Bau­wer­ken.

Und dann lan­de­ten wir in Te­he­r­an und es war al­les ganz an­ders, als ich er­war­tet hat­te. Es war auf­re­gend und fremd, bis­wei­len auch an­stren­gend und frus­trie­rend, dann wie­der wun­der­schön, herz­er­wär­me­nd, fas­zi­nie­rend und vol­ler Le­ben­dig­keit.

Denn Iran ist auch ein Land der pul­sie­ren­den Städ­te und der tra­di­ti­o­nel­len Dorf­be­völ­ke­rung, Stät­te al­ter Hoch­kul­tu­ren, ehe­mals prunk­vol­les Kai­ser­reich, Land der Dich­ter so­wie Wie­ge der Na­tur­wis­sen­schaf­ten. Aus­ser­dem fin­den sich in Iran spru­deln­de Erd­öl­quel­len, schnee­be­deck­te Berg­gip­fel und brü­tend heis­se Sa­lzwüs­ten. Und nicht zu­letzt ist Iran ein Land der jun­gen Leu­te, ein äu­ßerst dy­na­mi­sches Land im Auf­bruch.

Iran ist so viel mehr als das, was wir un­se­ren Me­di­en ent­neh­men. Auf mei­nen zahl­rei­chen Rei­sen bin ich ei­nem wun­der­schö­nen Land be­geg­net mit ei­ner wech­sel­vol­len Ge­schich­te und ei­ner ein­drü­ck­li­chen Kul­tur, des­sen Men­schen, trotz al­lem, ihre an­ste­cken­de Le­bens­freu­de und den un­er­schüt­te­r­li­chen Glau­ben an das Gute nicht ver­lo­ren ha­ben.

Te­he­r­an, März 2005

An­kunft in Te­he­r­an

Sieb­zehn Jah­re lang habe ich auf die­sen Au­gen­blick ge­war­tet. Wir sit­zen in Genf in ei­ner Ma­schi­ne von Iran Air und be­rei­ten uns auf un­se­ren Ab­flug nach Te­he­r­an vor. Es ist un­se­re ers­te ge­mein­sa­me Ir­an­rei­se. Vor­schrifts­ge­mäß habe ich mir ein Kopf­tuch in de­zen­ten Fa­r­ben um­ge­bun­den und des­sen En­den fest un­ter dem Kinn ver­kno­tet.

Der Start un­se­rer Ma­schi­ne zieht sich un­nö­tig in die Län­ge, weil ein Mit­pas­sa­gier auch mehr als 40 Mi­nu­ten nach dem letz­ten Boar­ding-Auf­ruf noch nicht auf­ge­taucht ist. In­zwi­schen blät­te­re ich mit mei­nem zwei­ein­halb­jäh­ri­gen Sohn Dari­an zum ge­fühl­ten fünf­zehn­ten Mal einen Au­to­ka­ta­log von vorn bis hin­ten durch.

Eine Rei­he vor uns sit­zen mein Mann Kam­ran und un­se­re sechs­jäh­ri­ge Toch­ter Sa­mi­ra. Sie schau­en aus dem Fens­ter. Alle Ge­päck­stü­cke wer­den wie­der aus dem Flug­zeug ge­la­den und sau­ber auf dem Roll­feld auf­ge­reiht. Wahr­schein­lich ho­len sie die Kof­fer des ver­miss­ten Pas­sa­giers her­aus.

Ein­mal mehr be­schleicht mich ein mul­mi­ges Ge­fühl an­ge­sichts un­se­rer be­vor­ste­hen­den Ir­an­rei­se. Wie oft habe ich mir in den ver­gan­ge­nen Wo­chen war­nen­de Hin­wei­se an­hö­ren müs­sen! Iran, ist das nicht ge­fähr­lich? Müs­sen sich da nicht auch die aus­län­di­schen Frau­en ver­hül­len? Und hast du das Buch ge­le­sen – wie hieß das schon wie­der, von die­ser Frau, de­ren Mann ihr die Toch­ter weg­neh­men woll­te?

Na­tür­lich ist mei­nem Mann Kam­ran und mir klar, dass eine Rei­se in den Iran nicht zu ver­glei­chen ist mit ei­nem Strand­ur­laub am Mit­tel­meer. Aber Iran, das ist für uns ein Stück Hei­mat. Die Kin­der sind Halb-Ira­ner und selbst ich bin durch die Hei­rat Ira­ne­rin ge­wor­den.

Schon zu Be­ginn der Neun­zi­ger­jah­re des letz­ten Jahr­hun­derts hät­te ich den Iran lie­bend ger­ne be­reist. Ich war be­reits seit ein paar Jah­ren mit Kam­ran zu­sam­men und hat­te in mei­nem Um­feld vie­le span­nen­de Ge­schich­ten über das Land ge­hört.

Aber da­mals war es für mich nicht mög­lich den Iran zu be­su­chen. Ich be­kam kein Vi­sum, weil ich durch die Hei­rat of­fi­zi­ell ira­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge ge­wor­den war. Um einen ira­ni­schen Rei­se­pass zu be­an­tra­gen, hät­te ich al­ler­dings den Pass mei­nes Ehe­man­nes vor­le­gen müs­sen. Kam­rans Rei­se­pass war je­doch ab­ge­lau­fen und er konn­te ihn auf­grund sei­ner kom­pli­zier­ten Auf­ent­halt­sum­stän­de nicht ver­län­gern. Also muss­te ich da­mals mei­ne Rei­se­plä­ne vor­erst be­gra­ben und mich mit den Ge­schich­ten über das Land be­gnü­gen. Ir­gend­wann war Kam­ran Schwei­zer ge­wor­den und konn­te bald auch sei­nen ira­ni­schen Pass er­neu­ern.

Doch in­zwi­schen war das The­ma ‹Ir­an­rei­sen› in den Hin­ter­grund ge­rückt. Wir hat­ten Kin­der be­kom­men, ver­brach­ten un­se­re Som­mer­fe­ri­en auf Mal­lor­ca und fuh­ren im Win­ter zum Ski­lau­fen in die Ber­ge. Hin und wie­der be­such­ten uns Kam­rans El­tern in der Schweiz.

Da ich selbst in Pa­ris auf­ge­wach­sen und spä­ter in die Schweiz um­ge­zo­gen war, schien es mir von An­fang an klar, dass die Kin­der mög­lichst früh ihr zwei­tes Hei­mat­land ken­nen­ler­nen soll­ten, al­ler­dings im­mer un­ter der Vor­aus­set­zung, dass die Si­cher­heit da­bei ge­währ­leis­tet ist.

Sorg­fäl­tig ha­ben wir mit Blick auf die­se ers­te Rei­se die Vor- und Nach­tei­le ge­gen­ein­an­der ab­ge­wo­gen. Wir ha­ben ein­ge­hend die Rei­sehin­wei­se des Eid­ge­nös­si­schen De­par­te­ments für aus­wär­ti­ge An­ge­le­gen­hei­ten (EDA) stu­diert und uns um­fas­send in­for­miert. Schließ­lich ha­ben wir uns für eine kur­ze Pro­be­rei­se nach Te­he­r­an ent­schie­den, wo wir zu­sam­men mit der ira­ni­schen Fa­mi­lie das tra­di­ti­o­nel­le Neu­jahrs­fest zum Früh­jahrs­be­ginn am 21. März fei­ern wol­len.

In­zwi­schen sind die Ge­päck­stü­cke wie­der im In­nern un­se­rer Ma­schi­ne ver­staut und wir sind end­lich be­reit zum Start, be­reit für un­se­re ers­te Rei­se nach Iran.

Di­rekt­flü­ge von Zü­rich nach Te­he­r­an gibt es lei­der kei­ne mehr. Sie sind nach dem Groun­ding der Swis­sair im Jahr 2001 er­satz­los ge­stri­chen wor­den. Des­halb ha­ben wir einen Flug mit Iran Air von Genf nach Te­he­r­an ge­bucht. An Bord gel­ten be­reits die Ge­set­ze der Is­la­mi­schen Re­pu­blik. Mit pro­fes­si­o­nel­ler Stim­me hat uns die Flug­be­glei­te­rin dar­auf auf­merk­sam ge­macht, dass für die weib­li­chen Flug­gäs­te vom Ein­stieg in die Ma­schi­ne weg die Kopf­tuch­pflicht gilt.

Au­ßer­dem gibt es in der an­ge­jahr­ten Ma­schi­ne kei­ner­lei Bord­un­ter­hal­tungs­pro­gramm. Auf­grund der 1980 ge­gen das Land ver­häng­ten Wirt­schafts­sank­ti­o­nen kann Iran kei­ne neu­en Flug­zeu­ge kau­fen.

Wäh­rend die Kin­der ein Ni­cke­r­chen ma­chen, habe ich Zeit, mir zu un­se­rer be­vor­ste­hen­den Rei­se noch ein­mal Ge­dan­ken zu ma­chen. Was wird uns im Iran wohl er­war­ten? Im­mer­hin hat das Land bei uns im Wes­ten nicht eben den bes­ten Ruf. Wie wirkt sich die po­li­ti­sche Si­tua­ti­on auf das Le­ben der Men­schen aus? Und wie wer­de ich mit der frem­den Kul­tur zu­recht­kom­men? Mei­ne Ge­dan­ken schwei­fen zu den tur­bu­len­ten ge­schicht­li­chen Er­eig­nis­sen der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te zu­rück, die den All­tag der Ira­ner bis heu­te prä­gen.

In der jün­ge­ren ira­ni­schen Ge­schich­te gibt es eine Zeit vor dem 1. Fe­bru­ar 1979 und eine Zeit da­nach. Die Zeit da­vor ist die so­ge­nann­te Schah-Zeit, wie sie die Ira­ner ger­ne nen­nen. Sie fand mit der Is­la­mi­schen Re­vo­lu­ti­on 1979 ein jä­hes Ende. Die Zeit da­nach ist die Zeit der Is­la­mi­schen Re­pu­blik.

Iran schaut auf eine jahr­tau­sende­al­te, be­weg­te Ge­schich­te zu­rück. Einst war Per­si­en, wie das Land da­mals noch hieß, un­ter den Achä­me­ni­den das ers­te Welt­reich und er­streck­te sich von der heu­ti­gen Tür­kei bis nach In­di­en. Es folg­ten an­de­re Dy­nas­ti­en, wie die Se­leu­ki­den zur Zeit der Grie­chen, die Par­ther zur Zeit der Rö­mer oder die spä­te­ren Sas­sa­ni­den.

Dann, im 7. Jahr­hun­dert nach un­se­rer Zeit­rech­nung, kam die Is­la­mi­sie­rung und brach­te dem Land eine er­neu­te kul­tu­rel­le Blü­te. Doch an­dau­ern­de Macht­kämp­fe un­ter den Er­obe­rern führ­ten zum Zer­fall des ehe­ma­li­gen Groß­rei­ches.

In den fol­gen­den Jahr­hun­der­ten ras­ten Turk­völ­ker und Mon­go­len mit ih­ren be­rit­te­nen Ar­me­en durch das Land und zer­stör­te al­les auf ih­rem Weg.

Erst im 16. Jahr­hun­dert fand Per­si­en, von Is­fahan aus­ge­hend, un­ter den Sa­fa­wi­den zu ei­ner er­neu­ten kul­tu­rel­len Hoch­blü­te. Die­se war al­ler­dings nur von kur­z­er Dau­er. Mi­li­tä­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen und Schar­müt­zel blu­te­ten das Land so stark aus, dass die Af­gha­nen im frü­hen 18. Jahr­hun­dert mü­he­los ein­fal­len konn­ten und wie­der­um eine Spur der Zer­stö­rung hin­ter­lie­ßen.

Es war die Dy­nas­tie der Qa­d­ja­ren, die ver­such­te das ein­s­ti­ge Groß­reich wie­der zu­sam­men­zu­kit­ten. Doch zu­nächst trat ih­nen Russ­land ent­ge­gen, spä­ter misch­te sich auch Groß­bri­tan­ni­en in die In­nen­po­li­tik des schwä­cheln­den Rei­ches ein.

Vom einst stol­zen Per­ser­reich war nicht mehr viel üb­rig. Durch die vie­len Krie­ge war das Land voll­kom­men ver­armt, so­dass die Qa­d­ja­ren Kon­zes­si­o­nen und Mo­no­pol­rech­te etwa für die Erd­öl­ge­win­nung, das Te­le­gra­fen­we­sen, die Ban­ken oder den Ta­bak­han­del ans Aus­land ver­kau­fen muss­ten. Das Reich wur­de zum Spiel­ball aus­län­di­scher Mäch­te. Selbst die Schaf­fung ei­nes Pa­r­la­ments, so­wie die Ein­füh­rung ei­ner Ver­fas­sung 1907, brach­ten kei­ne Be­ru­hi­gung in die po­li­ti­sche Si­tua­ti­on.

Erst dem ener­gi­schen ira­ni­schen Kom­man­deur Reza Khan ge­lang es das Steu­er her­um­zu­rei­ßen. 1921 mar­schier­te er mit sei­ner Ko­sa­ken­bri­ga­de in ei­nem un­blu­ti­gen Putsch in der Haupt­stadt Te­he­r­an ein und lös­te die be­ste­hen­de Re­gie­rung auf. Zu­nächst wur­de er Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter, spä­ter Pre­mi­er­mi­nis­ter. Der letz­te Qa­d­ja­ren-Schah be­gab sich auf eine aus­ge­dehn­te Eu­r­o­parei­se, von der er nie wie­der zu­rück­kehr­te. In Ab­we­sen­heit des am­tie­ren­den Herr­schers wur­de Reza Khan 1925 vom Pa­r­la­ment zum neu­en Schah er­nannt. Er be­grün­de­te da­mit die Pahl­a­vi-Dy­nas­tie und nann­te sich fort­an Reza Schah.

Reza Schah war ein Mann der Tat. Der Iran soll­te aus der Um­klam­me­rung durch die aus­län­di­schen Mäch­te be­freit und zu ei­nem ei­gen­stän­di­gen, mo­der­nen Staat wer­den. Reza Schah ließ Stra­ßen und Ei­sen­bahn­li­ni­en er­bau­en, er re­for­mier­te das Er­zie­hungs­we­sen, schuf ein neu­es Rechts­sys­tem und kur­bel­te die Wirt­schaft an. Im Zuge die­ser Mo­der­ni­sie­rung än­der­te Reza Schah, un­ter dem Ein­fluss sei­ner deut­schen Be­ra­ter, den Staats­na­men Per­si­en in Iran um.

Aber Reza Schah war in vie­lem, was er un­ter­nahm, zu dy­na­misch. Als er bei­spiels­wei­se von ei­nem Tag auf den an­de­ren das Tra­gen ei­ner Kopf­be­de­ckung für Frau­en ver­bot, stieß er so­wohl die tra­di­ti­o­nel­le wie auch die re­li­gi­öse Be­völ­ke­rung in sei­nem Land vor den Kopf. Au­ßer­dem war Reza Schah ein glü­hen­der Na­ti­o­na­list und steck­te enor­me Sum­men in den Aus­bau der Ar­mee.

Zum Ver­häng­nis wur­den ihm schließ­lich sei­ne öf­fent­li­chen Sym­pa­thie­be­kun­dun­gen für das da­ma­li­ge Hit­ler-Deut­sch­land. Un­ter dem Druck der West­mäch­te, die in Iran noch im­mer stark prä­sent wa­ren, muss­te er 1941 ab­dan­ken und den Thron sei­nem 21-jäh­ri­gen Sohn Mo­ham­med Reza über­las­sen.

Schah Mo­ham­med Reza war schüch­tern und ganz an­ders als sein Va­ter. Un­er­fah­ren im Re­gie­ren, wur­de er zu­nächst zur Ma­ri­o­net­te der West­mäch­te. Der in der Schweiz aus­ge­bil­de­te jun­ge Mann wuchs je­doch mit den An­for­de­run­gen und bau­te nach und nach einen Staat nach sei­nen ei­ge­nen Vor­stel­lun­gen auf.

Auch er woll­te Iran so schnell wie mög­lich dem Wes­ten an­glei­chen. Lei­der blie­ben vie­le sei­ner Re­for­men tech­no­kra­ti­scher Na­tur und ka­men nur ei­ner klei­nen Eli­te des Lan­des zu­gu­te, wäh­rend die brei­te Be­völ­ke­rung kaum da­von pro­fi­tier­te.

Auch Schah Mo­ham­med Reza ließ be­reit­wil­lig zu, dass sich aus­län­di­sche Staa­ten am ira­ni­schen Erd­öl be­rei­cher­ten. Ein Ver­such des ira­ni­schen Pre­mi­er­mi­nis­ters Mos­sa­degh, die Öl­in­dus­trie zu ver­staat­li­chen, wur­de 1953 durch einen Putsch des bri­ti­schen Ge­heim­diensts MI6 und der ame­ri­ka­ni­schen CIA zu­nich­te­ge­macht. Mos­sa­degh ver­lor sei­nen Pos­ten und wur­de ver­ur­teilt. In den Her­zen der Ira­ner aber blieb er ein Volks­held.

Nach die­ser Kri­se trieb Mo­ham­med Reza die Re­for­men vor­an, in­dem er eine um­fas­sen­de Land­re­form durch­führ­te, den Frau­en das Wahl­recht er­mög­li­chen woll­te und eine breit an­ge­leg­te Bil­dungs­of­fen­si­ve ein­lei­te­te.

Dies ging al­ler­dings ins­be­son­de­re dem kon­ser­va­ti­ven Kle­rus zu weit. Ein ge­wis­ser Aya­tol­lah Cho­mei­ni be­gann im­mer lau­ter die Ab­schaf­fung der Mon­a­r­chie, so­wie die Wie­der­ein­füh­rung der is­la­mi­schen Rechts­ord­nung zu for­dern, bis er 1964 schliess­lich ins Exil ge­schickt wur­de.

Zu­gleich ent­fern­te sich der Schah mit sei­nem west­lich-mon­dä­nen Le­bens­stil im­mer wei­ter von der ei­ge­nen Be­völ­ke­rung. 1971 ließ er zum 2500-Jahr-Ju­bi­lä­um des Per­ser­rei­ches in Per­se­po­lis die da­mals wohl teu­ers­te Par­ty der Welt stei­gen. Mon­a­r­chen und il­lus­t­re Gäs­te aus al­ler Welt wur­den in eine ei­gens da­für er­rich­te­te, lu­xu­ri­öse Zelt­stadt nach Per­se­po­lis ein­ge­la­den und ex­qui­sit ver­kös­tigt mit Le­cke­rei­en wie ge­bra­te­nem Pfau, po­chier­ten Wach­te­lei­ern und mehr als 1500 Fla­schen teu­ers­ten Cham­pa­gners. Mit die­ser prot­zi­gen Fei­er woll­te der Schah sich und dem al­ten Per­ser­reich ein un­ver­gess­li­ches Denk­mal set­zen.

An­ge­sichts des an­ma­ßen­den Ver­hal­tens ih­res Herr­schers reg­te sich ins­be­son­de­re in der im­mer bes­ser aus­ge­bil­de­ten Mit­te­schicht der Wi­der­stand. Auch im Wes­ten be­ob­ach­te­te man den zu­neh­mend au­to­ri­tä­ren Füh­rungs­stil des Scha­hs mit wach­sen­dem Arg­wohn.

Schließ­lich ent­lud sich die Un­zu­frie­den­heit der Men­schen im Iran 1978 in lau­ten Pro­tes­ten auf der Stra­ße. Der Schah und sein Ge­heim­dienst lie­ßen die Auf­stän­de durch Po­li­zei und Ar­mee so­fort bru­tal nie­der­schla­gen, was je­doch die Wut der Ira­ner nur noch wei­ter schür­te.

Un­ter­stüt­zung er­hielt das zor­ni­ge Volk durch Aya­tol­lah Cho­mei­ni. Aus sei­nem Pa­ri­ser Exil mel­de­te er sich mit feu­ri­gen Re­den bei der ira­ni­schen Be­völ­ke­rung zu­rück und schür­te das re­vo­lu­ti­o­näre Feu­er. Cho­mei­ni war plötz­lich in al­ler Mun­de. Re­li­gi­öse Wür­den­trä­ger, Op­po­si­ti­o­nel­le, Un­zu­frie­de­ne, Ar­beits­lo­se, Anti-Im­pe­ri­a­lis­ten, Ma­rxis­ten und Ba­sar-Händ­ler sym­pa­thi­sier­ten mit dem Geist­li­chen und stürm­ten auf die Stra­ßen.

Der Schah ver­such­te ver­zwei­felt Ge­gen­steu­er zu ge­ben. Aber die Pro­tes­te ver­selbst­stän­dig­ten sich zu­se­hends. Der Schah hat­te ih­nen nichts mehr ent­ge­gen­zu­set­zen.

Am 16. Ja­nu­ar 1979 ver­ließ Schah Mo­ham­med Reza zu­sam­men mit sei­ner Fa­mi­lie Iran auf Nim­mer­wie­der­se­hen.

Die Men­schen auf den Stra­ßen fei­er­ten ta­ge­lang ih­ren Sieg. Wäh­rend ein paar wun­der­bar früh­lings­haf­ter Tage hing die Zu­kunft des Lan­des in der Schwe­be. Die Hoff­nung auf ein bes­se­res Le­ben weh­te wie ein fri­scher Hauch durch die Stra­ßen.

Das war die Stun­de X. Zwei Wo­chen nach­dem der Schah sein Land ver­las­sen hat­te, ent­stieg am 1. Fe­bru­ar 1979 auf dem Flug­ha­fen in Te­he­r­an Imam Cho­mei­ni in wal­len­dem Ge­wand ei­nem Jum­bo­jet der Air Fran­ce.

Mil­li­o­nen Men­schen ju­bel­ten dem da­mals 77-jäh­ri­gen, bär­ti­gen Geist­li­chen be­geis­tert zu. Zehn Tage spä­ter hat­te die Re­vo­lu­ti­on ge­siegt. Ein neu­es Ka­pi­tel in der Ge­schich­te Irans be­gann. Zwei Mo­na­te nach sei­ner An­kunft in Te­he­r­an ließ Aya­tol­lah Cho­mei­ni am 1. April 1979 die ‹Is­la­mi­sche Volks­re­pu­blik Iran› aus­ru­fen.

Im Wes­ten rieb man sich un­gläu­big die Au­gen. Auf den­sel­ben ira­ni­schen Stra­ßen, wo kurz zu­vor noch ele­gan­te Ira­ne­rin­nen mit of­fe­nen Haa­ren fla­niert wa­ren, in en­gen Jeans oder gar in Mi­ni­rock und ho­hen Pla­teau-Schu­hen, gin­gen nun in dunk­le Tscha­dors gehüll­te Frau­en.

Dann es­ka­lier­te die Si­tua­ti­on auch in­ter­na­ti­o­nal. Die USA er­laub­ten dem krebs­kran­ken Schah die Ein­rei­se in ihr Land, da­mit er sich dort be­han­deln las­sen konn­te. Te­he­r­an emp­fand dies als Af­front. Auf­ge­brach­te Stu­den­ten stürm­ten die ame­ri­ka­ni­sche Bot­schaft in Te­he­r­an und brach­ten meh­re­re Gei­seln in ihre Ge­walt. Es folg­te ein mo­na­te­lan­ges, di­plo­ma­ti­sches Tau­zie­hen zur Be­frei­ung der Gei­seln.

Un­ter dem Druck der Gei­sel­nah­me wur­de der noch im­mer in den USA wei­len­de Schah erst nach Pa­na­ma und spä­ter nach Ägyp­ten ab­ge­scho­ben, wo er im Juli 1980 sei­ner Krank­heit er­lag.

Der Sturz des pro­west­li­chen Scha­hs so­wie die an­schlie­ßen­de Grün­dung ei­ner Is­la­mi­schen Re­pu­blik hat­te das po­li­ti­sche Gleich­ge­wicht in der Re­gi­on ge­fähr­lich ins Wan­ken ge­bracht. Des­halb be­schlos­sen die West­mäch­te, al­len vor­an die USA, ge­gen den Iran Sank­ti­o­nen zu ver­hän­gen, in der Hoff­nung, das be­droh­lich wir­ken­de Re­gime mög­lichst bald in die Knie zu zwin­gen. Ira­ni­sche Ver­mö­gen im Aus­land wur­den ein­ge­fro­ren, jeg­li­cher Han­del mit dem Iran wur­de un­ter­bun­den.

Im Sep­tem­ber 1980 nutz­te zu­dem der Irak un­ter der Füh­rung Sad­dam Huss­e­ins die Gunst der Stun­de. In ei­nem Blitz­an­griff mar­schier­te er ge­gen den Iran auf und hoff­te, die schein­ba­re mo­men­ta­ne Schwä­che des Nach­barn nut­zen zu kön­nen, um sich die öl­rei­che Pro­vinz Chu­zes­tan ein­zu­ver­lei­ben.

Die jun­ge Is­la­mi­sche Re­pu­blik war je­doch nicht ge­willt, sich zu er­ge­ben. Ira­ni­sche Män­ner und Kna­ben wur­den zu Hun­dert­tau­sen­den an die Front ge­schickt. Eine gan­ze Ge­ne­ra­ti­on sta­rb in den Mi­nen­fel­dern und Schüt­zen­grä­ben an der Gren­ze zu Irak.

Jah­re­lang be­kämpf­ten sich die bei­den Kriegs­par­tei­en un­er­bitt­lich und wur­den da­bei von di­ver­sen aus­län­di­schen Mäch­ten un­ter­stützt. Doch kei­nem der bei­den Kon­tra­hen­ten ge­lang der ent­schei­den­de Sieg. Nach acht zer­mür­ben­den Kriegs­jah­ren wil­lig­ten die aus­ge­laug­ten Par­tei­en end­lich in einen Waf­fen­still­stand ein.

Hat­ten die west­li­chen Staa­ten an­fäng­lich noch ge­hofft, dass mit dem Ende des Krie­ges auch die un­be­lieb­te is­la­mi­sche Re­pu­blik bald am Ende sein wür­de, zeig­te sich jetzt, dass die neue Re­gie­rung in Te­he­r­an viel sta­bi­ler war, als an­ge­nom­men.

Der Krieg ge­gen den Irak so­wie die in­ter­na­ti­o­na­le Iso­la­ti­on hat­ten die re­li­gi­ösen An­füh­rer in­nen­po­li­tisch in ih­rer Macht ge­stärkt und Iran in sei­ner na­ti­o­na­len Iden­ti­tät ge­eint. Die­ses Land, das seit über 150 Jah­ren ein Spiel­ball der Groß­mäch­te Groß­bri­tan­ni­en, Russ­land und der USA ge­we­sen war, hat­te sich auf­ge­macht, sei­nen ei­ge­nen Weg zu ge­hen.

Nach­denk­lich schaue ich aus dem Flug­zeug­fens­ter. Drau­ßen herrscht dunk­le Nacht. Er­neut über­kom­men mich Zwei­fel: In die­ses Land wol­len wir nun also sech­zehn Jah­re nach Kriegs­en­de zu­sam­men mit un­se­ren bei­den klei­nen Kin­dern ein­rei­sen.

Aber dann bli­cke ich un­se­rer Lan­dung ent­ge­gen und las­se mich von der Neu­gier über­wäl­ti­gen. Wir ha­ben uns mehr als ge­nug Ge­dan­ken ge­macht und alle mög­li­chen Ab­klä­run­gen vor­ge­nom­men, be­vor wir den Ent­scheid ge­fällt ha­ben. Jetzt gibt es kein Zu­rück mehr.

Nach fast sechs Stun­den Flug­zeit lan­den wir kurz nach Mit­ter­nacht im al­ten Te­he­ra­ner Flug­ha­fen Mehra­bad. Der neue Flug­ha­fen im Sü­den der Stadt be­fin­det sich noch im Bau und soll erst in ein paar Jah­ren den Be­trieb auf­neh­men.

Der Flug­ha­fen Mehra­bad scheint jetzt, mit­ten in der Nacht, aus al­len Näh­ten zu plat­zen. Vor den Roll­bän­dern für die Ge­päck­aus­ga­be ha­ben sich rie­si­ge Men­schen­trau­ben ge­bil­det, die kämp­fe­risch auf ihre über­di­men­sio­nier­ten und oft schlecht ver­schnür­ten Ge­päck­stü­cke war­ten. Man­che Pas­sa­gie­re brin­gen Au­to­rei­fen, Staub­sau­ger und gan­ze Mö­bel­stü­cke aus dem Wes­ten mit. Vie­le Din­ge des täg­li­chen Ge­brauchs sind im Iran noch im­mer Man­gel­wa­re.

Doch das Ge­drän­ge vor den Ge­päck­bän­dern ist nichts im Ver­gleich zur An­kunfts­hal­le. Wir ha­ben un­se­re Kof­fer ein­ge­sam­melt und auf zwei ab­ge­sto­ße­nen, klapp­ri­gen Ge­päck-Trol­leys auf­ge­türmt. Den Wa­ren­zoll pas­sie­ren wir un­be­hel­ligt und be­tre­ten die An­kunfts­hal­le. Vor uns brei­tet sich ein un­über­blick­ba­res Meer aus Men­schen und Blu­men aus. Gan­ze Groß­fa­mi­li­en war­ten auf die im Aus­land le­ben­den Ver­wand­ten, um sie vol­ler Freu­de zu be­grü­ßen.

Kam­ran hat klu­ger­wei­se nur sei­ne El­tern über un­se­re An­kunft in­for­miert und sie an­ge­wie­sen, uns bit­te nicht ab­zu­ho­len. Wir ha­ben ein Fa­mi­li­en­zim­mer in ei­nem Ho­tel ge­bucht und wol­len uns die nö­ti­ge Zeit las­sen, in Ruhe an­zu­kom­men – nur schon we­gen der Kin­der.

So­mit schie­ben wir uns nun durch die Men­schen­mas­sen in Rich­tung Aus­gang. Erst­mals höre ich das auf­ge­reg­te per­si­sche Ge­plap­per der Men­schen. Be­kann­te Wort­fet­zen flie­gen an mei­ne Oh­ren.

«Sa­lam, wie geht es dir? Geht es dir gut? Herz­lich will­kom­men!», höre ich die ver­trau­ten Flos­keln. Bis­her war das Per­si­sche für mich und mei­nen Mann eine Art Ge­heim­spra­che ge­we­sen, de­ren wir uns be­dien­ten, wenn wir von der Um­ge­bung nicht ver­stan­den wer­den woll­ten. Aber nun tau­che ich ein in ein Sprach­bad und die Ge­heim­spra­che ist plötz­lich all­ge­gen­wär­tig.

Der Platz vor der Ab­flug­hal­le ist hell er­leuch­tet. Der durch­drin­gen­de Duft von Ke­ro­sin und Ab­gas­en emp­fängt uns in der lau­en Früh­lings­nacht. Un­ter den Bäu­men war­ten end­lo­se Ta­xi­rei­hen. Kam­ran ver­han­delt, Ge­päck­stü­cke wer­den ver­la­den, dann wer­den wir in einen Wa­gen ge­scho­ben und schon brau­sen wir da­von.

Die nächt­li­che Ta­xi­fahrt durch die Stadt bringt uns zu un­se­rem Ho­tel im nörd­li­chen Te­he­r­an. Ein zwei­ter Wa­gen mit un­se­ren Kof­fern folgt dicht hin­ter uns.

Kam­ran zeigt mir un­ter­wegs den frü­he­ren Mey­dan-e 24-Es­fand, der seit 1979 Mey­dan-e Eng­he­lab heißt – Platz der Re­vo­lu­ti­on. Er un­ter­schei­det sich um die­se Uhr­zeit kaum von ir­gend­ei­nem Platz in ei­ner an­de­ren Me­tro­po­le: groß, dun­kel, ver­las­sen. Dann fah­ren wir die be­kann­te, pla­ta­nen­ge­säum­te Vali-Asr-Stra­ße ent­lang nach Nor­den. Die­se wich­ti­ge Ver­kehrs­ach­se hat­te vor der Re­vo­lu­ti­on noch stolz Pahl­a­vi-Stra­ße ge­hei­ßen.

In der Dun­kel­heit kann ich knapp die be­rühm­ten Pla­ta­nen auf den Geh­stei­gen aus­ma­chen. Als un­ser Wa­gen end­lich an­hält und wir ausstei­gen, müs­sen wir als Ers­tes über den Stra­ßen­gra­ben sprin­gen. Dar­in spru­delt fri­sches Was­ser von den nörd­lich der Stadt ge­le­ge­nen Ber­gen.

Beim Aus­la­den un­se­rer Ge­päck­stü­cke aus dem Taxi er­hal­te ich, trotz der frü­hen Mor­gen­stun­de, eine ers­te Iran-Lek­ti­on: Für eine Frau ge­hört es sich nicht, beim Aus­la­den des Ge­päcks mit­an­zu­pa­cken. Die bei­den Ta­xi­fah­rer wir­ken ziem­lich ir­ri­tiert, als ich mei­nen Kof­fer er­grei­fen will. Zu­dem wird mir im sel­ben Au­gen­blick klar, dass ich schnell ler­nen soll­te, mich vor­sich­ti­ger zu be­we­gen, da­mit das Kopf­tuch nicht her­un­ter­rutscht.

Also hole ich den schla­fen­den Dari­an aus dem Wa­gen und grei­fe nach Sa­mi­ras Hand. Ich war­te un­tä­tig auf dem Geh­steig dar­auf, dass un­ser Ge­päck ins Ho­tel ge­bracht wird und die Fah­rer ihr Geld be­kom­men. Dann be­tre­ten wir die nächt­li­che Ho­tel­lob­by.

Eine ele­gan­te, stark ge­schmink­te Dame mit Kopf­tuch und Deux­piè­ces be­grüßt uns in der mo­der­nen und mit viel Mar­mor aus­ge­stat­te­ten Re­zep­ti­on und nimmt un­se­re Per­so­na­li­en auf. Ich ste­he die gan­ze Zeit mit Dari­an auf dem Arm hin­ter Kam­ran und lau­sche dem Ge­spräch.

End­lich sind alle For­ma­li­tä­ten er­le­digt. Das Ge­päck ist nicht mehr zu se­hen und ich fol­ge Kam­ran zum Lift hin­auf in un­se­re Fa­mi­li­en­sui­te. Es ist al­les vor­be­rei­tet. Im Wohn­zim­mer ist das Sofa aus­ge­zo­gen und in ein Bett ver­wan­delt wor­den. Schnell wechs­le ich Dari­an die Win­deln und zie­he den Kin­dern den Py­ja­ma über. Schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten schlum­mern sie fried­lich auf dem Bett­so­fa.

Auch wir sind müde und sin­ken in un­se­re Bet­ten. Es ist halb drei Uhr mor­gens.

Das Ta­ges­licht dringt durch die dün­nen Vor­hän­ge ins Zim­mer. Wir ha­ben ein paar Stun­den ge­schla­fen. Es dau­ert einen Au­gen­blick, bis ich be­grei­fe, wo ich bin. So­fort bin ich hell­wach.

Lei­se schlei­che ich zum Fens­ter und schie­be er­war­tungs­voll den Vor­hang zur Sei­te. Auf die­sen Mo­ment habe ich so lan­ge ge­war­tet. Das Ers­te, was ich von Te­he­r­an er­bli­cke, ist eine Haus­wand dicht vor un­se­rem Zim­mer­fens­ter. Das Fens­ter geht auf einen en­gen In­nen­hof, und selbst wenn ich den Hals wen­de und stre­cke, ge­lingt es mir nicht, einen ers­ten Blick auf die Stadt zu er­ha­schen.

So zie­hen wir uns und die Kin­der schnell an, da­mit wir das Aben­teu­er end­lich in An­griff neh­men kön­nen.

Vor­schrifts­ge­mäß schlüp­fe ich in mei­ne lan­ge, schwa­r­ze Ja­cke und lege mir mein Sei­den­kopf­tuch um, be­vor wir mit dem Lift zum Früh­stücks­raum im obers­ten Ge­schoss des Ho­tels fah­ren. Raum­ho­he Fens­ter las­sen viel Ta­ges­licht her­ein. Pe­trol­fa­r­be­ne Samt­vor­hän­ge mit gol­de­nen Mus­tern ver­lei­hen dem Raum eine ge­die­ge­ne At­mo­sphä­re.

Jetzt eile ich zum Fens­ter, bli­cke neu­gie­rig hin­aus und hin­un­ter auf ein Häu­ser­meer, ein nicht en­den wol­len­des Häu­ser­meer, das ir­gend­wo im Dunst des Smogs mit dem Ho­ri­zont ver­schmilzt.

Wie oft habe ich am Fern­se­hen ähn­li­che Bil­der ge­se­hen: Häu­ser, schmuck­los, funk­ti­o­nal, die meis­ten von ih­nen ge­sichts­los, ohne er­kenn­ba­re oder nen­nens­wer­te ar­chi­tek­to­ni­sche Ge­stal­tung. Die Fas­sa­den sind grau von den Ab­gas­en und ha­ben Fens­ter, de­nen man an­sieht, dass sie nicht dicht schlie­ßen. Auf den Flach­dä­chern steht ein Wald aus Fern­seh­an­ten­nen und Kli­ma­ge­rä­ten. Ich zie­he die Luft tief ein. Der Smog ist auch hier drin­nen all­ge­gen­wär­tig.

Das also ist Te­he­r­an! Haupt­stadt Irans, Hei­mat­stadt mei­nes Man­nes, Re­si­denz­stadt ei­nes ehr­gei­zi­gen Scha­hs, Schau­platz ei­ner bru­ta­len Is­la­mi­schen Re­vo­lu­ti­on, Ziel ira­ki­scher Bom­ben­an­grif­fe und pul­sie­ren­de Me­tro­po­le mit ei­ner Ge­samt­be­völ­ke­rung von mitt­ler­wei­le ge­gen 14 Mil­li­o­nen Ein­woh­ner.

Wir set­zen uns an einen schön ge­deck­ten Tisch mit Aus­sicht auf die Stadt und ich pa­cke das aus der Schweiz mit­ge­brach­te Nu­tel­la-Glas aus mei­ner Hand­ta­sche. Die Kin­der be­kom­men leuch­ten­de Au­gen. Viel­leicht ist es gut, wenn zu ih­rem ers­ten Früh­stück in Iran zu­min­dest et­was Ver­trau­tes auf den Tisch be­kom­men, das ih­nen si­cher schmeckt.

Ich füh­le mich vol­ler Ta­ten­drang und bin un­end­lich neu­gie­rig auf die­se Stadt, auf das, was uns er­war­tet. Gleich nach dem Früh­stück geht es los. Zu­sam­men mit un­se­ren bei­den Kin­dern fin­de ich mich bald er­neut auf der et­was schmud­de­lig wir­ken­den Rü­ck­bank ei­nes Pay­kan-Ta­xis wie­der. Es gibt kei­ne Si­cher­heits­gur­te, und wäh­rend der Fah­rer das Letz­te aus sei­nem al­ten Wa­gen her­aus­holt, den­ke ich stän­dig an un­se­re Kin­der­sit­ze, die wir im Ho­tel zu­rück­las­sen muss­ten.

Mit viel Auf­wand ha­ben wir die Sit­ze aus der Schweiz mit­ge­bracht. Aber ganz of­fen­sicht­lich gibt es hier auf den Rück­sit­zen noch kei­ne Si­cher­heits­gur­te.

Nun sit­ze ich also in die­sem Wa­gen, des­sen Fah­rer sich wie im Opi­um­rausch durch den wil­des­ten, dich­tes­ten und chao­tischs­ten Ver­kehr kämpft, den ich je ge­se­hen habe. Mein west­li­cher Ver­stand bom­bar­diert mich da­bei un­auf­hör­lich mit Ge­wis­sens­fra­gen: War es tat­säch­lich ver­ant­wor­tungs­voll, mit zwei klei­nen Kin­dern in den Iran zu rei­sen, bloß um sie hier das Neu­jahrs­fest er­le­ben zu las­sen? Lohnt sich das Ri­si­ko? Oder soll­ten wir die Übung ab­bre­chen und so­fort wie­der nach Hau­se flie­gen?

Die Kin­der schau­en in­des­sen mit gro­ßen Au­gen aus dem Fens­ter. Sie neh­men das Le­ben, wie es sich ih­nen prä­sen­tiert, und sind of­fen für al­les. Viel­leicht soll­te ich mir an ih­nen ein Bei­spiel neh­men und mich ent­span­nen.

Wäh­rend wir durch die Stra­ßen Te­he­r­ans ra­sen, tauscht sich Kam­ran mit dem Fah­rer über die Ver­än­de­run­gen in der Stadt aus. Ich höre Stra­ßen­na­men, die ich aus Bü­chern und Er­zäh­lun­gen ken­ne, und ver­su­che, die neu­en In­for­ma­ti­o­nen mit den Bil­dern, die sich mir bie­ten, zu­sam­men­zu­brin­gen und ein­zu­ord­nen.

Un­se­re Fahrt geht nach Nordte­he­r­an, wo sich die bes­se­ren Quar­tie­re be­fin­den. Ziel ist eine La­den­pas­sa­ge, in der wir für die Kin­der, wie es Brauch ist, neue Klei­der kau­fen wol­len für das be­vor­ste­hen­de Neu­jahrs­fest, da­mit sie frisch ein­ge­klei­det ins neue Jahr star­ten kön­nen.

Auf ei­nem gro­ßen Platz hält un­ser Wa­gen an. Kam­ran be­zahlt den Fah­rer für sei­ne le­bens­ge­fähr­li­chen Diens­te, wäh­rend ich mich und die Kin­der rasch auf dem Geh­steig in Si­cher­heit brin­ge. Der Him­mel ist grau ver­han­gen, den­noch kann ich in der Fer­ne die ver­schnei­ten Berg­gip­fel des El­burs-Ge­bir­ges er­ken­nen, an des­sen Flan­ken die Haupt­stadt liegt.

Te­he­r­an liegt zwi­schen 1100 und 1700 Me­tern über Meer. Der tie­fe­r­lie­gen­de, süd­li­che Teil der Stadt grenzt an das zen­tra­li­ra­ni­sche Wüs­ten­land. In Südte­he­r­an woh­nen är­me­re Leu­te, vie­le von ih­nen zu­ge­wan­dert aus den Pro­vin­zen, um in der mo­der­nen Haupt­stadt ihr Glück und ein Aus­kom­men zu su­chen.

Nach Nor­den steigt das Ge­län­de an bis zum Fuß des El­burs-Ge­bir­ges. In Nordte­he­r­an ist die Luft küh­ler und sau­be­rer. Hier fin­den sich die von den Wohl­ha­ben­den be­vor­zug­ten Wohn­quar­tie­re.

Beim Ein­gang zur La­den­pas­sa­ge tref­fen wir uns mit Kam­rans Va­ter Ha­med. Kam­rans Mut­ter Firuz­eh ist zu Hau­se ge­blie­ben, um die Woh­nung vor dem Neu­jahrs­fest fer­tig zu rei­ni­gen. Der Brauch will es, dass für den Früh­lings­an­fang und den Be­ginn des neu­en Jah­res al­les sau­ber und frisch ge­macht wird, von den Klei­dern bis zur Be­hau­sung.

Der Klei­der­kauf ge­stal­tet sich nicht all­zu schwie­rig. Vor dem Neu­jahr de­cken sich alle ira­ni­schen Fa­mi­li­en mit neu­er Klei­dung ein und die Lä­den über­trump­fen sich ge­gen­sei­tig in An­ge­bot und Aus­wahl.

Schon bald ste­hen wir in ei­ner Kin­der­klei­der-Bou­tique in­mit­ten ei­ner rie­si­gen Aus­wahl an Spit­zen- und Tüll­kleid­chen in al­len nur er­denk­li­chen Fa­r­ben. Sa­mi­ra kann ihr Glück kaum fas­sen. Es ist wie im Mär­chen. Erst nach ei­ni­gem Hin und Her kann sie sich schließ­lich für einen him­mel­blau­en Traum aus flie­ßend-luf­ti­gem Stoff ent­schei­den. Der wei­te Rock ist über und über mit wei­ßen Blüm­chen be­stickt. Dazu gibt es ein pas­sen­des Cape mit ech­tem, wei­ßem Fe­der­be­satz. Dari­an da­ge­gen wird mit ei­nem schi­cken grau-ka­rier­ten Hemd aus bes­ter Baum­wol­le so­wie ei­ner fa­rb­lich as­sor­tier­ten Car­go-Hose aus­ge­stat­tet.

In ei­nem Schuh­la­den, des­sen Schau­fens­ter förm­lich über­quillt, er­ste­hen wir ein Paar Schu­he aus schwa­r­zem Le­der für Dari­an. Sa­mi­ra be­kommt weiß-pin­ke Turn­schu­he mit Blink­licht in der Soh­le. Die­se sind im Iran, ge­nau­so wie in Eu­r­o­pa, zur­zeit ab­so­lut an­ge­sagt.

Nach dem er­folg­rei­chen Neu­jahr­sein­kauf set­zen wir uns er­neut in ein Taxi. Mein Schwie­ger­va­ter und der Fah­rer ver­su­chen sich un­ter Aus­tausch end­lo­ser Höf­lich­kei­ten ge­gen­sei­tig über den Tisch zu zie­hen, bis sie sich schließ­lich auf einen ak­zep­ta­blen Fahr­preis ei­ni­gen und wir die Fahrt zur gro­ß­el­ter­li­chen Woh­nung an­tre­ten kön­nen.

Ich ver­su­che, auf der lan­gen Fahrt mei­ne ers­ten Ein­drü­cke zu ord­nen. Ja, der Smog ist all­ge­gen­wär­tig. Und ja, der Ver­kehr ist ab­so­lut chao­tisch und furcht­ein­flö­ßend. Zu je­nem Zeit­punkt weiß ich al­ler­dings noch nicht, dass je­weils halb Te­he­r­an zum Neu­jahrs­fest ver­reist und die Stadt dem­nach so­gar un­ge­wöhn­lich ru­hig ist.

Die nächs­te Über­ra­schung war­tet aber schon. Kam­ran hat­te kurz vor un­se­rer Rei­se er­wähnt, dass sei­ne El­tern um­ge­zo­gen sei­en. Sie wür­den nun nicht mehr in ih­rem al­ten Haus woh­nen, son­dern hät­ten eine neue Woh­nung be­zo­gen. Sie plan­ten, das alte Haus ab­zu­rei­ßen und an sei­ner Stel­le einen Neu­bau mit drei Woh­nun­gen so­wie ei­nem La­den zu er­stel­len, so wie es nun über­all in Te­he­r­an üb­lich sei.

In den Jah­ren nach der Is­la­mi­schen Re­vo­lu­ti­on ist die Be­völ­ke­rung förm­lich ex­plo­diert. Die Ge­bur­ten­ra­te stieg nach 1980 auf 6,5 Kin­der pro Frau. Die Fol­ge da­von ist, dass jetzt, im Jahr 2005, 70 Pro­zent der Be­völ­ke­rung un­ter 25 Jah­re alt sind!

Dies hat na­tür­lich zu ei­ner mas­si­ven Woh­nungs­ver­knap­pung ge­führt. Seit ein paar Jah­ren ist der Im­mo­bi­li­en­markt in Te­he­r­an völ­lig über­hitzt. Wer et­was Geld zur Ver­fü­gung hat, baut Woh­nun­gen und ver­kauft die­se mit ei­nem sat­ten Ge­winn wei­ter. Alle ma­chen das so. Auch Schwie­ger­va­ter Ha­med will spä­ter zwei der Woh­nun­gen ver­kau­fen und den La­den ver­mie­ten, um sei­ne Ren­te auf­zu­bes­sern.

Im ers­ten Au­gen­blick bin ich ent­täuscht, dass Kam­rans El­tern nicht mehr im al­ten Haus woh­nen, in wel­chem Kam­ran auf­ge­wach­sen ist. So lan­ge hat­te ich dar­auf ge­war­tet, es end­lich zu se­hen. Aber spä­tes­tens, nach­dem ich erst die neue Woh­nung und spä­ter das alte Haus ge­se­hen habe, wird mir klar, ich soll­te dank­bar sein, dass sie nicht mehr dar­in woh­nen. Was Kam­ran mir aus sei­ner Er­in­ne­rung als In­be­griff fa­mi­li­ärer Ge­müt­lich­keit be­schrie­ben hat­te, ist ein sehr klei­nes und un­prak­ti­sches Häus­chen an ei­ner brei­ten Stra­ße und in­zwi­schen völ­lig her­un­ter­ge­kom­men.

Vol­ler Stolz zeigt uns Kam­rans Mut­ter nach der Be­grü­ßung die neue Woh­nung, wel­che sie bis zur Fer­tig­stel­lung des Neu­baus auf ih­rer Pa­r­zel­le be­woh­nen wer­den. Wir be­wun­dern das gro­ße Wohn­zim­mer mit sei­nen zwan­zig Ses­seln im Stil Louis XVI, das schi­cke Che­mi­née, ge­schmückt mit Fa­mi­li­en­fo­tos und üp­pi­gen Kunst­blu­men-Ar­ran­ge­ments, die auf­wän­di­ge Stuck­de­cke, die mo­der­ne Kü­che mit ame­ri­ka­ni­schem Kühl­schrank so­wie die bei­den Ba­de­zim­mer, be­stückt ein­mal mit ira­ni­scher und ein­mal mit west­li­cher Toi­let­te.

Die Woh­nung ver­fügt zu­dem über zwei Schlaf­zim­mer und ich las­se mich ger­ne dazu über­re­den, dass wir spä­ter un­se­re Sa­chen aus dem Ho­tel ho­len und uns hier ein­quar­tie­ren. Der Ent­scheid fällt mir umso leich­ter, als wir uns so die end­los lan­gen Ta­xi­fahr­ten zwi­schen Ho­tel und el­ter­li­cher Woh­nung ohne Kin­der­sitz und Si­cher­heits­gur­ten spa­ren kön­nen.

Noruz

Das per­si­sche Neu­jahr, Noruz ge­nannt, wird um den 21. März her­um ge­fei­ert und rich­tet sich nach dem as­tro­no­mi­schen Früh­lings­an­fang. Die­ses Jahr fin­det er be­reits am 20. März statt, um ge­nau 18.03 Uhr.

Das Früh­lings- und Neu­jahrs­fest ist das wich­tigs­te Fest in Iran und geht auf eine vo­ris­la­mi­sche Tra­di­ti­on zu­rück. Schon die al­ten Per­ser um 550 v. Chr. fei­er­ten den Be­ginn ih­res neu­en Jah­res mit dem as­tro­no­mi­schen Früh­lings­an­fang, wenn die Na­tur zu neu­em Le­ben er­wacht. Selbst bald 1500 Jah­re is­la­mi­sche Vor­herr­schaft konn­ten dem Brauch nicht viel an­ha­ben – die Ira­ne­rin­nen und Ira­ner lie­ben ihr Früh­lings­fest.

Dem ei­gent­li­chen Fest geht eine Zeit der Rei­ni­gung, des Los­las­sens und der Ver­söh­nung vor­aus. Man geht auf den Fried­hof und be­sucht die Grä­ber der Ver­stor­be­nen, zer­strit­te­ne Fa­mi­li­en­mit­glie­der schlie­ßen Frie­den und man lässt al­ten Groll los. In die­ser Zeit wer­den die Häu­ser gründ­lich ge­putzt und schließ­lich klei­det man sich neu ein, um als ge­rei­nig­ter, fri­scher Mensch ins neue Jahr zu tre­ten.

Die vor­an­ge­hen­den Ri­tu­a­le wie Tsch­a­har-Schan­beh-Suri ha­ben wir lei­der ver­passt. An die­sem Tag ver­sam­meln sich die Leu­te auf der Stra­ße um klei­ne Feu­er her­um und sprin­gen, dem Brauch ge­hor­chend, dar­über, um sich zu rei­ni­gen.

Der jetzt be­vor­ste­hen­de, ei­gent­li­che Hö­he­punkt des Fes­tes ist so et­was wie Weih­nach­ten und Sil­ves­ter zu­gleich. Er wird in aus­ge­las­se­ner Stim­mung, mit Gra­tu­la­ti­o­nen und vie­len gu­ten Wün­schen be­gan­gen. Im Zen­trum der Fei­er steht kein Weih­nachts­baum, son­dern das So­freh-ye haft-sin, das Tisch­tuch der sie­ben Glücks­brin­ger.

Schwie­ger­mut­ter Firuz­eh hat be­reits al­les da­für vor­be­rei­tet. Auf dem gro­ßen, re­prä­sen­ta­ti­ven Louis XVI-Tisch im Wohn­zim­mer liegt auf der einen Hälf­te ein tra­di­ti­o­nell be­druck­tes Tisch­tuch. Dar­auf fin­den sich min­des­tens sie­ben Sa­chen, de­ren Na­men alle mit ei­nem ‹S› be­gin­nen.

Auf je­den Fall ge­hört dar­auf das Sab­zeh. Das sind grü­ne Wei­zen- oder Lin­sen­spros­sen, wel­che die er­fah­re­ne per­si­sche Haus­frau recht­zei­tig und un­ter An­wen­dung al­ler mög­li­chen über­lie­fer­ten Tricks ge­nau zum rich­ti­gen Zeit­punkt zum Kei­men bringt. Die Spros­sen kom­men auf ei­nem ed­len Tel­ler, um­schlun­gen mit ei­ner Schlei­fe aus ro­tem Sa­tin, auf den Neu­jahrs­tisch.

Wei­ter hat Firuz­eh as­sor­tier­te Schüs­sel­chen ab­ge­füllt mit So­magh, ei­nem Ge­würz für Gril­la­den, Send­jed, den Bee­ren des Ole­a­s­ter­bau­mes, Sa­ma­nu, ei­ner süß­li­chen Pas­te aus ein­ge­koch­tem Wei­zen und Ser­ke, her­kömm­li­chem Es­sig. Auf wei­te­ren pas­sen­den klei­nen Tel­lern lie­gen ein paar Äp­fel (Sib), Knob­lauch (Sir), ein paar ech­te Gold­mün­zen (Sek­ke) so­wie ein Ko­ran in Mi­nia­tur­aus­ga­be.

Doch noch fehlt auf un­se­rem Tisch ei­nes der wich­tigs­ten ‹Ac­ces­soires›. Des­halb ma­chen sich Kam­ran und sein Va­ter auf den Weg, um eine Son­bol, eine Hya­zin­the, auf­zu­trei­ben. De­ren be­tö­ren­der Duft darf auf kei­nen Fall feh­len.

Wäh­rend also die Män­ner noch­mals nach drau­ßen ge­hen, lockt Oma Firuz­eh die bei­den Kin­der in die Kü­che. Sie holt eine gro­ße Glas­schüs­sel in Form ei­nes Fi­sches aus ei­nem Kü­chen­schrank. Dann bringt sie vom Bal­kon einen Plas­tik­beu­tel in die Kü­che, in dem zwei Gold­fi­sche schwim­men. Die Kin­der sind ent­zückt.

Die Groß­mut­ter füllt das fisch­för­mi­ge Aqua­ri­um mit Was­ser und ent­lässt die bei­den rot-oran­gen Ge­fan­ge­nen aus ih­rem klei­nen Sack­ge­fäng­nis ins Aqua­ri­um. Dari­an folgt ge­bannt je­der Be­we­gung der Tie­re und hat wäh­rend des gan­zen Abends kaum noch Au­gen für et­was an­de­res. Auch die bei­den Gold­fi­sche ge­hö­ren als Glücks­brin­ger auf das Neu­jahrs­tisch­tuch.

Schließ­lich keh­ren kurz nach 17 Uhr Kam­ran und Ha­med zu­rück und stel­len zwei Hya­zin­then auf den Tisch, eine mit wei­ßen und eine mit vi­o­let­ten Blü­ten. So­fort ver­brei­tet sich der in­ten­si­ve Duft nach Früh­ling, nach Noruz, im Wohn­zim­mer.

Nun holt Opa Ha­med aus sei­nem Büro ein di­ckes Bün­del druck­fri­scher Geld­schei­ne. Ähn­lich wie wir Ge­schen­ke un­ter den ge­schmück­ten Weih­nachts­baum le­gen, legt Ha­med die Geld­schei­ne nun auf den letz­ten lee­ren Tel­ler auf dem Neu­jahrs­tisch. Die Kin­der ma­chen wie­der­um gro­ße Au­gen, denn sie ha­ben noch nie so vie­le Geld­schei­ne aufs Mal ge­se­hen.

Jetzt ist das So­freh-ye haft-sin kom­plett. Das Nacht­es­sen gart auf dem Herd, der Tee bro­delt im Kes­sel vor sich hin und auf dem Sa­lon­tisch thro­nen Ber­ge von Nuss­mi­schun­gen, Bis­kuits, Gaz (Nou­gat) und Sü­ßig­kei­ten.

Plötz­lich hö­ren wir Lärm auf der Stra­ße. Rasch ren­nen Kam­ran und Ha­med auf den Bal­kon und ru­fen uns her­bei. Ha­d­ji-Firuz treibt un­ten auf der Stra­ße sein Un­we­sen. Neu­gie­rig eile ich eben­falls auf den Bal­kon, wer­de je­doch so­fort von Firuz­eh zu­rück­ge­zo­gen: ohne Kopf­tuch darf ich drau­ßen nicht ge­se­hen wer­den. Das ist mir in der Auf­re­gung völ­lig ent­gan­gen. Also zie­he ich mir rasch das Kopf­tuch über und flit­ze zu­rück auf den Bal­kon, um noch einen letz­ten kur­z­en Blick auf die rot­ge­klei­de­te Firuz-Ge­stalt zu wer­fen.

Lei­der zu spät! Ha­d­ji-Firuz ist schon wei­ter­ge­zo­gen. An­geb­lich soll er un­se­rem Weih­nachts­mann äh­neln, bloß dass er einen gro­ßen Ma­gi­er­hut auf­hat. Er zieht durch die Stra­ßen und un­ter­hält die Leu­te mit Spott­ver­sen, wor­auf er von ih­nen eine Geld­s­pen­de er­hält.

In­zwi­schen ist es fast Zeit für den Jah­res­wech­sel. Wir ha­ben die­ses Jahr Glück, dass er zu ei­ner an­ge­neh­men Ta­ges­zeit statt­fin­det. Manch­mal fällt er mit­ten in die Nacht. Dann ste­hen die Leu­te zur tiefs­ten Schla­fens­zeit wie­der auf, zie­hen sich ihre neu­en Klei­der an und er­war­ten die An­kunft des neu­en Jah­res.

Kurz vor 18.03 Uhr ver­sam­meln wir uns um das So­freh-ye-haft-sin. Ha­med schal­tet den Fern­se­her ein, wo eine rie­si­ge Uhr mit Se­kun­den­zei­ger zu se­hen ist und wir ver­fol­gen ge­bannt den Count­down. Mit lau­tem Ju­bel be­grü­ßen wir end­lich das neue Jahr 1383.

Wir sto­ßen nicht mit Cham­pa­gner an, das ist auch gar nicht nö­tig. Von der Stra­ße her er­tönt eben­falls fro­her Ju­bel. Wir be­glü­ck­wün­schen uns zum neu­en Jahr, um­ar­men uns und wün­schen uns ge­gen­sei­tig al­les Gute. Dann be­ginnt das Te­le­fon zu läu­ten und hört den gan­zen Abend lang nicht mehr auf, weil alle al­len zum neu­en Jahr gra­tu­lie­ren möch­ten.

Da­zwi­schen geht Opa Ha­med zum Neu­jahrs­tisch und nimmt das di­cke No­ten­bün­del vom Tel­ler. Nun macht sich der Groß­va­ter dar­an, für je­des der Kin­der einen Sta­pel Schei­ne ab­zu­zäh­len. Die Ira­ner sind äu­ßerst ge­schickt dar­in, dies schnell und ef­fi­zi­ent zu tun, denn bei den herr­schen­den Wa­ren­prei­sen, wo ei­nem schwin­de­lig wird von den vie­len Nul­len, ge­hört das Ab­zäh­len der Geld­schei­ne zu ei­ner der wich­tigs­ten Fer­tig­kei­ten im Ge­schäfts­all­tag. In den Au­gen der Kin­der ist Opa Ha­med bei­na­he ein Zau­be­rer, weil er so flink mit den Schei­nen um­zu­ge­hen weiß.

Schließ­lich drückt er je­dem Kind ein No­ten­bün­del in die Hand. Kam­ran er­klärt ih­nen, dass dies ihr Neu­jahrs­geld sei, das sie nach Lust und Lau­ne aus­ge­ben dürf­ten, um sich et­was zu kau­fen, das ih­nen Freu­de be­rei­tet.

Na­tür­lich ver­steht der klei­ne Dari­an den Wert der Schei­ne noch nicht, aber er ist sehr be­ein­druckt vom di­cken Sta­pel, den er in den Hän­den hält.

Dann trägt Oma Firuz­eh das köst­li­che Chor­me­sab­zi auf, das aus fri­schen Kräu­tern, ro­ten Boh­nen, Lamm­fleisch­stü­cken und ge­trock­ne­ten Li­mo­nen zu­be­rei­tet wird. Das Ge­richt muss lan­ge schmo­ren und schmeckt am zwei­ten Tag meist noch bes­ser als am ers­ten.

Nach dem Es­sen brin­gen wir die Kin­der rasch ins Bett. Kam­ran und ich fah­ren an­schlie­ßend noch­mals ins Ho­tel, um un­se­re Sa­chen zu pa­cken und aus­zuch­e­cken.

Als wir gute vier Stun­den spä­ter in un­se­re Bet­ten sin­ken, schla­fen die Kin­der tief und fest. Ich lege mich auf eine Ma­trat­ze zwi­schen sie und höre ih­rem ru­hi­gen Atem zu. Drau­ßen rauscht der im­mer­wäh­ren­de Te­he­ra­ner Ver­kehr, durch das un­dich­te Fens­ter des Neu­baus bläst ein küh­ler Luft­zug und streift mein Ge­sicht.

Dies war also un­ser ers­ter Tag in Te­he­r­an. Nun lie­ge ich hier zwi­schen mei­nen Kin­dern, und ob­schon es et­was eng und nicht ganz so be­quem ist wie un­se­re Sui­te im Ho­tel, so ist es doch viel ge­müt­li­cher. Au­ßer­dem bin ich heil­froh, dass uns manch eine hals­bre­che­ri­sche Ta­xi­fahrt er­spart bleibt.

Für die Kin­der­sit­ze ha­ben wir noch im­mer kei­ne Lö­sung ge­fun­den. Aber die Zwei­fel, die mich am Mor­gen über­kom­men hat­ten, wei­chen im Halb­schlaf all­mäh­lich der Er­schöp­fung und schließ­lich schla­fe auch ich ein.

Ich träu­me von ra­sen­den Ta­xi­fahr­ten, von Ha­d­ji-Firuz, der lär­mend durch die Stra­ßen zieht und da­zwi­schen von ori­en­ta­lisch an­mu­ten­dem Männer­ge­sang. Erst spä­ter wird mir klar, dass dies der Ruf des Mu­ez­zins zum Mor­gen­ge­bet war, der sich in mei­ne Träu­me ge­schli­chen hat.

Als wir auf­wa­chen, ist es im Zim­mer be­reits tag­hell. Jetzt brau­chen wir ein gu­tes Früh­stück, dann sind wir be­reit für un­se­re nächs­ten Er­leb­nis­se. Heu­te wer­de ich wei­te­re Mit­glie­der aus Kam­rans gro­ßer Fa­mi­lie ken­nen­ler­nen.

Bei Reza

Nach dem Fest ste­hen die Neu­jahrs­be­su­che an. Wäh­rend zwölf Ta­gen wer­den sich die Fa­mi­li­en ge­gen­sei­tig be­su­chen, bis schließ­lich am drei­zehn­ten Tag nach Neu­jahr der Früh­ling mit dem Sis­dah-be-dar end­gül­tig ein­ge­läu­tet wird.

Sis­dah-be-dar, der drei­zehn­te Tag nach Neu­jahr, ist Pick­nick­tag. An die­sem Tag darf man nicht zu Hau­se blei­ben, weil an­geb­lich Geis­ter das Haus heim­su­chen. Die Frau­en be­rei­ten ein üp­pi­ges Pick­nick vor mit Ko­te­letts (Hack­fleisch­küch­lein) und Sa­lad-e Ol­vieh, ei­ner Art rus­si­schem Sa­lat. Dann wird die gan­ze Fa­mi­lie ins Auto ge­pfercht und jene Be­woh­ner von Te­he­r­an, die nicht oh­ne­hin schon zu Ver­wand­ten ver­reist sind, fah­ren in den Park oder in die Ber­ge. Dort wer­den Sitz­de­cken aus­ge­brei­tet, es wird ge­grillt und ge­fei­ert, na­tür­lich im­mer in der Groß­fa­mi­lie, und alle ver­brin­gen zu­sam­men einen wun­der­ba­ren Tag an der fri­schen Luft. Das Sab­zeh, die Wei­zen- oder Lin­sen­spros­sen, nimmt man eben­falls mit und über­gibt es fei­er­lich ei­nem flie­ßen­den Ge­wäs­ser, als sym­bo­li­sche Hand­lung, da­mit das Le­ben im Fluss bleibt.

Bis zum Sis­dah-be-dar wer­den wir lei­der nicht in Iran blei­ben, doch wir ha­ben zu­min­dest ge­nug Zeit für ei­ni­ge Neu­jahrs­be­su­che. Die­se Be­su­che ver­lau­fen nach ge­nau­en Vor­ga­ben, und zwar sol­len je­weils die jün­ge­ren Fa­mi­li­en­mit­glie­der zu­erst die äl­te­ren be­su­chen.

Jede Fa­mi­lie hat schon vor dem Neu­jahrs­fest für die Be­su­che vor­ge­sorgt und fri­sche Früch­te, so­wie ge­rös­te­te Pi­sta­zi­en, Kür­bis- und Son­nen­blu­men­ker­ne ein­ge­kauft und al­les in Scha­len ab­ge­füllt. Die Haus­frau hält stän­dig einen Krug mit fri­schem Tee auf dem Sa­mo­war be­reit. Wenn Gäs­te kom­men, kann sie so­fort ser­vie­ren. Das sil­ber­ne Ta­blett mit den Tee­glä­sern steht meist auch schon da­ne­ben.

Oft tref­fen gleich meh­re­re Be­su­cher­grup­pen zu­sam­men ein. Dann sind die Wohn­zim­mer gut ge­füllt und es wird klar, war­um ira­ni­sche Fa­mi­li­en so vie­le So­fas und Pols­ter­stüh­le be­sit­zen.

Die­se Neu­jahrs­be­su­che die­nen auch dazu, das Neu­jahrs­geld zu ver­tei­len, wo­bei die äl­te­ren Fa­mi­li­en­mit­glie­der die druck­fri­schen Schei­ne den jün­ge­ren über­rei­chen. Die Kin­der sam­meln ihr Geld und kau­fen sich im Lauf des Jah­res et­was dar­aus.

Un­ser ers­ter Be­such heu­te gilt Kam­rans Dai, dem On­kel müt­te­r­li­cher­seits und sei­ner Fa­mi­lie. Dai Seyed-Agha ist Firuz­ehs äl­te­rer Bru­der und als Seyed ein di­rek­ter Nach­kom­me des Pro­phe­ten Mo­ham­med. Es ob­liegt uns, ihm und sei­ner Fa­mi­lie zu­erst einen Be­such ab­zu­stat­ten. Sie ha­ben uns freund­li­cher­wei­se zum Mit­tag­es­sen ein­ge­la­den, und so ma­chen wir uns kurz nach elf Uhr mit zwei Ta­xis, aber ohne Si­cher­heits­gur­te, auf den Weg.

Un­ter­wegs kau­fen wir Blu­men und eine Schach­tel Schi­ri­ni (Sü­ßig­kei­ten) für die Gast­ge­ber. Dann geht es in einen süd­li­cher ge­le­ge­nen Stadt­teil von Te­he­r­an, wo noch vor­wie­gend äl­te­re und we­ni­ger hohe Bau­ten ste­hen.

Das ty­pi­sche, zwei­stö­cki­ge Te­he­ra­ner Haus mit schma­len, vor­ge­la­ger­ten Bal­ko­nen über die gan­ze Haus­brei­te, und dem von ho­hen Mau­ern um­ge­be­nen In­nen­hof, war lan­ge Zeit die her­kömm­li­che Bau­wei­se für ein Mit­tel­klas­se­haus. In der Zwi­schen­zeit ist es aber nö­tig ge­wor­den, ver­mehrt in die Höhe zu bau­en. Im­mer mehr zwei­stö­cki­ge Häu­ser müs­sen ei­nem vier- bis sechs­s­tö­cki­gen Wohn­block mit meh­re­ren Eta­gen­woh­nun­gen wei­chen. Ver­dich­te­tes Bau­en ist in Te­he­r­an un­um­gäng­lich ge­wor­den.

Vie­le Fa­mi­li­en leb­ten bis­her in ei­nem ei­ge­nen Haus und be­nutz­ten den zu­ge­hö­ri­gen Hof samt Was­ser­stel­le. Nach dem Um­zug in eine Eta­gen­woh­nung fällt es ih­nen schwer, mit an­de­ren, nicht zur Fa­mi­lie ge­hö­ren­den Men­schen, im sel­ben Haus zu woh­nen.

Sie he­gen einen ge­wis­sen Arg­wohn ge­gen­über den ih­nen un­be­kann­ten Mit­be­woh­nern. Sie miss­trau­en der Gas- und Elek­tro­rech­nung in der Be­fürch­tung, dass sie für die an­de­ren be­zah­len müs­sen, stop­fen Lüf­tungs­schäch­te zu, da­mit die Nach­barn sie nicht hö­ren kön­nen, und hän­gen zu­sätz­li­che Schlös­ser an ihr Kel­ler­ab­teil, um ihr Hab und Gut zu schüt­zen. Für die äl­te­re Ge­ne­ra­ti­on ist es zu­dem eine gro­ße Um­stel­lung, auf die tra­di­ti­o­nel­le Was­ser­stel­le im Hof ver­zich­ten zu müs­sen.

In ei­ner ru­hi­gen, klei­nen Ne­ben­stra­ße hal­ten un­se­re Ta­xis an. Hohe Mau­ern säu­men die Stra­ßen. Da­hin­ter lie­gen die Höfe. Ein blick­dich­tes Eis­en­tor dient als Ein­gang und schirmt den Hof, des im Te­he­ra­ner Stil er­bau­ten Hau­ses, nach au­ßen hin ab.

Wir tre­ten in den Hof und wer­den so­fort von der gan­zen Fa­mi­lie emp­fan­gen. Sie ha­ben Kam­ran seit rund zwan­zig Jah­ren nicht mehr ge­se­hen und freu­en sich rie­sig über den Be­such. Man küsst und herzt sich nach al­len Re­geln der Höf­lich­keit. Zan-Dai (Dais Frau), eine klei­ne, ener­gi­sche Frau, die ganz of­fen­sicht­lich in der Fa­mi­lie das Zep­ter führt, zwickt mich freu­dig in die Wan­ge, ver­setzt mir ein paar nas­se Küs­se auf die Stirn und auf die Wan­gen und drückt mich schließ­lich herz­lich an sich. Ich bin ganz ver­wirrt ob so viel Über­schwäng­lich­keit – schließ­lich ken­ne ich die Frau doch noch gar nicht. Das scheint aber hier nicht wich­tig zu sein. Ich bin Teil der Fa­mi­lie, das reicht.

Zan-Dais Mann da­ge­gen neigt höf­lich den Kopf vor mir und sagt mit war­mer Stim­me:

«Sa­lam.»

Ich kann ge­ra­de noch einen Im­puls un­ter­drü­cken, ihm die Hand zu ge­ben und grü­ße höf­lich zu­rück. Denn, so­viel habe ich ge­lernt, Frau­en und Män­ner sol­len sich bei der Be­grü­ßung nicht be­rüh­ren. Da­für um­armt der äl­te­re Mann sei­nen Nef­fen Kam­ran wie einen ei­ge­nen Sohn, drückt ihn an sich, küsst ihn auf die Wan­gen und ist ganz ge­rührt, ihn nach so vie­len Jah­ren wie­der zu se­hen.

Dann be­grü­ßen wir auch die jün­ge­re Ge­ne­ra­ti­on. Dais Sohn Reza bringt mir ge­gen­über wie­der­um nur ein schüch­ter­nes ‹Sa­lam› über die Lip­pen und schaut da­bei zu Bo­den, wäh­rend sei­ne Schwes­ter Gol­naz und sei­ne Frau Azi­ta mich an sich drü­cken und küs­sen, als ob ich eine alte Be­kann­te wäre. Auch Rez­as Mäd­chen Si­min und Roya, die nur we­nig äl­ter sind als Sa­mi­ra, sind Teil des Emp­fangs­ko­mi­tees und grü­ßen höf­lich.

End­lich ha­ben sich alle un­ter fröh­li­chem Schwat­zen be­grüßt und wir wer­den zum Haus ge­lei­tet. Eine klei­ne Trep­pe führt zum schma­len Bal­kon im Erd­ge­schoss. Hier ste­hen be­reits meh­re­re Paar Schu­he und wir zie­hen eben­falls un­se­re Schu­he aus, be­vor wir ein­tre­ten.

Kam­ran hat mir emp­foh­len, dass ich mein Kopf­tuch aus­zie­hen dür­fe, wenn es die an­de­ren Frau­en auch ab­neh­men. Nun nest­le ich et­was un­be­hol­fen an mei­nem Tuch, un­si­cher, was ich da­mit tun soll, denn Gol­naz und Azi­ta ha­ben ihr Tuch im Haus so­fort ab­ge­legt. Zan-Dai da­ge­gen trägt ihr Kopf­tuch noch im­mer und macht auch kei­ne An­stal­ten, es aus­zu­zie­hen. Da lacht mich Gol­naz an:

«Komm, zieh das Ding aus. Du brauchst es hier drin­nen doch nicht.»

Ich zö­ge­re mit Blick auf Zan-Dai, die im­mer­hin das Sa­gen zu ha­ben scheint.

Gol­naz wirft den Kopf nach hin­ten.

«Mach dir nichts draus. Die al­ten Frau­en sind es sich so ge­wohnt, sie ken­nen nichts an­de­res. Für sie wäre es un­ge­wohnt ohne Kopf­tuch. Aber wir brau­chen es nicht. Es ist un­nö­tig.» Ge­übt fährt sie sich mit den Fin­gern durch die Fri­sur, um die Haa­re wie­der zu lo­ckern.

Er­leich­tert zie­he ich mein Kopf­tuch eben­falls aus und ver­staue es im mit­ge­brach­ten Plas­tik­beu­tel. Oma Firuz­eh hat­te ihn mir am Mor­gen zu­ge­steckt, da­mit das Tuch in der Hand­ta­sche nicht un­an­sehn­lich wer­de.

Das Haus be­steht aus dem Erd­ge­schoss und ei­nem obe­ren Stock­werk. Im Erd­ge­schoss sind das gro­ße Wohn­zim­mer so­wie die Kü­che. Eine Trep­pe führt in den ers­ten Stock, wo es drei Schlaf­zim­mer gibt. Ne­ben der Kü­che be­fin­det sich zu­dem eine klei­ne, fens­ter­lo­se Kam­mer. Dies ist Gol­naz’ Zim­mer. Sie ist al­lein­ste­hend und braucht es aus­schließ­lich, um dar­in zu schla­fen. Die drei an­de­ren Zim­mer tei­len sich je­weils zwei Per­so­nen: die bei­den Gro­ß­el­tern, die El­tern und die bei­den Mäd­chen.

Rasch ver­schwin­den die Kin­der im obe­ren Stock. Die bei­den Mäd­chen der Gast­ge­ber sind ent­zückt vom frem­den Be­such und aus­ge­spro­chen nett. Zu­erst füh­ren sie Sa­mi­ra und Dari­an ihre zwei Pup­pen vor, aber schon bald prä­sen­tiert Si­min ih­nen ihre Vi­deo-Samm­lung mit den neu­es­ten Kin­der­fil­men von Dis­ney und Co. Es sind al­les Raub­ko­pi­en, denn im Iran gibt es kei­ne an­de­ren Kin­der­fil­me zu kau­fen.

Spä­ter fah­ren die Kin­der im Hof mit dem ein­zi­gen Velo der bei­den Mäd­chen ihre Run­den und spie­len mit der Erde in den Blu­men­töp­fen ih­rer Groß­mut­ter.

Wir Er­wach­se­nen wer­den ein­ge­la­den im Wohn­zim­mer Platz zu neh­men. Die Äl­te­ren set­zen sich auf das klei­ne Sofa, wir Jun­gen kni­en uns auf den Bo­den. Azi­ta und Gol­naz brin­gen das Ta­blett mit den Tee­glä­sern und rei­chen uns Früch­te dazu.

Das Wohn­zim­mer der Fa­mi­lie ist recht spar­ta­nisch ein­ge­rich­tet. Erst wun­de­re ich mich dar­über, wer­de dann aber auf­ge­klärt. Die Fa­mi­lie kann es sich nicht leis­ten, ein ei­ge­nes Haus zu kau­fen und wohnt hier nur zur Mie­te. Da ein Miet­ver­trag nach ira­ni­schem Ge­setz bei ei­ner Miet­dau­er von mehr als ei­nem Jahr kaum noch ge­kün­digt wer­den kann, führt dies dazu, dass die meis­ten Mie­ter die Woh­nung jähr­lich wech­seln müs­sen. Die­ser sie­ben­köp­fi­ge Haus­halt muss dem­nach je­des Jahr um­zie­hen und lebt fast wie städ­ti­sche No­ma­den. Ihr Hab und Gut kön­nen sie ganz ein­fach in ein paar Bün­del und Kof­fer pa­cken, um nach Ab­lauf des Miet­ver­hält­nis­ses wei­ter­zu­zie­hen.

In­ner­lich muss ich un­wei­ger­lich den Kopf schüt­teln. Das er­scheint mir aus mei­ner eu­ro­pä­i­schen Per­spek­ti­ve nicht sehr prak­tisch. Da müs­sen also Jahr für Jahr Mil­li­o­nen von Mie­tern nach ei­ner neu­en Blei­be für das nächs­te Jahr Aus­schau hal­ten, dann ihr Hab und Gut zu­sam­men­pa­cken und wei­ter­zie­hen. Als ob die Leu­te hier nicht schon ge­nug an­de­re Pro­ble­me hät­ten!

Wir nip­pen an un­se­rem Tee und sind noch et­was be­fan­gen. Kam­ran und Reza ha­ben sich viel zu lan­ge nicht mehr ge­se­hen. Ich habe den Ein­druck, dass die bei­den Män­ner eine Wei­le brau­chen, um sich wie­der zu fin­den. Da­bei hat­ten sie als Kin­der so viel Zeit mit­ein­an­der ver­bracht.

Die An­ge­hö­ri­gen von Groß­fa­mi­li­en pfle­gen im Iran einen en­gen Kon­takt un­ter­ein­an­der. Je­den frei­en Tag be­sucht man sich ge­gen­sei­tig. Müt­te­r­li­cher­seits hat Kam­ran vier­zehn Cous­ins und Cou­si­nen ers­ten Gra­des, vä­ter­li­cher­seits sind es sieb­zehn Cous­ins und Cou­si­nen. Da war stän­dig et­was los in sei­ner Kind­heit, im­mer je­mand da, um zu spie­len.

Da­mals wa­ren die Frau­en der­art mit der Pla­cke­rei im Haus­halt be­schäf­tigt, dass sie über­haupt kei­ne Zeit hat­ten, mit den Kin­dern zu spie­len. Es galt ein­zu­kau­fen, auf ei­nem ein­fa­chen Gas­ko­cher die Mahl­zei­ten zu­zu­be­rei­ten, Hand­wä­sche im Koch­kes­sel zu ver­rich­ten, Schmutz zu keh­ren, an der Was­ser­stel­le im Hof ab­zu­wa­schen oder die Kin­der ein­mal in der Wo­che in den Ha­mam zu füh­ren. Die Kin­der ih­rer­seits ver­brach­ten ihre Tage in der Schu­le und drau­ßen auf der Stra­ße. Wenn man zu Be­such ging, wa­ren die Frau­en, auch die ein­ge­la­de­nen, mit Ko­chen be­schäf­tigt, wäh­rend die Kin­der mit­ein­an­der spiel­ten.

Kam­ran und Reza wa­ren so oft zu­sam­men in ih­rer Kind­heit und Ju­gend. Aber in der Zwi­schen­zeit ha­ben sich ihre Le­ben höchst un­ter­schied­lich ent­wi­ckelt.

Reza ar­bei­tet als Staats­an­ge­stell­ter und trägt, den Vor­schrif­ten ent­spre­chend, einen Bart. Ich kann mich mit mei­nem west­li­chen Ge­müt die gan­ze Zeit über nicht so recht ent­schei­den, ob Rez­as Blick eher fins­ter oder doch eher trau­rig oder viel­leicht bei­des ist.

Reza ist das fünf­te und jüngs­te Kind sei­ner El­tern und der ein­zi­ge Sohn. So­mit ist es sei­ne Pflicht für sei­ne al­tern­den El­tern zu sor­gen. Die­se woh­nen mit Reza und sei­ner Fa­mi­lie im sel­ben Haus­halt.

Ver­hei­ra­tet ist Reza mit Azi­ta, ei­ner fröh­li­chen Kran­ken­schwes­ter. Zu­sam­men ha­ben sie die Töch­ter Si­min und Roya. Reza wie Azi­ta ar­bei­ten bei­de Voll­zeit im Schicht­be­trieb. Dann sorgt die Groß­mut­ter für die bei­den Mäd­chen. Es ist eine gut funk­tio­nie­ren­de Zweck­ge­mein­schaft.

Zum Haus­halt ge­hört au­ßer­dem Rez­as äl­tes­te Schwes­ter Gol­naz. Sie ar­bei­tet als Leh­re­rin an ei­ner Pri­mar­schu­le für Kna­ben und ist eine in­tel­li­gen­te, le­bens­fro­he und selbst­be­wuss­te Frau. Lei­der wur­de sie mit ei­nem Klump­fuß ge­bo­ren. Da­mit hat sie auf dem Hei­rats­markt kei­ner­lei Chan­cen. Das war ihr ver­mut­lich schon früh klar und so hat sie al­les auf ihre be­ruf­li­che Kar­rie­re ge­setzt. Sie hat in der Schu­le Best­no­ten ge­schrie­ben und ist of­fen und in­ter­es­siert durchs Le­ben ge­gan­gen.