Der Andere - Ralf Franzen - E-Book

Der Andere E-Book

Ralf Franzen

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Beschreibung

Frederick Sorgenfrei, wenig erfolgreicher Bürstenvertreter, glaubt fest daran, dass er den Bestseller schreiben kann. Das ist ja eigentlich ganz einfach. Er hat den Helden Eric Shadow erfunden, der die Welt retten soll. Aber es fehlen Intuition und Authentizität. Freddi kommt auf die krude Idee, kriminell werden zu müssen, um den Roman zu Ende schreiben zu können und so langsam verschwimmen die Konturen. Wer ist wer? Und dann gerät er in eine sehr gefährliche, echte Geschichte hinein.

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Seitenzahl: 219

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ich verneige mich vor meiner liebenden, geduldigen Frau.

www.raltfranzen.de

Inhaltsverzeichnis

Freddi und Eric

Bürsten

Tampons und Kuscheltier

Sex

Manni

Töten

Mutti

Tanja

Zeichen

Melanie

Tyson

Anton

Job

Der Mazedonier

Haste ma Feuer?

Angepisst

Kasha

Butter bei die Fische

Die Verlorenen

Hinterher

Kontakt

Weg

Snoopy

Nix

Spitzel

Schweine

Suchen

Helden

Kohle

Die Bullen

Was?

Löwen

Auch nix

Unverwundbar

Prostata

Schrot

Der Andere

Freddi und Eric

„Eric Shadow wusste, dass es sich hier um absolut brisante Papiere handelte, und es war klar, dass Dr. Hassinger es nicht auf sich beruhen lassen konnte. Es war heiß und stickig und in diesem billigen Hotelzimmer in Bagdad funktionierte gar nichts und schon gar nicht die Klimaanlage.“

Nein.

„Eric Shadow versteckte die brisanten Papiere in der Wandvertäfelung des schäbigen Hotels in Oslo.

Hassinger würde früher oder später auftauchen. Das Zimmer war kalt, nichts funktionierte und schon gar nicht die Heizung.“

Ach, fuck! Es fehlte etwas, etwas Entscheidendes! Und das mit der Wandverkleidung in seiner Küche würde er irgendwann seinem Vermieter erklären müssen.

Frederick Sorgenfrei steckte sich eine weitere Zigarette an und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Intuition und Authentizität, das waren die Schlüssel. Leider hatte sich in Freddis Leben nie die Gelegenheit ergeben, nach Bagdad zu reisen und auch Schweden war ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Als Jugendlicher hatte er einmal einen Sommer in Dänemark verbracht, in so einem Freizeitcamp. Abends Stockbrot und Gitarre am Lagerfeuer und tagsüber Beschäftigungstherapie für schwer Pubertierende, um sie vom jeweils anderen Geschlecht – oder gar dem Gleichen – fern zu halten. Aber das war auch schon alles. Und auch mit seiner Intuition war es nicht weit her. Der Name Eric Shadow war vielleicht etwas überzogen, zu plakativ, aber Freddi hatte den Gedanken gehabt, dass der Titel des Buches irgendwas mit Schatten sein sollte, wie „Schatten der Vergangenheit“, oder so, und der Clou war eben der, dass der Held mit Schatten gemeint war; ein toller, schriftstellerischer Dreh, den sich Freddi ganz allein ausgedacht hatte.

Ihm waren andere Namen durch den Kopf geschossen: Bernd Schmitz, Peter Petersen, Matthias Mau, Erwin Kapellke, aber das wurde seinem Helden nicht gerecht. Oder etwas Adliges? Robert von Greifenstein? Gernot Freiherr zu Sumsegrund? Absurd! Eric Shadow war ein Name, der viel versprach: geheimnisvoll, edel und leicht zu merken.

Es gab noch keinen Plot und keinen Anfang, bis auf die Viertel Seite, die er bis jetzt geschrieben hatte; eigentlich gab es auch kein Ende, und irgendwie keinen Mittelteil, aber das würde schon noch werden. Ebenso unklar waren die geheimnisvollen, brisanten Papiere, die sein Held mit sich herumschleppte, oder etwa Dr.Hassinger. Genaugenommen gab es überhaupt keinen Plan, und das war exakt das, was ihm Tanja immer vorgeworfen hatte, ihre ganze, elende Ehe lang. Er würde nichts anfangen und nichts zu Ende bringen – was in Freddis Augen bereits ein Widerspruch war –, er wäre unzuverlässig und würde sich um nichts kümmern. Aber hiermit würde er ihr das Maul stopfen, ein für alle Mal!

Es erschien Freddi am besten, einfach drauflos zu schreiben, intuitiv, so mittendrin, so wie ein Musiker eine Notenzeile oder einen Refrain im Kopf hat, um die sich herum langsam eine Melodie bildet. Oder bilden sollte.

Aber schreiben bedeutet auch Arbeit; er sollte also recher-chieren. So wie ein Schauspieler vierzig Kilo zunimmt, um für eine Rolle als

Schwergewichtsweltmeister im Boxen glaubhaft zu wirken, so wollte sich Freddi das Wissen verschaffen, das ihm fehlte. Es war waren ja nicht nur die mangelnden Erfahrungen im Ausland oder die Ausübung von Gewalt, es war einfach die ganze kriminelle Sache, von der er – wie ein ganz normaler Bürger in diesem Lande – keine Ahnung hatte.

Freddi hatte in seinem Leben noch nie etwas gestohlen; nichts aus dem Portemonnaie seiner Mutter, keinen Kaugummi im Supermarkt, ja, noch nicht einmal eine einzige Büroklammer aus der langweiligen Firma, in der er in jungen Jahren seine Ausbildung gemacht hatte. Er hatte von seinen Eltern gelernt, dass man so etwas nicht tut, und wenn man es doch tut, gehöre man bestraft.

Freddi war zwar nie dahintergekommen, wer denn dieser ominöse Man mit einem N sein sollte, aber die Regeln leuchteten ihm im Grunde genommen ein.

Ein supercooler Eric Shadow hingegen würde sich nie mit solchen Begriffen wie Diebstahl oder Einbruch abgeben; er würde sich einfach nehmen, was er wollte.

Und überhaupt war Eric so ganz anders als Freddi.

Es gab bis jetzt folgende Legende: Eric Shadow wuchs als Sohn eines Diplomaten-Ehepaars auf, in Bagdad, Stockholm und Sydney. Damit würde er auch erklären, warum sein Held all diese Sprachen fließend in Wort und Schrift beherrschte, ebenso wie Farsi und Kisuaheli.

Durch den fiesen Hinterhalt einer Splittergruppe der Rebellengruppe des Hrd al Wrsk verlor Eric beide Elternteile bei einem Bombenattentat im Irak.

Jetzt stand er ganz alleine da: Ein junger, höllisch gut aussehender Mann mit allerbesten Referenzen und höchster Bildung, einsam in einer Villa am Genfer See, in der alle Möbel mit weißen Leinentüchern abgedeckt waren. Eric war groß, aber nicht zu groß, etwa 1,86m, gut gebaut und durchtrainiert von all den sportlichen Betätigungen, die reiche junge Männer nach Freddis Vorstellungen so betrieben. Polo, Jiu Jitsu, Golf und Sporttauchen hatten Erics Körper gestählt.

Unbewusst – oder auch nicht - war Eric Shadow genau das Gegenteil von Frederick Sorgenfrei. Freddi hatte ein absolutes Durchschnittsgesicht, Max Mustermann wäre vor Neid erblasst. Alles an Freddi war so gewöhnlich, gefühlte tausendmal gesehen und gäbe es diese Nase, dieses Kinn, diese Stirn und diese Ohren im Katalog eines Schönheitschirurgen, dann nur in der Kategorie Standard eurasisch/deutsch. Freddi hinterließ nie irgendeinen Eindruck. Man erinnerte sich einfach nicht an ihn.

Während seiner Lehre war er drei Jahre lang jeden Mittag in immer dasselbe Café gegangen und nicht eine einzige Tresenkraft konnte sich merken, dass er immer einen Cafè Latte mit Karamellsirup kaufte. Sie fragten ihn jedes Mal. Einmal hatte er in einem Elektro-Geschäft etwas gekauft , draußen vor der Tür jedoch bemerkt, dass die Verpackung des Radios defekt war und er rannte direkt zurück in den Laden. Die Ladentür war noch vom Schwung, den er beim Verlassen des Ladens verursacht hatte, halb geöffnet. Und schon erinnerte man sich nicht mehr an ihn. Auch in der Damenwelt war das seinen sexuellen Kontakten nicht sehr förderlich. Die jeweils angebaggerte Dame hatte sein Gesicht bereits vergessen, wenn er mit den Getränken vom Tresen zu ihr zurückkehrte. Im Teenie-Alter hatte er angefangen, einen Haufen albernen Blödsinn zu vollführen, um überhaupt bemerkt zu werden. Und er fand auch Beifall von der johlenden Truppe frischvernetzter Pimmelzwerge und Pipimädchen, wenn er beispielsweise den Schornstein der alten Räucherei hinaufkletterte oder mit bloßen Füßen eine glühende Kippe austrat.

Später versuchte er es mit verschiedenen Variationen von Bärten, um wenigstens über ein Alleinstellungsmerkmal zu verfügen. Bei einem unglücklichen Rückfall in alte Verhaltensweisen – Feuer spucken auf einer Jugendzentrumfete – war jedoch auch diese Option über Monate gecancelt.

Eric konnte natürlich alle Frauen haben, alle in jeglicher Altersklasse; die reifen Damen schätzten neben seiner Schönheit seine Bildung und seine Manieren, die jungen seine Unabhängigkeit und seine wilde Mähne, die ihm etwas Abenteuerliches verlieh.

Eric schritt aufrecht und gerade oder aber – der jeweiligen Situation angemessen – so geschmeidig wie eine Katze.

Freddis Körperhaltung fände sich eher in der Fachliteratur für Orthopäden wieder, „Nackenwirbeldisposition nach Sorgenfrei“. Freddi lief krumm und schief und zog permanent den Kopf ein wie eine Schildkröte. Eric war ein weltgewandter Lebemann, der sich in allen Dingen gut auskannte. Freddi verfügte leider über das ziemlich gefährliche Vier- Prozentwissen. Er konnte damit zwar knappe 18 Minuten auf einer Party im Smalltalk glänzen, dann jedoch fiel die Leistung rapide ab. Er hielt bis heute Agoraphobie für die Angst vor sehr, sehr flauschigen Kaninchen, und die Weimarer Republik für einen afrikanischen Staat, der aus der Zeit der Kolonisierung des Landes einfach übriggeblieben war, ungefähr zwischen der Elfenbeinküste und Belgisch Kongo.

Das war so im Groben die Situation und das bisherige Schicksal von Eric Shadow. Und Frederick Sorgenfrei.

Weiter war er noch nicht, aber er war dran, so was von dran! Freddi hatte keinerlei Bedenken, dass sich seine Kunstfigur nicht von ganz alleine weiter entwickeln würde.

Ganz klar war, dass er etwas stehlen musste, das war der nächste logische Schritt, unbedingt. Irgendetwas, egal was, um das Gefühl dafür zu bekommen, wie es ist, bewusst etwas Unrechtes zu tun; und natürlich, um damit Eric Shadow ein gutes Stück näher zu kommen.

Seine Coolness würde er nie erreichen, das war Freddi ganz klar – dafür reichte schon sein Englisch nicht aus, von Farsi ganz zu schweigen - aber er wollte wissen, wie sich sein Herzschlag um zwei, drei Takte erhöhen würde, er wollte den Angstschweiß auf der Haut spüren, und das Flattern in der Magengegend. So stellte er sich das jedenfalls vor.

Ganz klar war, dass etwas in seinem Leben passieren musste, etwas Gravierendes, etwas Monumentales, so ging es nicht mehr weiter. Die Frage nach dem Waswerde-ich-hinterlassen stellte sich gar nicht erst. Seit Jahren benutzte er immer das gleiche Geschirr, das gleiche Besteck, das er jedes Mal nach dem Essen abwusch, um es am nächsten Tag wieder aus dem Abtropfkorb auf der Spüle zu nehmen. Und es waren auch jedes Mal die gleichen, belanglosen Mahlzeiten, immer irgendein Mist für die Mikrowelle, vitaminloser Abfall. Freddi war überzeugt, dass Fast Food beinahe Essen bedeutete.

Freddis Leben war wie ein in Bernstein gefangenes Insekt. Und das musste sich unbedingt ändern.

Bürsten

Freddi hasste seinen Job. Und seinem Job ging es umgekehrt genauso.

Vertreter war nie der Traumberuf von Freddi gewesen, wen sollte es wundern. Immerhin hieß es heute ja Handelsvertreter, aber die linguistische Aufwertung einer letztendlich niederen Klinkenputzertätigkeit war nichts als Lug und Trug. Genau so, wie der klassische, wohlgepflegte Herr mit zu kleinem Anzug und schreiender Krawatte in den sechziger Jahren versuchte, arglosen Hausfrauen den neuen „Flatulenz 5000“ zu verdealen, genau so fuhr Freddi mit seiner alten Karre über das platte Land und versuchte, seine Ware an den Mann resp. die Frau zu bringen. Nur ohne Krawatte.

Letztendlich steht und fällt der Erfolg bei dieser Art des Broterwerbs mit der Ware an sich. Und damit, ob sich der Herr Handelsvertreter mit der Ware, seiner Ware, identifizieren kann. In Freddis Fall waren es Bürsten, Bürsten in jeglicher Form. Er hatte runde Bürsten, eckige, welche für die Reinigung von Steckdosen oder solche, die für Polstermöbel geeignet waren, sanfte Bürsten mit Wildschweinborsten für das Haar der Dame des Hauses, oder für Waldis struppiges Fell, Bartbürsten, Gemüsebürsten, Pilzbürsten. Freddis Sortiment war sehr groß und es handelte sich natürlich ausschließlich um Qualitätsbürsten. Eine Identifikation mit dieser Ware fiel Freddi relativ schwer; einziges Argument, das für ihn selbst zählte, war BIO. Die Griffe seiner Bürsten waren allesamt aus Holz, gedämpfte Buche, Birne oder Apfelholz und die Borsten so rein wie eine Wiese im Allgäu.

Freddis Jagdgebiet war der ländliche Raum, kleine Dörfer, einsame Gehöfte, zu denen er sich mit seiner Klapperkiste hinbewegte. Eine schwierige Klientel, aber noch lange nicht so kompliziert wie die Inhaber der Firma, von denen er seine Ware bezog.

Die Gebrüder Matthiesen hausten in einem heruntergekommenen Gebäude, das wie ein prähistorischer, angespülter Baumstamm wirkte. Und in diesem engen, mit Metallschrott und vorsintflutlichen Maschinen zugemüllten Hohlraum produzierten Fiete und Okke Matthiesen mit einem hohläugigen, fünfköpfigen Team, von denen keiner jünger als 75 erschien, Qualitätsbürsten. Freddi hatte immer Probleme, die beiden Brüder auseinander zu halten.

Beide trugen lange, graue Bärte, dunkelgrüne Mützen im Ensemble mit dazu passenden Arbeitshosen. Ob Methusalem mit seinem älteren Bruder auch in dieser Bruchbude hauste, wusste Freddi nicht. Er betrat die lärmerfüllte Halle und suchte mit den Augen nach Methusalem oder seinem Bruder. Er schlängelte sich durch ein bedrohliches Spalier von grauen, gusseisernen Maschinen aus dem letzten Jahrhundert hindurch bis zu dem verglasten Kasten, den Fiete und Okke das Büro nannten.

Freddi trat ein und ließ den Lärm hinter sich. Fiete oder Okke - Freddi war sich nie ganz sicher - saß hinter seinem Schreibtisch und würdigte ihn keines Blickes.

Aber er kannte das bereits. Bei Schildkröten ab zweihundert Jahren dauerte eben alles etwas länger.

Der Blick, den er dann nach einer gefühlten Ewigkeit kassierte, war vorwurfsvoll, wie eigentlich immer. Aus dem unwegsamen Biotop von naturbelassener Gesichtsbehaarung starrten ihn zwei zusammengekniffene Augen an. Freddi fragte sich, wie er diese kritischen Augen und die dazugehörenden Mundwinkel zum Lachen bringen könnte, aber es fiel ihm nichts ein.

Wenn Methusalem sprach, sprang sein Mund auf wie ein Tiger aus dem hohen Savannengras und Freddi war jedes Mal total überrascht, weil er ihn völlig woanders vermutet hatte. Ohne ihn auch nur eine Blinzelsekunde aus den Augen zu lassen, griff sich Methusalem einen Aktenordner, klappte ihn auf und versenkte den Blick in unverständliche Zahlenreihen. Schließlich kritzelte der alte Mann etwas auf einen Notizblock und schob ihn Freddi hin. Ob das auf dem Finanzamt als Quittung durchginge?

Freddi sagte: „Ich kann diesen Monat nicht das ganze Sortiment nehmen, wir müssen die Kartoffelbürsten und die Polsterbürsten rausnehmen, die laufen nicht so gut.“

„Im Moment!“, fügte er entschuldigend hinzu.

Er kassierte einen weiteren bösen Blick und Methusalem 152,60 €. Umständlich kramte Fiete - oder Okke - die besagten Bürsten aus einem Karton. Freddi griff sich diese, bedankte sich und machte, dass er hinauskam.

Und jetzt galt es, diese Bürsten an den Mann, respektive an die Frau zu bringen.

Kriegsschauplatz war meist die gemeine Dorfstraße, das war Freddis Jagdrevier, sein Gebiet. In der Stadt war alles aus Plastik und hygienisch. Auf dem Lande sah man das völlig anders. Freddi konnte sich kaum die Namen der Orte merken, in denen er schon einmal den Staub der Dorfstraße aufgewirbelt hatte. Westerschnakeby, Toter Hund, Kükenmoor – wer war nur auf solche Namen gekommen?

Vormittags war eine gute Zeit. Die alten Leutchen – und das war vorwiegend Freddis Klientel – waren Frühaufsteher und bereits skeptisch, wenn man nachmittags um halb zwei an die Tür klopfte. Die Türen an den ersten buckligen Häuschen blieben verschlossen.

Die Vierte öffnete sich. Eine schrumpelige, alte Frau mit gewickelten Beinen riss erstaunlich vital die Tür auf.

„Hermann, das wird jetzt aber auch Zeit!“

Freddi wollte reagieren, die alte Dame bemerkte jedoch deutlich vor ihm, dass er nicht Hermann war und schloss die Tür wieder bis auf einen schmalen Spalt. Freddi trug immer ein bisschen dick auf. Wie sollte er sich sonst seiner Kundschaft nähern?

„Ah, die Dame des Hauses! Ich komme von der Firma Gebrüder Matthiesen, regionale Qualitätsbürsten!“

Regional war zur Zeit ja echt hip, obwohl es bei Bürsten eigentlich keine Rolle spielen sollte.

Normalerweise war die Eröffnung „Dame des Hauses“ immer ein guter Einstieg. In diesem Fall glotzte ihn die Oma an wie einen Familienvater, den man nach den Geburtsdaten seiner Kinder fragt.

„Sie sind nicht Hermann!“

Das war eine klare Aussage und Freddi stimmte ihr äußerlich gut gelaunt zu.

„Nein, aber ich habe ein Super-Sonderangebot für Sie!

Nur für Sie!“

Klar! Freddi war nur wegen dieser Bürste auf die Welt gekommen, nur ihretwegen hatten sich seine Eltern kennengelernt, Petting gehabt und richtigen Sex und deshalb war er jetzt genau hier. Sobald diese Bürste ihren göttlichen Bestimmungsort erreicht hatte, würde sich Freddi in Luft auflösen. Piffpuff! Was für ein Scheiß!

Freddi bastelte sich immer aus dem Stegreif irgendwelche Pakete, in denen er die Dauerbrenner – Haarbürsten mit Wildschweinborsten – mit den Ladenhütern – Steckdosenbürsten – vermischte.

Gekonnt zog Freddi den Reißverschluss des Rollkoffers auf und entnahm ihm den Inbegriff neuester Bürstentechnologie.

„Schauen Sie einmal, diese Bürste bürstet nicht nur, sie pflegt auch ihr Haar! Wissenschaftliche Studien belegen, dass -“, dabei schnappte sich Freddi die ziemlich widerwillige Hand der Oma und strich ihr mit den wie versprochen seidenweichen Borsten über den Handrücken. Oma zog jedoch die Hand weg.

„Ich trag eine Perücke!“

Sie ergriff, wie zum Beweis, ein Büschel Haare und lüpfte die künstliche Haarpracht ein paar Zentimeter. Sie war darunter so kahl wie ein Ei. Freddi wollte das nicht sehen.

„Ja, dann...!“

Schnell packte er die Qualitätsbürste zurück in den Koffer. Oma hatte die Tür bereits wieder geschlossen.

Was machte er hier eigentlich? In einer stillen Stunde hatte Freddi einmal ausgerechnet, dass er mindestens fünfundzwanzig Luxusbürsten pro Tag verkaufen musste, um gerade so über die Runden zu kommen.

Aber Qualität war eben teuer, wie der alte Matthiesen ihm immer wieder erklärt hatte und daher verkauften sich die Bürsten sehr schlecht. Qualität ist nicht für jeden, nur für Menschen mit Anspruch und Würde, so in der Art ging das Seminar von Okke – oder Fiete – Matthiesen weiter. War das jetzt logisch? In seiner ganzen Karriere als Vertreter hatte er einmal, nur ein einziges Mal, so viele verkauft. Genaugenommen konnte es sich Freddi kaum leisten, diesen Job zu machen.

Glücklicherweise verfügte er neben seinen eher mageren Haustürgeschäften über eine einzige, permanente Einnahmequelle.

Als er Frau Ingelore von Bast kennenlernte, hatte er schon einige Scharmützel mit seinem Gewissen zu schlagen gehabt, von denen er einige wenige glorreich gewann. Pyrrhussiege, sicherlich, aber Freddi musste sich entscheiden. Es war doch nur Geld!

„Man kann doch nie genug Bürsten im Haus haben, lieber Freddi!“ hatte sie bei seinem ersten Besuch gesäuselt, nachdem sie ihm die komplette Kollektion abgekauft hatte. Ja, sie nannten einander tatsächlich Inge und Freddi, blieben jedoch in der förmlichen Sie-Form. Inge musste um die achtzig Jahre alt sein, offenbar irgendwie ein bisschen vermögend und immer ein wenig übertrieben geschminkt. Mit ihrem Lippenstift war sie recht großzügig unterwegs oder es lag an ihrer zittrigen Hand, dass die obere Zahnreihe immer ein wenig von dem Rouge de Paris abbekam. Bei Inge gab es jedes Mal Tee und staublungentrockene, selbstgebackene Kekse, wenn Freddi etwa einmal im Monat bei ihr aufschlug. Ihr großer Bungalow wirkte ein wenig schlampig und vernachlässigt, aber der Tee wurde im Salon eingenommen.

„Frau von Bast…!“

„Ach, sagen Sie doch bitte Inge!“ hatte sie bei ihrem ersten Treffen mit dem geballten Charme einer 16-Jährigen im schrumpeligen Körper einer alten Frau very, very flirty dahingehaucht. Diese Kombination war immer ein wenig irritierend, aber mittlerweile kam er damit klar. Außerdem bescherte ihm die gute Inge jeden Monat im Schnitt 150 €. Dieses Mal brauchte er jedoch wesentlich mehr Geld, kriminell sein kostet eben Geld.

Wie weit würde er das ausreizen können? Was sie mit den Bürsten machte, erfuhr Freddi nie. Inzwischen musste es in diesem großen Haus einen ganzen Raum voller Bürsten geben. Freddi versank beinahe in diesem tiefen, wulstigen Sessel, der ihn quasi in sich aufnahm.

Er würde einen Schuhlöffel brauchen, um hier jemals rauszukommen.

„Was haben Sie mir denn heute Schönes mitgebracht, mein lieber Freddi?“

Freddi versuchte, sich aus den festen Klauen aus Rosshaar und Brokat zu befreien, um sich nach vorn zu setzen. Mit mäßigem Erfolg.

„Ich habe heute etwas ganz Exklusives für Sie: eine Luxushaarbürste aus edlem Birnenholz und Dachshaaren!“

Als würde er Inge den Schlüssel der Stadt überreichen, hielt Freddi ihr die Bürste hin.

„Fühlen Sie einmal, wie weich die Borsten sind!“

Freddi quetschte sich noch etwas nach vorn und nippte mit seinem Hintern an der Sesselkante.

„Ideal für das Haar einer edlen Dame!“

Gott, was redete er da? Immer die gleichen Phrasen, immer das gleiche, bescheuerte, eingefrorene Grinsen wie ein, na, Handelsvertreter. Aber es war ohnehin vollkommen wurscht, Freddi hätte Inge auch eine Klobürste aus Lamahaar anbieten können. Inge war wie erwartet entzückt.

„Wie viele haben Sie denn dabei?“

Freddi wand sich. Er brauchte unbedingt Kohle.

Deswegen hatte er kühn ein Dutzend eingepackt.

“Ich nehme sie alle!“

Auf die Frage nach dem Preis korrigierte Freddi skrupellos noch einmal nach oben.

„Nur für Sie!“ - ach, Du Scheiße! – „32 €!“

Fast vierhundert Schleifen. Der Grundstock für den übernächsten Schritt. Oder den danach, das wusste Freddi so noch nicht genau.

Tampons und Kuscheltier

Es war Zeit für die Praxis, ein dreifach Scheiß auf die Theorie!

Für den Anfang etwas Kleines, kein Bankraub, keine Spielhalle mit peinlicher Skimaske, sondern eine kleine, etwas schlampige Drogerie am anderen Ende der Stadt.

Ein schlichter Ladendiebstahl.

Freddi fuhr dafür mit seinem Auto einmal durch die ganze Stadt und suchte eine Seitenstraße in der Nähe. Er parkte den Wagen und machte sich zu Fuß zur Filiale dieser bekannten Drogeriekette auf. Eine Mission.

Freddi nahm sich ganz zwanglos einen Einkaufswagen und marschierte drauflos. Für ihn war klar, dass er erst einmal etwas ganz offiziell in den Wagen tun sollte, das er dann auch bezahlen würde; aber nur, um sein Diebesgut, tief in der Innentasche seiner Jacke versenkt, unbemerkt und unverdächtig durch den Kassen-bereich zu bringen. Im Laden merkte er dann, dass es für ein Sakko mit Futter aus Kunstfaser viel zu heiß war, und er schwitzte wie ein Schwein. Ging es etwa schon los?

Freddi hatte sich noch keinerlei Gedanken darüber gemacht, was er kaufen oder was er denn stehlen sollte.

In den Gängen waren an der Decke nur große, gewölbte Spiegel zu erkennen, für eine teure Videoüberwachung schien dem Laden das Geld zu fehlen. Also, was sollte er jetzt in den Wagen tun? Freddi starrte unauffällig in die Einkaufswagen der anderen Kunden, ohne wie ein Spanner zu wirken, aber das brachte ihn nicht weiter. H-Milch, er könnte H-Milch kaufen, die brauchte er doch sowieso! Es gab jedoch keine H-Milch, es gab überhaupt keine Lebensmittel außer Diabetikergebäck und Süßigkeiten. Freddi wandte sich den Regalen mit Sanitärartikeln zu; vielleicht eine wohlriechende Kosmetikserie für den gepflegten Mann? Nach was würde Eric Shadow duften? Bestimmt nicht nach irgendeiner zusammen-gerührten Pampe aus der Drogerie, eher nach Chanel Nummer 4, oder wie die Edelplempe hieß. Nach zehn Minuten hatte er immer noch nichts im Wagen und glaubte, dass eine Verkäuferin, die gerade Meerschweinchenfutter in die Regale räumte, so komisch glotzte. Freddi reagierte sofort, indem er ohne hinzuschauen das Erstbeste in den Wagen hineinwarf. Die Verkäuferin blickte wieder zur Seite und alles war gut. Freddi schwitzte und schwitzte.

War es das schon? Waren das die ersehnten, ersten Anzeichen?

Aber jetzt fühlte er sich paradoxerweise stark – er hatte immerhin dem stechenden Blick des Feindes standgehalten - und er griff furchtlos in ein Süßigkeitenregal und steckte sich zwei Snickers in die Innentasche. Angespannt wartete er, aber niemand schrie „Haltet den Dieb!“ und kein genauso schlecht bezahlter wie auch gekleideter Kaufhausdetektiv zerrte ihn in seine umgebaute Besenkammer. Er wurde mutig und schob noch eine Mini-Toblerone hinterher. Mehr ging nicht, die Jacke wölbte sich bereits.

Freddi zwang sich erfolglos, ganz langsam zur Kasse zu schlendern; seine Beine wollten etwas gänzlich Anderes und er hatte nur bedingt Gewalt über seine Muskulatur.

Gut, dass er vorher nochmal pinkeln gewesen war. Aber es war alles okay, niemand starrte ihn an, und hey, draußen waren bestimmt 28 Grad, da durfte man doch wohl schwitzen?

An der Kasse merkte er dann, was er da blindlings in den Wagen geworfen hatte: Eine Großpackung Tampons für die ganz harten Tage und ein Glas Babybrei „Rindfleisch mit Karotten“. War das nicht ein Widerspruch? Der Kassiererin war es offenbar herzlich egal, was er da kaufte, Präservative mit Noppen, Erwachsenenwindeln oder Gebissreiniger. Mit einer schnarrenden Stimme fragte sie: “Wollen Sie noch ‘ne Tüte?“

Freddi verneinte und sie nannte ihm den zu zahlenden Preis. Er bezahlte und verließ mit Gummi in den Beinen und einem geschätzten Puls von etwa 160 das Geschäft.

Im Auto versuchte er erst einmal, sich zu beruhigen, bis seine Atemfrequenz einen vertretbaren Wert erreicht hatte.

Aber Freddi wollte es wirklich wissen. Wenn – dann.

Das Wort Einbruch beinhaltet ja die nicht sehr unterschwellige Botschaft, dass etwas zerbrechen muss.

Schon, um irgendwo hineinzukommen. Eric Shadow wäre sicherlich mit elektronischem Equipment angerückt, einem blinkenden, kleinen Kästchen mit mehr Knöpfen als im Cockpit einer Boeing 707.

Freddi hielt einen Kuhfuß in der Hand.

Immerhin wäre auch Eric cameomäßig mit geschwärztem Gesicht aufgetaucht.

Während Eric wahrscheinlich elegant über eine schwer bewachte Mauer gehechtet wäre, drückte sich Freddi durch eine dornige Hecke.

Es war nicht der imposante Stammsitz der „Tec Science“, sondern ein kleiner Schrebergarten, angefüllt mit niedlichen, winzigen Parzellen, auf denen überwiegend ältere Menschen Obst und Gemüse anbauten, oder auch mal eine biergetränkte Grillparty feierten. .

Er stolperte über eine Wiese, eierte über ein Kartoffelfeld und legte sich unelegant auf die Nase. Zur Sicherheit – besonders seiner eigenen - kroch Freddi die letzten Meter zur Hütte auf allen Vieren. So richtig ausgekundschaftet hatte er die Anlage nicht, aber was war hier schon los? Eine Gartenparty ein paar Dutzend Meter weiter war die einzige Action, die um diese Zeit noch lief. Freddi tastete sich zu einem Fenster vor, legte ein rosafarbenes Frotteehandtuch auf die Glasscheibe und schlug mit dem Kuhfuß zu. In der Glotze sah das immer so leicht aus. Und besonders leise; in Wahrheit machte die Scheibe beim Bersten einen ganz gehörigen Lärm. Freddi ließ sich sofort auf die Knie fallen und horchte. Als nach etwa fünf Minuten nichts geschah, richtete er sich wieder auf, entfernte mit spitzen Fingern die gezackten Glastücke aus dem Holz und stieg durch die Öffnung ein. Eine Trophäe, wenigstens eine Trophäe, das sollte er mitnehmen. Im schmalen Lichtkegel der Handylampe erkundete er das Innere der Hütte.

Gerümpel, Töpfe, Pfannen und die abgelebten Möbel von Oma. Die Regale waren komplett rappelvoll mit bunten Wandtellern, die frohe Grüße aus prämierten Luftkurorten überbrachten, Petroleumlampen, Schneekugeln und anderem Nippes. Freddi schwenkte das Handy nach links und bekam einen Riesenschrecken, weil ihn ein ausgestopftes Tier mit leuchtenden Glasaugen anstarrte. Blöder Marder! Auf jeden Fall sollte das hier nicht allzu lange dauern; man musste schnell sein, das minimiere das Risiko enorm. Hatte er mal gelesen. Er sollte jetzt fix etwas einstecken, egal was, es musste nur jetzt geschehen! Impulsartig griff sich Freddi den blöden Marder und steckte ihn in den mitgebrachten, standesgemäßen Jutesack.

Am Abend saß Freddi in der Badewanne in kreislaufeinschüchternd heißem Wasser und spielte das Inselspiel, bei dem immer das Knie verlor, welches komplett im Wasser verschwand.

Auf dem Badewannenrand tummelte sich anklagend die kärgliche Beute seiner kriminellen Raubzüge: Ein Snickers, die Papphülle einer Minitoblerone, deren Inhalt er bereits gegessen hatte, ein Glas Babybrei Rindfleisch mit Karotten und die elenden Tampons. Das gruselige Kuscheltier mit den Glasaugen hatte er oben in die Halterung der Dusche eingeklemmt. Blöder Marder!

Die einzige erlangte Erkenntnis war die, dass sich Schuhcreme nicht zum Schwärzen eines Gesichtes eignete.

Was würde Eric dazu sagen? Ach was, er würde ihn auslachen oder wahrscheinlich nicht einmal wahrnehmen. Wie sollte er da Eric Shadow wichtige Papiere stehlen lassen?

Das würde noch ein hartes Stück Arbeit werden, so viel war klar.

Sex