Der andere Tod - Anja Jonuleit - E-Book

Der andere Tod E-Book

Anja Jonuleit

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Beschreibung

Was nicht wiederkam, war die Erinnerung Bei einem Brand wird der deutsche Unternehmer Max Winther schwer verletzt – sein Gesicht wird fast völlig zerstört. Nach zwei Jahren Klinikaufenthalt und zahlreichen plastischen Operationen ist er wieder einigermaßen hergestellt. Nur eines scheint nicht wiederzukehren: sein Gedächtnis. So wenig er sich auch an seine Vergangenheit erinnert – seine Vergangenheit erinnert sich an ihn. Verstörende Bilder tauchen aus seinem Unbewussten auf. Eine dramatische Spurensuche beginnt.

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Nach einem Unfall hängt das Leben des deutschen Unternehmers Max Winther am seidenen Faden, ein Gesicht wurde völlig zerstört. Zwei Jahre und zahlreiche plastische Operationen später kann er die Spezialklinik in Kalifornien mit seiner geliebten Frau Anouk endlich verlassen. Eines scheint allerdings nicht wiederzukehren: sein Gedächtnis. So wenig er sich auch an seine Vergangenheit erinnert – seine Vergangenheit erinnert sich an ihn. Immer wieder tauchen blitzlichtartig Bilder aus seinem Unbewussten auf, die ihn zutiefst beunruhigen. Welches furchtbare Geheimnis verbirgt seine Frau vor ihm? Eine dramatische Spurensuche beginnt …

Anja Jonuleit

Der andere Tod

Roman

Für Gerhard

in Liebe

Das dichte Rad der Erde,

seine Felge von Vergessenheit feucht,

dreht sich und spaltet die Zeit

in unerreichbare Hälften.

PABLO NERUDA

Glück

Es ist dieses Bild, das immer wiederkehrt, in meinen Träumen und manchmal auch im Wachsein. Dieses Bild, das solch ein Wohlgefühl, solch eine ursprüngliche Kinderfreude auslöst und auch, wenn es schon längst verblasst ist, noch nachklingt und mir das beschert, was man wohl »Glück« nennt.

In diesen Träumen sehe ich sie – in einer weißen Bluse, in einem grauen Rock –, wie sie auf mich zukommt. Sie hat den Blick fest auf mich gerichtet, auf ihrem Gesicht leuchtet ein Lächeln, so zärtlich und liebevoll, ein Mutterlächeln.

Und dann sehe ich mich selbst, in meiner kurzen blauen Hose, die zerschrammten Knie. Wie ich die Schaufel fallen lasse in den groben grauen Sand, wie ich mich aufrichte und auf sie zugehe, zuerst, dann schneller werde, renne, immer schneller. Auch sie läuft nun, so gut es geht, in ihrem knielangen Rock, auf den schwarzen Büroschuhen, die ihr nur ein ungelenkes Trippeln ermöglichen.

Und dann der Moment, in dem ich sie – beinahe – erreicht habe. Sie öffnet die Arme und ich springe auf sie zu, fast verliert sie das Gleichgewicht und ihre Stimme klingt atemlos und etwas überrascht, mein kleiner Floh.

Warum nur glaube ich, in ihrer Stimme den Schatten von etwas zu hören, vielleicht Traurigkeit?

Zwischenzeiten

Die Tage in der Rosenstein Clinic, einem renommierten Zentrum für rekonstruktive Chirurgie, vergehen ganz für sich allein, losgelöst von jeglicher Vergangenheit und ohne die Erwartung einer Zukunft. Wie in einem luftleeren Raum schwebend, gehören sie zu keinem Davor und zu keinem Danach, sie verrinnen in einer selbstverständlichen Stille und ich treibe dahin in einem Strom, der mich zu einem Dasein jenseits menschlichen Tuns bringt. Es ist, als gäbe es hinter diesen Mauern keine Welt.

Die Krankenschwestern haben mich zwischen die Laken gepfropft und ich bin wie ein hilfloses Kind, ein in altmodische Binden gewickelter Säugling. Ich kann meine Arme nicht bewegen, nicht die Beine. Ich kann nur schauen, die Lider auf- und zuklappen, das ist alles.

Die Ärzte sind gute Geister, die die stoffliche Existenz längst hinter sich gelassen haben. Sie sind von einer gleichbleibenden geduldigen Freundlichkeit, die mich vergessen macht, dass auch sie Schmerzen erleiden können und dass auch ihr Leben Traurigkeit kennt.

Anouk ist gekommen, so wie jeden Tag, heute mit einem Strauß roter Tulpen im Arm. Meine Augen folgen ihr, sie stellt das Kopfteil meines Bettes leicht schräg, sodass ich durch die Aussparungen, die sie in meinem Verband gemacht haben, ohne Mühe Anouks makellose Züge betrachten kann. Ein Sonnenstrahl fällt auf ihr Haar und auf eine Hälfte ihres Gesichts.

Sie beugt sich zu mir herunter, ihre Wangen sind von einem Pfirsichflaum bedeckt, so hauchzart, dass ich ihn nur wahrnehme, wenn sie ganz dicht bei mir ist, und auch nur deshalb, weil das Licht sie schräg von der Seite berührt.

Sie küsst mich.

Ja, auch meine Lippen haben sie ausgespart.

Dann geht Anouk zum Schrank, holt eine Vase, lässt Wasser hinein und stellt die Blumen auf meinen Nachttisch. Irritiert sehe ich die Stängel, die sich wie Schlangen aus dem Glas winden, das Rot der Blütenkelche, das meine ganze Aufmerksamkeit zu absorbieren scheint.

Lange nachdem Anouk gegangen ist, haftet mein Blick noch immer an den Tulpen. Sie sind so rot, zu rot vor dem Weiß, das mich umgibt. Sie sind wie Eindringlinge, wie fremde Wesen, von denen eine unerklärliche Gefahr auszugehen scheint. Ich beobachte, wie die letzten Sonnenstrahlen sie in einem noch irrsinnigeren Rot aufflammen lassen.

Plötzlich werden sie lebendig. Sie greifen nach mir mit ihren langen Armen, das Rot wird stärker, es breitet sich aus, es wächst ins Unermessliche. Ich spüre Schweiß auf meiner Stirn, in meinem Nacken, unter meinen Verbänden.

Ich will die Schwester rufen, aber Anouk hat vergessen, mir den Klingelknopf zwischen die Finger zu legen. So starre ich auf das lärmende Rot, das immer noch lauter wird, auf die Blüten, die immer näher kommen und mich zu verschlingen drohen.

Mein Atem geht stoßweise, ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Und dann schreie ich.

Ich schreie so laut ich kann, doch es ist nur ein heiserer und seltsam dürftiger Ton, der da aus meiner Kehle dringt. Auch meine Stimmbänder sind bei dem großen Feuer, wie ich es bei mir stets nenne, verletzt worden. Immer wieder krächze ich: »Help me, help me!«

So sehr ich mich auch bemühe, es kommt niemand, um mich zu retten. Und irgendwann versinke ich in der gütigen Umarmung einer Ohnmacht.

Als ich erwache, ist es dämmrig im Zimmer, die Tulpen sind immer noch da, doch still und reglos nun. Endlich schaut die Nachtschwester herein. Ich gebe ihr zu verstehen, dass sie den Strauß hinausbringen und das Licht löschen soll. Dann lasse ich mir ein Schlafmittel verabreichen.

Ich liege im Dunkeln und versuche, zur Ruhe zu kommen. Die Angst hat mich angestrengt. Doch das Bild der lauten Tulpen ist so stark, dass ich noch eine Weile darüber nachgrüble, warum ein harmloser Blumenstrauß – noch dazu ein liebevolles Mitbringsel von Anouk – solch eine starke Reaktion hat auslösen können. Vielleicht haben die Tulpen mir ins Gedächtnis gerufen, dass es dort draußen, hinter diesen Mauern, ein anderes Leben gibt, ein pulsierendes, wildes, buntes Leben, das so viele Farben und so viele Facetten hat. Vielleicht wollten die Tulpen etwas mit Gewalt ans Tageslicht zerren, Fragen in mir aufwerfen nach all den Frühjahren, den Sommern, die ich schon erlebt habe. Und mir zeigen, dass ich nichts mehr weiß. Dass das Leben sich nicht in diesem Mikrokosmos hier erschöpft, in dieser weißwattigen, winterlichen Einsamkeit.

Doch da ist noch ein Gedanke, der mich mehr beunruhigt als die Gewissheit, dass das Leben an mir vorüberzieht. Es ist nur eine Ahnung, die durch nichts zu begründen ist als durch die Angst selbst. Dass nämlich hinter diesen Tulpen etwas lauert, das nur darauf wartet, mich anzuspringen und zu verschlingen.

Die Wochen ziehen vorüber wie Stunden. In all der Gesichtslosigkeit umschließt mich der »American Way of Being« wie ein Kokon aus Pragmatismus und Humor, mit einem Übermaß an Verständnis für jeden Nervenzusammenbruch, für jedes Sichgehenlassen.

Meine Therapeutin Julie, eine dunkelhaarige und ernste Frau mit einem wunderbaren und schleppenden Südstaaten-Slang, versucht, mich zum Sprechen zu bringen.

Es ist ja nicht so, dass ich nicht wollte. Ich möchte sprechen, aber ich erinnere mich an nichts.

Julie versucht, sich mit mir gemeinsam zu meiner Vergangenheit vorzutasten und Fragmente meines gespeicherten Lebens irgendwie aus mir herauszuholen. Doch ich tauge zu nichts.

Julie erklärt mir, ich solle die Erinnerungen zulassen, aber auf keinen Fall krampfhaft versuchen, sie herbeizugrübeln. Sie nennt meinen Zustand eine »partielle Amnesie« und bereitet mich darauf vor, dass mich einige Fetzen aus der Vergangenheit blitzlichtartig heimsuchen könnten – das sei sogar ziemlich wahrscheinlich.

In schockierenden Situationen oder bei Erfahrungen, die schwere Konsequenzen nach sich ziehen, entstehen detaillierte und permanente Erinnerungen an die Erfahrung direkt vor, während und nach dem schockierenden Ereignis. Diese Blitzlicht-Erinnerungen werden aufleuchten, mich erschrecken, mich verwirren, mich vielleicht auch ängstigen. Ich solle sie einfach annehmen, sagt Julie.

Entgegen ihrem Rat kann ich nicht aufhören zu grübeln. Ich frage mich immer und immer wieder: Was hat ein Strauß roter Tulpen mit Feuer und Tod zu tun?

Toter bei Großbrand in Lindau

Bei einem Großbrand auf dem Gelände der Firma Winther Simulatorenbau in Lindau (Bodensee) ist am späten Freitagabend ein Mann ums Leben gekommen. Der in Bregenz ansässige Inhaber des Unternehmens Max Winther wurde bei dem Versuch, den Mann zu retten, schwer verletzt. Wie die Polizei mitteilt, handelt es sich bei dem Toten vermutlich um einen Obdachlosen, der sich in der Vergangenheit wiederholt Zutritt zu einer der Lagerhallen verschafft hatte, um dort zu übernachten. Die Brandursache ist noch ungeklärt.

Vorarlberger Nachrichten, 7. Januar

Brennende Zigarette mögliche Brandursache

Nach dem Brand in einer der Lagerhallen der Firma Winther Simulatorenbau in Lindau haben Spezialisten des Landeskriminalamts die Ermittlungen übernommen. Nach Polizeiangaben suchte auch ein Spürhund nach Hinweisen auf die Ursache des Feuers. Einen technischen Defekt schlossen die Ermittler inzwischen aus. Den Untersuchungen zufolge wurde das Feuer, das in der Nacht von Freitag auf Samstag, den 5. Januar, ausgebrochen war, von einer offenen Flamme oder von Tabakglut ausgelöst. Ein Polizeisprecher gab als mögliche Brandursache eine brennende Zigarette an. Dies decke sich auch mit den Ergebnissen der Obduktion des Toten, bei der festgestellt wurde, dass der Mann stark alkoholisiert gewesen war. Der Inhaber der Firma Winther Simulatorenbau, Max Winther, der bei dem Versuch, den Mann aus den Flammen zu retten, lebensgefährlich verletzt wurde, ist gestern in eine Spezialklinik für rekonstruktive Chirurgie nach Los Angeles gebracht worden.

Vorarlberger Nachrichten, 30. Januar

Ein Mann ist gestorben, ein Opfer gieriger Flammen, und ich habe ihn nicht retten können. Ein Mann ist gestorben, sein Körper verbrannte zu einem schwarz verkrusteten Haufen Kohle. In manchen Momenten glaube ich, ihn zu sehen, vielleicht ist es aber auch nur die Vorstellung, die ich davon habe, wie es wäre, ihn zu sehen, dort, in einem brüllenden Meer aus Rot.

Und dann ist es auch schon wieder fort, dieses Fragment eines Bildes, aufgeflackert und ausgelöscht wie eine Stichflamme. Was bleibt, sind nur die Worte, Anouks Worte. Ein armes Schwein, denke ich, dieser Obdachlose, der dort verbrannt ist. Und ich konnte ihn nicht retten.

Ich grüble auch über unser Leben davor. Wir sind also ein kinderloses Ehepaar mittleren Alters. Warum haben wir keine Kinder? Ich wage nicht, Anouk zu fragen. Wenn sie der Grund dafür war, dann möchte ich sie nicht verletzen. Wenn ich der Grund dafür war, so gesellt sich zu meinen Zerstörungen auch noch dieser andere Makel. Und so ziehe ich in diesem Fall die Unwissenheit vor.

An einem Tag, an dem ein dürftiger Regen an die Fensterscheibe tickt, bringt Anouk einen Schuhkarton voller Fotos mit in die Klinik. Sie hat ihn sich von zu Hause schicken lassen.

Ich sehe Menschen, die mir fremd sind und von denen ich glaube, sie nie zuvor gesehen zu haben: mein Vater, der nicht mehr lebt, unsere besten Freunde Barbara und Karl.

Barbara ist eine auffallend schöne Person, die ihre Attraktivität wie eine Waffe vor sich herzutragen scheint. Karl sieht aus wie ein Mann, der seine Zeit auf dem Tennisplatz verbringt.

Fotos von ihren Eltern zeigt Anouk mir nicht.

Auf anderen Bildern sehe ich einen Mann mit braunem, leicht gelocktem Haar, gerader Nase und herausforderndem Blick. Sein Mund ist breit, die Lippen sind fein geschwungen, man könnte sie als sinnlich bezeichnen. Alles in allem ein Mann in seinen besten Jahren, der vielleicht etwas selbstgefällig wirkt. Und zu Übergewicht neigt. Anouk sagt, das bin ich.

Die Ärzte haben einige Fotos von mir digitalisiert und darauf Linien und Maße eingezeichnet. Dr.Nassr sagt, sie werden nun beginnen, die rechte Hälfte meines Gesichts, die bei dem Brand schwer verletzt wurde, wiederherzustellen.

Ich muss operiert werden, einmal, zweimal, mehrmals. Und vielleicht werde ich nach fünf Operationen, wenn sie ihre Skalpelle durch meine Haut geritzt, die Wangen mit Fleisch aus meiner Hüfte unterpolstert, einen Steg in den Knorpel meiner Nase implantiert und die Haut ausgetauscht haben, wieder sein wie früher. Aber kann ich das?

Am Tag vor der ersten Operation bitte ich Anouk, mir einen Spiegel zu bringen. Sie verlässt das Zimmer, kehrt nach einer Weile zurück und hält mir einen Handspiegel vor das Gesicht. Zuerst spüre ich nur, dass der Spiegel da ist, denn ich lasse meine Augen noch geschlossen. Langsam, ganz langsam öffne ich sie und starre auf das Abbild einer Mumie aus einem Horrorfilm. Auf einen lebenden Toten.

Ich mache

einen eigenen Raum

aus Luft und Atem

Da wohne ich

in meinem Untergang

und unterhalte mich

mit Fischen

ROSE AUSLÄNDER

Anouk

Meine Liebe zu Anouk war für mich wie ein kostbarer Schatz. Ein großes Glück war mir zuteil geworden, ohne dass ich etwas dazu getan hatte oder etwas dazu hätte tun können. In den Wochen und Monaten in der Klinik fragte ich mich ständig, ob ich schon früher unter diesem Gefühl gelitten hatte, sie nicht zu verdienen.

Ich beobachtete sie. Meine Augen folgten ihr durch die Löcher in meinem Verband und da ich den Kopf nicht wenden konnte, war es jedes Mal wie ein scharfer Schnitt, wenn sie aus meinem Gesichtskreis verschwand und ich nurmehr das Rascheln ihres Kleides oder ihre leisen Schritte hören konnte.

Wenn sie dann wieder eintauchte in die für mich sichtbare Welt, war das für mich ein Augenblick großer Erleichterung – der Moment, in dem ich ihr Lächeln wieder erblickte und mich davon überzeugte, dass sie mich noch nicht verlassen hatte. Der Gedanke daran war irrational, das wusste ich. Anouk hielt zu mir, sorgte sich hingebungsvoll um mich. Aber die dumpfe Angst, sie möglicherweise nie mehr sehen zu dürfen, ließ sich trotz allem nicht unterdrücken.

In diesen ersten Wochen, als eine Verletzung am Halswirbel mir nicht gestattete, den Kopf zu wenden, saß Anouk oft an meinem Bett und erzählte. Am meisten aber liebte ich es, wenn sie mir vorlas. Dann war sie ganz bei mir und ich konnte sie unentwegt betrachten, für die Länge eines ganzen Kapitels oder mehr. Ich sah ihr zu, wie ihre Lippen die Worte formten, wie das Licht auf ihrem Haar wanderte, bis es im Zimmer dämmrig wurde und sie die Nachttischlampe einschaltete. Oft blieb mein Blick auch an der hauchdünnen Kette an ihrem Hals hängen und an dem Tropfen aus rotem Stein, der im Sonnenlicht wie Lava glühte. Ein Geschenk von mir, wie sie sagte. Manchmal trug sie auch ein Armband, das aus winzigen roten Korallen bestand und sich perfekt um ihre schmalen, weißen Handgelenke legte.

Ich liebte Anouk und diese Liebe hatte etwas Verzweifeltes, so, als wüsste ich von vornherein, dass unser Zusammensein nur vorübergehend sein konnte. Die Minuten, die wir miteinander verbrachten, schienen gezählt zu sein. Draußen vor der Tür würden Abschied und Traurigkeit auf uns lauern. In meinen klareren und stärkeren Momenten führte ich dies auf unsere Lebenssituation zurück. Anouk kam, blieb eine Weile, manchmal eine Stunde, manchmal auch drei, und dann ging sie fort und ließ mich allein zurück.

Das Zimmer kam mir dann unerträglich weiß und steril vor. Lebensfern.

Mich bedrückte der Umstand, hier wie gefesselt liegen zu müssen. In einem Korsett und mit Stahlschienen in beiden Beinen. Mit Binden, die mein verstümmeltes Gesicht irgendwie zusammenhielten.

Immer wieder fühlte ich die beklemmende Angst, Anouk würde draußen, in der wirklichen Welt, einen anderen finden: einen gesunden Mann mit einem starken Körper. Jemanden, der sie umarmen und tragen konnte, der sie – ganz anders als ich – auch mit dem Körper lieben konnte.

In meinen gedanklichen Monologen sprach ich mir selbst gut zu. Sicherlich litt ich einfach nur unter der Stille um mich herum. Unter der erzwungenen Isolation und der Unfähigkeit, mich verständlich zu machen. Und eigentlich war das Zimmer ja auch gar nicht so steril. Es war im Grunde sogar hell und freundlich und wie in allen teuren Privatkliniken legte man Wert darauf, eine wohnliche Atmosphäre zu schaffen.

Am Fenster stand ein Schreibtisch, etwas weiter davon entfernt eine kleine Sitzgruppe, ein Tisch und zwei Sessel aus weichem, weißem Leder. Gegenüber von meinem Bett hingen drei Fotografien, auf denen weite, in bläuliches Licht getauchte Landschaften zu sehen waren. Verschwommene Umrisse von Kamelen, eine blassgelbe Sonne vor einem hellgrauen Himmel, blaues Wasser und orangerote Fische. Schließlich die Weite der Sahara oder einer anderen unendlichen Wüstenei. Wenn Anouk das Zimmer verließ, sah ich die Kamele ziehen und begann, mit den Fischen zu sprechen.

»V« wie »Victory«

In diesen Monaten glaubte ich, es würde immer so weitergehen: das Warten von einem OP-Termin zum nächsten, dazwischen Angstschübe, die aufflammten und wieder abebbten.

Im Laufe der Zeit entwickelte ich eine Strategie gegen die Angst. Vor jeder Operation schob ich die Panik ein Stückchen mehr beiseite. Ich konzentrierte mich darauf, den Übergang vom Leben in den Narkoseschlaf genau zu beobachten. Von Mal zu Mal steigerte ich mich stärker in den Wunsch hinein, alles dokumentieren zu können. Ich wollte mir das letzte in mein Bewusstsein tretende Bild merken, die letzten Sekunden vor der Bewusstlosigkeit mit meinem geistigen Auge filmen und so in meinem Gedächtnis speichern. Ich wollte mehr erfahren über dieses Hinübergleiten in den Zustand meiner geistigen Nichtexistenz auf einem Operationstisch.

In den Nächten nach den Eingriffen träumte ich von Wörtern. Schon vor dem Einschlafen geisterten sie wie Spruchbänder, von Flugzeugen gezogen, durch mein Bewusstsein. Darauf stand: »Die Erfolge in der rekonstruktiven Chirurgie«, daneben Fotos von Xiao Liewen, dem chinesischen Mädchen, dem sie versucht hatten, ein menschliches Antlitz wiederzugeben. Wie gut ich doch dran war, dachte ich, wenn ich aus diesen Alpträumen erwachte und Xiao mich immer noch mit ihren geschundenen Gesichtsresten ansah. Sie hatte nurmehr ein Auge. Das Gewebe für ihre neue Nase war ihrem Bauch entnommen worden.

Auch mir haben sie nachgezüchtetes Hautgewebe transplantiert, aber es betraf nur einen vier Quadratzentimeter großen Bereich unterhalb des rechten Wangenknochens. »Lucky me«, wie man hier sagte! Mein Gesicht war nur von einer v-förmigen Nahtstelle durchzogen.

»V« wie »Victory«, das war kein Hohn.

Mein rechtes Ohr war an den Rändern zwar ein wenig gezackt, der rechte Rand meiner Oberlippe blieb farblos. Doch alles in allem haben sie mich passabel zusammengeflickt, und das mir damals endlos scheinende Leiden, die Omnipräsenz des Schmerzes, alles ist nun – fast – vergessen.

In den späteren Monaten, nachdem sie mir das Korsett abgenommen und die Stahlstäbe aus meinen Beinen entfernt hatten, musste ich gehen lernen. Anfänglich benutzte ich ein Gestell, dann zwei Krücken, dann nur noch eine. Ich weiß noch genau, wie ich das erste Mal alleine zum Schreibtisch ging, mich langsam auf den Stuhl setzte und hinaussah. Meine Beine schmerzten, ebenso mein Rücken. Doch ich trainierte eifrig weiter.

An einem sonnigen Tag tat ich meinen ersten selbstständigen Schritt nach draußen, stockend und ungeschickt. Es war, als wäre mir etwas längst verloren Geglaubtes wieder geschenkt worden, als wartete ein noch viel größeres, noch viel kostbareres Geschenk darauf, von mir in Besitz genommen zu werden. Das Leben selbst.

Der Tag, an dem sie mir endgültig die Verbände abnahmen, war gekommen. Ich weiß noch, wie meine Finger zitterten, als Anouk mir den Spiegel reichte. Ich weiß noch, wie ich ihn fast verfehlt hätte und er auf den Boden geglitten wäre, beinahe. Dr.Nassr hat ihn aufgefangen. Diesen Augenblick, ich werde ihn niemals vergessen, als ich das erste Mal nach all der Zeit meine Züge erblickte. Mit einer abrupten Bewegung riss ich den Spiegel Dr.Nassr aus der Hand und starrte hinein.

Traumschleife

Mehr als eineinhalb Jahre nach dem großen Feuer verließ ich die Rosenstein Clinic zum ersten Mal. Die Operationen, die sie inzwischen an mir vorgenommen hatten, waren erfolgreich verlaufen. Mein Gewebe brauchte jetzt längere Zeit Ruhe, um auszuheilen, sodass sie zu gegebener Zeit noch einmal würden Hand anlegen können.

Der Tag, an dem Anouk mich aus dem Krankenhaus abholte, war ein Montag im Oktober. Sie trug ein helles Seidenkleid, die Kette mit dem roten Tropfen und das Armband mit den Korallen, die wie winzige Zähne eines exotischen Fisches ihr Handgelenk umschlossen. Auf dem Kopf hatte sie einen breitkrämpigen, weißen Hut und ich dachte: »Wie schön sie ist.«

Auf dem Weg zum Parkplatz erzählte sie mir: Sie hatte ein Haus gefunden, ein Haus am Meer. Dorthin sollten wir uns zurückziehen und die Heilung meiner Wunden abwarten, bis es erneut – ein letztes Mal – Zeit wäre, in die Klinik zu gehen. Sie beschrieb das Haus, einen weiß gestrichenen Strandbungalow, nur sehr einfach ausgestattet, aber mit einer Veranda, die aufs Meer hinaus ging.

Auf dem Parkplatz steuerte sie auf einen 61er Caddy Convertible zu. Er hatte cremefarbene Ledersitze und vorne eine durchgehende Sitzbank. Ich sah sie an und setzte an, um etwas zu sagen. Ich fühlte mich nicht wie jemand, der zu so einem Wagen passte. Doch als ich die kindliche Freude sah, die in ihren Augen funkelte, schwieg ich.

Wir fuhren auf dem Pacific Coast Highway und es war wie in einem schönen Traum. Die Berge versanken im Meer, grüne Hügel, die jäh zu Fels wurden und ins Meer hineinstürzten. Scharfe, wie von einem wütenden Zyklopen ins Wasser geworfene Gesteinsbrocken, von Gischt umspült. Und der Himmel, der irgendwo hinter der Unendlichkeit den Ozean berührte.

Anouk hatte den Sommerhut gegen ein rotes Seidentuch eingetauscht. Sie trug eine altmodische Sonnenbrille mit großen Gläsern, die mich an alte Hollywoodfilme erinnerte. Anouk sprach ununterbrochen, gestikulierte, deutete auf die Berge, die Buchten, die Strände. Sie war voller Übermut, riss sich das Tuch vom Kopf, ließ es flattern wie einen roten Wimpel und der Fahrtwind zerrte an ihrem Haar.

Unterwegs bogen wir vom Highway ab und kauften in einem Superstore so viel ein, dass der Kofferraum und der gesamte Fond des Convertible mit Einkäufen vollgestopft waren. Anouk bestand darauf, bei einem Geschäft für Künstlerbedarf haltzumachen und Farben, Pinsel sowie eine Leinwand zu kaufen. Für mich. »Du musst irgendetwas tun.«

In einem Bookstore kaufte sie einen ganzen Stapel Bücher, denn wir hatten unsere täglichen Lesestunden beibehalten, auch, als meine Arme schon längst genesen waren und ich selbst ein Buch hätte halten können.

Als wir vom Pacific Coast Highway abbogen und das Sträßchen zum Haus hinabfuhren, verband Anouk mir die Augen mit ihrem roten Tuch. Einige Minuten später wurde der Duft des Meeres stärker. Ich hörte, wie sie langsamer fuhr und schließlich den Motor abstellte.

Jetzt drang das Rauschen der Brandung an meine Ohren. Ich spürte Anouks Finger an meinem Hinterkopf. Sie löste das Tuch und ich sah unser Paradies: das graue Strandhaus und die kleine Bucht. Der Zauber dieses Ortes raubte mir den Atem.

Unser Haus in Garrapata Beach war klein und aus Holz. Es hatte ein noch kleineres Nebengebäude, das einmal ein Atelier gewesen sein musste. Die Farbe begann besonders an der dem Meer zugewandten Seite abzublättern. Es lag am Ende einer beschaulichen Bucht, von der aus man über einen steilen und gewundenen Pfad zu einem großen, endlosen Strand gelangte.

Anouk hatte Monate gesucht. Und als sie das Haus zum ersten Mal sah, wusste sie gleich, dass sie dieses – und nur dieses – wollte. Sie fand heraus, dass es einem schrulligen Alten aus Santa Monica gehörte, der jedoch auf keinen Fall vermieten wollte. Anouk ließ nicht locker. Sie rief ihn an, fuhr sogar zweimal zu ihm hinaus und irgendwann, als sie schon drauf und dran war, ein anderes zu nehmen, meldete er sich unverhofft und sagte, wir könnten das Haus haben.

Der Bungalow bestand aus einer großen Wohnküche und einem fast ebenso großen Schlafzimmer. Außerdem gab es ein winziges Bad mit Dusche. Die Einrichtungsgegenstände waren alt und abgewohnt, verfügten aber über einen besonderen Charme, den ich mir nicht so recht erklären konnte.

Die Verandamöbel waren aus grauem, verwittertem Rattangeflecht, eine brüchige Korbschaukel hing von der Decke, das Bett schien selbst zusammengezimmert. In der Küche stand ein runder Tisch mit ebenfalls zwei Rattanstühlen. Außerdem enthielt dieser Raum einen Kamin, davor stand ein Sofa mit einem verblichenen Rosenüberwurf.

Es war perfekt.

Ein überschaubares Reich, das wenig Pflege bedurfte, denn Anouk hatte angekündigt, dass sie keine Putzfrau wünschte und alles allein machen wollte. Ich fragte nicht nach dem Grund, wusste aber instinktiv, dass sie mir zuliebe auf eine Hilfe verzichtete. Sie wollte mir neugierige und mitleidige Blicke auf mein geschundenes Gesicht ersparen.

Mit der Zeit prägte sich das Muster unserer Tage und Nächte. An den Vormittagen malte ich, die Nachmittage verbrachte ich zusammen mit Anouk und meine Nächte waren traumbebildert.

Ich fühlte mich gut, obgleich die Bilder, die ich zu malen begann, von einem eher verstörten Innenleben sprachen. Das konnte ich auch ohne psychologische Ausbildung erkennen. Meine Werke ähnelten so gar nicht den freundlichen und naiven Landschaften, die ich in der Klinik unter Julies Führung zu Papier gebracht hatte.

Als Anouk das erste meiner Gemälde erblickte, wurde sie blass und stumm. Es war das schwarze Gesicht eines Mannes, der in einem Meer von Rot versank. Ich selbst war weder erschrocken noch bestürzt, nahm ich dies doch zum Zeichen, dass ich endlich begann, den Brand und alles, was zuvor geschehen war, zurück in mein Bewusstsein zu holen.

Für mich war es der Beginn eines langen Weges, der mich in Richtung Heilung führen sollte. Mir leuchtete ein, dass ich vor allem das Geschehen selbst verarbeiten musste und erst danach durch den Spiegel würde treten können. Dahinter wollte ich mich wiederfinden. Möglichst unverstümmelt. Mit lückenloser Erinnerung. Sofern das menschenmöglich war.

Doch auf das erste folgte ein weiteres Bild, eines, das mich sehr wohl ängstigte, an dem ich aber – ganz objektiv und im freundlichen Tageslicht betrachtet – nichts Erschreckendes finden konnte. Ich hatte die Leinwand in zwei Hälften geteilt, aus der linken Seite wuchs ein Baum mit gelben Äpfeln, aus der rechten einer, der pralle rote Früchte trug. Beide Bäume schlängelten sich durch ein Fenster, dessen Rahmen goldene Ranken und eine türkisfarbene Borte zierten. In meinen Träumen hatte die Szenerie etwas Hebräisches, Alttestamentarisches. Ein Engel und ein Satan wirbelten darin durcheinander, in einem frenetischen Tanz, und aus irgendeinem Grund ließen mich die Bäume nicht an Adam und Eva, sondern an Kain und Abel denken. An einen blutigen Stein.

Jedes Mal beim Erwachen pochte mein Herz und noch im Halbschlaf tastete ich im Geiste das Bild ab. Ich hoffte, dass da eine Antwort wäre, irgendwo in mir, zum Greifen nah. Die Bäume trugen üppige Früchte, die verführerisch glänzten. Sie schimmerten, waren sinnlich, das Wasser lief mir im Mund zusammen. Ich biss hinein in halb festes, halb weiches Fleisch. Der Saft lief mir an den Mundwinkeln herunter, ich schmeckte die Süße bis tief in meinen Körper hinein, sie ging in mir auf, erfüllte mich ganz und betörte mich.

Und dann – mit einem Mal – war es, als hätte ich in etwas Wabbeliges gebissen, in etwas Glibberiges, das ich nicht identifizieren konnte.

Ich begann, die halb zerbissenen Apfelstücke auszuspeien. Ich spuckte und spuckte, konnte nicht aufhören, auch nicht, als längst nur noch Galle aus meinem Mund quoll. Denn der Geschmack, der meinen Gaumen und meine Zunge durchdrang, war plötzlich rostig und zäh. Und fühlte sich an wie Blut.

Einmal erwachte ich mitten in der Nacht. Anouk lag neben mir, sie atmete tief und regelmäßig und der Schein des Mondes fiel auf ihren Schlaf. Ich sah sie, doch gleichzeitig hatte ich noch das Bild meines Traums – die beiden Apfelbäume – vor Augen. An jenem Tag hatte ich das Bild dazu fertiggestellt und noch nicht mit einem neuen begonnen.

Plötzlich rannte ich ins Atelier, von einem unerklärlichen Zwang gepackt. Ich nahm eine Flasche mit Acrylfarbe, schraubte sie auf und bespritzte das fertige Bild mit Rot.

Irgendwann hielt ich inne und starrte auf das Ergebnis. Der Anblick war mir auf sonderbare Weise vertraut. Und plötzlich glaubte ich zu wissen, dass dieses Bild irgendwo eine Wirklichkeit hatte.

Wenn ich zum Atelierfenster hinausblickte, sah ich Anouk oft auf dem Felsvorsprung sitzen. Sie trug einen altmodischen Badeanzug, der mich an die Diven der 50er-Jahre denken ließ.

Anouk war für mich ein lebender Anachronismus. Ihre Art, sich zu kleiden, die Zurückhaltung in ihrem Stil – sie zeigte niemals zu viel Haut –, die Sorgfalt, die sie bei der Wahl ihrer Kleidung erkennen ließ, machte sie zu einer Erscheinung aus einer anderen Welt und Zeit. Sie hätte ohne Weiteres eine Rolle in einem alten Hitchcock-Streifen übernehmen können. Sie war schön und kühl, erotisch und geheimnisvoll. Einige wenige Male sah ich sie dort lesen, doch meist saß sie einfach nur da und blickte aufs Meer hinaus.

Unser Leben verlief mit großer Regelmäßigkeit und frei von Terminen. Das Mittagessen bereitete mal Anouk, mal ich. Danach legten wir uns meistens auf das selbst gezimmerte Bett, unter den Deckenventilator. Wir liebten uns und manchmal redeten wir. Später am Nachmittag setzten wir uns in den Convertible und fuhren die Küste entlang oder auf kleineren Straßen ins Landesinnere. An der Tankstelle in unserer Nähe kauften wir winzige, unglaublich süße und würzige Zimtkaugummis. Noch heute erinnert mich der Duft von Zimt an diese leichte und sorglose Zeit, von der ich damals so fest glaubte, sie sei der Anfang eines neuen und wunderbaren Lebens.

Anouk und ich entdeckten die Welt für uns. Auf diesen Ausflugsfahrten fühlten wir uns altmodisch, wie Sommerfrischler an einem Sonntag vor fünfzig Jahren.

Eines Tages erblickten wir ein kleines Hotel auf einem Hügel. Anouk lachte beim Vorüberfahren vor Entzücken und ich machte ohne lange zu überlegen den Vorschlag, dort etwas zu trinken.

Ich stellte fest, dass niemand mich anstarrte. Niemand verstummte, als ich das Foyer betrat. Dies nahm ich zum Zeichen, dass es Zeit wäre, einen ersten Schritt zurück ins normale Leben zu wagen, raus aus der Isolation.

An sonnigen Tagen setzten wir uns auf die Terrasse, tranken Tee aus altmodischen Tassen mit bukolischen Szenen und versanken in einer Atmosphäre von Fin de Siècle. An den wenigen Regentagen saßen wir im Wintergarten, ließen uns einlullen in das gleichförmige Ticken der Tropfen und sahen durch die gesprenkelte Scheibe hinunter in eine steil abfallende Schlucht, die mich an einen Miniaturcanyon erinnerte.

Der Kellner war ein älterer Herr im Frack und ich fragte mich bei jedem Besuch, wie er sich fühlen mochte, an diesem zurückgezogenen Ort über den Hügeln, so abseits der realen Welt aus Malls und Drive-Ins, aus Budweiser-Neon und Motels, die die Straßen säumten. Wo mochte er wohnen, war er verheiratet oder lebte er allein in einem kleinen Apartment? Hatte er Kinder?

Ich beobachtete ihn unauffällig und stellte mir all diese Fragen, spann mir ein Leben für ihn zurecht, in dem eine sanfte, freundliche und hübsche Frau mit dem Dinner auf ihn wartete. An anderen Tagen wiederum war ich mir sicher, dass er alleinstehend war und nach der Arbeit über den Wolken in einem Seven Eleven einkaufte, weil alle anderen Geschäfte dann schon geschlossen hätten. Gefragt habe ich ihn nie.

Das Hotel auf dem Hügel war der einzige Ort außerhalb unseres Strandhauses, den ich mehr oder weniger regelmäßig besuchte. Zu Beginn war es eine spontane und experimentelle Rückkehr in die Welt. Mit der Zeit wurden die Besuche dort zu einer Gewohnheit, die uns beiden lieb und teuer war. Und die doch ein jähes Ende finden sollte.

An einem Sonntag Anfang November kamen wir später als gewöhnlich zu unserem Hotel. Wir hatten den Nachmittag am Carmel River State Beach verbracht und wollten nun auf eine späte Tasse Tee hier einkehren.

Wir saßen im Wintergarten. Der Tee hatte dieselbe Farbe wie der Canyon unter uns. Wir beobachteten die länger werdenden Schatten. Die Erde leuchtete in einem bräunlichen Rot auf wie der Faltenwurf eines Gewandes, das über alles gebreitet lag. Ich saß mit dem Rücken zum Hotel, Anouk neben mir. Sie konnte sowohl die Aussicht genießen als auch den Raum überschauen. Wie oft in den vergangenen Tagen sprachen wir über meine nächste und zugleich letzte Operation, die unweigerlich näher rückte. Im Gegensatz zu den bisher erfolgten Gewebetransplantationen war dieser abschließende ein eher kleiner und unproblematischer Eingriff. Zudem nahm ich regelmäßig meine Medikamente, verzichtete ohnehin auf Alkohol, rauchte nicht und trug somit das Meinige zum Erfolg der Behandlung bei. Wir waren in gelöster, ja beinahe euphorischer Stimmung und machten Pläne für unsere Rückkehr nach Garrapata Beach.

Plötzlich hielt Anouk mitten in einer Bewegung inne und starrte hinter mich. Verwundert folgte ich ihrem Blick, doch von meiner Perspektive aus sah ich nichts, was Anlass für ihre schlagartige Veränderung hätte geben können.

Ich drehte mich wieder um, lächelte ihr zu und legte meine Hand auf ihre. Sie zitterte.

Ich fragte: »Was ist mit dir?«

Als Anouk nicht reagierte, folgte ich erneut ihrem Blick, sah aber noch immer nichts, was ihren Stimmungswandel hätte erklären können.

An einem Tisch im hinteren Bereich des Wintergartens saßen zwei ältere Ehepaare, die Empfangsdame stand neben einer Frau, die gerade eingetroffen war, und schien ihr einen Tisch zuzuweisen.

Die Frau stand mit dem Rücken zu uns, sie hatte dunkles, wallendes Haar, trug ein enges schwarzes Kleid mit einem breiten Gürtel in der Taille und extrem hochhackige Schuhe.

Noch einmal fragte ich Anouk und diesmal schenkte sie mir ein flüchtiges Lächeln, doch in ihren Augen stand etwas, das ich nur als Angst bezeichnen konnte.

Und dann gab es noch das Sandkastenbild. Im Gegensatz zu den Apfelbäumen löste es keine Ängste in mir aus.

Es war wie ein Bruchstück aus einem Traum, das losgelöst von etwas Großem und Ganzem isoliert durch mein Bewusstsein trieb. Wie das vertraute Gesicht eines Menschen, den man nur vom Sehen her kannte, tauchte das Bild immer wieder vor mir auf. Eines Tages entschloss ich mich, es durch meine Acrylfarben auf der Leinwand sichtbar zu machen.

In diesem Tag- und Nachttraum war ich ein Kind und lebte in einem Wohnblock. Es war ein abschreckendes Gebäude, hässlich wie die typischen Plattenbauten der DDR. Die Siedlung war so farb- und trostlos, dass noch nicht einmal die Katzen in die Sandkästen pinkeln wollten. Eigentlich gab es dort auch gar keine Tiere, außer ein paar jämmerlichen, zerrupften Spatzen, die ich gefüttert habe, mit altem Weißbrot, diesem strohtrockenen Zeug, das seine Konsistenz auch nach zwei Wochen im Beutel nicht ändert.

Der Sandkasten war ein von Randsteinen eingefasstes graues Rechteck, in dem wir Kinder spielten. Der Sand war grob und alt und durchsetzt mit winzigen Betonsplittern, die irgendwann von irgendeiner Baustelle herbeigeschleppt worden waren. Auf jeden Fall brüllte die Sonne auf das Karree, ließ unsere Nasen und Schultern rot werden und unsere Haare golden.

Natürlich war der Rasen nicht grün und auch nicht dicht, es waren diese bräunlichen Rasenreste, zwischen den Stellen aus festgetrampelter Erde, die sich hartnäckig widersetzten, dem Vergehen, dem Verbrennen.

Wenn die Schatten länger wurden, dann kam sie, in ihrer weißen Bluse und dem grauen Rock. Und brachte das Glück mit.

Ich fragte mich oft, aus welchem Teil meines Lebens diese Traumschleife stammen mochte, in der ich immer wieder im Sand spielte und Spatzen fütterte. In meiner blauen Hose, mit zerschrammten Knien. Ein nimmer enden wollender Kreislauf.

Warum löste dieses Bild ein so starkes Gefühl – ja, Glück – aus, obwohl die Szenerie doch im Gegensatz zu den Apfelbäumen so offensichtlich öde war?

Diese und andere Fragen geisterten durch meinen Kopf. Dazu eine vage Unruhe, die mich nun oft an Deutschland denken ließ. Meine Vergangenheit war zwar verschüttet, aber es gab Hoffnung, noch mehr Bruchteile ausgraben zu können. Was auch immer es kosten mochte.

»Wie läuft’s?«, fragte Julie, als ich einige Tage nach der letzten OP zu einem abschließenden Gespräch in ihrem Sessel versank. Ich überlegte lange und konnte keine passende Antwort finden.

»Denk immer daran: Du solltest deiner eigenen Vergangenheit nicht wie ein Detektiv hinterherspionieren.« Das hatte sie mir schon mal gesagt.

Ich zuckte mit den Achseln und brachte zögerlich hervor: »Nein, natürlich nicht.«

Julie fragte: »Also, Max, was wirst du nun als Nächstes tun?«

In diesem Moment entschied ich, dass ich nicht nach Garrapata Beach zurückkehren würde.

Diese Entscheidung schnitt in mein Bewusstsein wie ein scharfes Schwert. Vor meinem geistigen Auge flackerte das Sandkastenbild auf und mit einem Mal war klar, dass ich erst Ruhe finden würde, wenn ich herausgefunden hätte, was es damit auf sich hatte.

Anouk reagierte auf meine Entscheidung, als hätte ich nichts gesagt. Ich wiederholte meine Worte, aber sie sprach daraufhin noch immer nicht. Also schwieg auch ich und beobachtete die Pfauen, die sich um uns herum im Klinikpark tummelten und Räder schlugen. Das Sonnenlicht verlieh ihren Schwanzfedern einen matten Glanz und ließ ihr Gefieder wie einen kostbaren Renaissance-Stoff aussehen.

Irgendwann stand Anouk auf. Sie war sehr bleich, der Wind fuhr ihr durchs Haar und sie sagte: »Ich glaube nicht, dass das gut ist.«

»Warum denn nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. Ich sah sie an. Im Profil wirkten ihre Gesichtszüge starr.

»Ich … In der Firma läuft doch alles … Herr Wenzlow …«

»Darum geht es nicht.«

Abrupt wandte sie sich mir zu, fasste mit beiden Händen mein Gesicht und sagte eindringlich: »Du bist gerade operiert worden, jetzt gib dir doch um Himmels willen Zeit!«

»Zeit? Ich bin schon so lange von allem weg … Ich muss zurück.«

»Aber warum so überstürzt? Wir müssen sowieso noch mal nach Garrapata zurück. Unsere Sachen …«

»Ach was, das sind doch nur ein paar Bilder, die Staffelei und die Pinsel. Ich will sie nicht.«

»Dann lassen wir sie da. Ich habe eine andere Idee. Wie wäre es, wenn wir nach Prag gingen? Prag in der Vorweihnachtszeit, das war doch immer …«

Unvermittelt stand ich auf. Ich konnte nicht länger ruhig auf der Bank sitzen bleiben. Eilig marschierte ich in Richtung des künstlichen kleinen Sees, den sie auf dem Gelände der Klinik angelegt hatten. Anouk hatte Mühe, mit mir Schritt zu halten. Sie verfiel in einen leichten Trab.

»Was ist denn in dich gefahren? War was in der Therapie? Hast du dich an etwas erinnert?«

»Nein.«

»Woher dann diese plötzliche Eile? Wir waren uns doch einig, dass …«

»Ich muss es einfach wissen!« Ich war stehen geblieben.

In einiger Entfernung von uns, auf der anderen Seite des Sees, spielten zwei Patientinnen Federball. Ein Pfleger begleitete einen Patienten zu einer Bank am Ufer und wickelte ihn in eine Decke.

»Ich habe keine Ruhe mehr. Ich kann nicht länger in einem Traum leben. Auch wenn er noch so schön ist. Du und das Haus am Meer, das war wie aus einer anderen Welt. Aber das Leben bleibt nun mal nicht stehen …« Meine Stimme war immer lauter geworden, die beiden Frauen hatten die Schläger sinken lassen und sahen zu uns herüber.

Anouk räusperte sich. »Es war … es ist aus dieser Welt! Es ist unser Leben … Ich finde …«

»Ich habe immer mehr den Eindruck, dass du mich von zu Hause fernhalten willst!«, entfuhr es mir.

»Aber Max, wie kannst du …«

»Ja, als wolltest du verhindern, dass ich wieder arbeite, dass ich wieder mein altes Leben aufnehme!«

Ich ereiferte mich, die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Anouks Augen füllten sich langsam mit Tränen, und doch konnte ich nicht an mich halten.

Da drehte sie sich einfach um und ließ mich stehen. Ich sah ihr nach, ihren geraden Rücken, wie sie ruhig und hoch erhobenen Hauptes davonging. Ihre gesamte Körperhaltung hatte etwas Vornehmes und gleichzeitig mühsam Beherrschtes. Die beiden Federballspielerinnen blickten wieder oder immer noch in meine Richtung, und plötzlich fühlte ich mich wie ein Idiot. Wie ein unbeherrschter Schwachkopf, der nichts Besseres zu tun hatte, als die Frau, die in den vergangenen zwei Jahren alles für ihn getan hatte, vor den Kopf zu stoßen. Mit völlig haltlosen Verdächtigungen.

Eine Weile lang stand ich noch dort herum und sah ins Wasser. Dann wandte auch ich mich ab und lief los. Zuerst langsam, dann immer schneller. Schließlich rannte ich, voller Angst, Anouk könnte schon gegangen sein, ohne dass ich Gelegenheit gehabt hätte, sie um Verzeihung zu bitten.

Ich traf sie an meiner Zimmertür. Sie hatte ihre Tasche über der Schulter, ihren Mantel über dem Arm und blickte starr an mir vorbei. Ich streichelte sie vorsichtig. Sie ließ es geschehen, immer noch ohne mich anzusehen.

»Es tut mir leid. Ich … Entschuldige.«

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Anouk war blass und angespannt. Unendlich traurig sah sie aus. Ich fühlte mich schäbig.

»Anouk, ich habe überreagiert, ich war ungerecht und es tut mir leid. Ja, ich möchte mit dir nach Prag gehen. Und ich glaube, dass es wunderschön wird dort um diese Zeit.«

Langsam wandte sie den Kopf. Sie sah mich lange an, mit Tränen in den Augen. Doch als sie sprach, klang ihre Stimme beherrscht: »Du musst einfach wieder unter Menschen, das ist es. Du musst hinaus und die Welt wiederfinden, das wird dir guttun.«

Wie konnte ich ihr sagen, dass ich nicht die Welt wiederfinden wollte, sondern meine Welt?

Du fliehst und streust

die verwirrten Namen der Dinge

hinter dich.

HILDE DOMIN

Goldene Stadt

Der Flug von Los Angeles nach Prag war wie ein seltsamer Traum. Schon auf dem Flughafen von Los Angeles, dieser in alle Richtungen hinauswachsenden, riesenhaften Krake, kam ich mir vor wie einer, der aus seinem Kokon geschlüpft war. Fast zwei Jahre lang war ich in eine weiße und reine Welt eingesponnen gewesen. Fast zwei Jahre lang hatte mein Leben auf dreitausend Quadratmetern stattgefunden. In einem weißen Zimmer, das den Lebensmittelpunkt darstellte und von dem ich mich allerhöchstens einige Hundert Meter weit weg bewegt hatte, um im Park spazieren zu gehen. Und auch das Zwischenspiel in Garrapata Beach hatte fernab von jeglichen gesellschaftlichen Strukturen stattgefunden.

Weihnachten stand vor der Tür und es grenzte an ein Wunder, dass wir so kurzfristig überhaupt noch zwei Flugtickets ergattert hatten. Im Flugzeug roch es nach Tannenzweigen. Ich geriet unwillkürlich in Weihnachtslaune. Meine Stimmung war ausgelassen wie lange nicht mehr. Alles würde gut werden, das wusste ich nun.

Zur Feier des Tages wollte ich Wein trinken, doch Anouk lächelte die Stewardess kopfschüttelnd an und erinnerte mich an die Medikamente, die ich immer noch nehmen musste und die sich mit Alkohol kaum vertragen würden. So stießen wir mit Mineralwasser an, auf den ersten Schritt zurück in unser altes Leben. Anouks Augen wurden feucht. Ich redete mir ein, es seien Freudentränen.

Anouk, die rechts neben mir am Fenster saß, hatte den Kopf zurückgelegt. Sie schien zu schlafen. In der Sitzreihe links neben mir saß ein kleiner blonder Junge. Während des Starts begann er zu wimmern und drückte seine Händchen auf die Ohren. Tränen kullerten ihm die Backen herunter.

Ich spürte auf einmal das schier übermächtige Bedürfnis, diesen kleinen Kerl in den Arm zu nehmen, meine Hand auf sein Köpfchen zu legen und ihn fest an mich zu drücken. Immer wieder musste ich zu ihm hinsehen, auf sein kleines, verzerrtes Gesichtchen. Erst, als er sich beruhigte, konnte auch ich mich entspannen.

Anouk blinzelte, schlug die Augen auf und sah mich erschrocken an. »Was ist mir dir?«

Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. »Der Kleine … Ich … Er tut mir so leid.«

Anouk legte den Arm um mich, zog meinen Kopf an ihren und küsste mir die Tränen fort. Ich fragte mich, ob ich schon früher so ein sentimentaler Typ gewesen war oder ob das große Feuer und die lange Zeit, die ich in der Klinik verbracht hatte, mich dazu gemacht hatten.

Bis zu unserer Ankunft sah ich hin und wieder zu dem Kleinen hinüber, der inzwischen damit beschäftigt war, auf einem Blatt Papier herumzukritzeln mit Stiften, die ihm die Stewardess gegeben hatte. Seine Bewegungen waren konzentriert und ungelenk. Das Ausmalbild zeigte etwas, das von mir aus wie eine Baustelle mit Baggern, Kränen und Lastwagen aussah, und der Kleine war rührend in seinem Eifer, über sämtliche vorgegebenen Linien hinwegzumalen. Er hielt den Stift in der Faust, drückte fest auf und fuhr hin und her, mit eckigen Bewegungen, wobei er einige Male aufsah und seinen Vater anlächelte, der ihm ermutigende Worte zusprach.

Und auf einmal war es wieder da, das Gefühl der Rührung. Ich spürte erneut, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Rasch lehnte ich den Kopf zurück, blinzelte, schloss die Lider und blieb so sitzen, bis ich mich gefasst hatte.

Bei unserer Ankunft in Prag erklang ›Die Moldau‹ aus Lautsprechern. Ich sah hinaus in einen Regen aus grauen Bindfäden. Vor dem Taxistand wartete eine Traube Reisender, die sich nur zäh auflöste. Endlich stiegen auch wir in ein Taxi, auf dessen Hutablage ein Bäumchen mit roten, grünen und blauen Lichtern blinkte.

Bald steckten wir im Prager Schlechtwetterverkehr fest. Aus dem Radio tönte ›Last Christmas‹, tschechische Satzfetzen kamen und gingen und ich dachte noch, dass die Welt dabei war, eine zu werden, und ließ mich einlullen vom Regen, dem Lichterzauber über den Eingängen der Büros und Hotels und Restaurants. Mit Mühe entzifferte ich immer wieder Kreidetafeln, auf denen Knödel und Gulasch angepriesen wurden. In den Schaufenstern hingen bunte Holzmarionetten, Engel … und immer wieder Lichterketten.

Ich fühlte mich gut hier, in diesem alten Diesel-Mercedes, mitten im Stau, mit den Scheibenwischern, die sich rhythmisch über die Windschutzscheibe schoben.

Der Taxifahrer, ein schmaler junger Mann mit dichtem, schwarzem Haar, sah ernst und schweigend auf die Straße und ertrug die Tatsache, dass nichts voranging, mit unbeweglicher Miene und stoischer Ruhe. Irgendwann schafften wir es, zum Altstädter Ring durchzudringen.

An einer Straßenkreuzung hatte ich plötzlich das Gefühl, die Gegend wiederzuerkennen. Ganz unvermittelt tauchte es auf. Es war, als hätte man einen Filter vom Objektiv genommen. Die Farben und Konturen, die vorher nur vage zu erkennen gewesen waren, traten nun schärfer und deutlicher hervor. Allein, dass ich wusste, dass es nicht mehr weit sein konnte, war ein überwältigendes Zeichen. Irgendetwas in meinem Gedächtnis hatte sich in Bewegung gesetzt.

Anouk hatte den Kopf auf meine Schulter gelegt. Ihr Haar kitzelte meine Nase. Hinter uns ertönte wütendes Hupen. Unser Taxifahrer saß immer noch unbeweglich da, als könnte ihn nichts erschüttern. Draußen ging eine Frau vorbei, die mindestens neunzig sein musste. Ich sah ihr nach, wie sie, in einen dunkelbraunen Pelz gehüllt, über die Straße tippelte, einen winzigen Hund in pinkem Regencape hinter sich herziehend. Kurz darauf verschwand sie in der Menge auf dem Bürgersteig.

Unser Wagen schob sich wieder ein paar Meter vor. Und da war es: das riesenhafte rosa Kaninchen, auf dessen Kopf eine blaue Maus saß, die wiederum einen giftgrünen Kanarienvogel trug. Ich kurbelte die Scheibe herunter und mit einem Mal lief vor meinem inneren Auge ein Kurzfilm ab. Ich sah mich eintreten in diese Kleintierhandlung. Ich schritt durch die Tür mit den unzähligen Hundefotos und beim Betreten des Geschäfts ertönte statt der Türglocke Hundegebell und Katzengejammer.

Anouk musste die Veränderung meines Herzschlags gespürt haben. Vielleicht war mein Atem auch schneller geworden. Sie richtete sich auf und sah mich an.

Ich konnte nur stammeln. »Tierhandlung Pink Rabbit & Co. Ich kenne … Ich war schon mal hier!«

Eine zarte Röte überzog Anouks Gesicht, ein zittriges Lächeln hing in ihren Mundwinkeln und unvermittelt drückte sie mich heftig an sich. »Du wirst sehen, alles wird gut.«

Sie wiederholte diese Worte wie eine Beschwörung. »Alles, alles wird gut.« Es kam mir vor, als wollte sie nicht nur mich überzeugen, sondern auch und vor allem sich selbst.

Das Taxi bog in eine Seitenstraße ein und ich erkannte noch mehr: das Gebäude aus hellem Sandstein, in dem unser Apartment lag, die gotischen Wasserspeier an Dach und Vordach, die Linden zwischen Bürgersteig und Straße, die jetzt, mit unzähligen Lichtern bestückt, in die beginnende Dämmerung hineinschimmerten. Es war wie in einem schönen Traum.

Der Taxifahrer stellte unsere Koffer auf den Bürgersteig, nickte uns zu und fuhr davon, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben.

Ich trug unsere Koffer die Vortreppe hinauf. Vor der Haustür blieb ich stehen und sah mich um. Mein Blick schweifte die Fassade hoch und wieder runter, dann über das schmiedeeiserne Treppengeländer und über die Fratzen der Wasserspeier links und rechts des Vordachs. Sie fauchten mich mit spitzen Eckzähnen und aufgesperrten Rachen an. Mein Blick wanderte weiter über die schwarz glänzend lackierte Tür mit dem Messingring, der von einem Löwenmaul gehalten wurde. Und noch bevor Anouk den Schlüssel ins Schloss steckte und die Haustür aufdrückte, wusste ich, dass im Treppenhaus schwarz-weiße Fliesen im Schachbrettmuster angeordnet waren. Und dass das Haus einen uralten schmiedeeisernen Aufzug besaß, der stillgelegt worden war.

Unser Apartment lag im vierten und obersten Stock. Das Treppenhaus war schummrig, doch wir machten kein Licht und sahen stattdessen von jedem Treppenabsatz hinaus in die Lichterbäume, die verheißungsvoll und weihnachtlich glänzten.

Je höher wir stiegen, desto mehr veränderte sich die Perspektive und desto stärker wurde das Gefühl, sich einem sicheren Ort zu nähern. Man sah dieselbe Welt mit immer größerem Abstand, lebte aber gleichzeitig in der beruhigenden Gewissheit, jederzeit wieder rasch in die summende Geschäftigkeit der Großstadt zurückkehren zu können.

Die Wände waren graugrün gestrichen. An einigen Stellen begann die Farbe abzublättern, der schwarz-weiß gesprenkelte Terrazzoboden wies kleine Löcher auf und der Handlauf des Geländers glänzte dunkel von Tausenden von Berührungen. In der Luft hing ein Geruch nach trockenem Putz und Rosen, eine eigenartige Mischung. Dreimal mussten wir hoch- und wieder runtergehen, bis endlich alle unsere Koffer und Taschen oben vor der Wohnungstür standen.

Beim Betreten des Apartments empfingen uns weder abgestandene Luft noch Staub. Anouk erklärte, dass »Katy«, Katinka, hier gestern sauber gemacht hatte. Im Gegensatz zum Treppenhaus entsprach das Innere der Wohnung einem typisch östlichen Nach-Wende-Luxus.