Der Anfang vom Ende der Ewigkeit. - Gerhard D. Wulf - E-Book

Der Anfang vom Ende der Ewigkeit. E-Book

Gerhard D. Wulf

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Beschreibung

Ein Mann steht kurz davor aufzugeben. Sein Leben ist gescheitert. Früher ein bekannter Polizeireporter in Stuttgart schlägt er sich seit einigen Jahren als Privatdetektiv mehr schlecht als recht durch. Seine große Liebe starb bei einem schrecklichen Unfall auf der Schwäbischen Alb. Ausgerechnet dort soll er einen seltsamen Entführungsfall aufklären und muss sich seinem schlimmsten Albtraum stellen. Motiv und Konflikte der dargestellten Personen sowie die Erzählweise unterscheiden das Buch von üblichen Heimatkrimis. Enthält Darstellungen von Sex und Gewalt. Empfohlen für Leser ab 16 Jahren.

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Seitenzahl: 450

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Buchbeschreibung:

Ein Mann steht kurz davor aufzugeben. Sein Leben ist gescheitert. Früher war er ein bekannter Polizeireporter in Stuttgart. Jetzt schlägt er sich als Privatdetektiv mehr schlecht als recht durch. Seine große Liebe starb bei einem schrecklichen Unfall auf der Schwäbischen Alb. Ausgerechnet dort soll er einen seltsamen Entführungsfall aufklären und muss sich dabei seinem schlimmsten Albtraum stellen. Motiv und Konflikte der dargestellten Personen sowie die Erzählweise unterscheiden das Buch von üblichen Heimatkrimis.

Über den Autor:

Der Autor ist 58 Jahre alt, gebürtiger Unterfranke und lebt seit fast 30 Jahren im Schwabenland. Er liebt Reisen, Wein und Küche, ist Autor von Reiseführern (Historische Gast-Häuser Baden-Württemberg) und Weinkochbüchern (Winzerküche Baden, Winzerküche Württemberg, Winzerküche Franken). Der Rundfunkjournalist, Moderator und Reporter schreibt und spielt Theater seit der Schulzeit. Und er dankt seiner Frau und seiner Familie für die Motivation bei allen seinen Projekten.

Der Anfang vom Ende der Ewigkeit.

Eine erotisch-kulinarische Heimatkrimisatire

Von Gerhard D. Wulf

Gerhard D. Wulf

Schilfweg 5

70599 Stuttgart

Annidivini

[email protected]

www.annidivini.com

Erklärung: „Bei diesem Werk handelt es sich um einen Roman. Die dargestellten Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten oder Namensgleichheit mit real existierenden Menschen wären rein zufällig. Alle beschriebenen Handlungen sind zwar an die Realität angelehnt, beziehen sich aber nicht auf konkrete Begebenheiten. Auch hier wären alle Ähnlichkeiten rein zufällig. Wegen expliziter Sprache, Darstellung von Sex und Gewalt ist das Buch für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet. Die Gefahren ungeschützten Geschlechtsverkehrs setzt der Autor als hinlänglich bekannt voraus.“

Bevor wir jetzt endlich starten, sei noch ein Hinweis an die Leserinnen und Leser gestattet: Dieser Roman ist nicht linear erzählt, die Handlung springt aus der Vergangenheit in die Zukunft und zurück, verweilt natürlich auch in der flüchtigen Gegenwart und darüber hinaus blicken wir auch noch in die bewussten und unbewussten Gedankenströme der Protagonisten, teilen Erinnerungen, die wie Flashbacks auftauchen und erleben seltsame Tagträume, haben Visionen von Glück und Schrecken.

Es ist also fast wie im richtigen Leben ... Wenn es dem Autor für das Verständnis nötig erscheint, gibt er zu Beginn eines neuen Gedankensprungs einen Hinweis, wohin die Reise geht ...

15. Juni 2040. 17:00 Uhr. Alles läuft normal. Das Schiff schießt mit konstanter Geschwindigkeit auf vorberechneter Bahn in Richtung Mars. Die Humanoiden an Bord schlafen. In exakt 30 Tagen und 12 Stunden reaktiviert die irdische Kommandozentrale ihr Bewusstsein. Spezielle Programme trainieren in den folgenden Wochen Stoffwechsel und Muskulatur für die Herausforderungen des roten Planeten. Die Terraform-Spezialisten sollen sofort nach der Landung mit der Bildung einer erdähnlichen Atmosphäre beginnen.

Im Gepäck primitive Bakterienstämme und Samen anspruchsloser Pflanzen, Technik zur Schaffung von Energie, Sauerstoff und Wasser und Androiden für verschiedene Zwecke. Nahrung nicht zu vergessen. Seit 2021 bauten Roboter an der Station, die zur Keimzelle für den Neustart der Menschheit werden muss. Natürlich nicht für alle. Nur für eine Auswahl der Besten der Besten.

Zurück aus der Zukunft in der Gegenwart ...

Könnte Hochreiter Karin ermordet haben oder hatte er einen gemeinsamen Selbstmord geplant? Wollte sie ihn nicht verlassen wegen eines oder einer anderen? Erinnert er sich wieder an den Streit im Restaurant, der auf der Rückfahrt damals vor sieben Jahren eskalierte?

Hatte er, also Alexander Hochreiter, jemanden beauftragt, Karin zu ermorden? Will er jetzt die letzten Spuren beseitigen, Mitwisser aus dem Weg schaffen? Was bedeuteten die täglichen Zwiegespräche mit der Toten, die Erinnerungen an die Grotte, ihre „Lustgrotte“, die sie fanden dort oben am Albtrauf, davor die Lichtung mit dem Opferaltar der Kelten, umringt von Eichen, die blutigen Rituale jener vergangenen Zeiten, mit langen Messern an Seilen schwingend das Opfer zerschneidend ... Heute der Platz für okkulte Treffen, schwarze Messen und Sexorgien, der Schädel in der Höhle, der Schmuckstein im Schneidezahn ...

1000 Meter Luftlinie von der Stuttgarter Hochhaussiedlung Asemwald sitzen Tag für Tag die Spezialisten des Africa-Command in den Kelley-Barracks vor ihren Flachbildschirmen und steuern zur Verteidigung der freien Welt die Raketen der Predatordrohnen über Somalia und Afghanistan surrend ins Ziel: Terroristen, Hochzeitsgesellschaften, Krankenhäuser, Schulen ... Nach Schichtende setzen sie sich in ihre Dodge-Pick-ups, BMW- oder Volvo-SUVs und fahren beschallt von Bruce Springsteen heim zur Familie in Degerloch, Möhringen, Birkach oder Plieningen.

Sieben Jahre zuvor ...

Als der Eber seine Hauer in den Hals von Karin schlug, stürzte Alex` Bewusstsein durch ein Zeitloch zurück auf den alten Bauernhof zu Beginn der 60 iger Jahre des letzten Jahrtausends. Er war sechs Jahre alt. Ein kalter Novembermorgen graute. Rauchiger Nebel aus Wassertröpfchen vermischt mit dem Ruß von schwelendem Holz- und Kohlenbrikettbrand hing über dem Dorf. Hähne krähten heiser und aus dem halbverfallenen Stall seines Heimathofes drang der Schrei eines Wesens, das spürte, dass ihm Furchtbares bevorstand. Den Atem nehmender Ammoniakdampf stieg aus dem Dunghaufen. Der große Schäferhund zog knurrend die rostigen rasselnden Ketten durch die schmutzigen Pfützen. Das schwarzgelbe Fell gesträubt, die riesigen gelbschwarzen Zähne gefletscht, wich er winselnd und mit eingeklemmtem Schwanz zurück vor dem alten Herrn des Hofes, der mit dem furchtbaren Hakenstock bewaffnet in den Pferch humpelte, sein im Krieg lahm geschossenes rechtes Bein nachziehend. Das lange Jahre ungeölte Eisen des Riegels schrie lauter noch als das todgeweihte Tier dahinter.

Das Schwein war endlich rund und fett und seine letzte Stunde nun gekommen. Seit Tagen hing ein Hanfstrick vorne rechts und einer hinten links an den Füßen. Gestern Abend hatte der Bauer das Tier am Gatter fixiert nach dem Füttern, während es friedlich im Funzellicht der schwachen, von Fliegendreck bedeckten Glühbirne verdaute. Alex hatte es gefüttert, wie immer durch all die Monate, von dem Tag an, als es als kleines Ferkelchen auf den Hof kam und immer so fröhlich quiekte, wenn er kam mit den Kartoffelschalen und dem Abfall vom Kohl und manchmal mit einer der Großmutter aus dem Vorrat stibitzten Möhre und es freute sich jedes Mal und diesmal zum letzten Mal, sein letztes Mahl, denn die Oma hatte zu den Küchenabfällen sogar noch ein paar gekochte Kartoffeln in die Schüssel gelegt, als ob es ein Feiertag wäre, aber sie hatten ihm, dem Alex nichts gesagt, er ahnte nicht, dass er damit seinem Schweinchen die Henkersmahlzeit servierte.

Seit dem kargen Frühstück, einem „Caro-Kaffee“ zu altbackenen Brot mit Butter und schwarzem Johannisbeergelee war er wie in einer Schockstarre nach den knappen Worten des Bauern „Hait werd gschlacht!“. Und er sah gebannt mit weit aufgerissenen Augen voller Angst und Neugier und Abscheu und Faszination dem unaufhaltsamen uhrwerkhaften Ablauf des Geschehens zu. Jetzt gerade zerrte sein Großvater das Tier ohne Rücksicht aus dem Pferch. Hinten schob und trat der fremde Mann mit der von schwarz getrocknetem Blut gefleckten Lederschürze. Eine alte Wehrmachtskoppel hielt diese über dem dicken Bauch fest. Die silberfarbene Schließe mit dem Hakenkreuz, darüber in Frakturschrift „Gott mit uns“. Daran mit Schlaufen befestigt mehrere Scheiden, in denen die verschieden großen scharfen Messer und der Wetzstahl steckten.

Im Hof, vor der Scheune der Waschtrog schon gefüllt mit heißem Wasser, weiße Schwaden in den fahlen Himmel schickend. Das Schwein schrie jetzt so gellend, dass der Junge sich die Ohren zuhielt. Es bockte und zappelte mit aller Kraft, aber dann war es in Position, Schussposition. Der Metzger setzte den kalten Stahl mit der gespannten Feder auf die Stirn des Tiers und ließ die Sicherung los. Die Ladung explodierte und trieb mit 200 Kilometern pro Stunde den Bolzen ins Ziel. Er durchschlug die Stirnplatte und bohrte sich sieben Zentimeter tief ins Fronthirn. Dann ging alles wie im Zeitraffer: Kehle durchschneiden, Ausbluten lassen, das Blut im Eimer auffangen, das Blut gleich rühren, damit es nicht gerinnt, das machte der totenbleiche Alex, der rote warme Saft wird ja für die Blutwurst gebraucht. Die Männer arbeiten routiniert weiter: Haut abbrühen, die Borsten von der Schwarte schaben, der erste Schnaps der Metzger an diesem Morgen, den Kadaver am Scheunentor hochziehen, kreuzigen, zerteilen, die Gedärme herausholen ... Warum musste er in diesem Moment an den Nachbarsbauern denken, der jeden Morgen auf dem Weg zurück vom Hühnerverschlag ein Ei mit seinem Taschenmesser köpfte, den rohen Glibber ausschlürfte wie eine Auster und die Schale im Gehen über die Schulter auf den Misthaufen warf? ...

Wir bleiben im Kopf von Alex, machen aber einen Sprung in die Gegenwart ...

Alexander Hochreiter sinnierte mit zunehmendem Alter immer öfter über die sogenannte Schöpfung: Vishnus Nabel, aus dem eine Lotosblume entspringt, auf der Brahma sitzt. Ein Bild voller Wunder, was ist daraus geworden? Ein Glasmurmelspiel von ernstgesichtigen Kindern im weißen Kittel. Die Suche nach dem Ursprung des Universums im Ring des Höllenfeuers tief unter der Schweiz. Mit einem Fingerschnipsen öffnen sie die Büchse der Pandora, erschaffen die Bestie: Ein schwarzes Loch mit unstillbarem Hunger verschlingt die Welt ...

Ist unser Universum vielleicht nicht mehr als ein einziges Atom, treibend im Urmeer eines Planeten innerhalb dessen Heimat-Universums, wiederum winziger Baustein eines weiteren Weltalls? Die Puppe in der Puppe in der Puppe in der Puppe? ...

Der Urknall die Folge der ersten Atomspaltung? Warum nicht, Hochreiter hielt alles für möglich. Das Uratom unseres Universumslevels zertrümmert schon einmal von spielenden Kindern im weißen Kittel, auseinandertriftend in überkosmischer Zeitlupe, alles wiederholt sich, Zeit spielt keine Rolle. Raumzeit. Lichtzeit. Nichtzeit. Zeitlosigkeit. Die kleine Keule Nemesis wartet da draußen, holt Anlauf. Griechische Göttin des gerechten Zorns und der Vergeltung. Millionen Jahre braucht die fiese Zwergin für ihre Reise um die Sonne, erschütterte schon einmal den blauen Planeten. Schubste den großen Brocken an, der die Drachen auf Erden erschlug. Wir sollten ihr dankbar sein ... und ihre Rückkehr fürchten.

Oder einfach warten. Auf den nächsten Urknall, wenn sich unser Universum wieder zusammenzieht auf den kleinsten Punkt, alle Masse ein Nichts wird und dann wieder auseinanderfliegt und dann wieder sich zusammenzieht und dann wieder ... oder es dehnt sich weiter und weiter und weiter aus, bis es unendlich verdünnt wie homöopatische Lösungen einen neuen Impuls aus dem Jenseits hinter einer übergelagerten Membran anzieht, streng osmotisch ohne Plan und von dort die Zündung eines neuen Urknalls startet.

Passiert wohl ungefähr alle 20 Milliarden Jahre. Haben Wissenschaftler genau berechnet. Hatte Hochreiter bei Professor Fesch im Fernsehen gelernt. Vorher aber geht unserer Sonne das Licht aus in 4 Milliarden Jahren, bis dahin sollte die Menschheit in diesem oder einem anderen Universum einen anderen Lebensplatz gefunden haben für die nächsten 15 Milliarden mal 365 Tage. Aber wer glaubt schon daran, dass wir es bis dahin überhaupt schaffen? Hochreiter jedenfalls nicht. Sicherer war für ihn die Selbstauslöschung in absehbarer Zeit, wenn die unerträglichen Folgen der Zerstörung und Umwandlung von Planet Blau zu Planet Grau die globalen Selbstmörder auf den Knopf drücken lassen.

Die Geschichte menschlichen Lebens auf der Erde war nicht mehr als eine buntschillernde Schliere auf einer Seifenblase, die eine Millisekunde davor war zu zerplatzen. Die Menschen hatten versäumt, sich einen Sinn zu suchen jenseits von Macht und Bedeutung. Und Reichtum. Geboren aus der Gier nach mehr und immer mehr. Durchgesetzt mit brutaler Gewalt und Rücksichtslosigkeit. Nach mir die Sintflut, jeder ist sich selbst der Nächste.

Ein Programmierfehler von Mutter Natur. Fressen oder gefressen werden. Religionen konnten und wollten daran nichts ändern. Sie wurden, davon war Hochreiter überzeugt, ja erfunden, um Macht über Menschen auszuüben, um Profit und immer mehr Profit zu erwirtschaften. Die angeblich so menschenfreundlichen Programmteile im Islam, Juden und Christentum unter dem Motto Nächstenliebe waren nur dazu da, von der wahren Herrschaftsfunktion der Lehre abzulenken. Gottesfurcht als Vehikel für den Erhalt von Machtsystemen. Die Sehnsucht der Menschen nach einer Antwort auf die Frage ihrer Existenz missbraucht, um sie zu knechten. Manipulierte Gefolgsleute, die Ideologien folgen, die die Welt zerstören.

Politische Rattenfänger haben das gut durchschaut und mit beängstigendem Erfolg kopiert. Die faschistischen, sozialistischen und kommunistischen Ersatzreligionen versprachen Erlösung und Heil. Das Resultat war wieder Versklavung und millionenfacher Mord. Das Ende der Staatsreligionen im Westen nach der Aufklärung, der Monarchien nach den Revolutionen, der furchtbaren Staatsutopien im Osten, führten für Hochreiters kleinen Verstand geradewegs in die Sackgasse des puren materialistischen Kapitalismus. Befreit von jedem Sinn, außer dem, mehr zu haben, und immer noch mehr, noch größer, noch schneller, noch teurer aller Endlichkeit der Ressourcen zum Trotz taumelt das Raumschiff Erde mit seiner irre gewordenen Besatzung in den Abgrund. Dem allgewaltigen Gott des Wachstums huldigend.

Das Floß der Medusa treibt verloren im All. Die letzten Vorräte sind aufgebraucht. Kein Wasser zum Trinken, keine Nahrung zum Essen, keine Luft zum Atmen.

Hochreiter war mit seinem Latein am Ende. Welche Philosophie könnte den Wahnsinn beenden? Wie könnte der Mensch sich umprogrammieren, die eingebaute Selbstzerstörung außer Betrieb nehmen? Die Besinnung auf die wirklichen Werte des Lebens und die Schönheit des Seins trotz der Endlichkeit, das wäre ein Ansatz. Im Zen-Buddhismus wären wohl Ansätze und Wege dahin zu finden. Hochreiter hatte sich damit länger beschäftigt, als eine Freundin sich völlig ekstatisch in asiatischer Esoterik erging.

Meditationen über das jetzt und hier, das Werden und Vergehen, das Sein und das Nichts und die Erkenntnis, dass der Sinn des Lebens die Suche nach ihm ist und also für jeden in nichts anderem besteht, als für sich einen Sinn zu suchen, der außerhalb materieller Dinge liegt. Das alles war einmal sein Hobby. Es war im ein Fest, zu erkennen, dass wir nichts als kurzzeitig belebter Sternenstaub sind, tanzende Moleküle auf der Reise in die Unendlichkeit, Eintagsfliegen mit dem Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit. Unglücklich, verzweifelt und trotzdem voller Freude, weil sie gerade deswegen ihre Existenz genießen und das Gück finden, wenn auch die anderen im Frieden mit sich sind.

Stimme aus dem Off: Black Zombies. Der Strand von Jamaika. Stell dir vor, Du liegst in einem fernen Land am Strand im weißen Sand. Die Sonne wärmt dir angenehm die nackte Haut, ein leichter Wind kühlt genau richtig. In der Nase hast du den Duft des Meeres, der Mutter allen Lebens und du spürst, hörst das ewige Rollen der Wellen wie den Rhythmus des Schaukelns einer Babywiege und du wirst schläfrig und fängst an zu träumen ... Echsenhaut, faltige alte graue Echsenhaut liegt und sitzt in der Sonne, wärmt sich, wartet. Wartet aufs Mittagessen, träumt vom Dessert, zum Nachtisch den hengstschwänzigen Masseur oder die prallbusige, feuchtlippige Masseuse im Schatten der Palmen. Maden? Bald werden Maden sie verspeisen. Hochreiter träumt. Träumt vom Meer, von Lippen die nach Meer und mehr schmecken, den zahnlosen Lippen, den dreifaltigen Lippen. Das A und O, Alpha und Omega, Anfang und Ende, hinten und vorne, unten und oben, A&O, anal und oral ...

Afrika, das Floß der Medusa

Verlassen vom Mutterschiff Europa

Die Taue gekappt

Kinder, Krieger, Kannibalen ...

Gegenwart, beziehungsweise jüngste Vergangenheit, aber immer noch in Hochreiters Kopf:

Hochreiter erinnert sich an die Rede eines Flüchtlings aus dem Senegal, Gast der Talkshow zum Thema „Heimat“ vor zwei Wochen im großen Sendestudio des Südfunks in Stuttgart. Letham Tobe o´ Notobe hieß er, seltsamer Name ... und noch seltsamer war das, was er sprach:

„Ich bin der letzte meines Stammes, ausgesandt das Glück zu finden an den Gestaden Europas.

Seht hin: Die Welt ist aus den Fugen. Schwarze Männer fallen gefroren vom Himmel, Frauen und Kinder treiben aufgedunsen und angefressen an Eure Badestrände, hängen zerschnitten an Stacheldrahtzäunen, fallen erstickt und verwest aus Containern, ihr Leichensaft düngt Eure Erde. Ihr Fleisch füttert die Fische des Mittelmeeres.

Tote Boten des verlorenen Kontinents. Afrika. Aaafriiikaaa ... Welch ein schöner Name für einen von Maden zerfressenen Kadaver. Afrika, mein Bruder, das klingt doch nach dem verführerischen Lächeln einer jungen Schönen mit blitzend weißen Zähnen im ebenholzschwarzen Gesicht. Die Augen schwarz und feurig rot im Weiß wie glühende Kohle.

Seht die lockend wippenden straffen Brüste, greift nach dem prallen festen Po, riecht an der moschusduftenden Möse, reibt eure Finger durch die glitschig feuchte Furche, hört das geile Lachen spürt das scharfe Keuchen der Lust an eurem Ohr, lauscht den treibenden Trommeln und stoßt ihre Löcher im Takt oder, Schwester und Brüder, lasst Euch in Eure Löcher stoßen von ebenholzfarbenen steinharten armdicken Riesenschwänzen ...

Erregende Bilder für euch frustrierte Europäer, Männer wie Frauen waren schon immer geil auf schwarzes Fleisch. Das macht Euch schon seit Kolonial- und Sklavenzeiten scharf. Auf diese Phantasien konntet ihr jahrhundertelang wichsen und spritzen, euch fingern und in Orgasmen versinken. Ich bin schwarz, ich weiß es.

Aber Afrika ist nicht mehr die Schöne. Sie ist die Geschändete, Zerstörte, Geächtete. Seit vielen hundert Jahren. Ausgebeutet von Euch, den bleichen und gelben Kindeskinderkindern der Kinder, die dereinst aus ihrem Schoß gekrochen. Der Pesthauch der Verwesung liegt über dem Land wie über einer stinkend zerfließenden Leiche in der Hitze des Sommers.

Gegriffen, vergewaltigt und ausgeraubt von Generationen von Eroberern. Mit dem Kreuz des Schwertes oder unter dem Zeichen der scharfen Mondsichel bekehrt zum richtigen Glauben und dann in ihrem Elend alleine liegengelassen. Kein Wasser zum Trinken, kein Brot zum Essen, kein sicherer Hort, nirgendwo.

Getrieben von korrupten Häuptlingen, schlachten sich unsere Stämme gegenseitig ab. Sichern Claims für Eure Konzerne. Seltene Metalle für die Smartphones eurer Kinder. Blutige Diamanten für die Hälse eurer Frauen. Stoßzähne aussterbender Riesen für eure schlappen Schwänze. Unser Lohn der unmenschlichen Fron in den Minen sind Staublungen und Krebs.

Wer es kann, versucht zu fliehen. Unser Traum vom besseren Leben im gelobten Land aber endet in der Hölle des Todes an den fleischzerfetzenden, atemerstickenden, menschenfressenden Grenzen Europas. Doch einer Sache seid gewiss: Wenn wir nicht leben dürfen in eurem Paradies, dann machen wir es Euch zur Hölle!“ ...

Immer noch Gegenwart, aber weit weg vom Geschehen hier:

Das donnernde Echo der Stille dröhnt durch das finstere kalte All. Von da draußen sieht alles friedlich aus. Ein Kiesweg mitten im dunklen Nichts. Vereinzelt kleine Spiralmuster. Nicht vom Rechen eines japanischen Gärtners gezogen. Nicht ganz so perfekt.

Manche der runden Steine bewegen sich wie von selbst, ziehen still ihre endlosen Kreise um eine unbewegliche gleißend leuchtende Riesenkugel. Eine der kleinen Murmeln ist rot. Eine Gelbe schwingt Hula-Hoop-Reifen. Eine ist blau und weiß und grün und braun.

Wasser bedeckt drei Viertel ihrer Oberfläche. Darunter Leben und Tod. Ammoniten. Parasiten. Gemeinsam im Urmeer treibend. Füreinander geschaffen. Die winzigen Würmer fressen Löcher in die Schalentierhirne, Bruthöhlen für ihre Eier. Die wehrlosen Wirte sterben und sinken hinab in den Schlamm. Nahrung für die Nachkommen der Löcherfresser.

In Hundert Millionen Jahren versteinert. Emporgehoben durch den Tanz der Kontinente auf dem flüssigen Erdkern. Zerbrechliche Fundstücke aus Blätterteigschiefer für staunende Kinder an einem heißen Sonntagnachmittag im Steinbruch am Fuße der Alb ...

Ein immer wiederkehrender Albtraum Hochreiters: Ströme von Blut schossen die Felsen von Bad Urach herab, Blut statt Wasser färbte die Felsen.

Samstag, 21. Juni 2008

Und da kamen auch schon die ersten Besucher. Fliegende Smaragde. Die blau glänzende Calliphora vicina und die goldengrüne Lucilia. Wunderschöne Namen für widerwärtige Schmeißfliegen, fleißige Profiteure des Todes. Zuerst nur vereinzelt, angelockt vom unwiderstehlich herbsüßen Duft, mit fettem Surren eifrig suchend nach geeigneten Stellen. Sie mussten ihre Eier legen. Auf und in seine Frau. Den verwesenden Leichnam als Substrat für die Maden und Larven nutzen, sinnvolle Verwendung sich zersetzender organischer Substanzen. Simples Programm primitiver Zweiflügler.

Effiziente Lebewesen, deren Urahnen schon Dinosaurier auf deren letzten Weg begleiteten. Hochreiter konnte sie nicht daran hindern, sie nicht einmal mit der Hand verscheuchen. Karins Augen, groß und grün, aber starr und glanzlos. Die zum Schrei geöffneten karminrot geschminkten Lippen, der schöne Mund, ohne Atem. Pforten für die Resteverwerter. Die metallisch schillernden Insekten prüften mit ihrem Leckrüssel sorgfältig schleckend den Untergrund. Setzten dann mit dem Hinterleib präzise und akkurat die Eistifte zu Päckchen gebündelt nebeneinander ab. Wie außerirdische Roboter, seelenlose Maschinen, hungrige Nachkommen im Akkord auswerfend. Keine Moral, kein Mitleid. Wozu auch?

Hochreiter wusste nur zu gut, wie es weiterging. Er hatte zu viele Jahre als Polizeireporter Leichen in sein Gedächtnis gebrannt. Noch warme und schon völlig vermoderte Exemplare und alle Stadien dazwischen. Ihren grauenvollen Anblick, ihren ekelerregenden Gestank. Er wollte es nicht sehen, durfte es nicht, versuchte vergeblich, den Kopf auf die andere Seite zu drehen. Ein langgezogener klagender Schrei, wie von einem waidwunden Tier kam aus der Kehle. Er hatte keine Kraft mehr. Wimmernd schloss er die Augen. Aber er musste ihn immer noch hören, den sonoren Gesang der geflügelten Besucher, der Boten des Jenseits. Ein irgendwie zufriedenes und beruhigendes Brummen und Summen, wie wenn eine Mutter ihr Kind in den Schlaf wiegt, mal höher, mal tiefer in der Tonlage:

„wirnehmendichmit...kommdochmitunsss... wirnehmendichmit... kommdochmitunsss... wirnehmendichmit... kommdochmitunsss... wirnehmendichmit...“ Er verlor wieder das Bewusstsein.

Erst kamen die Füchse, dann die Raben, dann der Keiler, aber die allerersten waren immer die Fliegen ...

Es gab in jenem Jahr besonders viele von ihnen. Der milde Winter und das feuchtwarme Frühjahr erschufen einen furchtbar fruchtbaren Fliegensommer. Letzten Samstag an der Wimsener Höhle mussten sie ihnen ihre frisch aus der träge vorbeifließenden Zwiefalter Aach gefangenen Forellen „Müllerin Art“ überlassen. Wie Miniatur-Krähen fielen sie urplötzlich in schwarzen Schwärmen über die Teller her und ließen sich nur kurz durch eifrig und zunehmend verzweifelt wedelnde Hände vertreiben. Hochreiters Weinglas mit dem schönen Weißburgunder fiel um und flutete Porzellan und Speise. Karin lachte noch amüsiert: „Jawohl, Alex, Fisch muss schwimmen, Prost!“

Alles Bemühen war vergeblich. Nach einer niedrig geflogenen Fluchtrunde um den Tisch saßen sie wieder summend auf dem weißen Fleisch, schlürften den leckeren eiweißhaltigen Saft. Putzten sich von Kopf bis Hinterteil, richteten satt und zufrieden die Flügel. Vor einer halben Stunde noch schnappte der jetzt filetierte Räuber aus dem Wasser nach ihnen. Rache der Verfolgten an ihren ewigen Jägern, Mahnung an die Menschen: Auch Euch kriegen wir! Ihr wähnt Euch am Ende der Nahrungskette, doch die ist vom grausamen Schicksal des Lebens zu einem Ringe geschmiedet ...

Es war widerlich. Wer weiß, wo sie herkamen, worauf sie gesessen, in was sie ihre Beine, ihre Rüssel getaucht hatten ... Hochreiter warf angeekelt die Serviette wie ein Leichentuch über das Schlachtfeld aus Haut, Fleisch, Gräten und den wie blöde glotzenden milchig erblindeten Augen.

Hochreiter verbringt nach dem Unfall ein Jahr in der Psychiatrie. Trifft dort auf einen in Afghanistan traumatisierten Soldaten, der jetzt wieder als Schmied arbeitet und Nazi geworden ist. Wir werden ihm noch begegnen. Wieland nennt er sich jetzt ...

Sieben Jahre später. Zurück in der Gegenwart. Sonntag, 15. Juli, vier Uhr, eine Wiese auf der Schwäbischen Alb.

Ein kalter Morgen. Feucht war das Gras. Nicht vom Frühtau nach einer lauen Sommernacht. Am Abend hatte es mit leichtem Nieseln begonnen und der Himmel wollte mit seinem Tröpfeln nicht enden, als ob er inkontinent sei. Es regnete bis zur Dämmerung. Über den Wiesen lagen fette Nebelschwaden. Die Luft roch erdig schwer schon nach Herbst. Ein widerliches Wetter, viel zu kühl und viel zu nass. Klimawandel? Eher wohl Richtung Eiszeit. Von Erwärmung nichts zu spüren, im Gegenteil. So beschissen waren die Sommer doch früher nicht.

Hinter dem Festzelt hing einer über einem Bierfass, streckte den Lederhosenhintern Richtung Himmel und horchte mit dem linken Ohr in den Matsch. Einsam lag der Trachtenträger auf dem Platz. Nur ein paar Schnecken nutzten die für sie idealen Witterungsverhältnisse. Von der Wiese glitt ein besonders großes Exemplar geradewegs über die bleiche Wange zum geöffneten Mund des leblosen Mannes im Morast. Die Fühler der prächtigen Alb-Weinbergschnecke berührten vorsichtig die Lippen dessen, der hier wenige Stunden zuvor mit Tausenden Fans ein Fest gefeiert hatte: „Star-Gast aus Stuttgart“, „Kochgenie und Showmaster“, „Freund und Förderer der Schwäbischen Alb“! Das hatten sie geschrieben in den regionalen Zeitungen und gejubelt in Radio und Fernsehen.

Dort war er unter der Woche täglich mit seiner krawalligen Castingshow „DESUDESUKO - Deutschland sucht den Superkoch“ zu sehen. In der Sendung führten sie im Studio die Hobbyköche vor. Mittwochs jedoch mischte er mit einer Truppe ziegenbärtiger TV-Kochkollegenclowns draußen im Ländle die angeblichen Profis auf. Ein mattschwarz und grellgelb wie ein Feuersalamander lackierter amerikanischer Militär-SUV der Marke „Hummer“ war prächtige Requisite einer Doku-Küchensoap namens „jahammersbald?“. Der unglaublich wortspielige Titel war dem zuständigen Redakteur der Sendung tatsächlich auf der Toilette vors geistige Auge getreten. Unangemeldet fuhren die „Goaties“ mit der Protzprollkiste bei Restaurants vor, stürmten wie ein SEK-Kommando hinein, witzelten über die ländlich erbärmliche Einrichtung und die Deko auf den Tischen und bestellten munter die Karte rauf und runter. Mit Sonderwünschen natürlich: Statt der Spätzle Bratkartoffeln, die Soße ohne Zwiebeln, aber mit Knoblauch, das Fleisch medium bis blue ...

Der Kochstar und seine Meute schnappten sich dann die Teller, polterten in die Küche und machten die zitternden Wirte dann vor laufenden Kameras unter höhnischem Gelächter, Gewieher und Gemecker der spitzbärtigen Kochkumpel fertig. „Ich hab´ dzschon lang´ nach Dzschuhdzsohlen gedzsucht, die ewig halten, dadzs hier könnte die Lödzsung dzsein!“, prustete er mit viel Speicheleinsatz. Ja, so liebte ihn sein Publikum: Schlagfertig, zynisch und mit kräftigen Worten, war er das „enfant terrible“ der TV-Koch-Szene.

Bei öffentlichen Auftritten sah er aus und führte sich auf wie ein fettes Rumpelstilzchen auf Ecstasy: Die Glatze kombinierte er mit Chinesenzopf und kinnlangen dünn rasierten Koteletten, Kaiser-Wilhelm-Schnauzer und brustlangem Flecht-Goatie. An den Armen und an anderen Stellen trug er triviale Tribal-Tatoos. Die Nerdbrille mit Lupengläsern ließ ihn wie eine Eule glotzen. Um den speckig glänzenden Kahlschädel war ein pinkfarbenes Piratentuch gewunden. Über den dicken Bauch hing ein grellbuntes Hawaiihemd und an den Stampferbeinen spannten schockfarbene Glanz-Bermudas. Wegen des erbsengroßen Zungenpiercings lispelte er schwerstens.

Oft verfiel er zusätzlich in den polternden Dialekt des Alb-Dorfes, aus dem er stammte - zum Beispiel „ottrrr waatdsz moint Irr“- und dessen Festplatz er momentan mit reichlich derangierter Anwesenheit zierte: : Martin Bachel, 165 cm klein, mindestens 95 Kilo schwer, 45 Jahre alt, gelernter Koch und bekannter Fernsehstar.

Er nannte sich „Martäh Baschäll“, so stellte er sich zumindest anderen vor, wegen der großen gallischen Sternekoch-Vorbilder, der Liebe zur französischen Küche und weil es ihm und seiner Person „angemessen“ klang.

Um seine Vorstellung eines frankophilen Meisterkochs zu vervollständigen, sprach er ohne Punkt und Komma näselnd und rasend schnell in einer Art Singsang. Seine Gestik und Mimik setzte er dabei übertrieben unterstützend ein. Die Augen aufgerissen rollend formte er mit den Händen abstrakte Luftgemälde und hüpfte von Herd zu Herd wie eine Mischung aus Gummiball und Zappelphilipp. Zappelig war er schon als Kind.

Damals in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts nannte man das aber noch nicht „ADHS“ oder „hyperaktiv“. Statt Tabletten und Therapien gab es tagsüber Schläge und nachts notfalls Bettfesseln. Im Mittelpunkt stand er schon wie zwanghaft in der Grundschule als Klassenkasper und seine Vorliebe für absurde Inszenierungen war legendär.

So wie anscheinend auch heute wieder: Der seit Anbeginn aller Zeiten berühmteste Sohn der Gemeinde Leiserheim lag ganz gegen seine Art reg- und lautlos in seltsamer Trachtenkostümierung zwischen Bierfässern hinterm Festzelt.

Die halb heruntergezogene Hose den mächtigen weißen, mit mysteriösen blauen Mustern tätowierten Hintern kaum bedeckend, eingenässt von Bier und Urin. Weiße Pulverreste um die Nasenlöcher, eine fette Albschnecke auf dem dicken Brillenglas vor dem linken Auge. Wie war dieses bizarr entwürdigende Arrangement zustande gekommen?

Sie hatten ihn eingeladen als „den“ Showakt für den Samstagabend der 1155-Jahr-Feier des Dorfes, aus dem er stammte. Und er hatte, nachdem der lokale Sponsor noch einmal kräftig nachlegte, erst nach einigem Zögern zugesagt. Schließlich lebte er zwar seit kurzem wieder in der Heimat seiner Kindheit, aber sehr zurückgezogen hinter den hohen Mauern seiner Villa am Wald oben.

Mit Fünfzehn hatte er die Kochlehre in einem Kaff namens Froschbach bei Biberach begonnen, wo er bei einer Tante unterm Dach wohnen konnte. Im Wirtshaus „Zum Ochsen“ gleich neben der Kirche schuftete er sieben Tage in der Woche von „Siabene“ in der Frühe bis „Älfe“ in der Nacht. Am Morgen ging es los mit stundenlangem Kartoffelschälen und den ersten Backpfeifen vom Ochsenwirt. Der brachte ihm so eindrücklich bei, wie man sparsam mit dem Rohmaterial umging. Es durfte auf keinen Fall zuviel weggeschält werden, „Bachl, bisch´d bacha? zahlsch Du däs? Do hosch!“ Und weil er schon heulte, konnte er gleich noch zwei Säcke Zwiebeln schälen und schneiden. „Demit d´woisch waromm d´hoilsch!“, witzelte der Wirt hämisch.

Dann hieß es Berge von Karotten und Sellerie zu putzen und zu zerkleinern. Für die Brühe musste er schon bedenklich stinkende Knochen mit Fleischresten daran aufsetzen und den Spätzlesteig rühren, bis der und die Hände Blasen warfen. Der Teig war natürlich ohne Eier, denn Spätzle mit Ei gab es, wenn überhaupt, nur sonntags. Die klebrige graue Mehlpampe schabte der Martin später in einen riesigen Topf mit siedendem Salzwasser für den Mittagstisch.

Auch in die Geheimnisse und Abgründe des Soßenmachens wurde der Kochnovize eingeführt. Es gab zwei Grundsorten, eine helle und eine dunkle. Mehl und Margarine bildeten bei beiden die Hauptzutaten, Butter kam aus Kostengründen nicht in Frage. Der Unterschied der mächtigen Tunken lag darin, dass man bei der dunklen Soße das Mehl im Fett dunkelbraun bis schwarz anröstete. Daraus rührte Martin mit Wasser eine pappige Allzweckpampe für Spätzle, Klöße und Jäger- sowie Zigeunerschnitzel, Fleischküchle oder Braten an. Bei Jägerschnitzelsoße warf er zusätzlich gummiartige Scheiben von grau angelaufenen und grauenhaft metallisch schmeckenden Dosenchampignons hinein, Zigeunerschnitzelsoße erhielt den letzten Pfiff durch matschige süßsaure rote Paprikastreifen aus dem Glas.

Zur „hella Sosa“ wurde neben Mehl etwas Milch verwendet. Eine allseits geschätzte Trauerbegleitung für den zu gräulichem Matsch verkochten Blumenkohl. Nach Art des Hauses und der damaligen Zeit würzte man großzügig aus der „Ligga“-Literflasche, wenn die Soße eine „donkla“, also braun war. Gerne setzte Martin die große Ligga-Flasche an die Lippen und nahm zur Stärkung zwischendurch heimlich einen Schluck der aromatischen Flüssigkeit, die ein Beben aus Abscheu und Verlangen durch seinen Körper schickte. Bei „weißer Soß“ gab es ein Schäufelchen vom „guten Bergli“-Streupulver aus dem Eimer, dem hellen Allround-Geschmacksverstärker. Pfeffer gab es nur in Form faden grauschwarzen Tütenpulvers, eine Mühle für frisch gemahlenes Gewürz war in der Küche nicht vorhanden. Salz nur in billigster Form, grobes Meersalz oder feines „Fleur de sel“ – solch „französischen Firlefanz“ lernte Bachel erst viel später kennen.

Gerufen wurde der Martin übrigens nicht beim Vor-, sondern beim Nachnamen, weil alle fanden, dass das besser zu ihm passt: „Bachl“. Das bedeutet im Schwäbischen so viel wie Dummkopf oder Trottel und so nennen die Schwaben gerne ihnen nicht sonderlich schlau erscheinende Mitmenschen. „Däs isch viellaicht a Bachl“ sagen sie und zum Martin sagten sie „gäh här du Bachl“. Zum Kochen brauchte er immer zwei Töpfe: einen auf dem Herd und einen unter seinen Füßen. Damit er als Fastzwerg überhaupt „schaffe konnt“.

Das erzählte er Jahre später in der Talkshow „Wie ich wurde, wer ich bin“, kurz „WIWWIB“, dem wie üblich vor Anteilnahme triefenden Moderator Hannes Speermann. Branchenspitzname „Heuchel-Hannes“. Keiner verkörperte in Mimik, Haltung und Gestik schiere Betroffenheit und größtes Mitleid so wie er. Scheinbar frei plauderte Martin hier über seine harte Kindheit und Jugend.

Das Hannes-Publikum musste ja nicht wissen, dass sein Imageberater alles vorher Punkt für Punkt über mit dem Redaktionsteam der Sendung abgesprochen hatte. Nichts erzählt hatte er von „speziellen“ Diensten, die er damals am und für den Ochsenwirt und andere verrichten musste. Die Erinnerung daran wäre ihm zu schmerzhaft und das Reden darüber zu peinlich gewesen. Er hatte früh erkannt, dass er sich eher für Männer interessierte. Das sprach sich unter denen schnell herum. Und manche von ihnen, die beim Hören des Gerüchtes besonders empört und verächtlich taten und obwohl verheiratet und sonntags als besonders fromme Kirchgänger unterwegs, nutzten das schamlos aus. Packten ihn bei Gelegenheit für schnelle Spiele in der Scheune oder auf der Toilette, knöpften ihre Hosen vor dem knienden Jungen auf, spritzten ihm in den Mund oder ins Gesicht oder ins Gesäß, drohten ihm mit Schlägen, falls er was sage, stießen ihn in den Dreck und sahen ihn mit verachtenden Blicken an, wenn sie ihn auf der Straße trafen.

Einer spuckte sogar einmal aus vor ihm, gerade der, dessen Schwanz einige Zeit lang gar nicht genug von seinen Händen, seinem Mund und seinem Hinterteil kriegen konnte. Dessen Lippen immer so schmerzhaft an seinem Schwanz saugten, dass Martin schreien musste, dessen Zunge sich mit seiner zu einem wilden nassen Tanz fand. Der beim Ficken immer stammelnd und stöhnend beteuerte, wie sehr er ihn liebe. Und der ihn natürlich im Stich ließ, verriet und verleugnete, als er seine Hilfe dringend gebraucht hätte.

Davon wollte er nichts mehr wissen, den Dreck war er endlich los, weil er jahrzehntelang hart geackert und geschuftet hatte. Außerdem waren hier im Fernsehen ja nette und harmlose Anekdoten gefordert zur Unterhaltung. Die Zuschauer wollten nach einem harten Tag auf der Couch mit fürchterlichen Gerichtsshows und elenden Schuldenschicksalen endlich etwas zu Lachen haben. Darauf hatten sie schließlich ein Grundrecht. Und das kriegten sie auch, oberflächlich und belanglos zwar, aber die Geschichte mit den zwei Töpfen kam zum Beispiel so gut an, dass die „Boing!-Zeitung“ am nächsten Tag titelte: „Zweitopf-Koch Bachel rettet die Albschnecke“.

Zweck des Besuchs bei Speermann war die Präsentation seines aktuellen Projektes: die Wiederentdeckung der schleimigen Häuschenträger als regionalem Highlight für Gourmets. Frisch von der Alb, aus den „Schneckengärten der Königin von Saba“, wie einst Eduard Mörike im „Stuttgarter Hutzelmännlein“ schrieb. Ja, der Koch hatte sich vorbereitet und sogar alte Literatur gesichtet. Dafür ließ er sich auch von „Goodfood“ vor den medialen Karren spannen, der „Organidzsation gutverdienender Geniedzßerdzspiedzßer“ – so Bachel „off räkkordsz“ gegenüber seinem Berater.

Die gehobenen Gourmets des elitären Clubs philosophierten gerne und ausführlich über die karge, aber äußerst gesunde Armenküche der Alb, wenn sie sich mal wieder überfressen hatten an Black Angus-Rind, Straußensteak und Hummer.

„Goodfood“ versprach sich hippe Publicity mit dem Kochfreak und Bachel wiederum erhoffte sich ein positives Image. Das konnte er gut gebrauchen, wenn er demnächst seinen Super-Coup landen würde. Die Verhandlungen mit dem mächtigen LEHA-Konzern waren nämlich so gut wie abgeschlossen. Als gutbezahlter frecher „Food-Scout“ sollte er für den Diskounterriesen regionale Convenience-Produkte suchen, finden und schließlich mit seinem schrillen Konterfei bewerben. Die wollte der Konzern als neue Produktreihe „LiEbe HeimAt“ groß vermarkten.

Bachel wurde rasch fündig. Warum nicht zum Start den Schwaben-Klassiker „Linsen, Spätzle und Saitenwürstle“ gekühlt im Vakupack anbieten? Vakuumiert und gekühlt blieb das Produkt wochenlang frisch, sogar ohne künstliche Hilfsmittel und das müsste dann natürlich fett vorne auf der Packung stehen: “Regionales Produkt, wie von Oma selbst gekocht, ohne Konservierungs-, Farb- und Aromastoffe!“ Das Ganze könnte man bei Erfolg der Billigausgabe später in einer Premium- oder gar Bio-Linie anbieten, auch das müsste laufen. Denn es war ja wirklich genial einfach und auch für absolute Nichtköche geeignet: Tüten aufreißen, nur noch kurz erhitzen und fertig!

Sogar Senf und etwas Essig sollten der Packung in Portionsbeutelchen beiliegen. Bisher musste man sich das ja alles mühsam einzeln zusammensuchen: Die Würstchen im Kühlregal oder an der Bedientheke hinter entschlussunfreudigen Rentnerinnen „vialleicht do no oi, zwoi Rädle vo dr Lüonär odr do liaber Schinkawurscht, wos moinet Se?“. Die Linsen in Dosen standen bei den Konserven oder zum zeitaufwändigen Selberkochen im Päckle bei den Trockenerbsen. In einem Kühlregal lagerten die Spätzle zum Warmmachen in der Pfanne oder bei den Trockennudeln wiederum die zum Kochen. Für ganz mutige Spätzleselbstschaber gab es Mehl und Eier aus weiteren Lagerplätzen, den Essig und den Senf wieder ein paar Regalmeter weiter … schrecklich und das im 21. Jahrhundert! Bald aber, in nicht allzu ferner Zukunft, konnten die Kunden mit einem Griff, die komplette Mahlzeit in ihren Wagen befördern. Noch dazu „zum günstigen Preis und trotzdem in guter Qualität von regionalen Erzeugern“. Das musste die Einkaufsabteilung der LEHA doch überzeugen.

Bachel war sich ganz sicher, diesmal aufs richtige Pferd zu setzen. Anders als vor zwei Jahren. Damals war er mit viel Geld aus versteuerten Fernsehgagen und anderen eher unversteuerbaren Einnahmen in das zunächst sehr vielversprechende Bauprojekt auf der Alb eingestiegen. Diesen Freizeitpark nach Vorbild des Europa-Parks in Rust, angesiedelt auf dem Gelände des ehemaligen Panzerübungsplatzes - und heutigen Biosphärenreservats. Mit allem Pipapo, wie er damals schwärmte, also Achterbahnen, Karussells, Wildwasserattraktionen ...

Da war er so richtig auf die Schnauze gefallen, mit dem „sensationellen Steuersparmodell für Freiberufler“, den kriminellen Bankberater könnte er heute noch dafür umbringen. Nichts außer Verlusten und Schulden und keiner, der einen Rettungsschirm für ihn aufspannte. Seine letzte Hoffnung war der Werbedeal.

Und er hatte ja noch jede Menge Ideen für weitere Convenience-Knüller: „Schäufele, Kraut und Kartoffelstampf“, „Käs´Spätzle“ und Maultaschen, natürlich mit fertiger Zwiebelschmelze, ebenso „Schupfnudeln mit Kraut“. Eventuell „Saure Nierle in Trollingersauce mit Bratkartoffeln“? Aber da hieß es erst mal experimentieren, wie lange das hält und wie die Konsistenz der Nierchen sich entwickelt. Gummiartig und quietschend an den Zähnen war ja nicht schlimm, nein sogar produkttypisch, so kannte und liebte es der Schwabe. Schlecht wäre es, wenn die Innereien durch die Lagerung in der Sauce entweder zu weich oder zu hart würden. Deswegen zögerte er auch mit Leber-Gerichten, obwohl die Kombination mit Kartoffelbrei und gebräunten Zwiebeln in Soße verlockend klang. Was für ihn gar nicht ging, waren „Saure Kutteln“ oder „Ochsenmaulsalat“. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, wie das im Vakupack aussehen könnte, geschweige denn den Geschmack. Er fand diese Gerichte schon im „frischen“ Zustand extrem widerlich, geradezu brechreizerregend, um nicht zu sagen „zom kozze“. Bäh, ihn schüttelte allein der Gedanke an das Mundgefühl dieser traditionellen Landesspeisen. Aber andererseits, wenn die LEHA diese Scheußlichkeiten unbedingt im Sortiment haben wollte und zahlte ...?

Er würde einen Weg finden. Schnell an etwas anderes denken, zum Beispiel an einen Nachtisch wie „Milchreis mit Zimt“, aber das war ja nicht unbedingt regional, aber halt mal, natürlich: ein typisch schwäbisches Dessert, der „Ofenschlupfer mit Vanillesauce und Kirschkompott“, Wahnsinn, lecker, Bachel, Du bisch halt oifach genial! – so gratulierte er sich gerne selbst nach einer oder zwei Flaschen Bordeaux. Die brauchte er täglich zur Inspiration für seine Produktideen und abends einfach so zur Entspannung.

Jawohl, „Boohdooh“, denn Trollinger konnte er „pattuu“ nicht ausstehen. Dieses meist lauwarme limonadig grauenhafte nur zum Schein weinartige aus welchem Grund auch immer Kult-Getränk des hiesigen und damit – leider - seines Volksstammes.

Den trank er nur fürs Publikum zu offiziellen Anlässen als Botschafter seines Landes. Oder ließ sich, wenn es ging, von seinem Assistenten heimlich wenigstens einen feinen farbähnlichen Burgunder ins Glas schenken. So kam er französisch beschwingt durch seine regionalen Kochshows. Wein, richtiger Wein, das war für ihn etwas ganz anderes. Viel mehr als ein aus mehr oder weniger vergorenem Traubensaft hergestelltes alkoholhaltiges Getränk, wie es hier im Ländle leider immer noch allzu häufig praktiziert wurde.

Mit Schaudern dachte er an die mit Limonadenflaschenschraubverschlüssen versehenen Liter-Weine aus manchen Genossenschaftskellereien. Die überschwemmten mit ihren fruchtsaftigen Trollingern und süßsauren Rieslingen regelrecht das Land und waren in jedem Supermarkt „günschtichst“ vertreten. Und weil sie für aufgeklärtere Kunden ganz modern daher kommen wollten, legten sie schwache rote Tropfen jetzt in neue Eichenfässer, „Cuvée Barrique“ oder verkauften früher als Semsakrebsler verschriene aromafreie aber dafür sehr saure Weißweine als „Riesling brut“ und machten zur Verkaufsförderung 2 Sterne drauf. Läuft!

„Dadzs Zeug idzst ein Getränk für Menschen, die Wein eigentlich nicht mögen“, hatte er einmal gegenüber einem Reporter leichtfertig und weinselig fallen lassen. Und er musste dann mühsam sein Image wieder aufpolieren, weil der Pressefuzzi die Steilvorlage genutzt und getextet hatte „Schwabenkoch Bachel hasst Trollinger“. Er trank sogar zur Wiedergutmachung in einer Südfunk-Sendung öffentlich ein Viertele Korber Kopf aus dem Henkelglas. Was er kurz danach bitter bereute, da er seine Waghalsigkeit mit Magenkrämpfen, Sodbrennen, Übelkeit, dauerhaftem Durchfall und rasend pochenden Kopfschmerzen bezahlte. Sein Imageberater hatte ihn quasi dazu gezwungen, sonst drohe ihm der LEHA-Auftrag wegzubrechen. Nein, Wein war für ihn das exakte Gegenteil dessen, was er hierzuländle meist im Glas vorfand.

Wein ist – so dichtete er einmal vollmundig für das Hochglanz-Gourmetmagazin „Reisen und Speisen“ - eine köstliche Essenz aus Zeit und Raum, des Lebens und der Elemente. Trinkbare Philosophie gewissermaßen. Das leuchtende Feuer der Sonne aus den unendlichen Tiefen des Alls kommend trifft auf ein Staubkorn namens Erde. Aus der dunklen dünnen Humushülle des Planeten sprießen wie durch ein Wunder mit aller Kraft die Pflanzen.

Zum Lichte sich reckend und dieses in Süße verwandelnd, lässt sich die Rebe vom ewigen Kreislauf des Wassers Nahrung bringen: Mineralien aus den Steinen, Dünger aus dem Boden. Kühlung verschafft der Atemhauch des Windes. So ist der Wind die Sprache der Sonne und die Sonne treibt das Wasser rings um den Planeten und das seit Anbeginn der Zeiten.

All das zusammen bringt die Rebe und ihre Früchte in ihre höchste Form, begleitet von ihrem Freund, dem Winzer im Weinberg. Wie durch ein weiteres Wunder verwandelt sich im Herbst im kühlen Keller der Rebensaft. Abermillionen von winzigen Lebewesen verzaubern den flüssigen Lichtzucker fröhlich glucksend in ein feurig wärmendes köstliches Getränk. Und so wird die fruchtige Essenz der Elemente zu einem kostbaren Genuss für Geist und Gaumen und perfekten Begleiter wohlschmeckender Speisen ...

So ausschweifend schwafelnd pflegte er auch die kulinarischen Weinabende in seinem Lokal einzuleiten. „Ködsztliche Edsszendz audsz Raum und Zdszeit …wohldsdzchmeckende Sdzpeidszen …“. Wer da das zweifelhafte Glück hatte, in der ersten Reihe zu sitzen, wurde im übertragenen Sinne geduscht vom sprudelnden Wortschwall des lustvollen Lisplers. Und ganz real von den vielen Wassertröpfchen, die sich zwischen den Zähnen von der Zungenspitze lösten. Und sich aufmachten, den ewigen Kreislauf des Wassers von neuem zu beginnen.

All das Feine, Leichte, Schöne fand Bachel zumindest im schwäbischen Teil seines Landes nicht. Statt köstlichem Wein entweder zu süße oder zu saure Durstlöscher, dazu ein Essen, das nicht mehr war als schwerer Magenfüller und billiger Sattmacher. Aber das war wohl eine zwangsläufige Manifestierung des Volkscharakters der Schwaben. Die hatten hinter ihren Bergen in den finsteren Tälern oder auf der windigen rauen Hochebene das Lachen und die Lust am Leben eben nie gelernt. Oder mit ihrem traurigen selbstmitleidigen und deshalb andere, vor allem andersartige piesackenden Pietismus verlernt. Wo der Badener mit französisch anmutender Leichtigkeit fröhlich singend sein Dasein meistert, da bruddelt und hadert der Schwabe: mit sich und den anderen also Gott und der Welt und dem Schicksal und freut sich allenfalls aufs Jenseits. „Savoir mourire“ statt „savoire vivre“.

Bachel hasste Land und Leute seit der Kindheit. Diese Mischung aus Misstrauen allem gegenüber, was anders war. Knitze Bauernschläue gepaart mit verdruckster Bösartigkeit. Spießerhaft heuchlerisch lustfeindlichem evangelischen Duckmäusertum, Geiz, Kontrollsucht, Blockwartsmentalität, Borniertheit, „däs hämmr scho immr so gmacht“ … die Liste der Gründe, die ach so schöne Heimat zu verlassen war lang.

Der Mann auf dem Fass stöhnte vor Schmerz auf. Sein Bewusstsein meldete sich zurück. Wo war er? Was war passiert? Warum lag er im Matsch? Fast erstickt? Hatte er einen Hörsturz? Nein, sein linkes Ohr war bis zum Trommelfell gefüllt mit Morast. Die schreckliche Schnecke auf dem Auge. Er musste hier weg, sofort. Er durfte auf keinen Fall so gefunden werden.

Ebendieser Sonntag, 15. Juli, fünf Uhr in der Frühe, eine Wohnung im Asemwald, einem fürchterlich monumentalen Hochhausensemble mit mehreren tausend Bewohnern auf den Fildern zwischen Stuttgart und der Alb ...

Das verfluchte Telefon riss ihn aus dem viel zu kurzen Schlaf. Warum hatte er es auch nicht abgestellt gestern Nacht, als er - wann genau eigentlich? - nach Hause kam? Geschlafen hatte er jedenfalls so gut wie nicht. Mit übervollem Magen unruhig sich gewälzt, aufgeputscht vom vielen Alkohol und dem immer wiederkehrenden Albtraum:

Das große flache warme Meer, die Echsen am Himmel und im Wasser, fressen und gefressen werden, es gibt kein gut, kein böse. Der Kampf ums Überleben kennt keine Moral. Die kalkigen Knochen und Schalen der seelenlosen Kreaturen sinken zum Grund des Gewässers. Sie bilden hunderte Meter dicke Schichten aus Gräten, Gebein und Muschelkalk im Laufe der Jahrmillionen, heben - von Afrika geschoben - sich schließlich als Gebirge auf. Verwittern in saurem Regen, Frost und Wind. Werden wieder erobert von Pflanze, Tier ... und dem neu entstandenen Denksäuger Mensch.

Musikalische Jäger erfinden vor 40.000 Jahren die Kunst. Schnitzen abends am Lagerfeuer dünne Flöten aus Schwanenknochen und mythische Löwenmänner aus dem Elfenbein der Mammuts, hauen drallrunde Urmütter mit weichen Formen aus hartem Stein. Endlich endet die Eiszeit. Hirten ziehen mit ihren Schafherden auf der Hochfläche umher. Bauern säen Linsen und Gerste, züchten Büffel und Schnecken. Kelten bringen hohe Kultur und lebhaften Kommerz. Reiche Städte mit dicken Mauern, stolze Schlösser und Burgen, Blüte und Niedergang.

Dreißig Jahre Krieg und Pest, Hunger und Brandschatzung. Der kalte Wind pfeift durch die armseligen verfallenden Hütten. Mütter sterben schwindsüchtig hustend im Kindbett. Das gelobte Land jenseits des großen Ozeans ruft die verlorenen Söhne und Töchter der kargen Hochebene. Zeit zu gehen, etwas besseres als den Tod finden wir überall.

Aber auch der Tod findet uns überall: Die Fahrt mit Karin, der entgegenkommende Wagen, der Unfall, ihr Sterben ...

Es war doch Sonntag, verdammt, der Wecker zeigte kurz nach 5 Uhr. Über der Alb, als wundersam blaue Mauer ausgestreckt, kam langsam die Sonne hoch. Er hätte das sehen können, wenn er auf den Balkon gegangen wäre, hier oben in seiner Wohnung auf gut 60 Metern Höhe. Er wohnte im 18. Stock des südlichen Querriegels des sogenannten Hannibal-Komplexes der drei Asemwald-Hochhäuser, die er spaßeshalber Caspar, Melchior und Balthasar getauft hatte. Sein Turm war der Letztere.

Bei klarer Sicht wie heute waren geradeaus die Ruine der Burg Hohen-Neuffen und weiter rechts der Kegel der Achalm deutlich zu erkennen. „Hochreiter, “ krächzte der viel zu früh geweckte mit rauher Stimme, „wer sind Sie, was wollen Sie?“ Die angezeigte Nummer kannte er nicht. „I benn´dzs, der Martin Bachel, i brauch Ihra Hilf“, kam die Antwort leise und mit zitternder Stimme. „Bachel. kenn´ ich nicht! Wissen Sie eigentlich, wie viel Uhr es ist? und reden Sie gefälligst deutsch mit mir!“ „Entschuldiget Dzsie bitte die Störung, Herr Hochreiter, leget Dzsie bitte net auf, edzs idzsch a echta Notfall… i hoabb´ Angdzscht … i hoabb dzso Angdzscht!“

Jetzt machte es doch „Klick“ im benebelten Brummschädel: Bachel, Martin Bachel … das war doch dieser durchgeknallte Kochfuzzi, mit dem affektiert französisch eingefärbten Albakzent und dem schrecklichsten Sprachfehler, den er je gehört hatte. Außer bei dieser Nachrichtensprecherin auf einem Privatfernsehsender, wie hieß die noch gleich? Sehr, sehr blond war sie ... egal. Den Typen hatte er doch vor zwei Wochen in dieser wirklich widerlichen „WIWWIB“-Talkshow getroffen, in die sie beide neben anderen irritierenden Gästen eingeladen waren.

Freitag, 29. Juni, 23 Uhr, ein Fernsehstudio in Stuttgart

Thema des Talk-Abends war „Teure Heimat – geliebt oder gehasst?“ Das hätte spannend werden können. Aber der TV-Südfunk verstand seinen Programmauftrag üblicherweise darin, die Zuschauer heimattümelnd einzulullen und die Sponsoren bestens zu bedienen. Hieß an diesem Abend, dass die LEHA vertreten wurde durch diesen Bachel. Der mimte den heimatverbundenen Koch aus kleinen Verhältnissen. Ein Freund aller Menschen, der nach harter Kindheit und Jugend nun, auf dem bisherigen Höhepunkt seines Erfolges etwas zurückgeben wollte an die Menschen seiner Heimat. Denen und der er doch so viel verdanke und so weiter und so fort.

Nicht zum Aushalten dieses Geschwätz! Und dann noch die anderen schrecklichen Gäste: Susanne „Sanne“ Staißbein, selbst Moderatorinnen-Urgestein beim TV-Südfunk mit seit Jahrzehnten furchtbaren und leider erfolgreichen Formaten wie der alljährlichen „Häs-Parade“, einer unsäglichen Fastnachtsreportage oder „Woas gibbs denn hait?“ – dieser grässlichen monatlichen Heimat-Kochshow oder noch schlimmer ihr „Sonntagsausflug“ – eine entsetzliche Heimat-Musiksendung im Stil des „Mutantenstadels“, aber sogar noch jenseits dessen unterirdischem Niveau und das wöchentlich. Gegen die Staißbein ist die Clara Niesel ja eine wahre Lichtgestalt der Moderation, schoss es Hochreiter durch den langsam heller werdenden Kopf. „Herr Hochreiter, dzsennd Dzsie noch dra? Henn Dzsie mi verdzschtande ähh .. Haben Dzsie mich verdzstanden?“ „Ja, Bachel, habe ich, Sie haben Angst. Wer hat das nicht? Und was habe ich damit zu tun?“

Er versuchte, seine Gedanken weiter zu ordnen. Diese gruselige Talkshow vor gut zwei Wochen in Stuttgart im großen Sendesaal des Landesstudios. Dieser dekoriert mit grellfarbigen Wandmalereien im Stil einer Mischung aus 1000-jährigem Reich-Kitsch und DDR-Arbeiter- und Bauernsozialismusromantik. Die fürchterlichen Fresken stellten allerliebst Albhügel dar, den Schwarzwald, das Neckartal, den Bodensee und historisches Gemäuer mit trachtengewandeten fröhlichen Winzern, Schäfern, Fischern, Bürgern und Bauern bei Arbeit, Tanz und Trunk. Eingestreut in den Bollenhutkitsch waren die postmodernen Museums-Bauwerke von Daimler und Porsche sowie die Bullaugen des sehr, sehr zukünftigen Maulwurfbahnhofs in der Mitte der Landeshauptstadt.

Fehlten eigentlich nur noch Plakate der im Ländle ansässigen Pharma- und Baufirmen. Aber das war nicht wirklich nötig, denn weitere Gäste waren ja ihre Lobbyrepräsentanten wie der dicke, polternde Franz Bonzel. Größter Tunnelbauer im Lande, der trotz des undankbaren und lang anhaltenden, aber letztlich gottoderwemauchimmerseidank glücklosen Volksprotestes gegen die Bahnwohltaten immer noch tapfer hiergeblieben war. Und nicht, wie angedroht, nach China ausgewandert war, wo man als „Undärnämä“ noch bauen durfte, ausgerechnet „bei de Kummunischde“ wo und wie man wollte und keine „Prodäschtler“ störten und das sollte „dene onser Herr Exkummunischde-Minischderpräsidänt erscht amol nachmachte“. Oder der nette Herr Hans M. Walter von der SANA. Die lieferten die Pillen, mit denen man die Kopfschmerzen betäuben konnte. Die bekam man nämlich, wenn man sich dieses Geflecht von Macht, Interessen und Geschäften genauer betrachtete.

Sonntag, 15. Juli, kurz nach fünf Uhr in der Frühe, wir schalten zurück ins Telefonat zwischen Alb und Asemwald und damit in die Gegenwart ...

Kopfschmerzen, ja, da waren sie wieder. Aber diesmal kamen sie wohl vom Wein. War einfach zu viel gestern, bin halt nicht mehr dreißig, geschweige denn vierzig, sondern weit über fünfzig, schon fast sechzig … „Scheiße!“ Der alte Hochreiter stöhnte und setzte gequält hinzu: „Mal langsam, Bachel! Ja, wir haben uns neulich in dieser blöden Talkshow getroffen, ich erinnere mich, aber was verdammt, wollen Sie jetzt in aller Herrgottsfrühe von mir?“

„Er idzsch weg, oifach weg, i hann Angdzscht “ „Wer ist weg?“ „Der Yakku, der Yakku …“ jammerte Bachel. „Und wer ist der Yaakkuu? Ihr Hund oder was?“ „der Yakku idzsch, der Ya der Ya Ya …aaatdzschie!“ Bachel nieste derart laut ins Telefon, dass Hochreiter vor Schreck , zusammenzuckte, „Entschuldigung, der Yakku idzsch … Bachel zögerte, bevor es heraus war: Der Yakku idzsch halt … mein Freund“ „Wie mein Freund?“ „Na halt mein, mein Lebendzs ... äh ... Partner, mein Mann halt, verdzstehen Dzsie?“

Hochreiter verstand: Aha, der Koch war schwul – hatte er doch schon bei der Fernsehsendung geahnt. Diese typischen Handbewegungen ... war ihm aber ziemlich egal. Warum sollten eigentlich nur Friseure schwul sein? Soll doch jeder machen, was er will und lieben wen er will oder auch einfach nur vögeln, weil er will. Aber dass der noch dazu wohl auch völlig gaga war und ihn deswegen anrief, weil ihm sein Kerl weggelaufen war? „Bachel, was wollen Sie von mir? Ich bin nicht die Telefonseelsorge!“ „Dzsie müddzzssen ihn finden, dzsondzst dzstirbt er!“ Flehte Bachel schniefend. Mein Gott, warum glaubte diese jammernde Kochtunte eigentlich, man hätte sonntags um Fünf nichts anderes vor? „Ich gäbb Ihne ... Tzwandtzichtaudszend Euro.“ Pause, laaaange Pause … dann klickte es endlich in seinem Kopf. „Habe ich das richtig verstanden, Sie zahlen mir zwanzig Tausend Euro?“ Wenn das stimmte, dann wäre er auf einen Schlag einige seiner Sorgen los, und zwar die größten.

Die Geschäfte liefen zurzeit nicht wirklich gut, ehrlich gesagt, sogar miserabel. Der letzte Ermittlungsauftrag lag fast zwei Monate zurück, das Honorar dafür war längst verbraucht und das Konto im Minus, der Dispolimit fast geknackt. Die Bücher, die er seit Jahren nebenbei schrieb, waren wahrlich kein Renner und brachten nicht mal die Kosten für die von ihm finanzierten Recherchereisen ein. „Echte Küche“ hieß die bei einem regionalen Kleinverlag in Mini-Auflage erscheinende Reihe, die verschiedene Regionen Deutschlands kulinarisch vorstellte. Lief nicht. Er hatte halt keine Prominase, die er auf dem Cover präsentieren konnte.

Nach dem Tod seiner Frau vor sieben Jahren hatte er nicht mehr als Gerichts-und Polizeireporter arbeiten können. Und er war mal verdammt gut in seinem Job. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, spektakuläre Fälle vom Tatort bis vor Gericht zu begleiten. Er schmeckte gleichsam – so erzählte er es früher gerne dem schaudernden Publikum, als ihm noch jemand zuhörte - „den Blutgeruch noch in der Nase“, wenn er Verwandte von Opfern und Tätern befragte. Wenn er Zeugen interviewte oder bei Pressekonferenzen der Polizei und Staatsanwaltschaft unbequeme Fragen stellte.

Er war immer gut vorbereitet, arbeitete sich akribisch ein in die Psychologie des Falles und der Beteiligten. Er versuchte, in die Abgründe der Seele von Mördern einzutauchen. Nachts wachte er kaltschweißnass auf von den schrecklichen Bildern, die wie in einer Endlosschleife abliefen: In ihrem Führerhaus eingeklemmt verbrannte Trucker, in der Hitze absurd verkrümmt wie Darsteller im modernen Tanztheater. Von Messern und Äxten zu Hackfleisch zerstückelte Leichen. Zerschossene Schädel. Das teuflische Grinsen eiskalter Mörder. Das glückselige Lächeln des ermordeten Kindes auf dem letzten Foto. Aufgenommen zwei Tage vor seinem grausamen Tod. Beim Ausblasen der sieben Kerzen auf der Geburtstagstorte. Sieben, nur sieben …

Er konnte es nicht mehr ertragen, vor sich all die seltsam der Welt entrückten, entsetzten, neben sich stehenden Menschen sehen zu müssen. Mit ihnen reden zu müssen. Ihr Schicksal an sich heranlassen zu müssen. Egal ob sie Täter waren oder Opfer. Schuldig oder nicht, geständig oder Lügner. Die Berichte der Betroffenen gingen ihm zu nah. Wie das des Mädchens von der Alb, jahrelang missbraucht vom eigenen Vater, der den Gerichtssaal feixend als freier Mann verließ ...

Er stieg aus. Kündigte seinen Job. Vielleicht konnte er mit dem Geld aus Karins Lebensversicherung die Zeit überbrücken. Das sollte reichen, bis er als freier Autor Geld verdiente. Es kam anders. Die Bücher lagen wie Blei in den Läden. Wenn sie denn überhaupt in Läden lagen, weil sein Kleinverlag eher sparsam war, was Vertrieb und Marketing anbelangte. Allesamt Flops, kein Mensch kaufte das Zeug.

Vielleicht sollte er doch die Manuskripte aus Karins Nachlass veröffentlichen, den Erotikroman, das Kinderbuch ... einiges Material war ja in ihrem Nachttisch. Vielleicht reichte es für zwei dünne Bände. Und sie konnte schreiben, sogar sehr gut. Er hatte sie immer um ihr Talent beneidet. Posthume Veröffentlichungen aus dem Nachlass des Autors verkaufen sich doch recht gut. Und sie hatte sich ja zu Lebzeiten einen Namen gemacht in der Stuttgarter Fotografenszene, war eingeladen zu allen Events und Hochreiter gerne mit dabei, wenn rote Teppiche und Buffets bei irgendwelchen Vernissagen oder Musicaleröffnungen riefen. Wenn alle Nesenbachprominasen ebendiese in die Kameras hielten und am nächsten Tag im Arm des wie immer breit grinsenden Societyreporterstars Karsten Pfeil die Bildstrecken des Stuttgarter Blattes bebilderten, für das er selbst früher hochgelobte und manchmal sogar prämierte Reportagen geschrieben hatte.

Aber dann hatte er wieder Angst davor, sich zu sehr an Karin zu erinnern, an sie und den Unfall, ihren furchtbaren Tod, die seltsamen Umstände. Es blieb ihm nichts anderes übrig: Hochreiter ging notgedrungen auf das Angebot eines etwas schmierigen Bekannten aus seiner Zeitungszeit ein, ab und an in dessen Detektei Fälle zu übernehmen. Auf freier Basis, als Freelance-Mitarbeiter. Private Investigation. Es ging um Ehebruch, Unterhaltszahlungen, Erbschaftsermittlungen. Kleine Schnüffeleien in den Schweinereien im Leben anderer, nichts sonderlich aufregendes. Es brachte im Schnitt ein paar Hunderter im Monat. Sagenhaft. In einem Jahr vom gutdotierten Redakteur zum mies bezahlten Mini-Jobber, Glückwunsch zur Karriere, Hochreiter!