Der Archivar der Welt - Lia Tilon - E-Book

Der Archivar der Welt E-Book

Lia Tilon

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Beschreibung

Eine Reise, die Welten verbindet und aus zwei Männern Freunde macht Eigentlich ist Alfred Dutertre der Chauffeur des Pariser Bankiers Albert Kahn. Jetzt soll er für ihn zum Fotografen werden: Kahn plant ein Archiv der Welt in Bildern, ein Projekt für den Frieden, das die Völker der Erde näher zusammenbringen soll. Dutertre und Kahn brechen auf zu einer Reise, nach Japan, Hawaii, in die Mongolei. Als Kahn sein Vermögen in der Weltwirtschaftskrise verliert und sich schwer krank zurückzieht, bleibt Dutertre an seiner Seite, und in über 72.000 Fotos blicken sie gemeinsam zurück. Nach einer wahren Begebenheit erzählt ›Der Archivar der Welt‹ die Geschichte eines großen humanistischen Abenteuers und von der Freundschaft zweier ungleicher Männer.

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Seitenzahl: 301

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Über das Buch

Eigentlich ist Alfred Dutertre der Chauffeur des Pariser Bankiers Albert Kahn. Doch jetzt soll er für ihn zum Fotografen werden: Kahn plant ein Archiv der Welt in Bildern, ein Projekt für den Frieden, das die Völker der Erde einander näherbringen soll. Dutertre und Kahn brechen auf, nach Japan, Hawaii und in die Mongolei, zu einer Reise, die aus den beiden Männern Freunde macht. Als Kahn sein Vermögen in der Weltwirtschaftskrise verliert und sich schwer krank in seine Villa zurückzieht, bleibt Dutertre an seiner Seite, und in über siebzigtausend Fotos blicken sie gemeinsam zurück auf ihre Reisen und in die Gesichter der Welt.

Nach einer wahren Begebenheit erzählt ›Der Archivar der Welt‹ die Geschichte eines großen humanistischen Abenteuers und von der Freundschaft zweier ungleicher Männer.

 

 

 

 

»La vie, il faut aller saisir la vie là où elle est, à l’ étranger, dans la rue, partout.«

Albert Kahn  

 

»The man who dies thus rich dies disgraced.«

Andrew Carnegie

 

 

 

 

 

 

 

Für Roël, an den ich unendlich glaube

Boulogne, Paris

In der Nacht weckt mich ein Geräusch, das ich nicht einordnen kann. Im Haus ist es still, es gibt keine Besucher mehr, in den Betten keine schlafenden Gäste – seit alle fort sind, passiert hier kaum noch etwas. Unbewohnt, so wirkt es, das einzige Geräusch ist das vertraute Knarren der Archivschränke – doch was ich jetzt höre, klingt nach einem Sturm, es ist ein fernes, anhaltendes Rauschen, und doch sehe ich bei einem Blick aus dem Fenster, dass sich in den Platanen nichts rührt, auch die Bäume an der Zufahrt stehen reglos. Der Mond zeigt sich kaum, aber ich brauche nicht viel Licht, um die Zweige im Halbdunkel unterscheiden zu können; ich kenne dieses Haus und die Gärten ringsum, die Nebengebäude und natürlich die Garage, ich finde mich überall blind zurecht. Es geht auf Mitternacht zu, vermute ich, und während ich am Fenster stehe, beginnt die Kirchenglocke auf der anderen Seite der Seine zu läuten.

Barfuß tappe ich in die Küche, die Nächte werden frischer, im Vestibül riecht es nach dem Kaminfeuer vom frühen Abend; ich tue mein Bestes, um unser normales Leben irgendwie in Gang zu halten. Ich schalte das kleine Radio ein und höre im Stehen einen Bericht über Tausende Pariser, die auf die Straße gegangen sind. Autos werden einfach so auf dem Boulevard Saint-Germain abgestellt, Busse blockieren Kreuzungen, Männer und Frauen ziehen in Scharen über die Rue de Rivoli, sie haben sich versammelt, um ihrer Wut Luft zu machen. Die Nachrichten jagen mir eine Heidenangst ein. Nach einer Weile drehe ich den Hahn auf und halte meine Hände unter das fließende Wasser. Es geht wieder los, Kahn und ich verschanzen uns hier, aber ich weiß verdammt gut, was uns erwartet, und ich habe Angst, dass ich es nicht schaffe.

Kahn liegt nur noch im Bett, tagsüber halb aufgerichtet, einen Schal um den Hals geschlungen. Eine Raupe spinnt mit einem einzigen Faden einen Kokon, der Körper wird samt Augen und Herz eingewickelt – voilà –; angesichts eines neuen heraufziehenden Krieges bewegt sich Kahn, als hätte er sich verkapselt, so schwerfällig, dass man es kaum wahrnimmt. In diesen letzten Augusttagen fröstelt er die ganze Zeit und lässt, mit den Kissen im Rücken, den Blick über den Garten schweifen hin zu den Lärchen und Tannen, die er am liebsten mag. Ich sitze bei ihm an dem kleinen Sekretär und vertreibe die Stille mit Geschichten. Das kostet mich keine Mühe, schließlich gibt es genug zu erzählen; jahrelang habe ich die Bücher geordnet, stundenlang habe ich in dem kleinen Raum neben dem Salon gesessen und darauf gewartet, dass meine Dienste benötigt wurden, und obwohl ich wusste, dass ich nicht lauschen sollte, habe ich die Gespräche zwischen den Besuchern verfolgt: Regierungschefs, Wissenschaftlern und Schriftstellern. Kahn war nie ein großer Schwätzer, mehr als einmal habe ich ihn sogar heimlich die Gesellschaft verlassen sehen, aber ich hörte Bergson, Kipling und all den anderen weiter zu, und so erfuhr ich immer mehr über ihn.

Mittlerweile kann ich frei über das Fotoarchiv verfügen. Wir leben hier zwischen Tausenden und Abertausenden Fotoplatten, Hunderte davon habe ich selbst gemacht. Bald wird mit der Evakuierung der Kinder begonnen, und ich habe das Gefühl, dass ich auch das Archiv in Sicherheit bringen sollte. Die Glasplatten sind in Kisten gelagert, sie sind schwer wie Blei, es ist unmöglich, sie alle fortzuschaffen. Und wo sollte ich sie auch hinbringen – sie verstecken, wäre der bessere Ausdruck –, sie, die Stück für Stück Kahns ganze Hoffnung sind?

Seit vierunddreißig Jahren bin ich bei ihm, und mein Herz zieht sich bei dem Gedanken zusammen, dass ich ihn im letzten Moment doch noch im Stich lassen könnte. Zu meinem vierundzwanzigsten Geburtstag drückte er mir eine Kamera in die Hand und wies mich an, so viel wie möglich damit zu fotografieren. Wie gut kann ich mich noch an die Tage erinnern, als ich mit dem Richard-Vérascope herumzog, obwohl ich doch nur Kahns Chauffeur war. Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass es in meinem Leben Momente gegeben hat, in denen ich viel mehr zu sein glaubte; wenn ich jetzt zurückblicke, wage ich zu behaupten, dass ich immer sein Chauffeur geblieben bin. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Mann wie ich mehr tut als nur fahren; ein wirklich guter Chauffeur führt seinen Dienstherrn in die richtige Richtung. Kahn ist inzwischen so gebrechlich, dass seine Sturheit fast verschwunden ist, und ich kann endlich das tun, wofür ich eingestellt wurde. Es ist meine Aufgabe, ihn sicher an sein Ziel zu bringen.

Kahn wollte die ganze Welt fotografieren. Die Idee war ihm während unserer großen Reise 1908 gekommen, und ich habe mich darüber schier ausgeschüttet vor Lachen. Er hatte mir mit erhobenem Zeigefinger erklärt, dass dank der Erfindung der Farbfotografie nun sein Herzenswunsch in Erfüllung gehen konnte: den Menschen so zu zeigen, wie er tatsächlich ist.

»Hass schlägt keine Wurzeln«, dozierte Kahn mit viel Aplomb, »wenn wir in der Lage sind, dem Fremden ins Gesicht zu sehen. Wie ungewohnt dieses Gesicht auch sein mag, wir werden immer etwas von uns selbst darin erkennen. Wenn der Andere erst einmal in Farbe fixiert ist, kümmern wir uns um ihn.«

Voilà, was also mit mir begonnen hatte, dem betreten dreinschauenden Chauffeur mit seiner Metallkamera, wuchs sich zu einem gut durchdachten Plan aus. Er sollte Fotografen die Möglichkeit eröffnen, mit modernster Ausrüstung über den ganzen Erdball zu ziehen und alles festzuhalten, zu lernen und zu ordnen, was schließlich in seinem Archiv des Planeten Platz finden sollte.

Im Lauf der Jahre füllten sich die Schränke mit dem greifbaren Ergebnis seines Wunschtraums, einer unglaublichen Anzahl an farbigen Fotoplatten von Menschen aus allen Ländern, aufgenommen bei ihren täglichen Verrichtungen: Steinmetze in China bei der Pause, Fischer in Irland und Vietnam, Jäger in der Mongolei, in Belgien und Frankreich; einfache Männer und Frauen bei der Arbeit oder beim Essen. Unser Leben veränderte sich schneller als je zuvor, aber das Archiv des Planeten sollte uns immer wieder daran erinnern, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, zu arbeiten und zu essen wie alle anderen. Hier, in dieser Villa eingelagert, liegt der Kern unseres Daseins. Als Kahn seine Lebensaufgabe in Angriff nahm, war er noch ein junger Bankier, eigensinnig und in sich gekehrt (ich bin mir des scheinbaren Widerspruchs zu seinen weltumspannenden Plänen bewusst), und so fasste er, was er erreichen wollte, in Worte, immer mit leiser Stimme und unerwarteten, ungelenken Gebärden.

Ja, die Fotos wurden gemacht, das Archiv ist zustande gekommen, das kann niemand bestreiten. Anfang der Zwanzigerjahre erlebten wir kurz eine bewegte Zeit, in der die halbe Welt nach Boulogne kam, angelockt von Kahns Ideal, seiner inzwischen legendären Sammlung, seinem immer weiter wachsenden Vermögen. Es scheint noch nicht so lange her zu sein, dass Kahn dank seiner Investitionen zum reichsten Mann in Europa geworden war, und am liebsten hätte ich mich nach dem weltweiten Kampf in meine Garage zurückgezogen, stattdessen musste ich immer Besucher hin und her kutschieren. Jetzt, da wieder ein Krieg vor der Tür steht, kommt niemand mehr, die letzten Monate ist einer nach dem anderen abgereist, das Geld ist weg, die Villa in schlechtem Zustand. Das Haus verliert seinen Glanz, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das alles Hand in Hand geht; ein wurmstichiger Apfel mit verfaultem Kerngehäuse.

»Das Archiv des Planeten«, beharrt Kahn trotz allem mit unermüdlicher Hartnäckigkeit von seinem Bett aus, »ist niemals vollständig. Es ist unendlich, denn es müssen immer neue Bilder hinzugefügt werden.«

Aber von wem? Wer sollte es ausgerechnet jetzt noch auffüllen wollen? Und nicht zuletzt: warum überhaupt?

Wenn ich nicht schlafen kann, schleiche ich mich oft in den Lagerraum. In Pantoffeln klettere ich die Leiter hinauf, öffne ein paar Kisten und schaue mir die Fotos an, die ich ausgesucht habe: eine Fernsicht oder einen Markt, aber meist sind es Kinder, und während ich in ihre Frätzchen starre, frage ich mich, ob sie wohl unbeschadet durchs Leben kommen. Ich knipse die Lampe an und betrachte das Haus, vor dem sie posieren, während ich leise den Namen des Landes vor mich hinsage, in dem sie leben. Ich hole die Glasplatten behutsam aus dem Dunkel hervor, wie ich auch meine Erinnerungen heraufhole und gegen das Licht halte.

»Dutertre, was geisterst du da nachts herum?«, fragt Kahn, und dann sage ich, der Fensterladen habe sich losgerissen. »Das Geklapper«, könnte ich behaupten, »hat mich wach gehalten.«

Draußen ist es dunkel, der Mond versteckt sich wieder hinter den Wolken, und ich blättere, unter die Lampe gebeugt, in den Reiseberichten und Dokumenten. Mit leichter Hand führe ich Kahn noch einmal durch sein Lebenswerk, lotse ihn über Flüsse, an Stechginster entlang und vorbei an dem irischen Mädchen, vorbei an allem, was ihm wichtig ist. Behutsam folge ich einer Fährte nach links oder biege nach rechts ab und wähle die sichere Route. Am Ende seines Lebens werde ich die ganze Wegstrecke noch einmal zurücklegen und unterwegs Stolperstellen und Mulden meiden. Ich wähle meine Worte sorgfältig. Ich blättere durch meine Tagebücher und Hefte, und wenn ich die Seiten lese, fällt mir auf, wie jung ich damals war, wie unsicher und schüchtern, während ich mich doch vor allem an die Aufregung erinnere, die ich kaum bezähmen konnte.

Ich war einundzwanzig, als ich am 1. November 1905 bei Monsieur Kahn in den Dienst trat. In einem schicken schwarzen Mantel und mit einer schwarzen Mütze auf dem Kopf fuhr ich ihn täglich von Boulogne-sur-Seine in sein Bankkontor an der Rue de Richelieu nach Paris und zurück. Auf der ersten Seite meines Tagebuchs habe ich ordentlich, wenn auch in noch etwas zittriger Handschrift aufgeschrieben, welche Autos ich zu warten hatte:

1 Panhard & Levassor (acht PS)

1 Daimler (achtundzwanzig PS)

1 Mercedes (vierzig PS)

1 Mercedes (sechzig PS)

Den Panhard und den Daimler nahmen wir für Fahrten in die Stadt, die beiden Mercedes waren für die großen Sommerreisen durch Frankreich, Luxemburg und Holland gedacht. Ich pries mich glücklich wegen meiner Stellung, Kahn entlohnte mich großzügig. Mein Arbeitgeber handelte mit Gold und Diamanten, er finanzierte Industrievorhaben und gewährte internationale Kredite, er schien eine Nase für gewinnträchtige Investitionen zu haben, und heimlich beobachtete ich ihn, den meist schweigsamen Mann da auf meiner Rückbank. Ich fragte mich, wie er mit diesem etwas plumpen Äußeren und der übertriebenen Tierliebe seine Geschäfte betreiben konnte; ich habe nie auch nur einen Anflug von Gerissenheit bei ihm bemerkt. Sobald er am frühen Abend in der geschäftigen Stadt bei mir eingestiegen war, schloss er die Augen und öffnete sie erst wieder in Boulogne.

Dann, im Juli 1908, rief er mich zu sich in die Villa und drückte mir unversehens eine Kamera in die Hand, er glaubte wohl, dass ich mich mit Gerätschaften welcher Art auch immer auskannte. Ich bin nur ein einfacher Chauffeur und Mechaniker. Bis zu jenem Tag war ich noch nie in seinem Arbeitszimmer gewesen, und ich erinnere mich an den matten Lichtstreifen, der über den glänzenden Boden von der Tür bis zu seinem Schreibtisch lief, ich sah das Skelett in der Ecke stehen, die Bücher, Ausschnitte und Stapel von Zeitungen. Das übrige Haus war pieksauber, aber dieser Raum war brechend voll mit staubigem Nippes, Federn und Tintenfässern, es war ein kleiner Raum, und ich musste lächeln, vielleicht, weil er mich an meinen eigenen Arbeitsschuppen erinnerte, wo es genauso chaotisch aussah, aber trotzdem alles ganz zuverlässig seinen Platz hatte. Das Ding, das er mir gegeben hatte, war nicht groß und wog nicht viel, ein metallischer Geruch ging davon aus.

»Ich bin sehr zufrieden mit dir«, sagte Kahn, »und jetzt möchte ich, dass du Paris fotografierst. Dann gehst du zur École normale supérieure, wo ein Spezialist dir beibringen wird, wie man Fotos entwickelt, schwarz-weiß und in Farbe.«

»In Farbe, Monsieur?«

Er hatte es eher beiläufig gesagt, und er sprach leise, wie es immer noch seine Gewohnheit ist, nickte und schob mit beiden Händen ein Buch zu mir herüber. Ich sah, dass seine Finger auf dem Einband zitterten.

»Ist das nicht großartig, Dutertre? Ein Geschenk, ein herrliches Geschenk. So viel habe ich immerhin begriffen, dass es nicht schwierig ist«, fügte er hinzu und zeigte auf den Titel. »Nicht so schwierig.«

Es war ein dünnes Büchlein: Autochrome stand auf dem Umschlag und darüber in feinen Buchstaben die Namen der Brüder Lumière. Sonnenlicht fiel durch das offene Fenster auf den Papierkram auf seinem Schreibtisch, und in dem herumtanzenden Staub versuchte ich, die scheinbar kleinen Dinge zu begreifen, die mir gerade präsentiert worden waren.

»Bist du zufrieden, Dutertre?«, unterbrach er meine Gedanken. Er schaute von seinem Stuhl hoch.

Auch das überraschte mich, denn ich hatte es wirklich gut getroffen. Und war Frankreich nicht, wie ich selbst, mit Zittern und Zagen in das neue Jahrhundert hinübergewechselt? Er aber wandte sich wieder ab und sah vor sich hin. Erschrocken fragte ich mich, ob ich ihn vielleicht enttäuscht hatte, in der plötzlichen Stille wurde mir die Spannung im Raum bewusst, ich hob die Kamera an und roch das Eisen, den Geruch von Werkzeugen. Gott bewahre, ich wusste absolut nichts über Fotografie, aber wenn er darauf bestand, würde ich es lernen.

Von seinem Arbeitszimmer aus rannte ich zurück in die Garage, die großen Türen standen offen, die Sonne war inzwischen fast untergegangen. Unschlüssig rieb ich die Scheinwerfer mit einem Tuch ab und setzte mich in den Panhard, ich hatte das Geräusch eines rundlaufenden Motors permanent im Ohr, ich hätte den Wagen nur zu starten brauchen, um zu hören, ob ihm etwas fehlte, selbst in der frühen Dämmerung hätte ich jedes einzelne Teil austauschen können. Mit meinem Gewicht auf dem Lenkrad beugte ich mich nach vorne und betrachtete die Platane, die vielen Tönungen eines Blatts in den letzten Sonnenstrahlen, die glänzende Stelle am Stamm, wo sich die Rinde abgeschält hatte. Und die ganze Zeit drückte die Kamera auf meinen Schoß, leicht zwar, aber nicht zu ignorieren.

Vor dem Schlafengehen studierte ich bei Kerzenlicht das Instruktionsbüchlein, das er mir gegeben hatte, und machte mir Notizen zu dem Raster aus orange, violett und grün gefärbten Kartoffelstärkekörnern. Draußen erklang Hufgetrappel, ein Mann brüllte sein Pferd an, und ich saß am Tisch, las Satz für Satz und stellte mir die Körner wie Sand vor, der sich einfach von der Glasplatte wegpusten ließ. Über dem Raster lag eine Schwarz-Weiß-Emulsion, die Zwischenräume zwischen den gefärbten Körnern waren mit Ruß gefüllt. Jede Glasplatte hatte ihre eigene Menge an Kartoffelstärkekörnchen, schwarz-weißer Emulsion und Ruß, und sobald die richtige Lichtmenge durch die Körner fiel, entstand ein Farbfoto. Über die Seiten gebeugt, wiederholte ich die unbekannten Begriffe und schrieb sie in mein Notizheft, sodass ich sie am nächsten Morgen, wenn ich an den Autos herumbastelte, aus meiner Schürzentasche holen konnte. Differenzial – Wechselsack. Bremssattel – Verschlusszeit.

Der Ruß, erfuhr ich beim Herumblättern im Buch, machte es unmöglich, dass das Licht ungehindert auf die Emulsion fiel, aus demselben Grund musste ich die vorbereitete Glasplatte, das Autochrom, immer verkehrt herum in die Kamera setzen. Täte ich das nicht, würde das Licht nicht durch die Kartoffelstärkekörner, sondern direkt auf die Schwarz-Weiß-Emulsion fallen, und ich bekäme ein ganz normales Foto. Ich legte meinen Stift hin und folgte mit dem Finger den gezeichneten Linien auf der Glasplatte, skizzierte den Rahmen, in den die Platte, eben das Autochrom, passte. Stativ, Geduld und ein regloses Motiv, las ich, seien die Voraussetzung für eine gelungene Farbaufnahme. Das Buch sprach von Aussichten und Strandszenen, und meine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Als ich endlich aufblickte, stellte ich überrascht fest, dass ich mich noch immer in meinem Zimmer befand.

In den darauffolgenden Wochen spazierte ich jeden Morgen zu den großen Boulevards, nachdem ich Kahn zu seinem Büro in der Bank gefahren hatte. Ich ließ meine Chauffeursmütze hinten im Wagen, klemmte mir das Stativ unter den Arm und trug die Tasche mit der Kamera. Wie lärmig Paris um diese Zeit war! Ich schraubte das Richard-Vérascope auf den Dreifuß, fotografierte die Galeries Lafayette auf dem Boulevard Haussmann und hoffte, Kahn mit dem schönen Mosaik an dem Gebäude zu imponieren. Das Kaufhaus war leichter abzulichten als die Pariser Damen, Kellnerinnen und Verkäuferinnen, die selten stillstanden. Katzen schossen mit aufgestellten Schwänzen über das Trottoir und beobachteten mich aus sicherer Entfernung. Ich stellte das Stativ neben einen Kiosk und beugte mich zum Sucher hinunter. Kahn hatte mir versichert, dass das Motiv zunächst von untergeordneter Bedeutung wäre, Schritt für Schritt und Foto für Foto sollte ich lernen, mich freizuschwimmen. Insgeheim fragte ich mich, warum. Welchen Sinn hatte es, Kellnerinnen zu fotografieren, unbekannte Mädchen mit ihren weißen Schürzen? Angenommen, es würde mir nicht gelingen. In meinen Einstellungspapieren hatte nichts von einer Kamera gestanden. Mit Autos hingegen kannte ich mich aus, sogar mit dem Mercedes Simplex.

Jetzt bin ich fast den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen, hin und wieder hatte ich das Vérascope einfach nur in der Hand, es war wirklich ein nettes Ding, und das Metall wurde warm in meinen Händen. Manchmal stellte ich das Stativ auf den Quai, auf eine Brücke oder unter einen Baum, je nach Sicht und Licht – das Julilicht war hell in Paris, ein plötzliches Aufglänzen der Seine konnte mich unvermittelt blenden, Karren wirbelten Staub auf, meine Schuhe wurden schmutzig, ich klopfte meine Jacke ab und spürte die Hitze auf meinem Rücken. Unsicher richtete ich die Kamera auf die Kellner, die vor dem Urinal auf der Rue Royale hin und her schlenderten, das Geschirrtuch noch hinter dem Schürzenband. Zuerst bemerkten mich die Kellner nicht, und es entstanden die ersten (unscharfen) Bilder, auf denen nicht jeder genau in die Linse starrt.

Manchmal verwendete ich auch einen ganzen Vormittag darauf, nur ein paar Farbfotos zu machen. Die Belichtungszeit war lang, viel länger als bei einer normalen Schwarz-Weiß-Platte; als ich später hörte, dass man Bilder mit einer Verschlusszeit von nur dem Bruchteil einer Sekunde machen konnte, traute ich meinen Ohren nicht. Ich übte so lange mit meinen Händen im Wechselsack, bis ich es auf sechs Autochrome im Magazin pro Minute brachte, und ich tat mein Bestes, um eine Näherin vor ihrem Atelier zu porträtieren. Das Mädchen wartete geduldig, bis ich die Belichtungszeit berechnet hatte, und bald stand eine Dreiergruppe da, tuschelnde, kichernde Frauen, und die Röcke raschelten dabei. Die kleine Näherin fingerte an ihrem Ärmel herum, da, wo sie die Nadeln hingesteckt hatte.

Im September rief er mich wieder zu sich. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, obwohl ich Zweifel daran hatte, dass ich als Fotograf geeignet wäre; ehrlich gesagt fürchtete ich, entlassen zu werden. Als ich eintrat, stand mein Arbeitgeber mit verschränkten Armen neben seinem Stuhl, er wirkte, als wäre er irgendwie gerader und auch länger geworden, und zum ersten Mal sah ich den Bankier in ihm. Ich bin kein schlechter Chauffeur, sagte ich mir, er wird mir ein gutes Zeugnis ausstellen. Aber Kahn überraschte mich: Aus heiterem Himmel trug er mir auf, eine Thornton-Pickard-Balgenkamera, viertausend Autochromplatten, eine Filmkamera der Brüder Pathé und dreitausend Meter Film zu kaufen. Von meiner Verblüffung nahm er keine Notiz, sondern bedeutete mir, jetzt unverzüglich mit dem Unterricht an der École normale supérieure anzufangen, um nicht nur zu erfahren, wie man Autochrome entwickelt, sondern auch, um filmen zu lernen.

»Petit«, sagte er, als er sich auf seinen Stuhl sinken ließ, »ich nehme dich mit auf Geschäftsreise nach Japan. Über Amerika und Honolulu fahren wir nach Japan und China. Eine ausgezeichnete Gelegenheit, um unterwegs zu fotografieren, nicht wahr? In Amerika und Asien kannst du Traditionen und Handwerke festhalten, die zweifelsohne im Aussterben begriffen sind.«

Ich betrachtete sein Gesicht mit dem kleinen Bart, einer flauschigen Spitzbartvariante, er kniff seine Augen zusammen und räusperte sich. Es machte fast den Eindruck, als hätte er so seine Zweifel am Fortschritt. Ich wartete darauf, dass er seine Pläne weiter ausführte, aber er schlug nur auf den Schreibtisch, für mich ein Zeichen, dass unser Gespräch beendet war. Mit meiner in der Hand zusammengeknautschten Mütze ging ich zur Tür.

»Wir reisen weit«, fuhr er fort, als ich schon fast aus dem Zimmer war, »bis zur chinesisch-mongolischen Grenze. Besorge dir passende Kleidung und Schuhe für heißes und kaltes Klima. Nimm dir zwei Tage frei, fahr nach Hause und umarme deine Eltern.«

Tagebuchaufzeichnungen Paris – New York

13. November 1908. Ich liege in der Kabine, die drückende Luft ist fast unerträglich. Eine Geschäftsreise nach China und Japan. Aber ich diene als Fotograf, nicht als Chauffeur. Die Farbplatten – als ich zum ersten Mal eine Glasplatte aus ihrem Papier faltete, musste ich an die Libelle über der Schwertlilie denken. Im Sommer am Teich. Wenn ich gewusst hätte, was von mir erwartet wurde, hätte ich sicher kein so gutes Bild hinbekommen. An diesem Nachmittag blieb mein Blick an dem fliegenden Insekt hängen. Ich konnte durch seine Flügel hindurchschauen. Das grüne Gras sah lila aus. Ich suchte das Tier in seinem geliebten Fabre: Libelle mit schönen Flügeln – Calopterygidae. Ich bin kein Gelehrter, aber das habe ich mir gemerkt.

Ich gehe mit ihm auf Reisen und werde ihn nicht chauffieren.

Wir sind aufgebrochen. Um ein Haar ohne die Reisetaschen, die in Saint-Lazare verloren gegangen waren. Keine Spur von dem Gepäckträger mit unseren Sachen. Kahn war schon an Bord. Die Passagiere der ersten Klasse lehnten sich über die Reling. Matrosen, die bei den Tauen der Landungsbrücke herumschrieen. Männer, die Körbe und Taschen, und arme Frauen, die Kleiderbündel schleppten. Schweigend verschwanden sie unten im Schiff. Die Unglücklichen mit ihren dunklen Gesichtern, schon jetzt ermattet. Und ich lief nur hin und her, hin und her.

Im Hafenamt wimmelte es vor Taschendieben. Ich erkannte sie an ihren verstohlenen Zeichen – an der Art, wie sie gestikulierten. Nur Abschaum verrichtet seine Arbeit lautlos. Die Menge bewegte sich auf den Schalter zu. Ein Meer von Hüten und Kopftüchern. Irgendwo darunter vielleicht die Mütze des Gepäckträgers? Ich kämpfte mich vorwärts. Jemand zog mich am Kragen. Ein Mädchen an der Hand seines Vaters rollte mit den Augen. Plötzlich packten mich fremde Hände an den Schultern. Die Reisenden zogen und zerrten mich in Richtung der Tür. Ich wurde wie ein Sack Getreide weitergereicht. Im Gewühl konnte ich keine Gesichter unterscheiden.

Einmal draußen, überkam mich die Lust weiterzulaufen. Das Schiffshorn tutete über den Quai. Ich musste K. sagen, dass ich unsere Reisetaschen nicht hatte finden können. Wir sollten lieber umkehren, jetzt, da es noch möglich war. Herrgottsakrament, wir hatten noch nicht einmal abgelegt!

Möge Gott mir vergeben, sagte ich zu ihm. Ich werde mir eine andere Stellung suchen. Ein bitteres Lächeln auf seinem Gesicht: Red keinen Unsinn, D.! Reiß dich zusammen.

14. November. Gestern Abend wurde unser Gepäck an Bord gebracht. Gute erste Nacht gehabt. Ruhiges Meer. Beim Erwachen fühlte ich mich elend. Untergebracht in Kabine 606 mit drei anderen Männern. Mir gegenüber schläft ein Apotheker namens Moses Adler. Unter ihm ein amerikanischer Lacrossespieler, Mr Campbell. Das Bett unter mir ist von einem Herrn belegt, der mit den Schultern zuckte, als wir ihn nach seinem Beruf fragten. Sein Name ist Lajos. Ich bin nicht groß, comme trois pommes, sagt Maman. Trotzdem muss ich aufpassen, dass ich mir beim Aufstehen nicht den Kopf stoße. Noch acht volle Tage, bis wir in New York anlegen. Er hat beschlossen, dass ich Menschen und ihre Traditionen mit der Farbkamera festhalten soll. Ich habe ein paar Aufnahmen in Paris gemacht, die ihm gefallen. Nun soll ich Dutzende, nein, eher Hunderte von Fotos für ihn machen. Ich bin nie weiter gereist als bis nach Holland. Warum hat er mich ausgewählt? Wenn ein Motor unterwegs stotterte, habe ich ihn immer wieder zum Laufen gebracht. Das ist nicht weiter schwer, in einem Motor stecken nicht viele Geheimnisse. Nun glaubt K., dass ich mit Maschinen Wunder vollbringen kann. Ich fürchte, da irrt er sich.

Deine Welt zu vergrößern heißt, dein Wissen zu erweitern, sagt er. Heute Morgen wurde mir schwindlig. Ist das nicht seltsam? Mir kam das Unwiderrufliche dieser Reise zu Bewusstsein, obwohl es doch schon mit dem Tag begann, als ich bei ihm den Dienst angetreten habe. Ich dachte an die Thornton-Pickard und das Richard-Vérascope. Ich muss mich auf die Apparate verlassen können. Ganz zu schweigen von der Filmkamera.

Bei der Kinematografie, dozierte Émile Pathé, sei es Aufgabe des Filmers, in ständiger Bewegung eine spannende Geschichte zu erzählen. Der Filmer ist gleichzeitig Tänzer, Schelm und Verführer. Graziös. Ganz und gar überzeugt, dass er die richtigen Schritte macht.

Monsieur Pathé durchschaute mich. Er war sich sicher, dass ich keiner von ihnen bin. Ihnen bringe ich bei, wie Sie die Filmkamera bedienen, mein Lieber. Die Fotografie handelte er kurz ab: Sowohl der Fotograf als auch sein Motiv müssen reglos im richtigen Licht bleiben. Geht es um eine Person, muss man vor allem darauf achten, wo sie die Hände lässt.

Ich finde es rätselhaft, wie ein Bild manchmal etwas zu zeigen scheint, was man durch den Sucher nicht gesehen hat. Und welche Haltung soll das Motiv einnehmen? Wann ist der richtige Augenblick? Ist es der gleich nach dem Posieren, wenn Entspannung einsetzt? Oder der davor? Solange noch nach dem richtigen Gesichtsausdruck gesucht wird? Bei einer fotografischen Aufnahme ist immer etwas davor und immer etwas danach. Was wäre zu sehen, wenn er ein Foto von mir machte?

Dieses Schiff ist riesig, auf dem Weg zur Toilette kam ich an einem hell erleuchteten Raum vorbei, der wie eine Schlachterei aussah. Ein Mann schnitt Fleischstücke von einem Gerippe. Bestimmt habe ich ein Geräusch gemacht. Er kam mit dem Messer in der Hand auf mich zu und schlug die Tür zu.

Ich habe K. gesagt, dass es eine Schlachterei an Bord gibt. Er hat nicht mal aufgeschaut. Und lebenden Vorrat, sagte er in schleppendem Ton. Sein wolliger Bart und seine kleinen Augen geben ihm auch etwas Tierisches. Kahn ist ein seltsames und intelligentes Tier. Möge Gott mich vor respektlosen Gedanken bewahren.

D., sagte er plötzlich feierlich zu mir. Dank der Herren Pathé und Lumière werden wir imstande sein, das wahre Gesicht der Menschheit einzufangen. Er kann sehr überzeugend sein.

Bewaffnet mit der Kamera bin ich sein Fänger.

15. November. Ich hatte eine gute Nacht. Die See ist noch immer ruhig. Gestern Abend wollte Adler mit mir spazieren gehen. Höflich abgelehnt – vergeblich. Stark den Eindruck, dass sich der Apotheker extra in einen makellosen weißen Anzug geworfen hatte. Mir das Stativ unter den Arm geklemmt. Verärgert fragte Adler, ob er mich nicht hätte sagen hören, dass ich Chauffeur sei. Antwortete, dass ich auch von ihm ein Foto machen könne. Autochrom, wohlgemerkt. Nicht Mono. Ich muss noch lernen, wie ein Fotograf zu denken.

Ein Orchester spielte auf dem Promenadendeck. Nach einer Weile sagte Adler, dass er am liebsten Geiger geworden wäre. War er deshalb auf dem Weg nach Amerika? Wieder keine Antwort. Aus Höflichkeit dann angemerkt, dass Violinenmusik sehr zärtliche Musik ist. Geschwätz, meinte Adler. Ein gewöhnlicheres Instrument als die Geige gäbe es nicht.

Komischer Kerl, nicht viel älter als ich. Seine Augen haben die Farbe von Lorbeer. Und so riecht er auch.

Ich finde es schrecklich mühsam, auf dem Schiff spazieren zu gehen. Geschweige denn herumzuschlendern. Schlendern erfordert mehr als einen lockeren Schritt, Schlendern braucht eine Leichtigkeit des Geistes. Die Decks sehen aus wie Alleen. Passagiere auf Liegestühlen, die Beine ganz in Decken gehüllt. An der Reling flanierende Damen. Längsseits kreischende Möwen. In der Ferne die schottische Küste. Erstes Foto gemacht. Den Dreifuß fest auf die Decksbeplankung gestellt. Als ich die Kamera hervorzog und an der Grundplatte festmachte, seufzte der Balg. Kann gut sein, dass ich es war, der geseufzt hat. Man behält mich im Blick.

Ich habe im Restaurant ein paar Aufnahmen gemacht. Die Tische waren mit Gläsern und Kerzen eingedeckt. An der Decke Kronleuchter. Erst nach einigen Augenblicken sah ich den Ober. Ich wollte schon wieder umkehren, als ich ihn lispeln hörte: Willkommen im Ritz-Carlton. Er nahm meine Sachen entgegen. Stellte das Stativ vor die Bar und neigte seinen Kopf.

Gerührt von seiner Zuvorkommenheit ließ ich ihn gewähren. Meine Stimmung ist nicht mehr ganz so schlecht.

Da ich fürchtete, dass die Kronleuchter und Kerzen Licht im Übermaß spenden würden, habe ich drei Schwarz-Weiß-Aufnahmen gemacht. Fotografierte einmal mit dem Ober mitten im Bild. Ich bat ihn, ruhig stehen zu bleiben. Da stellte er sich unglaublich gerade hin. Wie glattgeleckt und entschieden er aussah! Ich hätte gerne gewusst, woran er gedacht hat, als ich das Foto machte.

Beim Verlassen des Etablissements war ich vom Anblick des Meeres fast von den Socken. Ich hatte glatt vergessen, dass ich mich auf einem Schiff befand. Bei meinem Erkundungsgang über die Decks entdeckte ich eine richtige Bäckerei. Eine Kabine mit schwarzen Buchstaben: Funker. Jedes Oberdeck hat eigene Rauchersalons, Damen- und Herrenwaschräume, einen Musiksalon, Küche und Speisesaal. Am späten Nachmittag stieß ich auf die Borddruckerei. Der Setzer trug eine Schürze, an der er sich oft die Hände abwischte. Seine Finger hinterließen immer wieder schwarze Spuren. Es roch nach Druckerschwärze und Meerwasser. Und ich musste an meine eigene Schürze in der Garage denken.

Soeben vor dem Schlafengehen meine Notizen noch einmal gelesen. Ich bin allein in der Kabine, und eine Erinnerung überfällt mich: Während meiner Stunden bei Pathé habe ich oft an Maman gedacht, die stundenlang schweigen kann. Wie ein unergründlicher Strom. Jeden Freitag geht sie frühmorgens in die Küche, um Brot zu backen. Zündet das Feuer an. Summt eine Melodie. Steht in ihrem schlichten Kleid am Tisch und knetet den Teig. Wenn ich ein Foto von ihr machen sollte, dann genau in einem solchen Moment. Mit Teig an den Fingern und Mehl bis zu den Ellenbogen hinauf, ohne dass es sie stört. Nur dieses eine Foto von ihr am Freitagmorgen.

16. November. Auf die Suche gegangen nach dem lebenden Vorrat. Unten im Schiff wurde ich rücksichtslos geschubst und beiseitegestoßen. In der Luft hing ein entsetzlicher Gestank nach nasser Wolle und Fisch. Die Unglücklichen auf den untersten Decks schrien Unverständliches, und es schien, als ob sie mich mit sich zerren wollten. Tiefer hinunter. Blindlings riss ich einen Arm hoch und schlug um mich. Zurück zur Treppe. Nach oben – Luft!

Mit K. im Salon. Viele Russen und Osteuropäer. Man hört Jiddisch und verschiedene slawische Sprachen, sagte er. Er fragte mich, ob ich sie fotografiert hätte. Ich sah nach draußen, und da war nichts. Seltsam, ich vermisse die Platanen. Prompt sagte er, dass er im Herbst immer an die gelben Felder des Elsass denken müsse.

Er erklärte mir, dass ich eine Welt im Wandel fotografieren würde. Er glaubt, dass unsere Traditionen der Anker sind, den wir bei rauer See brauchen. Sichtlich zufrieden mit seinem nautischen Gleichnis. Traditionen böten Halt und gäben unserem Dasein eine Form. Er sagte, es sei wichtig zu verstehen, wer ein jeder sei – und wo er hergekommen ist. Ich glaube, er hat Angst, dass wir die Vergangenheit vergessen.

Was für ein unverfrorener Gedanke: ein Chauffeur aus Paris, der zeigen will, woher die Amerikaner und Chinesen kommen! Er sagt, dass er auch bei seinen anderen Geschäftsreisen Fotos machen lassen und diese Autochrome ausstellen will. Damit man einander kennenlernen kann. Ich weiß nicht. Ich weiß wirklich nicht. Schreien nicht viele Ereignisse förmlich danach, vergessen zu werden? Weil sie sonst Wurzeln schlagen würden? Wuchern und den fruchtbaren Boden ruinieren?

Am Nachmittag fühle ich mich seekrank. Ich esse nur etwas Obst. Er hat mir einen Phonographen zum Tonaufnehmen gegeben. Es gelingt mir nicht, auch nur ein einziges Geräusch einzufangen. Die rauen Novemberwellen lassen die Nadel wild über das Wachs springen.

17. November. Geweckt von Geräuschen vor der Tür. Campbell übte seinen Schlag auf dem Deck. Das Lacrossespiel hat drei alte indianische Namen. Erstens: Männer schlagen einen runden Gegenstand. Zweitens: kleiner Krieg. Drittens: kleiner Bruder des Krieges. Laut Campbell konnte so ein Spiel Tage dauern, und das Spielfeld war manchmal kilometerlang.

Er schwang die Crosse nach hinten und schlug den Ball übers Deck. Ich befürchtete, das Ding würde ins Meer rollen. Der Ball schusserte an den Liegestühlen und zwei jungen Damen vorbei, die an der Reling standen, schien eine Kurve zu beschreiben und verschwand dann mit beachtlicher Geschwindigkeit in der Waschküche. Aus der ein Schrei ertönte. Goal, sagte Campbell. Er hatte nur sein Hemd an. In der Tür zeigte sich ein Herr, und Campbell trommelte sich mit den Fingern an die Schläfen. Inzwischen hatten sich die Damen zu uns herumgedreht. Schnell stellte ich mich neben Campbell, sodass sie auch mich sahen. Schade, dass die Kamera noch in der Kabine lag. Hätte gern das kleine Vérascope in der Hand gehabt. Dann hätten sie bemerkt, dass ich nicht irgendwer bin.

Wie herrlich muss es sein, sich so locker bewegen zu können. Seine Muskeln so zu beherrschen. Und auch die Umgangsformen! Wer wäre da nicht gerne Sportler? K. verlangt von mir, jeden Tag Gymnastik zu machen. Ich hangle mich durch die langweiligen Übungen. Früher wollte ich mal rudern. Jetzt soll ich andere Völker fotografieren. Völker im Wandel. Ich wiederholte seine Worte und versuchte, damit bei Campbell Eindruck zu schinden. Traditionen verschwinden, sagte ich. Neues tritt an ihre Stelle. Campbell zog die Augenbrauen hoch. Er gab mir seine Crosse. Aber er legte den Ball nicht ins Netz. Der Schläger war schwerer, als ich angenommen hatte. Das Ledernetz schleifte über die Deckplanken. Und ich sagte: Vielleicht fotografiere ich ja auch Cherokee-Indianer.

Niemand aus meiner Familie hat jemals in einem Boot gesessen. In unserer kleinen Wohnstube wurde tagelang kein einziges Wort gesprochen. Ich träumte von einem schmalen Einer. Gleichzeitig fand ich die Vorstellung beängstigend – nicht zu wissen, was da unter einem war. Jetzt schippere ich an einem heiteren, kalten Tag zwischen Cherbourg und New York herum. Unter dem blauen Himmel spiegelt sich das Schiff auf dem Wasser.

18. November. Gestern Nachmittag Bilder von den Russen gemacht. Ich habe das Stativ hoch oben aufgebaut. Im Sucher ein Meer von schwarz gekleideten Menschen. Bleiche Gesichter, vereinzelt ein weißes Kopftuch. Wie eine Schaumkrone auf einer Welle. Wir sind alle Schafe vor Gottes Auge – arme Schafe.

Die See wird rauer. Der Wind frischt auf. Ich liege auf meinem Bett. Er hat mir bei der Abreise ein Buch gegeben – Baudelaire. Er ermuntert mich, weiter zu lernen. Aber vom Lesen wird mir übel. Ich habe das Gefühl, dass ich in falschem Galopp auf einem Pferd reite. Die Worte und Klänge des Dichters geben mir keinen Halt. Der Rhythmus der Zeilen kollidiert mit dem der Wellen.

Er will, dass sich die Menschen kennenlernen. Ich arbeite schon seit drei Jahren für ihn und kenne ihn noch immer nicht.

Mein Speisesaal befindet sich zwischen der Küche und den Kabinen. Ich entdeckte Adler und wollte mich ihm anschließen. Er hat seinen Kopf weggedreht. Verströmte einen Hauch von Lorbeer. Ein anständiger Mann hätte mich gegrüßt. Campbell nicht gesehen. Auf See ist es schwierig, den Löffel ruhig zu halten. Zu Hause esse ich mit Fernande. Sie herrscht über die kleine Küche, ich über den Panhard, und beim Essen sitzen wir gemeinsam am Tisch.

Was sie jetzt wohl macht, während wir nicht da sind? Manchmal sah ich sie mit traurigem Gesicht aus dem Küchenfenster starren. Er hat gesagt, dass sie jederzeit in die Bibliothek gehen könne, um zu lesen. Fernande mit einem Buch im Schoß. Ihre trockenen Finger, die über die Seiten streichen.

Nach dem Abendessen über das Deck spaziert. Plötzlich tauchte ein großer Hund vor mir auf. Seine Pfoten tappten über die Planken. Das Tier lief zur Reling, spritzte seinen Urin über Bord. Ich konnte nur hoffen, dass der Wind richtig stand. In drei Tagen erreichen wir New York.

19. November. Einige Details über die SS Amerika