Der Arkanist (Band 2) - Pascal Wokan - E-Book
NEUHEIT

Der Arkanist (Band 2) E-Book

Pascal Wokan

0,0

Beschreibung

Es gibt einiges, das Ihr erfahren solltet, bevor wir ans Ende meiner Geschichte gelangen. Wir beginnen dort, wo wir aufgehört haben: beim zweiten Schuljahr. Es war ebenso ereignisreich wie das erste. Wir werden uns auf die Spuren einer Prophezeiung begeben, einen Mythos über Träume widerlegen, triumphieren und fallen, der Liebe hinterhereilen und am Ende der Wahrheit aller Dinge ein Stückchen nähergekommen sein. Wäre ich nicht so überaus begabt darin gewesen, mir Feinde zu machen, wäre meine Zeit an der Himmelsakademie wohl glimpflicher ausgegangen. Alles, was ich wollte, war, das Arkan zu verstehen. Besser werden. Die Welt verändern. Aber der Grat zwischen Gut und Böse ist schmal und Macht ist eine Versuchung, von der jeder allzu gern kosten würde. Sie war und ist mein Fluch. Und ich ahnte nicht, was ich durch meine Gier in der Dunkelheit weckte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 601

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Kapitel 1 - Die Geschichte des Dunklen Lords

Kapitel 2 - Die Abmachung

Kapitel 3 - Sonnenfleckenwein

Kapitel 4 - Das Domizil

Kapitel 5 - Zuhause

Kapitel 6 - Halbwertszeit

Kapitel 7 - Die perfekte Legierung

Kapitel 8 - Die Greifen

Kapitel 9 - Licht und Schatten

Kapitel 10 - Zwischenspiel: Protokoll

Kapitel 11 - Das Reich der Träume

Kapitel 12 - Glaube und Liebe

Kapitel 13 - Ein anderer Weg

Kapitel 14 - Nicht allein

Kapitel 15 - Keine leichte Entscheidung

Kapitel 16 - Stahl und Dunkelheit

Kapitel 17 - Die Kiste der Verdammnis

Kapitel 18 - Die Wahrheit

Kapitel 19 - Trunkenheit und Leichtsinn

Kapitel 20 - Die Ethik meines Handelns

Kapitel 21 - Ein wahrer Held

Kapitel 22 - Ein Sklave seines Willens

Kapitel 23 - Nacht und Nebel

Kapitel 24 - Dinge, die getan werden müssen

Kapitel 25 - Regen

Kapitel 26 - Süsser Schmerz

Kapitel 27 - Das Glück wahrer Freundschaft

Kapitel 28 - Anker

Kapitel 29 - Donnerinseln

Kapitel 30 - Der Beste sein

Kapitel 31 - Neue Freunde

Kapitel 32 - Nicht gut genug

Kapitel 33 - Tropfen auf dem Wasser

Kapitel 34 - Die Spiele

Kapitel 35 - Der Vorhang fällt

Kapitel 36 - Mörder

Kapitel 37 - Die Strafe

Kapitel 38 - Der Held der Geschichte

Kapitel 39 - Licht an seltsamen Orten

Kapitel 40 - Gründe

Kapitel 41 - Wahres Glück

Kapitel 42 - Wächter

Kapitel 43 - Gut und Böse

Kapitel 44 - Weiter gehen als alle anderen

Epilog: Die wahre Geschichte

Nachwort

Glossar

 

Pascal Wokan

 

 

Der Arkanist

Band 2: Das Kind der Prophezeiung

 

Fantasy

 

 

 

Der Arkanist (Band 2): Das Kind der Prophezeiung

Es gibt einiges, das Ihr erfahren solltet, bevor wir ans Ende meiner Geschichte gelangen. Wir beginnen dort, wo wir aufgehört haben: beim zweiten Schuljahr. Es war ebenso ereignisreich wie das erste. Wir werden uns auf die Spuren einer Prophezeiung begeben, einen Mythos über Träume widerlegen, triumphieren und fallen, der Liebe hinterhereilen und am Ende der Wahrheit aller Dinge ein Stückchen nähergekommen sein. Wäre ich nicht so überaus begabt darin gewesen, mir Feinde zu machen, wäre meine Zeit an der Himmelsakademie wohl glimpflicher ausgegangen. Alles, was ich wollte, war, das Arkan zu verstehen. Besser werden. Die Welt verändern. Aber der Grat zwischen Gut und Böse ist schmal und Macht ist eine Versuchung, von der jeder allzu gern kosten würde. Sie war und ist mein Fluch. Und ich ahnte nicht, was ich durch meine Gier in der Dunkelheit weckte.

 

 

Der Autor

Pascal Wokan, geboren 1986 in Frankfurt am Main, ist Maschinenbau-Ingenieur und arbeitet an einer Technischen Universität. Seit einiger Zeit veröffentlicht er regelmäßig Bücher, die Topplatzierungen in den Amazon-Bestsellerlisten besetzen. Er lebt mit seiner Familie in Weilburg, Hessen und widmet sich in seiner Freizeit nicht nur dem Schreiben neuer Romane, sondern auch der grundlegenden Frage, warum die Pizza immer auf der belegten Seite landet.

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Mai 2025

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2025

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-358-5

ISBN (epub): 978-3-03896-359-2

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

»Wer die Wahrheit hören will,

den sollte man vorher fragen,

ob er sie ertragen kann.«

 

Ernst R. Hauschka

Kapitel 1 - Die Geschichte des Dunklen Lords

 

Es war still im höchsten Raum der Verliese von Aldanum. Ruhig, hell und still. Sanftes Sonnenlicht fiel durch das große Fenster, übergoss den kalten Obsidian, das breite Podest und die drei hohen Stühle, die dahinter aufgereiht waren. Goldene Schatten lechzten über die Speere der Wächter, die sich an den Wänden postiert hatten, und über die Sigillmünzen der fünf Arkanisten; sie huschten entlang des leeren Blattes vor Mavia, kitzelten sie im Gesicht und umfingen sie mit sanfter Wärme.

Die Zeit war gekommen, die Geschichte fortzusetzen.

Nichts erinnerte mehr an die Zerstörung, die vor wenigen Kerzen im höchsten Raum der Verliese Aldanums geherrscht hatte. Das Loch in der Wand war versiegelt, das geborstene Glas ausgetauscht und die verkohlten Leichen fortgeschafft worden. Der schwarze Obsidian glänzte so spiegelklar, dass man kaum meinen könnte, zuvor wäre die Verdammnis hier entfesselt worden. Zurück blieb bloß der Verrat am höchsten Gremium der Himmelsinseln.

Eine Gruppe Wächter, die mächtigsten Beschützer des Reiches, hatte in eigenem Ermessen gehandelt; sie hatten sich gegen die Anweisungen der Richter gestellt und danach getrachtet, dem Gefangenen das Leben zu nehmen, um Gerechtigkeit zu erfahren.

Allerdings war der Gefangene, der seit Jahrzehnten sein Dasein an diesem Ort fristete, nicht irgendwer. Er war ein Mann, dem man viele Titel nachsagte: der größte Feind der Menschheit, der mächtigste Arkanist aller Zeiten und der Gotttöter. Am bekanntesten war jedoch sein wahrer Titel.

Dunkler Lord.

Richterin Mavia schob ihre Unterlagen zurecht, legte den mit Sigillen versehenen Federkiel in das bereitstehende, leere Glas – es diente lediglich als Halterung – und betrachtete ihr Spiegelbild im glatten Obsidian. Streng zurückgebundenes, blondes Haar, verkniffener Mund, hohe Wangenknochen und tief liegende Augen, die von Müdigkeit und Erschöpfung sprachen. Doch sie wusste, dass ihr noch ein langer Tag bevorstand; ein Tag, der der Gerechtigkeit ganz Aldanums diente.

Das Polster ihres Stuhls knarzte, während sie die Münzen in ihrem schwarzen Arkanistengürtel begutachtete. Dreißig glühende Sigille mit gewundenen Mustern, durch Ringe und kunstvolle Symbole dargestellt.

Dreißig Möglichkeiten, einem weiteren Verrat standzuhalten. Vielleicht auch dreißig Elementarverbindungen, um den Gefangenen aufzuhalten, sollte er entgegen seinen Worten einen Fluchtversuch wagen.

Dreißig – und doch kam sie sich in Anwesenheit des Dunklen Lords wie ein Kind vor.

Wenn sie die Augen schloss, sah sie das Geschehen vor sich, als hätte es einen Stempelabdruck in ihrem Gedächtnis hinterlassen. Die verheerenden Kräfte der Wächter. Stein zerbarst, Obsidian zerplatzte, die sigillverstärkten Fenster zersplitterten und die Welt wurde gleißend hell und dumpf. Der Gestank von Feuer, Rauch und verbranntem Fleisch, der sich wie Nägel in ihre Nase bohrte. Doch als die Beschwörung wich, die Blitzsigille ihre Macht entladen hatten, stand der Dunkle Lord regungslos inmitten der Verwüstung. Haut, Fleisch, Knochen waren verbrannt – dennoch starb er nicht. Und dann leuchteten die gebannten Sigille auf seinem Körper auf, ließen gespinstartige Finsternis emporsteigen und heilten ihn, bis er unversehrt vor ihr stand.

Die Macht des Dunklen Lords überstieg alles Dagewesene.

Wie sonst hätte er die Götter der Viereinigkeit ermorden können?

Mavia schüttelte den Nebel der Erinnerung aus ihrem Kopf und umklammerte die geborstene Münze in ihrer Tasche. Ein verschlungenes, hochkomplexes Dunkelsigill, das der Dunkle Lord einst erschaffen hatte. Bis heute war das Geheimnis um sie ungelöst. Mavia hatte vor, das zu ändern.

Sie presste so fest zu, bis die Kälte der Münze ihre Hand füllte – selbst dann presste sie weiter. Schließlich atmete sie durch, löste die Finger und beobachtete die beiden Männer, die in diesem Moment die Plätze neben ihr einnahmen.

Richter Dareths Rücktrittsgesuch befand sich unter dem Blätterstapel vor ihr auf dem Tisch. Es war lediglich eine Abschrift, denn das Original war per Magnetsigille der Krone überliefert worden – und die Antwort war prompt erfolgt. Die Ereignisse waren nicht spurlos an Dareth vorübergegangen, zumal der dritte Richter bei dem Angriff der Wächter sein Leben verloren hatte.

Die Befragung muss unverzüglich weitergehen, erinnerte sie sich an die Anweisung. Die Geheimnisse sind unerlässlich für die Zukunft des Reiches.

Mavia unterdrückte ein Schnauben. Als wäre ihr die Notwendigkeit dieses Zusammenkommens nicht bewusst. Immerhin war der Mann, über dessen Leben sie verfügen sollte, der Mörder ihres Vaters.

»Richterin Mavia.« Ein älterer Arkanist nickte ihr zu und ließ sich gemächlich auf dem Stuhl nieder.

Die verschlungenen goldenen Sigille seiner tiefroten Gewandung zeichneten ihn großer Verdienste aus. Besonders auffällig war die ebenfalls goldene Spange in Form einer Flamme, die seinen Umhang am Halsansatz geschlossen hielt. Sein graues Haar war streng zurückgekämmt, der Vollbart ordentlich gestutzt und der Blick aus seinen wachen Augen schoss wie Pfeile durch den Raum – auf der Suche nach einem Ziel, das sie durchbohren konnten.

»Richter Siros.« Mavia neigte höflich den Kopf. »Es ist mir eine Freude und eine Ehre, Euch an meiner Seite zu wissen. Danke, dass Ihr Euer Kommen so kurzfristig einrichten konntet.«

Siros kräuselte die Lippen. »Ich bin lediglich ein Diener der Krone. Und sie war sehr deutlich, was die Fortsetzung dieser Verhandlung betrifft.« Sein durchdringender Blick glitt weiter umher. »Wo ist er?«

»Er wird in diesem Moment aus seiner Zelle geholt und hierhergebracht.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, das ihr misslang. »Habt noch etwas Geduld.«

Auf ihrer anderen Seite verharrte Caley, ein schlaksiger Mann mittleren Alters, der seinen Bart penibel züchtete. Sein gewelltes Haar war von einem Haselnussbraun und seine schmalen Gesichtszüge, die hohen Wangenknochen und das sture Kinn durchaus ansehnlich. Er trug ein schlichtes schwarzes Richtergewand, das einem Talar gleich sehr weit fiel, sodass Caley noch dürrer wirkte, als er ohnehin war.

Obwohl sie eine gemeinsame Vergangenheit hatten und sie darum gebeten hatte, ihn als dritten Richter dem Prozess zuzuweisen, gab er durch nichts zu erkennen, ob sie sich kannten. Kein Nicken, nicht einmal ein Lächeln.

Einstige Kontrahenten, die jetzt Seite an Seite saßen, um ein Urteil über den mächtigsten Arkanisten aller Zeiten zu fällen? Da musste etwas nicht mit rechten Dingen zugehen.

Doch wie sonst sollte die Welt jemals erfahren können, was vor vielen Jahren wirklich geschehen war, als Aldanum in Flammen stand, Trümmer aus dem Himmel herabregneten und die Götter starben?

»Richterin Mavia.« Caleys Worte waren kühl und distanziert, allerdings schwebte ein Anflug von Neugierde in seiner Stimme.

»Richter Caley.« Sie wies auf seinen Platz. »Es ist eine Weile her, seit unserem letzten Treffen. Ich hoffe, die Reise war nicht allzu beschwerlich?«

»Mitnichten.« Er setzte sich. »Vor wenigen Kerzen verbrachte ich meine Zeit noch bei der Anhörung eines eher mäßig wichtigen Falls. Dann erreichte mich ein Schreiben der Krone mit der Anweisung, die Verliese von Aldanum aufzusuchen und ein Verhör zu führen.« Er zögerte. »Ausgerechnet von Euch hätte ich diese Empfehlung nicht erwartet.«

Mavia schob die Papiere zurecht, obwohl sie bereits geordnet waren. »Ihr seid der Richtige für diese Angelegenheit, Richter Caley. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

Er trommelte mit einem Stift auf dem Blatt vor sich, trommelte und trommelte. Schon früher hatte er diese Angewohnheit gehabt, wenn er nervös gewesen war, und offenbar hatte sich daran nichts geändert. »Offen gestanden bezweifle ich, dass ich der Richtige bin. Sucht Ihr um Unterstützung der alten Zeiten willen? Sagt mir, Richterin Mavia, was erhofft Ihr Euch hiervon?«

Eine gute Frage, die sie nicht beantworten wollte, denn die Antwort würde Zweifel an ihrer Integrität aufkommen lassen.

Die Wahrheit war: Die Geschichte des Dunklen Lords hatte sie aufgewühlt. Deshalb brauchte sie die Meinung von jemand anderem; jemand, der ganz sicher nie ihrer Meinung sein würde.

Sie brauchte den Blick eines wachen und unbefangenen Verstandes.

Seit Beginn der Verhandlung umklammerte ein beklemmendes Gefühl ihr Herz. Inzwischen war daraus ein Knoten geworden, der ihr allmählich die Luft zum Atmen abschnürte.

»Wie dem auch sei …« Caley unterstrich seine Worte mit einer nachlässigen Geste. »Ich danke Euch für diese Gelegenheit.«

Mavia neigte den Kopf.

»Bedauerlicherweise bin ich nicht ganz im Bilde.« Er sah sich geschäftig um. »Es ist tatsächlich er, dessen Geschichte wir Zeuge sein sollen?«

Wie so viele Arkanisten vor ihm weigerte er sich, weder den Namen noch die Bezeichnung auszusprechen. Trotz aller Aufklärung und wissenschaftlicher Erkenntnisse waren viele Arkanisten abergläubisch. Wie sonst sollte man im Angesicht eines Mannes reagieren, der sprichwörtlich Götter getötet hatte?

»Dämonen«, murmelte sie und betrachtete die Tür in der Hoffnung, sie möge sich bald öffnen. Mavia konnte kaum erwarten, mehr über die tiefen Zusammenhänge der Welt zu erfahren. Und wenn jemand darum wusste, dann der Dunkle Lord.

»Mavia?«

Sie schreckte hoch und winkte ab. »Eure Fragen werden gänzlich zu Eurer Zufriedenheit beantwortet. Versprochen.«

Mit knapper Geste loderte das Schwebesigill in der Feder neben ihr auf: das Symbol für Luft im Zentrum und eines für Erde auf dem Außenring. Einfache Ordnung, das hieß lediglich eine Verbindung zwischen beiden Symbolen. Daneben prangte ein wesentlich komplexeres Tintsigill. Doppelte Ordnung über Wasser und Erde.

Die Feder schwebte wie von Geisterhand empor und drückte die Spitze auf das leere Blatt – ebenso begierig darauf, die Geschichte des Dunklen Lords festzuhalten.

Mavia richtete sich auf, legte die Fingerspitzen aneinander, um der Versuchung zu widerstehen, abermals die Münze in ihrer Tasche zu berühren, und vergewisserte sich, dass alle auf ihrem Posten waren.

Ein Dutzend Soldaten, fünf Arkanisten und drei Richter, die ebenfalls nicht ganz untalentiert im Umgang mit den Sigillen waren. Für jeden anderen Verbrecher sollte das bei Weitem ausreichen. Allerdings war der Dunkle Lord nicht irgendwer.

»Führt den Gefangenen herein!«, rief sie.

Die Tür öffnete sich quietschend, ließ einen Spalt Licht hereinscheinen.

Klirr. Ein Mann betrat den Raum, die rußverschmierten Hände und die nackten, geschundenen Füße mit Stahlfesseln angekettet. Bei jedem Schritt klirrten die Ketten. Klirr. Klirr. Klirr.

Das verfilzte dunkle Haar hing ihm in die Stirn; es war nur noch fingerlang, auch der wuchernde Bart größtenteils von den Flammen verzehrt. Man hatte ihm neue Kleider gegeben, die auf seinem abgemagerten Körper flatterten – ein graues Hemd und eine gleichfarbige Hose. Sie halfen nicht dabei, über sein verwahrlostes Äußeres hinwegzutäuschen.

Dieser Mann war bloß noch der ausgebrannte Schatten des mächtigsten Arkanisten aller Zeiten.

Entgegen geläufigen Überlieferungen sah er aus wie ein ganz gewöhnlicher Mann, dem man zufällig auf den Himmelsinseln über den Weg laufen könnte. Er war groß, aber kein Riese. Ihn umgab etwas Bedrohliches, aber er war kein finsteres Wesen. Seine Gesichtszüge waren markant, aber auch nicht gut aussehend. Was hingegen Mavia erneut auffiel, waren seine durchdringenden kohlrabenschwarzen Augen, die mehr Abgründe und Schrecken gesehen hatten als jemals ein Arkanist vor ihm.

Mittlerweile kannte Mavia seine Intelligenz, Wachsamkeit und Höflichkeit, als existierten zwei gegensätzliche Wesen in ihm.

Wie bizarr.

Die Richter regten sich, als der Gefangene in die Raummitte geführt wurde. Caley beugte sich vor und trommelte mit dem Stift auf den Tisch. Tapp. Tapp. Tapp …

Das Geräusch wechselte sich mit dem Klirren der Ketten.

Tapp. Klirr. Tapp. Klirr …

Siros saß stocksteif da und beäugte den Neuankömmling interessiert. Anscheinend wusste er noch nicht ganz, was er von ihm halten sollte. Dem Alter nach müssten sie denselben Jahrgang teilen. Der Dunkle Lord war weit über fünfzig Jahre alt – so sagte man –, obwohl er die faltenlosen Züge eines dreißigjährigen Mannes besaß. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass Siros und er zur gleichen Zeit an der Himmelsakademie gewesen waren.

Der Dunkle Lord nickte den Richtern höflich zu und blieb ganz ruhig, während ein Wächter seine Fesseln an dem schweren Eisenring am Boden festmachte. Es rasselte, als der Ring einrastete und die Kette gestrafft wurde. Überhaupt gab Caelden sich völlig unbeschwert, wie jemand, der ebenso sehr wie Mavia herbeisehnte, die Geschichte fortzusetzen.

Sie gierte danach wie eine Süchtige nach einem Schluck Mohnblumensaft.

»Das sind überraschend viele Bannsigille in den Metallgliedern.« Caley ließ Erstaunen anklingen. »Sind sie wirklich nötig?«

»Vertraut mir, Richter Caley«, erwiderte Mavia leise und begutachtete die geisterhaft leuchtenden Symbole und Kreise. »Die Sigille sollten jederzeit vollständig aufgeladen sein.«

Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber Siros richtete sich noch weiter auf, wie ein Adler in seinem Nest. »Die Bannsigille haben nicht verhindert, dass er sein Arkan einsetzen konnte.«

Natürlich wusste er bereits darüber Bescheid, was sich kürzlich in diesem Raum zugetragen hatte. Siros stand nicht grundlos in der Gunst der Krone.

»Es war nicht sein Arkan, Richter Siros.« Mit einem Wink ließ sie die Feder emporschweben. »Auch wenn der Bericht anderes erläutert.«

Siros beäugte den Gefangenen misstrauisch. »Man kann das Arkan eines anderen nicht verwenden.«

»Ihr werdet feststellen, dass vieles im Zusammenhang mit dem Dunklen Lord nicht so ist, wie wir dachten. Er ist in jeglicher Hinsicht einzigartig.«

Sein Blick zuckte zu ihr und brannte wie eine Ohrfeige. »Bewundert Ihr ihn?«

Mavia legte sich die Antwort gut zurecht. »Ich bewundere sein Verständnis für das Arkan und die tiefen Zusammenhänge der Welt. Sein Wissen übersteigt unseres bei Weitem. Das ist ein bedeutender Unterschied und Ihr tut gut daran, dies nicht zu vergessen, Richter Siros.« Sie gestattete sich ein schmales Lächeln, um die Situation zu entschärfen. »Nun sollten wir uns dem Grund unseres Zusammenkommens annehmen. Findet Ihr nicht auch?«

Sein Nicken war so langsam, dass es kaum als solches durchging.

Schließlich richtete sich alle Aufmerksamkeit auf den Gefangenen, der reglos inmitten eines Raumes verharrte, an dem Geschichte geschrieben werden sollte. Ausgehungert, ungewaschen und dreckig schaute er sich seelenruhig um, ließ sich dabei Zeit, als läge alldem ein besonderes Geheimnis inne, bis er sich ihnen zuwandte.

Er lächelte.

Es war weder grausam noch durchtrieben, weder hasserfüllt noch zornig. Sondern das traurige Lächeln eines Mannes, der darauf wartete, zu sterben.

Mavias Herz pochte schnell. Sie schluckte, weil ihr Hals plötzlich wie ausgedörrt war. Eine Unruhe überkam sie, tief wie Schmerz. Auf einmal waren die Bilder wieder da. Die Sigille in seiner Haut. Finsternis, die aus ihm herausströmte. Seine mahnenden Worte. Dämonen. Tote Götter.

Das Ende der Welt.

Zitternd atmete Mavia ein und ließ die Luft sanft hinausströmen. Wie von selbst glitt ihre Hand in die Tasche und umfasste die schwarze Münze. Irgendetwas daran spendete ihr Kraft.

»Dunkler Lord«, sagte sie betont. »Ihr wurdet hierhergeführt, um Eure Geschichte fortzusetzen. Die Abmachung, die wir zu Beginn der Verhandlung getroffen haben, gilt trotz der Unterbrechung nach wie vor.«

Er neigte den Kopf. »Caelden genügt.«

Sie schnalzte mit der Zunge. »Caelden, seid Ihr bereit, mit der Geschichte Eures Lebens dort weiterzumachen, wo wir aufgehört haben?«

»Das bin ich.« Sein Blick wanderte über die Richter. Darin lagen Verwunderung und … war er etwa amüsiert? »Da wir neue Teilnehmer in unserer geselligen Runde haben, sollten wir uns vielleicht zuerst vorstellen. Mein Name ist …«

»Wir wissen, wer Ihr seid!« Siros Stimme knallte wie ein Peitschenhieb. »Haltet uns nicht für Narren, Dunkler Lord.«

»Nichts läge mir ferner, als Euch zu beleidigen, Richter Siros, Sigill des Morgens.«

Keine Veränderung in Siros’ Haltung, nicht einmal ein Zucken in seinem wächsernen Gesicht. Mavias Wissen nach war der Titel dem Richter erst vor Kurzem zugesprochen worden. Sigill des Morgens – eine der höchsten Anerkennungen, die man als Arkanist in Aldanum erhalten konnte.

»Ihr haltet Euch für den schlausten Mann in diesem Raum, nicht wahr?« Siros beugte sich vor und kniff die Augen zusammen.

Der Dunkle Lord stand gelassen da und lächelte. »Den schlausten?« Er hob die Hände, soweit es die Kette erlaubte. »Schlauer als die meisten jedenfalls schon. Doch Euch kann ich nicht das Wasser reichen, Richter Siros.«

»An Bescheidenheit mangelt es Euch jedenfalls nicht. Ihr solltet nicht vergessen, wer Ihr seid.«

Ein Schatten legte sich über Caeldens Züge. »Wie könnte ich? Werde ich doch schon mein ganzes Leben lang daran erinnert. Zur Zeit meines Studiums in der Himmelsakademie war ich der Bürgerliche, der nicht dorthingehörte.« Er ließ die Hände sinken. »Nachdem ich die Akademie verließ, nannte man mich Geisterflamme. Als Arkanist war ich der Dunkle Lord. Und als Retter wurde ich zum Gotttöter.« Seine Stimme wurde dunkler, schärfer – schärfer noch als eine Klinge, die jeden Widerspruch in winzige Teile zersplitterte. »Nein, ich vergesse nicht, wer ich bin. Und schon bald werden wir uns der Frage zuwenden, wer wir alle sind.« Er sah die Anwesenden nacheinander an. »Denn jeder von uns nimmt eine besondere Rolle in meiner Geschichte ein.«

Unwillkürlich hielt Mavia den Atem an.

Etwas an seinen Worten schickte einen eiskalten Schauder über ihren Nacken.

»Sagt, Richter Siros«, bemerkte Caelden mit ruhiger Stimme, »hat es Euch viel Mühe bereitet, die Krone dazu zu bewegen, Euch einzusetzen?« In seinen Augen blitzte der Schalk. »Oder habt Ihr die Verfügung gar selbst verfasst?«

Siros lehnte sich zurück. Sein Blick war nun so schmal wie seine zusammengepressten Lippen. »Ihr wisst offenbar viele Dinge, Dunkler Lord.«

Stöhnend wie ein alter Mann setzte Caelden sich auf die kalten Fliesen und erwiderte dabei wie beiläufig: »Das sind meine Eigenarten. Ich weiß Dinge und schütze das Reich der Menschen.«

Für ein, zwei Atemzüge herrschte Stille im Raum.

Dann trat auf einen Wink von Siros ein Soldat vor und knallte den Schaft seines Stabes Caelden in den Rücken, sodass der vornüber auf Hände und Knie fiel.

»Das genügt.« Mavia richtete sich auf und schickte den Soldaten mit einem raschen Wink davon. »Wir haben eine Vereinbarung getroffen, Caelden, und gestatten Euch, Eure Geschichte zu erzählen. Im Anschluss werden wir uns zur Beratung Eures Urteils zurückziehen.«

»Oh, Richterin Mavia.« Ein trauriges Lächeln umspielte Caeldens Lippen. »Wir wissen doch beide, wie das Urteil aussehen wird. Für mich gibt es keinen Sonnenaufgang. Ich habe Dinge gesehen …« Er schloss die Augen und stieß zischend die Luft aus, ehe er sie wieder öffnete. »Es gibt einiges, das Ihr erfahren solltet, bevor wir ans Ende unserer Geschichte gelangen. Wir alle werden uns verändern und begreifen, wie schmal der Grat zwischen Gut und Böse ist. Doch Vorsicht!« Er hob den Finger. »Macht ist eine Versuchung, von der jeder allzu gern kosten würde. Sie war und ist mein Fluch.«

Mavia winkte auffordernd. »Ihr erwähntet etwas von Eurem Unterricht bei Erzmagister Aramil. Die Dunkelsigille.« Sie zögerte das Wort hinaus. »Und Dämonen.«

Siros schaute sie neugierig von der Seite her an.

»So weit sind wir noch nicht.« Caelden setzte sich wieder, faltete die Hände im Schoß zusammen und hielt sein Gesicht in die wärmenden Sonnenstrahlen.

Doch sie berührten ihn nicht, wichen von ihm ab, als scheuten sie seine Nähe. Um ihn existierte ein Ring aus Dunkelheit und in der Mitte gab es nichts, das so finster im Schatten lag wie der Dunkle Lord.

»Wir beginnen dort, wo wir aufgehört haben«, erklang schließlich seine beklemmende, aber auch majestätische Stimme. Wie ein Geschichtenerzähler, der sich der Anfänge der Gräuel und Schrecken entsann.

Mavia straffte sich. »Die Semesterferien.«

»Richtig.« Er drückte den Rücken durch und saß nun aufrecht und stolz wie ein Magister vor seinen Schülern. »Da es keinen Ort gab, an dem ich die drei Monate zwischen Ende des ersten Schuljahres und dem Beginn des nächsten verbringen konnte, musste ich mir etwas einfallen lassen. Ein Aufenthalt in der Himmelsakademie wurde zumindest zu damaligen Verhältnissen den Adepten verwehrt.« Ketten klirrten, als er den Finger hochriss, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf sich zu lenken. »Das bedeutete, dass die Schweifinsel, deren Haupteinnahmequelle die Adepten waren, wie ausgestorben war. Was wiederum dazu führte, dass die Läden für diese Zeit schließen mussten. Geschlossene Läden, keine Arbeit, kein Einkommen, keine Möglichkeit für mich, irgendwo zu übernachten.« Er verstummte, als tauchte er tief in seine Vergangenheit ein. »Glücklicherweise hatte ich im ersten Semester Freunde gefunden, von denen einige mir ans Herz wuchsen.«

»Mazen.« Der Name kam Mavia ganz leicht über die Lippen, als wäre sie ebenfalls Teil dieser geheimnisvollen Geschichte.

Caelden nickte. »Mazen. In der Akademie konnte man schnell die Herkunft anderer vergessen, wenn man genau wie sie über Unterrichtsstoff brütete, in Schwebetechniken auf der Nase landete oder von Magister Feldrid zusammengestaucht wurde. Innerhalb der Mauern der Akademie waren wir zumindest auf dem Papier alle gleich. Doch außerhalb …« Entschuldigend hob er die Hände. »Nun, bis dahin hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wie reich meine Freunde waren. Besonders Mazen.«

Caley blätterte in seinen Unterlagen. »Wartet! Ihr sprecht von dem Erben des Hauses Welarions? Eine der bedeutendsten Familien Aldanums? Mazen Welarion, der Aldanum …«

»Ja, in der Tat, Richter Caley. Der Mazen, der über die Geschicke ganz Aldanums entscheidet.« Caelden ließ seine Worte kurz wirken. »Er bot mir an, die Semesterferien in seinem Domizil zu verbringen. Neu-Aldanum, das Juwel der Himmelsinseln. Eine Stadt, die schon zu damaligen Verhältnissen besonders war. Jedenfalls durfte ich bei Mazen ein Zimmer beziehen. Obwohl er älter war als ich und bereits viel vertrauter im Umgang mit dem Arkan, sah er zu mir auf. Wir waren beide Mitglieder der Drachen, eine der vier Mannschaften, die sich in der Himmelsakademie bei den Spielen erprobten. Wir waren beide ziemliche Hitzköpfe.« Er lachte leise, ehe er Mavia zuzwinkerte. »Und wir waren beide sehr an Mädchen interessiert. In dieser Zeit wurden wir beste Freunde …« Sein Lachen riss schlagartig ab. »Bevor alles ganz anders kam. Allerdings will ich nicht vorgreifen. Wäre ich nicht so überaus begabt darin gewesen, mir Feinde zu machen, wäre meine Zeit an der Akademie wohl glimpflicher ausgegangen. Alles, was ich wollte, war, das Arkan zu verstehen. Besser werden. Die Welt verändern.«

»Macht«, raunte Mavia.

Seine tiefschwarzen Augen richteten sich auf sie. »Macht kann Menschen anspornen, aber auch zu grausamen Taten verleiten. Ich hoffe um unser aller Willen, dass ihr weitere Unterbrechungen unterbindet, Richterin Mavia.«

Sie dachte an die einhundert Arkanisten, die im Turm versammelt und instruiert worden waren, darunter die Hälfte von der Krone höchstpersönlich geprüft, befragt und herbeordert. Eine Armee, der selbst der Dunkle Lord nicht trotzen könnte.

Oder doch?

Sie verspürte ein leichtes Unbehagen bei der Erwägung, selbst das könnte ihn nicht davon abhalten, zu fliehen. Und das rief eine Überlegung in ihr wach, die sie seit dem Morgengrauen nicht mehr losließ: Was, wenn mehr an seiner Geschichte dran war als gedacht?

»Das zweite Schuljahr.« Caeldens Stimme riss sie aus den Gedanken. »Es war ebenso ereignisreich wie das erste. Wir werden uns auf die Spuren einer Prophezeiung begeben, einen Mythos über Träume widerlegen, triumphieren und fallen, der Liebe hinterhereilen und am Ende der Wahrheit aller Dinge ein Stückchen näher gekommen sein.«

Er schien Freude dabei zu haben, sich selbst reden zu hören, und sie wollte ihn dabei nicht aufhalten. Dies war die Abmachung: Keine Unterbrechung, es sei denn, er gestattete sie.

Die Schatten um den Dunklen Lord wuchsen – vielleicht bildete Mavia sich das nur ein. »Dies ist der geeignete Zeitpunkt, um bei unserer Geschichte anzusetzen, Richterin Mavia. Der Tag vor Beginn des zweiten Schuljahrs. Der Tag, an dem ich Yenna wiederbegegnete.«

Kapitel 2 - Die Abmachung

 

Ich entfesselte Arkan mit einem Schwebesigill.

Der Schub schlingerte mich nach vorn. Langsam spreizte ich die Arme, um das Gleichgewicht zu wahren, schloss die Augen und genoss, wie der Wind mein Gesicht mit einem kühlenden Kuss bedachte und die Haare in meine Stirn peitschte.

Die Münze steckte in einer Lasche an meinem Gürtel und half mir dabei, der Schwerkraft zu trotzen. Ich sah das Sigill vor mir: eine Kombination aus Luft im Zentrum und Erde auf dem Außenring. Einfache Ordnung, das hieß eine einzige Verbindung zwischen beiden im 180 Grad Winkel.

Im vergangenen Schuljahr hatte ich es häufiger einsetzen müssen, als mir lieb war, und durfte mich gegenwärtig als erprobt im Umgang damit bezeichnen. Dennoch gab es einige Tücken, die ich noch nicht ganz durchschaut hatte. Deshalb übte ich damit jeden Tag aufs Neue, nutzte jede freie Kerze und trieb mich über meine Grenzen hinaus. Auch wenn das bedeutete, dass ich im freien Himmel tausend Schritt über den Erdlanden schwebte.

Eine Bö traf mich von der Seite und ich kippte wie ein Tisch mit zersplittertem Bein.

Vor Schreck riss ich die Augen weit auf. Die Welt drehte sich um mich. Helle Morgensonne, dunkelblauer Himmel, graue Wolken – wieder und wieder.

Instinktiv verpasste ich mir einen weiteren Schub mit einem entgegengesetzten Schwebesigill, nutzte mehr Arkan, als gäbe ich mit einem Sicherungsseil allmählich nach. Mein Puls raste und das Blut donnerte in meinen Ohren. Jetzt musste ich Ruhe bewahren!

Während die Welt sich verschwommen um mich drehte, konzentrierte ich mich auf meine Atmung und entfesselte schubweise das Schwebesigill, um mich zu verlangsamen und aus der Schieflage wieder in einen sicheren Stand zu gelangen. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt ich die Arme zur Seite wie ein Seiltänzer und achtete kaum darauf, wie der Wind in meinen Ohren heulte und an meinem Mantel zerrte. Ich liebte es, den Naturgesetzen ausgesetzt zu sein. Noch mehr liebte ich es, mich ihnen in den Weg zu stellen.

Und sie zu bezwingen.

Die Stöße drückten mich hin und her. Der Himmel und ich waren keine Freunde. Ich war kein Adliger, sondern ein Bürgerlicher. Ein Junge, der in einem Waisenhaus aufgewachsen war und durch Zufall über eine Gabe gebot. Allerdings musste der Himmel akzeptieren, dass ich hier oben hingehörte.

Wenn ich mir ein Ziel gesetzt hatte, ließ ich nur davon ab, wenn ich es erreicht hatte. So auch der Luftstand im freien Himmel.

Ich atmete durch und peitschte mich zur Seite, um in völliger Balance zu stehen. Die Kunst bestand darin, sich den Strömungen anzupassen wie ein Fisch im Wasser; ich musste reagieren, bevor ich getroffen wurde, und mir darüber im Klaren sein, wie schnell ein Fehler zum Tod führen könnte. Aber Fehler kamen für mich ohnehin nicht infrage – zumindest die, die sich vermeiden ließen.

Als ich sicher stand und den Ausblick auf mich wirken ließ, wusste ich wieder, warum ich Arkanist sein wollte. Hierfür lohnte es sich, allen Hindernissen zu trotzen.

Unter mir erstreckte sich endloses Grau, über das goldenes Morgenlicht strömte. Die Luft war kalt und prickelte auf meiner Haut. Von hier aus konnte ich ungewöhnlich weit blicken und erkannte sogar, wie sich der Horizont in der Ferne bog.

Überall stachen Inseln aus dem dunstigen Meer, die von den sanften Schwaden an ihren Ufern umspielt wurden wie brandende Wellen. Es gab größere und kleinere Himmelsinseln. Manche waren gerade einmal so groß wie eine Scheune und trieben um einen Kern, der ein ganzes Dorf aufnehmen konnte. Diese Inselgruppen waren meist bewohnt. Ein Stück weiter schwebte ein Atoll, das größer war und zumeist einem hochrangigen Adligen unterstand, der dort sein Domizil bezog. Dann wiederum gab es jene Inselgruppen wie die, auf der ich meine Semesterferien verbrachte, größer noch als eine ganze Stadt. Archipel. In meinem Fall war es Neu-Aldanum.

Mit einem Schub drehte ich mich halb um die Achse. Ein Stück von mir entfernt ragte ein steinerner, breiter Steg in den Himmel hinaus, der an einer Seite mit einem Geländer zum Festhalten versehen war. Dort hatte sich bereits eine Gruppe eingefunden, um mit einer Schwebeplattform zu einer der anderen Inseln gebracht zu werden. Die geläufigste Methode, um hier oben zu reisen. Nicht zum ersten Mal erinnerten mich die Dutzend Stege, die an diesem Teil von Neu-Aldanum lagen, an die Piers eines Hafens unten in den Erdlanden.

Einige Passanten sahen zu mir auf, deuteten auf mich oder schüttelten verständnislos den Kopf. Ja, ich hatte schon immer die Angewohnheit, zu polarisieren.

»Die Akademie …« Inzwischen war es ein ganzes Jahr her, seit ich vom Waisenhaus in mein neues Leben aufgebrochen war. Je mehr Zeit verging, desto mehr verschwammen meine Erinnerungen daran. Dank Magister Adford, der nach einigen Missetaten meinerseits zu meinem Vormund ernannt worden war, wusste ich nun, dass er und Priester Domin, der eigentlich ein Arkanist war, mich in den Straßen von Aldanum aufgefunden hatten. Weil beide geahnt hatten, wie sehr ich die Zukunft der hohen Gesellschaft beeinflussen würde. Der erste bürgerliche Arkanist an der Himmelsakademie.

Götter, ich konnte es immer noch nicht glauben.

Ich drehte mich und hielt den Böen stand, die wild an mir zerrten. Neu-Aldanum war so groß, dass ich selbst von hier die genaue Größe nicht überblicken konnte.

Überall in den Glasfenstern zahlloser Fachwerkgebäude glänzte das Sonnenlicht. Die Häuser waren zum Teil aus dem Felsmassiv der Himmelsinsel herausgemeißelt worden und die meisten besaßen zusätzliche Anbauten oder Vorhöfe. Eine Hauptstraße teilte die Stadt wie eine alte Narbe und stieg stetig an. In den hinteren Bezirken, die den höchsten Würdenträgern des Landes vorbehalten waren, erhoben sich Türme, die selbst die prächtigsten Bauten der Insel übertrafen. Es gab gepflasterte Plätze mit Brunnen, die irgendwelche Arkanisten altvorderer Zeit zeigten. Das Wasser ergoss sich aus ihren Händen und ihren erhobenen Sigillkerzen. Mein Freund Mazen wurde nicht müde, zu betonen, dass er gerne eine Statue sehen würde, deren Wasser sich aus …

Unwichtig.

Da es hier oben jenseits der Wolkenmeere niemals regnete, wurde das Wasser der Bäche und Brunnen über spezielle Sigille eingefangen. Dabei nahmen sie dunstige Feuchtigkeit auf und speicherten sie in den vorgesehenen Verläufen. Viel Arbeit, damit Adlige sich an dem Anblick erfreuen konnten.

Darüber konnte ich nur den Kopf schütteln.

Eine kalte Bö streifte mich. Ich wickelte mich in meinen gefütterten Mantel und war froh, wie oft er mir schon einen Bärendienst erwiesen hatte. Der Mantel und ich waren ebenso unzertrennlich wie mein ausgetretenes Paar Schuhe. Außerdem war es ein Großteil von dem, was ich als meinen Besitz bezeichnen konnte.

Ich versuchte, so viel von den Eindrücken der Stadt aufzunehmen wie möglich. Von Zypressen flankierte Alleen reichten zu weitläufigen Parks.

Nicht weit davon gab es eine ganze Reihe an Amphitheatern, in denen Bühnenstücke bekannter Werke vorgeführt wurden, darunter auch jenes, das den Untergang des alt-aldanumischen Reiches darstellte. Ein bekanntes Stilmittel, um den Triumph der Vernunft über die Völlerei zu verherrlichen – und damit die Rückführung der gesellschaftlichen Vorstellung in den Schoß des Glaubens an die göttliche Viereinigkeit. Feuerschmied, Wassermann, Erdenmutter und Luftgebieterin.

Mir stand die Vorführung, zu der Mazen mich eingeladen hatte, noch klar vor Augen. Nach der Hälfte hatte ich es verlassen, weil es Bürgerliche als Tölpel dargestellt hatte. Von da an hatte er den Versuch aufgegeben, mich dafür begeistern zu wollen.

Ich war eben immer noch kein richtiger Adliger und hegte allmählich den Verdacht, dass ich es niemals sein würde.

An einem Steg winkte mir jemand zu. Bei all dem Trubel hätte ich es fast übersehen.

Ich zapfte weniger Arkan in den Schwebesigillen an, sank nieder und trieb mich mit einem Schub zum Steg, an dem ein hochgewachsener junger Mann auf mich wartete. Er trug die klassische Mode Neu-Aldanums, die inzwischen militärische Züge annahm: ein verbrämtes schwarzes Brokatgewand, das an den Ärmeln weit fiel und geschlitzt über die Knie hinausragte. Das Revers verlief seitlich über die Brust und war mit goldenen Knöpfen geschlossen. Die dunklen Locken des Jungen waren ordentlich frisiert, sein Lächeln war wie in Stein gemeißelt und alles an ihm stank nach Geld.

Ich trug weiterhin meine Akademiekleider, weil ich außer der Mannschaftsuniform der Drachen keine zweite Garderobe besaß. Ein schwarzer Mantel über einer ebenfalls dunkel gehaltenen und seitlich geknöpften Uniform, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Meine Stiefel waren abgenutzt, die Hose war mehrfach geflickt und meine Haare waren nur dank des Zopfes gebändigt, wobei der Wind es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatte, Strähnen herauszufischen.

»Alles klar, Mann?«, fragte Mazen. Inzwischen durfte ich ihn meinen besten Freund nennen. Freunde – Götter, wie sehr sich mein Leben verändert hatte.

Ich sank auf den Stein und atmete tief aus. »Alles klar.«

»Du hast schon wieder das Frühstück verpasst.«

Ich zuckte mit den Schultern und strich über die Stoppel an meinem Kinn. Mit sechszehn Jahren reifte ich langsam zu einem Mann heran. »Bin eben Frühaufsteher und nutze gerne den Tag. Denn wie sagt man so schön?« Ich hob den Finger und grinste. »Morgenstund hat Gold im …«

»Sag’s nicht!« Mazen massierte sich die Schläfen. »Lass es einfach. Du bist schlimmer als mein Vater.«

Die Beziehung der beiden hatte ich noch nicht ganz durchschaut. Ein einziges Mal hatte ich Mazens Vater in den vergangenen drei Monaten kennenlernen dürfen und dabei, bis auf unsere Vorstellung, kein Wort mit ihm gewechselt. Es war nicht so, dass er mich mit Verachtung behandelt hatte. Das hätte ich wenigstens verstanden. Für ihn war ich einfach Luft gewesen, keiner Beachtung wert.

Mein Magen knurrte. »Hast du …?«

Mazen warf mir einen Beutel zu. Als ich ihn öffnete, stieg mir der Geruch nach frisch gebackenem Brot in die Nase.

Jeden Tag frisch gebackenes Brot! Götter, an dieses Leben könnte ich mich gewöhnen.

Ich biss herzhaft hinein und trank einen Schluck Wasser aus dem Schlauch, den Mazen mir ebenfalls reichte. Außerdem hatte er noch eine Fleischpastete anzubieten, weil ich das morgendliche Omelett verpasst hatte. Ich war immer hungrig.

»Du kennst mich zu gut«, nuschelte ich, den Mund voller Brot.

Er zwinkerte mir zu. »Ich kenne niemanden, der so viel essen kann wie du. Also nötigst du mich quasi dazu, auf deine Eigenarten einzugehen.«

»Hör mal, das ist alles zu viel. Wenn ich …«

Er zog die Augenbrauen zusammen. »Willst du mich beleidigen?«

»Nein, aber …«

Die Furche auf seiner Stirn wurde tiefer. »Haben wir nicht schon ausgiebig darüber gesprochen?«

Ich schluckte und ließ den Fladen sinken. »Ich will keine Almosen.«

»Deshalb wirst du dafür auch hart arbeiten müssen, mein guter Freund.« Er schlang einen Arm um meine Schultern und führte mich über den Steg zur Stadt. »Schon vergessen?«

»Wie könnte ich«, brummte ich. »Eigentlich bin ich nicht wirklich so der …«

»Der was?«

»Frauenheld.«

»Machst du Witze?« In gespielter Entrüstung hielt er sich die Brust, ehe er beschwörend den Finger gen Himmel reckte. »An der Akademie gibt es niemanden, der dich nicht kennt. Du hast sogar Keros bei den Spielen besiegt. Den verdammten Kapitän der Greifen!« Er bohrte den Finger in meine Brust. »Also wenn mir jemand helfen kann, bei den Frauen zu landen, dann wohl du!«

Ich hob verlegen die Schultern. »Was genau soll ich tun?«

»Mich vorstellen. Ich werde dir noch erklären wie. Das wird fantastisch!«

»Mir wäre lieber, wenn ich dir dafür Sigille anfertigen könnte.«

»Ach was!« Er winkte ab. »Außerdem bin ich froh, dass du die Semesterferien bei uns verbringst. Meine Familie kann ziemlich anstrengend sein.«

Mazen hatte drei Geschwister und ich fand sie alle klasse, weil sie mich wie einen von ihnen behandelten. Natürlich wussten sie nicht, dass ich bürgerlich war. Mir gefiel die Vorstellung, sie kannten die Wahrheit um meine Herkunft und akzeptierten mich.

Wir gelangten zur Hauptstraße, auf der bereits viele Passanten unterwegs waren. Ich wusste aus Erfahrung, dass die Gegend schon bald aus allen Nähten platzen würde. Hier gab es alles, was das Herz begehrte, von Bäckereien, über Weinstuben, bis hin zu Händlern, die exotische Früchte aus weit entfernten Himmelsinseln brachten. Ebenso gab es Läden, die ganz besondere Ware für Arkanisten feilboten.

Früher hatte ich gedacht, dass jeder Adlige ein Arkanist war. Jetzt kannte ich die Wahrheit. Nur ein winziger Bruchteil von ihnen verfügte über Arkan, obwohl sie die Erdlande gerne in anderem Glauben ließen.

Es gab den Hochadel, dem Mazen, Delina und … ja auch Salden angehörten. Den Niederadel, zu dem Hurlen zählte, ein zerstreuter Mensch und der schlauste, den ich kannte. Und dann gab es noch jene Adligen, die zwar hier lebten, jedoch jeden Taler umdrehen mussten. Trotz allem waren sie besser dran als Bürgerliche, die in den Erdlanden gewöhnliche Arbeiten verrichteten. Irgendwoher musste das Korn ja kommen, mit dem jeden Morgen mein Brot gebacken wurde. Bürgerliche arbeiteten, während Adlige das Dasein in vollen Zügen genießen konnten.

War das fair?

Nein. Aber ich hatte schon lange begriffen, dass man im Leben nicht das erhielt, was man verdiente, sondern das, was man sich mit der Sigillmünze voraus ergriff. Was, wenn ich nicht der einzige Unzivilisierte bliebe, in dem das Arkan erwachte? Ein Gedanke, der in meinem Verstand klebte wie zäher Honig.

Wir gingen weiter und Mazen zeigte hier- und dorthin, um die neuesten Gerüchte unter den Adligen beizusteuern. Ich hatte nicht erwartet, wie viel er auf den allgemeinen Tratsch gab, dem sonst Damsey viel Gehör schenkte. Er war ein eitler Schnösel, allerdings auch ein guter Freund.

Seitdem ich drei ganze Monate hier verbracht hatte, verstand ich, weshalb mein Erzfeind Salden derart entrüstet auf mein Geheimnis reagiert hatte. Selbst unter Adligen war es eine große Ehre, Arkanist zu werden. Ich hingegen kam aus der Gosse und beanspruchte dieses Recht für mich. Deshalb konnte ich seine Reaktionen zumindest nachvollziehen – was sie aber nicht legitimierte.

Wie bei den Besuchen zuvor blieb ich vor einem Geschäft stehen, in dessen Schaufenster Ledermappen mit Werkzeugen für Sigillmünzen ausgelegt waren. Darunter Zangen, Feilen, Meißel, Hämmer, Reißnadeln und Gravurstifte – alles ordentlich und auf Hochglanz poliert ausgelegt. Einige Mappen waren aus Drachenleder gefertigt, was man anhand der weichen und vielfarbigen Beschaffenheit erkennen konnte. Eine unter ihnen hatte meine Aufmerksamkeit allerdings besonders erregt.

Mazen boxte mir in die Seite. »Kauf es dir doch endlich!«

Ich konnte meinen Blick nicht von der Mappe lösen. »Bist du sicher?«

»Warum nicht?«

»Weil es Geld kostet«, flüsterte ich.

Er blickte mich verwundert an. »Und?«

»Muss ich es aussprechen?«

Wenn Mazen etwas haben wollte, kaufte er es sich. Ich hingegen musste jeden Taler berechnen. Denn obwohl ich die Semesterferien bei ihm verbringen durfte, musste ich Adford bei meiner Rückkehr in die Akademie eine Rechnung offenlegen, wofür ich mein Geld aufgewendet hatte. Glücklicherweise waren die fünf Goldtaler für das zweite Schuljahr bereits beglichen.

Ich spähte in meine Börse. Drei Gold, fünfzehn Silber und dreißig Kupfer. Das war alles, was ich zur freien Verwendung von meinem Vormund erhalten hatte.

»Worauf wartest du, Cael?«

»Ich rechne.«

»Dann rechne mal lieber schnell! Wir haben heute noch was vor.«

Ich war ihm dankbar dafür, dass er immer wieder vergaß, was für ein armer Schlucker ich war. Dadurch gab er mir das Gefühl dazuzugehören.

Ich schnürte die Börse zu und band sie unter mein Hemd um den Hals, damit sie nicht geklaut wurde. Auch wenn ich mich unter Adligen befand, konnte ich die alte Angewohnheit nur schwer ablegen. Hier stahl man einem anderen die Börse nicht heimlich des nächtens aus der Tasche, sondern tagsüber im Licht, damit alle es mitbekamen.

Mazen legte die Hand auf die Türklinke. »Gehen wir?«

Ich atmete durch. »Gehen wir!«

»Zu wenig?«

»Was denkst du denn?«

»Oh, dann sollten wir wohl lieber …«

Wortlos schob ich mich an ihm vorbei. Ein Glöckchen ertönte, als wir eintraten. Das Innere sollte einen urigen, vertrauten Eindruck erwecken. Alles war aus dunklem Holz gefertigt und der Tresen glänzte vom vielen Gebrauch. Selbst die Kerzen waren mit richtigem Feuer entzündet und nicht durch ein Sigill stabilisiert.

Doch ich erkannte sofort, dass der Inhaber nie in den Erdlanden gewesen war. Alles hier wirkte peinlichst bemüht, selbst die schlichten Stühle waren wie aus einem Guss und absichtlich mit Kratzern und Flecken übersät, um ein Bild von Gebrauchsspuren zu erzeugen. Es gab tatsächlich Adlige, die es als erfrischendes Vergnügen empfanden, das Leben eines Bürgerlichen zu erfahren. Es war mehr Schein als Sein, aber ich machte es dem älteren grauhaarigen Verkäufer nicht zum Vorwurf. Er wusste es nicht besser.

Mazen führte mich zu dem Regal, in dem die Mappe auslag. Während alle anderen Werkzeuge auf Hochglanz poliert waren, waren diese matt und ein wenig zerkratzt, als wären sie nicht bloß zum Anschauen gedacht. Die Besonderheit bestand allerdings in der Mappe, die aus schwarzem Leder mit violettem Schimmer gefertigt war. Eines, das dem an meinem Gürtel glich.

Ich strich darüber und es juckte mich in den Fingern, die Mappe aufzunehmen. Mein Werkzeug war stark abgenutzt nach der Arbeit in der Werkstatt im vergangenen Semester. Meine Reißnadel war buchstäblich gerissen, mein Meißel stumpf und die Zange so verbogen, dass jedes glühende Metallstück zu einer Gefahr für mich wurde. Tatsache war, dass ich neues Werkzeug brauchte, wenn ich Magister Dranus unterstützen wollte. Werkzeug, das etwas taugte und zu mir passte.

Dieses Werkzeug.

»Haben die werten Herren etwas von Interesse gefunden?«, fragte der Inhaber und schloss zu uns auf. Er trug ein schlichtes Hemd und eine fleckige Hose, wie man es in den Erdlanden erwarten würde. Außerdem hatte er sein bestes Verkäuferlächeln aufgelegt, aber gegen Solodin, dem ein gewisser Laden auf der Schweifinsel gehörte, kam er nicht an.

Mazen zeigte auf die Mappe. »Haben wir.«

»Oh, die werten Herren haben ausgezeichneten Geschmack!«

»Hydraleder«, murmelte ich.

Der Mann nickte. »Der werte Herr hat ein gutes Auge. Das hier ist ein ganz und gar kostbares Stück. Ein außerordentlich seltenes Stück.«

Wieder strich ich über meinen Gürtel. Als der Verkäufer dies sah, weiteten sich kurz seine Augen. Dazu musste man sagen, dass Hydraleder nicht gerade gern gesehen wurde. Es stand als böses Omen. Mir war es gleich.

»Ich hörte, damit wird nicht mehr gehandelt«, bemerkte ich leise.

»Das habt Ihr richtig gehört, werter Herr.«

Ich wandte mich dem Verkäufer zu. »Wie viel?«

»Dreizehn Goldtaler.«

Mazen prustete los. »Das ist Wucher!«

Der ältere Mann lächelte immer noch. »Das ist der Preis, werte Herren.«

»Klar! Dürfen wir es wenigstens austesten oder kostet das was?«

»Gewiss dürfen die werten Herren das.« Der Verkäufer klappte die Mappe mit ungeschickten Fingern zu, nahm sie aus dem Regal und breitete sie dann mit viel Mühe auf dem Tresen aus. Ich trat näher und begutachtete jedes einzelne Werkzeug.

Götter, ich wollte es so sehr erwerben!

»Jetzt nimm schon!«, raunte Mazen mir zu.

Ich streckte die Hand danach aus. Sie zitterte. Als ich die Reißnadel berührte und sie vorsichtig löste, war meine Hand plötzlich ganz ruhig. Bedächtig hielt ich das Instrument ins Licht und begutachtete es von allen Seiten. »Wunderschön.«

Mazen lachte. »Das ist kein Frauenhintern.«

Ich legte es zurück und machte auf dem Absatz kehrt. »Gehen wir.«

»Zwölf Goldtaler«, rief der Verkäufer.

»Komm schon, Caelden.« Mazen beugte sich verschwörerisch zu mir. »Jetzt schlag zu!«

Ich sah den Verkäufer nicht an. »Bestimmt bekomme ich die Mappe in einem anderen Laden viel günstiger.«

»Günstiger?« Der Mann umrundete den Tresen und blieb neben mir stehen. »In keinem Laden werdet Ihr ein so kostbares Stück finden, werter Herr!«

Ich gab mich unschuldig. »Warum habe ich dann dieselbe Mappe ein paar Straßen entfernt gesehen?«

Er kniff die Augen zusammen und wog offenbar ab, ob ich die Wahrheit sagte. »Elf Goldtaler.«

»Zu teuer.« Ich ging zur Tür.

Mazen holte mich ein. »Warum schlägst du nicht zu?«

»Darum.« Ich fasste die Türklinke und ließ mir Zeit.

»Zehn Goldtaler!«, rief der Verkäufer.

Ich wandte mich ihm zu, immer noch die Hand an der Klinke. »Sagtet Ihr neun?«

Der Verkäufer zog ein verärgertes Gesicht. »Neun und keinen Kupferling weniger!«

Mazen hielt die Luft an. Ich ignorierte ihn. »Neun ist zu viel.«

»Das ist mein letztes Angebot.«

»Dann muss ich wohl leider gehen.«

Der alte Mann hob verwundert die Brauen und wirkte einen Moment vollkommen baff. »Ihr seid knallhart, werter Herr.«

»Ich bin kein werter Herr und ich bin nicht blöd.«

Er blinzelte einmal, zweimal. »Bitte?«

Mit ausgreifenden Schritten kehrte ich zum Tresen zurück und wies nachlässig auf die Mappe. »Ihr werdet sie nicht los.«

Der Verkäufer schwieg, aber ich erkannte die Wahrheit in seinen Augen.

»Da Ihr es nicht aussprechen wollt, gedenke ich es zu tun.« Ich pochte mit dem Finger auf den Tresen. »Niemand will eine Mappe aus Hydraleder. Außerdem glänzt das Werkzeug zu wenig für die werte Kundschaft. Schlussfolgernd daraus denkt sie, dass es aus zweiter Hand stammt.«

»Ich versichere Euch, dass dem nicht so ist.«

Ich lächelte schmal. »Sicher.«

Es arbeitete in seinem Gesicht und halb erwartete ich, dass er mich des Ladens verwies. Mit großer Geste klappte er die Mappe zusammen und beobachtete mich dabei. Ich blieb völlig gelassen.

»Sieben!« Er schmetterte mir das Wort entgegen, als hätte ich ihm zwischen die Beine getreten.

Der theatralische Seufzer gelang mir gut. »Bedauerlich. In diesem Fall …« Abermals kehrte ich ihm den Rücken zu. »Guten Tag.«

»Sechs Goldtaler und Ihr werdet Euch bei mir für dieses unverschämte Verhalten entschuldigen!«

Ein Grinsen huschte über mein Gesicht und ich war froh, dass er es nicht sehen konnte. »Zwei Goldtaler und ich werde den Rest des Tages für Euch arbeiten.«

Mazen hielt scharf die Luft an.

»Zwei?«, hauchte der Verkäufer ungläubig.

Ich wirbelte herum und mein Grinsen wich kühler Resignation – in etwa so, wie Adford mich jedes Mal ansah, wenn ich etwas Dummes angestellt hatte. Wie ein wahrer Adliger knallte ich meine Börse auf den Tresen und zückte betont langsam drei Goldtaler, die ich ihm hinschob. »Das sind drei. Ich fege den Boden, säubere das Schaufenster, befreie alles von Staub und Schmutz und beschere Euch für den heutigen Tag so viel Umsatz, dass Ihr Euch wünscht, ich würde jeden Tag für Euch arbeiten.«

Der Verkäufer blinzelte verwundert. »Wie kommst du darauf, dass ich Hilfe brauche, Junge?«

Ich sah mich um. »Weil ich tüchtige Hände habe.«

Lange schwieg der alte Mann und ergründete wohl, ob ich ihn aufs Korn nehmen wollte. Schließlich schob er einen Goldtaler zurück, steckte die zwei anderen ein und nahm einen Eimer hinter dem Tresen hervor.

Ich sagte nichts und ließ mir auch nichts anmerken, als ich meine Börse sowie die Mappe einsteckte, meinen Mantel auszog und die Ärmel raffte.

Dann packte ich den Eimer samt Schwamm und machte mich sogleich ans Werk.

Mazen sah mir mit großen Augen zu, während ich das Schaufenster putzte, die Regale säuberte und akribisch der Arbeit nachging. Irgendwann räusperte er sich, brachte jedoch immer noch nichts heraus.

»Soll ich dir Luft zufächern?«, fragte ich, als ich mich dem Eingang widmete.

»Wie hast du das gemacht? Du hast ihn …« Er verstummte, hob die Hand, als wollte er noch etwas sagen, und ließ sie wieder sinken. »Ich weiß nicht einmal, wie ich das nennen soll.«

»Lass es.« Ich wischte den Staub weg. »Tut mir leid, dass ich den letzten Tag nicht mit dir verbringe.«

Mazen drückte meine Schulter. »Wenn du den gleichen Enthusiasmus bei den Mädels aufbringst, steht uns ein glorreiches Schuljahr bevor.«

Mit Schwung kehrte ich den Dreck nach draußen und wischte mir anschließend den Schweiß von der Stirn. Arbeit mit den eigenen Händen. »Holst du mich heute Abend ab?«

»Jawohl!« Er blickte sich um. Ob bewusst oder unbewusst lag darin derselbe Hohn, mit dem auch Damsey oder Salden den Laden bedacht hätten. »Du hast genug zu tun.« Jetzt beäugte er mich. »Eine Frage habe ich aber noch.«

Ich schob die Ärmel zurecht und fegte weiter. »Welche?«

»Woher wusstest du, dass er sich darauf einlässt?«

»Seine Hände.«

Er runzelte die Stirn.

Ich tippte auf meine Handgelenke. »Viele Menschen in seinem Alter leiden unter einer Krankheit, die langer und ausgiebiger Handwerkskunst geschuldet ist. Er hat große Schmerzen, auch wenn er sich das nicht anmerken lässt. Kurz gesagt, er ist überfordert.« Und er erinnerte mich sehr an Priester Domin, der ebenfalls unter dieser Krankheit gelitten hatte.

»Nicht schlecht, Cael. Nicht schlecht. Also, bis heute Abend. Und stell nicht wieder was an, ja?« Mazen zwinkerte mir zu, ehe er den Laden verließ und in der Menge verschwunden war.

Als ich Kehrschaufel und Besen abstellte, betrat der erste Kunde den Laden. Erwartungsvoll lächelte ich ihn an und führte ihn zum Tresen.

Zeit, anzuwenden, was ich bei Anys Eck gelernt hatte.

Kapitel 3 - Sonnenfleckenwein

 

Stumm sandte ich Hurlen einen Dank, als ich den dritten zufriedenen Kunden aus der Tür geleitete. Die Kunst bestand darin, in ihnen den Wunsch zu wecken, nicht ohne die ausgewählte Mappe leben zu können. Dafür musste ich nur ausgiebig bequatschen, über schlechte Scherze lachen, wie beiläufig Gewandung loben und betonen, dass es sich um Sonderstücke handelte, die eigentlich einem anderen Kunden versprochen waren. Nur heute, nur jetzt galt das Angebot!

Es gab nichts, was einen Adligen noch mehr lockte, als einen Konkurrenten zu schlagen – selbst wenn dieser nicht einmal existierte.

Erst jetzt wurde mir bewusst, welch leichte Beute Adlige abgaben, wenn man für sie unsichtbar war.

»Hast du schon einmal im Verkauf gearbeitet, Junge?« Jaro saß auf einem Stuhl und tat so, als wollte er mich beaufsichtigen. Ich konnte ihm ansehen, dass er zu erschöpft war, um noch einen Schritt zu gehen. Seine Finger zitterten so stark, dass er sie im Schoß verschränkte und seine Augen waren ganz fiebrig.

Deshalb gab ich den fleißigen Lehrling und überging seine offensichtliche Schwäche. Außerdem hatte ich entschieden, dass seine Freundlichkeit bei einem Adligen eine Seltenheit war. Er stammte von einem der entlegenen Inselgruppen von Neu-Aldanum und war kein Arkanist, was auch erklärte, weshalb er gewöhnliche Kerzen verwendete.

Seinen Erzählungen zufolge hatte er bereits Dutzende Läden geführt und das hier war sein letzter, bevor er sich in den Ruhestand zurückziehen wollte.

»Anys Eck.« Ich sortierte sorgsam die Münzen in die Kasse am Tresen. »Ein Schuljahr lang.« Ein halbes, was er nicht wissen musste.

»Ah, ja, eine Schande das.« Er verzog das Gesicht, als er herumrutschte. »Ich habe gehört, sie hat einen neuen Laden eröffnet.«

Das stimmte mich etwas fröhlicher. »Ich möchte mich für dieses Angebot bedanken. Ich glaube«, die Kasse schnappte zu, »das habe ich gebraucht.«

Jaro warf mir einen langen Blick zu. »Du hast mir ja keine andere Wahl gelassen, Caelden. Glück gehabt, dass ich nachgegeben habe.«

Nein, das war kein Glück gewesen, sondern Berechnung. Schon immer hatte ich gewusst, was andere Menschen begehrten. »Ja, das hatte ich wohl. Glück.«

Jaro hievte sich aus dem Stuhl, schleppte sich zum Tresen und nahm darunter die schwarze Ledermappe hervor. »Die hast du dir redlich verdient. Ich habe lange nicht so viel Umsatz gemacht wie heute.«

Geschwind steckte ich die Früchte meiner Arbeit in meine Tasche und spürte eine Wärme der Zufriedenheit. »Mein Freund Mazen ist noch nicht da. Wenn Ihr möchtet, kann ich aufräumen. Geht aufs Haus.«

Jaro seufzte. Inzwischen war er sehr blass im Gesicht. »Damit würdest du mir einen großen Dienst erweisen, Junge. Du wirst doch nichts klauen, oder?«

»Nein. Und ich stehe zu meinem Wort.« Das meinte ich sogar ernst.

»Du bist ein Arkanist. Arkanisten lügen nicht.« Und ob sie das taten. »Ich vertraue dir.«

Trotzdem schloss er die Kasse zu und steckte den Schlüssel ein. Ich war ihm nicht böse. Selbst als er ohne ein weiteres Wort ins Hinterzimmer verschwand, war ich nicht beleidigt.

Nun hätte ich ihn bestehlen können. Ich hätte all die Mappen im Schaufenster einstecken und verschwinden können, um sie bei irgendeinem Hehler zu verticken. Dabei musste ich zugeben, dass es mir nicht leichtfiel, diesem Impuls zu widerstehen. Aber ich hatte mein Wort gegeben. Und wenn es mir nichts wert war, wie konnte ich dann behaupten, ein Arkanist zu sein?

Daher fegte ich ein letztes Mal den Raum, nahm die Mappen aus dem Schaufenster und verstaute sie in Kisten, die ich ins Hinterzimmer schob. Jaro lag auf einer Pritsche und schlief. Es stand schlimmer um ihn, als ich anfänglich gedacht hatte.

Da ich ihn nicht wecken wollte, zog ich den Vorhang leise zu und begab mich wieder in den vorderen Ladenbereich.

Und blieb wie angewurzelt stehen.

Dort stand sie, als wären wir uns erst gestern begegnet. Ihr sommergelbes, glockenförmiges Kleid war mit weißen Schleifchen bestickt, ihre hohen Schuhe, die feinen Handschuhe, selbst die Bänder in ihrem goldblonden Haar wirkten äußerst kostspielig. Sie sah älter aus, dabei waren seit unserer letzten Begegnung nur vier Monate vergangen, und dafür waren weder Puder noch Schminke verantwortlich. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt, wenn sie nicht auf diese freche Art und Weise gegrinst hätte, die nur sie beherrschte.

»Hallo, Cael.« Ihre hohe Stimme klang fröhlich und nicht mehr nach der eines Mädchens. Sondern einer jungen Frau.

Ich schluckte. »Yen.«

»Yen.« Sie kicherte. »Ein Mann großer Worte, wie?«

»Ich …« Götter, meine Kiefer waren wie verrostete Türangeln!

Sie schaute sich um. »Du arbeitest hier?«

»Vorübergehend.«

»Natürlich.« Gemächlich spazierte sie durch den Laden. »Du bist immer für eine Überraschung gut, weißt du das?«

Ich verlagerte unruhig das Gewicht auf das andere Bein. »Du siehst … gut aus.«

Sie wandte sich mir zu, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und bewegte sich leicht, sodass ihr Kleid hin und her schwenkte. »Hast du mich vermisst?«

»Ja!« Ich zuckte zusammen. Das musste ich doch nicht gleich in die Welt hinausschreien!

»Alsooo …« Wieder sah sie sich im Raum um, bis ihr Blick an mir hängen blieb. »Begrüßt du mich jetzt oder willst du mich nur dumm anglotzen?«

»Oh, äh …« Ich räusperte mich und strich mein Hemd glatt. Dann hastete ich zu ihr und nahm sie in eine steife Umarmung.

Bei unserer letzten Begegnung hatte Salden sie wie Dreck behandelt und ich hatte ihn eher unsanft aus dem Gasthof geworfen, was eine Kette an Ereignissen losgetreten hatte. Ich war sogar den Magistern vorgeführt worden und hatte mich um Kopf und Kragen geredet, um nicht aus der Akademie verwiesen zu werden. Aber in diesem Moment verflüchtigten sich die Gedanken wie Nebel im Sonnenlicht. Mein Kopf war auf einmal wie leer gefegt.

Wir lösten uns und ich starrte sie weiterhin stumm an. Dabei gab es so vieles, was ich gerne gesagt hätte, angefangen damit, dass sie adoptiert worden und nun Saldens Halbschwester war. Oder dass ich mir die ganze Zeit Sorgen um sie gemacht hatte. Oder dass ich genau genommen jetzt mit meiner Mitadeptin Evana zusammen war, obwohl ich seit mehr als einen Monat nichts von ihr gehört hatte. Oder …

»Musst du noch lange arbeiten?«

Ich blickte zum Vorhang, hinter dem Jaro schlief. »Bin gerade fertig. Mazen … Warum fragst du?«

»Mazen ist dein Freund?« Yenna zog ein nachdenkliches Gesicht. »Der große, gut aussehende Kerl?«

»So gut sieht er gar nicht aus«, brummte ich.

»Also …« Sie tippte sich ans Kinn. »Ich habe da etwas ganz anderes gehört.«

»Sagen wir, er sieht mittelgut aus.«

»Mittelgut.« Sie kicherte. »Das heißt, nicht so gut wie du?«

Ich öffnete den Mund. Und bekam keinen Ton heraus.

Yenna hielt mir die Hand hin. »Wollen wir?«

»Warte kurz.« Ich ging zum Vorhang und linste hindurch. Jaro schlief so tief und fest, dass vermutlich ein Wald neben ihm hätte abgeholzt werden können und er hätte es nicht bemerkt.

Auf dem Tresen lag der Türschlüssel. Könnte ich einfach gehen? Ich schuldete dem Mann nichts.

Trotzdem trieb mich mein Gewissen dazu, Yenna um etwas Geduld zu bitten und am Nachbarladen anzuklopfen. Die Inhaberin der Bäckerei versicherte mir, nach Jaro zu schauen. Offenbar war er in der Gegend sehr bekannt. Ich rang ihr das Versprechen ab, dass sie Mazen eine Nachricht übermittelte, und begab mich anschließend wieder zu Yenna, die sich bei mir einhakte. Dann schlenderten wir gemütlich auf die abendliche Hauptstraße und ich wusste nicht, wohin uns unser Weg führen würde. Es waren noch einige Passanten unterwegs, um ihre letzten Einkäufe zu tätigen, aber allmählich legte sich der Trubel.

»Erinnerst du dich?« Yenna ließ mich los und hüpfte auf ein Bein.

»Der Dachboden?«

»Folge mir, wenn du kannst!« Sie sprang von einem Bein auf das andere, wich bestimmten Stellen aus, begab sich auf größere Pflastersteine und bewegte sich dabei in einem Muster, das ich schnell durchschaute. Als wären wir wieder Kinder, die nichts als Flausen im Kopf hatten.

Ich achtete kaum auf die Passanten, die uns verwundert hinterherschauten, und als ich gegen einen griesgrämigen Kerl stieß, der mich obendrein anschnauzte, verleitete mich ein alter Instinkt dazu, ihn um seine Börse zu erleichtern. Ehe ich mich versah, hatte ich das Ding eingesteckt. Ich wollte es ihm zurückgeben, aber er war längst verschwunden und so musste ich mir den diebischen Teil in mir eingestehen, der nie vergehen würde.

Also folgte ich Yenna.

Es sah ziemlich seltsam aus, wie sie im sonnengelben Kleid über die Straße hüpfte. Wir waren nicht mehr dieselben, die sich heimlich auf den Dachboden geschlichen hatten. Das letzte Jahr hatte uns beide verändert, trotzdem erfüllte es mich mit tiefer Freude, alles andere zumindest für einen Moment zu vergessen und wieder Kind zu sein.

Irgendwann gelangte sie zu einem Brunnen inmitten eines runden Platzes, der im Schatten einiger Fachwerkhäuser stand und wie ausgestorben war. Sie wirbelte zu mir herum und grinste triumphierend.

»Du bist immer noch zu langsam!«, rief sie.

Ich blieb stehen und verbeugte mich elegant. »Der Respekt gebietet es, holde Maid.«

Sie fächerte sich Luft zu. »Ein Edelmann, der um meine Gunst buhlt?«

»Unbeabsichtigt.« Ich zapfte gleichzeitig alle vier Schwebesigille an und überwand mit einem Riesensatz unseren Abstand. Falls Yenna beeindruckt war, verbarg sie es gut.

»Was gedenkt Ihr nun zu tun, nachdem Ihr mich entführt habt?« Ihre Stimme klang vornehm, rau, hauchzart. »Oder seid Ihr bloß hier, um mein Herz zu stehlen, verruchter Dieb?«

Es war ein Spiel, nichts weiter. Ein Teil von mir sehnte sich danach, es fortzuführen. Früher hatten wir Adlige für ihre Aussprache veralbert. Jetzt war ich ein Teil dieser Welt. Die Wahrheit klaffte wie eine Schlucht zwischen uns, die ich nicht ohne Weiteres überwinden konnte.

Obgleich ich den Moment nicht zerstören wollte, musste ich es wissen. »Wie geht es dir?«

Für einen Wimpernschlag glitt ein Schatten über ihre Augen. »Gut.«

Ich senkte meine Stimme. »Und wirklich?«

Sie lächelte gezwungen. »Ich möchte lieber nicht darüber reden, Cael. Bitte respektiere das.«

»Ich ertrage den Gedanken nicht, dass du schlecht behandelt wirst, Yen.«

In den Spitznamen lag etwas Vertrautes, wie ein streng gehüteter Schatz, den wir miteinander teilten.

»Cael.« Sie trat auf mich zu. »Respektierst du meinen Wunsch?«

Ich rang mit mir, dann nickte ich knapp. »Das tue ich.« Kurz herrschte Schweigen zwischen uns. »Bist du öfter hier?«

Ihr Grinsen kehrte zurück. »Fast jedes Wochenende. Ich wohne auf einem Atoll ganz in der Nähe. Immer, wenn ich etwas Freizeit habe, komme ich hierher. Und weißt du was?« Sie tippte mir gegen die Brust. »Ich habe gehofft, dich hier zu treffen.«

Mein Herz schlug schnell. »Woher wusstest du, dass ich in dem Laden war?«