Soll wirklich alles zu Ende sein? - Laura Martens - E-Book

Soll wirklich alles zu Ende sein? E-Book

Laura Martens

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Beschreibung

Dr. Baumann ist ein echter Menschenfreund, rund um die Uhr im Einsatz, immer mit einem offenen Ohr für die Nöte und Sorgen seiner Patienten, ein Arzt und Lebensretter aus Berufung, wie ihn sich jeder an Leib und Seele Erkrankte wünscht. Seine Praxis befindet sich in Deutschlands beliebtestem Reiseland, in Bayern, wo die Herzen der Menschen für die Heimat schlagen. Der ideale Schauplatz für eine besondere, heimatliches Lokalkolorit vermittelnde Arztromanserie, die ebenso plastisch wie einfühlsam von der beliebten Schriftstellerin Laura Martens erzählt wird. Dr. Eric Baumann beschattete die Augen mit der Hand und schaute über den Tegernsee hinweg nach Rottach-Egern hinüber. »Was meinst du, Franz, sollen wir ein Stückchen mit dem Boot hinausfahren?« fragte er und wandte sich seinem Hund zu, der neben ihm im Gras lag und vor sich hin döste. Franzl hob den Kopf und gähnte schläfrig, dann schloß er die Augen und bedeckte sie demonstrativ mit der rechten Vorderpfote. »Wie kann man nur so faul sein?« meinte der Arzt lachend. »Bei dieser Hitze ist es auf dem Wasser doch viel angenehmer.« Er beugte sich zu Franzl hinunter und gab ihm einen liebevollen Klaps auf das dicke Hinterteil. »Auf geht's, alter Knabe, die Welt wartet nur darauf, daß wir uns ihr stellen.« Franzl stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Der Blick, den er seinem Herrchen zuwarf, sprach Bände. »Eric!« Dr. Baumann wandte sich um. »Ja, was gibt es, Katharina?« fragte er und ging seiner Haushälterin entgegen. »Frau Büchner hat eben angerufen«, erwiderte Katharina Wittenberg schwer atmend. »Ihrer Schwiegermutter geht es nicht gut.

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Der Arzt vom Tegernsee – 16–

Soll wirklich alles zu Ende sein?

Laura Martens

Dr. Eric Baumann beschattete die Augen mit der Hand und schaute über den Tegernsee hinweg nach Rottach-Egern hinüber. »Was meinst du, Franz, sollen wir ein Stückchen mit dem Boot hinausfahren?« fragte er und wandte sich seinem Hund zu, der neben ihm im Gras lag und vor sich hin döste.

Franzl hob den Kopf und gähnte schläfrig, dann schloß er die Augen und bedeckte sie demonstrativ mit der rechten Vorderpfote.

»Wie kann man nur so faul sein?« meinte der Arzt lachend. »Bei dieser Hitze ist es auf dem Wasser doch viel angenehmer.« Er beugte sich zu Franzl hinunter und gab ihm einen liebevollen Klaps auf das dicke Hinterteil. »Auf geht’s, alter Knabe, die Welt wartet nur darauf, daß wir uns ihr stellen.«

Franzl stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Der Blick, den er seinem Herrchen zuwarf, sprach Bände.

»Eric!«

Dr. Baumann wandte sich um. »Ja, was gibt es, Katharina?« fragte er und ging seiner Haushälterin entgegen.

»Frau Büchner hat eben angerufen«, erwiderte Katharina Wittenberg schwer atmend. »Ihrer Schwiegermutter geht es nicht gut. Vermutlich der Kreislauf.«

Die Büchners wohnten am anderen Ende von Tegernsee im Narzissenweg. Sie waren bereits bei seinem Vater in Behandlung gewesen. Eric wußte, daß Lisa Büchner ihn nicht wegen einer Lappalie am Sonntag stören würde.

»Sieht nicht aus, als würde etwas aus unserem Bootsausflug, Franzl!« rief der Arzt seinem Hund zu und eilte ins Haus, um seine Tasche zu holen.

Franzl streckte sich erleichtert, vergrub die Schnauze zwischen den Pfoten und beschloß, ein Nickerchen zu machen. Schließlich war es Sonntag. Auch ein Hund brauchte Ruhe, um Kräfte für die kommende Woche zu schöpfen.

Dr. Baumann brauchte knapp fünfzehn Minuten zum Narzissenweg. Er hatte kaum vor

dem schmucken Einfamilienhaus der Familie gehalten, als Lisa Büchner auch schon auf ihn zueilte.

»Gut, daß Sie so schnell kommen konnten«, sagte sie. »Gleich nach meinem Anruf ist meine Schwiegermutter auf der Terrasse zusammengebrochen. Meine Nachbarin hat mir geholfen, sie ins Haus zu bringen. Sie liegt auf der Couch im Wohnzimmer. Es geht ihr gar nicht gut. Sie reagiert nicht, wenn ich sie anspreche, und ich kann auch ihren Puls nicht fühlen.«

Eric folgte der jungen Frau ins Haus. Er hatte kaum das Wohnzimmer betreten, als er auch schon spürte, daß er zu spät kam. Waltraud Büchner war tot, obwohl es aussah, als würde sie nur schlafen. Schweigend untersuchte er sie. Nein, da war nichts mehr zu machen.

Lisa schaute ihm angstvoll zu. Auch sie fühlte, daß ihre Schwiegermutter für immer von ihnen gegangen war, aber sie wollte es nicht wahrhaben.

Dr. Baumann richtete sich auf und wandte sich der jungen Frau zu. »Es tut mir leid, Frau Büchner«, sagte er und berührte Lisas Schulter. »Ihre Schwiegermutter ist tot.«

»Tot«, wiederholte Lisa. Wider besseres Wissen schüttelte sie den Kopf. »Sie kann nicht tot sein. Noch beim Mittagessen hat sie Pläne für morgen gemacht. Sie wollte mit den Kindern zum Baden gehen. Wir haben von ihrem Geburtstag gesprochen, davon, wie… Tot?« Die junge Frau schlug die Hände vors Gesicht. Sie dachte daran, wieviel sie ihrer Schwiegermutter zu verdanken hatte. Nur selten waren sie verschiedener Meinung gewesen und wenn, dann hatte es dennoch keinen Streit gegeben, sondern sie hatten in Ruhe über alles gesprochen.

»Ich weiß, wieviel Ihnen Ihre Schwiegermutter bedeutet hat, Frau Büchner«, meinte Eric mitfühlend. Es hatte ihn immer gefreut, wenn er gesehen hatte, wie sehr die beiden Frauen einander zugetan waren.

»Aber warum?« Lisa fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Meine Schwiegermutter ist noch nicht einmal siebzig gewesen. Gut, sie war herzkrank und hatte mit dem Kreislauf zu tun, aber das haben andere doch auch.«

»Ich nehme an, Ihre Schwiegermutter hat Ihnen nicht gesagt, daß sich ihr Herzleiden in der letzten Zeit verschlimmert hat«, erwiderte Eric. »Vermutlich wollte sie nicht, daß Sie sich Sorgen machen.«

»Hätte ich es gewußt, dann hätte ich dafür sorgen können, daß sie mehr Ruhe hat«, sagte Lisa. »Irgendeine Lösung hätte ich schon für meine Kinder gefunden.« Sie wandte sich dem großen Foto zu, das über dem Kamin an der Wand hing. Es zeigte sie mit ihrem Mann und den Kindern. Arthur hielt Larissa, die damals erst zwei Jahre alt gewesen war, auf dem Schoß. Sie hatten das Foto als Geburtstagsgeschenk für seine Mutter machen lassen. Keine zwei Wochen nach der Aufnahme war er bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen.

Dr. Baumann schüttelte den Kopf. »Sie sollten sich keine Vorwürfe machen, Frau Büchner«, antwortete er. »Ihre Schwiegermutter hat mir erst bei ihrem letzten Besuch wieder versichert, wie glücklich sie ist, sich nach dem Kindergarten um Larissa und Sebastian kümmern zu dürfen. Sie ist mit ihrem Leben mehr als zufrieden gewesen. Es gibt nicht viele Menschen, die das von sich behaupten.«

»Meine Schwiegermutter wird uns schrecklich fehlen.« Wieder blickte Lisa zu dem Foto. »Nach dem Tod meines Mannes hat sie mir die Kraft zum Weiterleben gegeben, obwohl sie damals auch sehr verzweifelt war. Sie ist immer dagewesen, wenn ich sie gebraucht habe.« Die junge Frau holte tief Luft. »Es wird schwer sein ohne sie.« Niedergeschlagen trat sie an die Couch, dann beugte sie sich hinunter und küßte die Tote auf die Stirn.

Eric setzte sich an den Tisch und stellte den Totenschein aus. Anschließend besprach er mit Lisa, was sie unternehmen mußte, damit alles seinen geregelten Gang ging. Er spürte, wie froh die junge Frau darüber war, daß er sich soviel Zeit für sie nahm. Sie brauchte jetzt einen Menschen, der ihr zeigte, daß sie nicht allein auf der Welt stand.

»Wo sind Larissa und Sebastian?« erkundigte er sich, als sie gemeinsam das Haus verließen.

»Bei meiner Nachbarin«, antwortete Lisa. »Ein Glück, daß es Menschen gibt, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann. Frau Menk gehört dazu.«

»Gudrun Menk?«

Lisa nickte. »Ich weiß, daß die Menks ebenfalls zu Ihren Patienten gehören.«

»Bitte rufen Sie mich an und sagen Sie mir, wann die Beerdigung Ihrer Schwiegermutter ist«, bat Eric, als er ihr zum Abschied die Hand reichte. »Ich möchte dabeisein. Schließlich habe ich sie schon gekannt, als ich noch ein kleiner Bub gewesen bin.« Er nahm die Wagenschlüssel aus seiner Hosentasche.

Die Beckers hatten mit ihrem Hund einen längeren Spaziergang gemacht. Jetzt kamen sie mit Harvard die Straße entlang. »Nanu, Herr Doktor!« rief Lina Becker aus und blieb stehen. »Was tun Sie denn an einem Sonntag hier?« Sie wandte sich Lisa zu. »Ist bei Ihnen jemand krank? – Hoffentlich nicht Ihre Larissa, dieser süße, kleine Engel.«

Lisa Büchner mochte die Beckers nicht sonderlich und war immer froh gewesen, daß diese nicht zu ihren unmittelbaren Nachbarn gehörten. »Meine Schwiegermutter ist gestorben«, erwiderte sie leise. Sicher dauerte es nun keine Stunde mehr, bis jeder im Narzissenweg und den angrenzenden Straßen darüber Bescheid wußte. Nicht umsonst nannte man Lina Becker die Zeitung vom Narzissenweg.

Lina Becker schlug sich in gespieltem Entsetzen auf den Mund. »Diese nette, alte Dame!« stieß sie hervor und sah erst ihren Mann, dann Dr. Baumann und schließlich Lisa bestürzt an. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Wie entsetzlich.« Sie schloß Lisa in die Arme. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann lassen Sie es mich wissen.«

»Ja, Sie können sich jederzeit an uns wenden, Frau Büchner«, bestätigte Fred Becker. Er seufzte tief auf. »Wer hätte das gedacht, daß Ihre Schwiegermutter schon so bald gehen muß.«

»Ja, Gottes Wege sind unbegreiflich«, meinte seine Frau und schaute zum Himmel hinauf. »Er… Harvard, zieh doch nicht so!« Lina Becker beugte sich zu ihrem Hund, einer kleinen braunen Promenadenmischung, hinunter und streichelte ihn. »Hab noch etwas Geduld.« Sie holte tief Luft, bevor sie sich wieder an Lisa wandte: »Ich kann mich nicht erinnern, daß über die Lippen Ihrer Schwiegermutter jemals ein böses Wort gekommen ist. Sie war eine Stütze für alle, die sie gekannt haben.«

Gudrun Menk kam aus ihrem Haus und trat zu ihnen. Obwohl ihr noch keiner etwas gesagt hatte, ahnte sie, daß Waltraud Büchner nicht mehr lebte. Sie hatte gleich so ein ungutes Gefühl gehabt, als sie ihrer Nachbarin geholfen hatte, die alte Frau ins Haus zu bringen. Impulsiv legte sie den Arm um Lisas Schulter. »Ich habe Kaffee aufgebrüht. Du wirst jetzt einen brauchen können.«

»Das ist wahr«, antwortete Lisa. »Aber ich möchte ihn bei mir im Haus trinken, weil ich… Können die Kinder noch etwas bei euch bleiben?«

»Mach dir darum keine Gedanken, Lisa. Mein Mann und Sarah spielen gerade mit ihnen Mensch-ärgere-dich-nicht.« Sie zog die junge Frau flüchtig an sich. »Ich werde ein bißchen bei dir bleiben.« Sie sah Eric an. »Trinken Sie auch eine Tasse Kaffee mit, Herr Doktor?«

»Ich habe heute Bereitschaftsdienst. Ich muß nach Hause.« Der Arzt schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. »Aber vielen Dank.«

Lina Becker hatte darauf gehofft, daß sie auch zum Kaffee eingeladen würde, aber als Gudrun Menk keine Anstalten dazu machte, gab sie sich einen Ruck und sagte: »Fred und ich müssen auch gehen.« Sie drückte noch einmal Lisas Hand. »Wenn etwas sein sollte, scheuen Sie sich nicht, uns anzurufen.«

»Ich werde daran denken. Danke.« Lisa ließ sich nicht anmerken, wie froh sie darüber war, daß die Beckers endlich weitergehen wollten. Sie verabschiedete sich erneut von Eric, dann ging sie mit Gudrun Menk ins Haus.

Lina Becker blickte den beiden Frauen nach. »Schlimm«, bemerkte sie zu Dr. Baumann, der gerade in seinen Wagen steigen wollte. »Andererseits wundert es mich nicht, daß es so kommen mußte. Es ist einfach zuviel für die arme, alte Dame gewesen. Für zwei so lebhafte Kinder wie Larissa und Sebastian sorgen zu müssen, das geht an die Substanz.«

»Sie hat es gern getan, Frau Becker«, antwortete Eric ärgerlich. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Auf Wiedersehen.« Er nickte den Beckers zu, setzte sich hinter das Steuer seines Wagens und gab Gas.

»Heut hat er es ja mal wieder eilig«, bemerkte Fred Becker, als der Arzt an ihnen vorbeifuhr. Er hob die Hand und winkte. Daß Eric den Gruß nicht erwiderte, nahm er nicht einmal wahr.

*

»Tante Agnes, willst du es dir nicht noch einmal überlegen, ob du nicht lieber zu mir ziehen wolltest?« fragte Julian Schneider auf der Fahrt nach Tegernsee. Es war Sonntagabend. Seine Tante hatte das Wochenende bei ihm in München verbracht. Er mochte sie von Herzen gern, und es gefiel ihm nicht, daß sie völlig allein in ihrem Haus am Tegernsee lebte.

Agnes Schneider sah ihn lächelnd an. »Du ahnst nicht, wie froh es mich macht, daß du dein Leben mit mir teilen möchtest, aber glaube mir, es würde nicht gutgehen. Ich bin letzten Monat sechzig geworden, du bist halb so alt wie ich, Julian. Was meinst du, wie bald wir uns gegenseitig auf die Nerven fallen würden.«

»Das ist Unsinn, Tante Agnes. Meine Wohnung ist groß genug für uns beide. Wir müssen ja nicht immer zusammenhocken.«

Sie legte eine Hand auf sein Knie. »Ich bin froh, daß du so denkst, Bub. Es bedeutet mir viel. Dennoch müssen wir realistisch sein. Deine Freundinnen würden sich schön bedanken, wenn du sie mit nach Hause nimmst und sie dort von deiner alten Tante empfangen werden.«

»Dann müßten sie nicht aufräumen und sich um das Frühstück kümmern«, erklärte der junge Mann gutgelaunt.

»Als wenn es bei dir nicht immer aufgeräumt wäre«, bemerkte seine Tante. Sie sah ihn an. »Davon abgesehen, solltest du endlich an Heirat denken. Mit deinen Dreißig bist du auch nicht mehr der Jüngste.«

Julian schüttelte den Kopf. »Bis jetzt ist mir die richtige Frau noch nicht über den Weg gelaufen, Tante Agnes«, antwortete er. »Für mich ist eine Ehe nicht etwas, was man durch einen Federstrich einfach wieder auslöschen kann. Wenn ich heirate, dann muß es für immer sein.« Sie hatten Gmund erreicht, und er bog in die Tegernseer Straße ein.

»Wie schön der See am Abend immer aussieht.« Agnes Schneider seufzte auf. Sie lebte seit fast vierzig Jahren in diesem Tal. Als wäre es erst gestern gewesen, konnte sie sich noch an den Tag erinnern, an dem sie zum ersten Mal an den Tegernsee gekommen war. Damals hatte sie ihren zukünftigen Mann kennengelernt.

Schon bald hatten sie Gmund hinter sich gelassen. Es dauerte nicht mehr lange, und sie waren in Tegernsee. Ein Stückchen fuhren sie noch am See entlang, dann zweigten sie zur Innenstadt ab. Agnes Schneider wohnte in einem der ältesten Häuser von Tegernsee, fast in unmittelbarer Nähe des Schlosses.

Julian stellte den Wagen an der Straße ab. Er half seiner Tante beim Aussteigen, obwohl diese sich dagegen verwehrte. »Ich habe so wenig Gelegenheit, anderen zu demonstrieren, was für ein Kavalier in mir steckt«, meinte er grinsend. »Also laß mir meine Freude.«

»Was bleibt mir auch anderes übrig«, antwortete sie und machte erst gar keine Anstalten, nach ihrer Reisetasche zu greifen, die auf dem Rücksitz stand.

Agnes Schneider schloß die Haustür auf. Im selben Moment legte sich die unendliche Stille, die im Haus herrschte, wie ein Felsbrocken auf ihr Herz. Es fiel ihr schwer durchzuatmen. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und Julian regelrecht angefleht, sie wieder mit zurück nach München zu nehmen.

Auch der junge Mann spürte diese Stille. Unwillkürlich legte er den Arm um die Schultern seiner Tante. Noch vor einem halben Jahr war dieses Haus mit Kinderlachen erfüllt gewesen. Bei jedem seiner Besuche waren ihm Manuel und Myriam entgegengerannt und hatten ihn gefragt, ob er ihnen etwas mitgebracht hatte. »Bedrängt Onkel Julian nicht so«, hatte dann seine Cousine aus der Küche gerufen und hinzugefügt: »Du kommst gerade richtig zum Essen.«

Agnes Schneider wandte sich ihm zu: »Dir fehlen sie auch, nicht wahr?«

Julian nickte. »Ja«, erwiderte er.»Machst du uns einen Kaffee?« Er blickte die Treppe hinauf. »Weißt du was, Tante Agnes? – Ich werde heute bei dir übernachten. Wenn ich morgen bis um zehn im Geschäft bin, dann reicht es auch noch. Ich werde halt am Abend etwas länger machen.«

»Bist du dir ganz sicher, Julian?« fragte Agnes Schneider froh, die Nacht nicht allein verbringen zu müssen. Seit dem Tod ihrer Tochter und deren Kinder litt sie noch immer unter Alpträumen, doch sie sprach höchstens zu Dr. Baumann darüber. Was hatte es für einen Sinn, anderen das Leben schwer zu machen?