Überstunden für den Schutzengel - Laura Martens - E-Book

Überstunden für den Schutzengel E-Book

Laura Martens

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Beschreibung

Dr. Baumann ist ein echter Menschenfreund, rund um die Uhr im Einsatz, immer mit einem offenen Ohr für die Nöte und Sorgen seiner Patienten, ein Arzt und Lebensretter aus Berufung, wie ihn sich jeder an Leib und Seele Erkrankte wünscht. Seine Praxis befindet sich in Deutschlands beliebtestem Reiseland, in Bayern, wo die Herzen der Menschen für die Heimat schlagen. Der ideale Schauplatz für eine besondere, heimatliches Lokalkolorit vermittelnde Arztromanserie, die ebenso plastisch wie einfühlsam von der beliebten Schriftstellerin Laura Martens erzählt wird. »Die Leute sind ja heutzutage so rücksichtslos, Herr Doktor«, meinte Lina Becker aufseufzend. »Ich weiß nicht, in meiner Jugend ist das anders gewesen. Unsere Nachbarn zum Beispiel drehen schon früh morgens um halb fünf ihre Stereoanlage bis zur höchsten Lautstärke auf.« Sie strich sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Kein Wunder, daß es mir manchmal vorkommt, als würde mir der Kopf platzen. Ich brauche nun einmal meinen Schlaf.Dr. Eric Baumann gestand sich ein, daß Lina Becker zu den Patienten gehörte, die seine Nerven bis zum Äußersten strapazierten. Es war das erste Mal, daß sie ihn aufsuchte. Sie klagte über Kopf- und Herzschmerzen, Ohrensausen und allgemeiner Abgeschlagenheit. Ihm fiel auf, daß sie ihre Hände keine Sekunde ruhig halten konnte. »Warum bitten Sie Ihre Nachbarn nicht, die Musik auf Zimmerlautstärke zu stellen?« fragte er.Um die Lippen der etwa fünf­zig­jährigen Frau huschte ein geringschätziges Lächeln. »Es wäre absolut sinnlos«, behauptete sie. »Bei diesen Leuten weiß man ohnehin nicht, wo man dran ist.« Sie beugte sich leicht vor und senkte etwas die Stimme. »Sie trinken, müssen Sie wissen, Herr Doktor. Jeden Abend sitzen sie auf ihrem Balkon und lassen sich vollaufen. Eine Schande ist das, Herr Doktor, einfach eine Schande.

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Der Arzt vom Tegernsee – 5–

Überstunden für den Schutzengel

Laura Martens

»Die Leute sind ja heutzutage so rücksichtslos, Herr Doktor«, meinte Lina Becker aufseufzend. »Ich weiß nicht, in meiner Jugend ist das anders gewesen. Unsere Nachbarn zum Beispiel drehen schon früh morgens um halb fünf ihre Stereoanlage bis zur höchsten Lautstärke auf.« Sie strich sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Kein Wunder, daß es mir manchmal vorkommt, als würde mir der Kopf platzen. Ich brauche nun einmal meinen Schlaf.«

Dr. Eric Baumann gestand sich ein, daß Lina Becker zu den Patienten gehörte, die seine Nerven bis zum Äußersten strapazierten. Es war das erste Mal, daß sie ihn aufsuchte. Sie klagte über Kopf- und Herzschmerzen, Ohrensausen und allgemeiner Abgeschlagenheit. Ihm fiel auf, daß sie ihre Hände keine Sekunde ruhig halten konnte. »Warum bitten Sie Ihre Nachbarn nicht, die Musik auf Zimmerlautstärke zu stellen?« fragte er.

Um die Lippen der etwa fünf­zig­jährigen Frau huschte ein geringschätziges Lächeln. »Es wäre absolut sinnlos«, behauptete sie. »Bei diesen Leuten weiß man ohnehin nicht, wo man dran ist.« Sie beugte sich leicht vor und senkte etwas die Stimme. »Sie trinken, müssen Sie wissen, Herr Doktor. Jeden Abend sitzen sie auf ihrem Balkon und lassen sich vollaufen. Eine Schande ist das, Herr Doktor, einfach eine Schande.«

Eric hatte keine Lust, sich noch weiter die Klagen über ihre Nachbarn anzuhören. »Wie dem auch sei, Frau Becker, wir müssen jetzt erst einmal sehen, woher Ihre Beschwerden kommen«, sagte er. »Tina wird Ihnen einen Termin für ein Belastungs-EKG geben. Morgen früh kommen Sie bitte nüchtern zur Blutuntersuchung.« Er schaute in die Krankenkarte, die er angelegt hatte. »Soweit wäre im Moment, glaube ich, alles geklärt.«

»Bekomme ich kein Rezept?« fragte Lina Becker enttäuscht. »Sie sollten mir wenigstens etwas für meine Nerven verschreiben. Ich nehme ja schon Baldrian, doch das bringt nichts. Wie gesagt, meine Nachbarn…«

»Die mit der Stereo-Anlage?«

Lina Becker winkte ab. »Die anderen sind auch nicht viel besser.« Wieder seufzte sie auf. »Wir haben da Leute in der Straße, die haben seit ihrem Einzug vor einem halben Jahr noch immer keine Vorhänge an den Fenstern. Wenn…«

»Gegen falsche Nachbarn helfen weder Tropfen noch Tabletten, Frau Becker«, fiel ihr der Arzt ins Wort und bemühte sich, ihr nicht seine Ungeduld zu zeigen.

»Aber ich kann doch nicht ausziehen.«

»Vielleicht würde schon ein bißchen Toleranz…«

Lina Becker ließ Eric nicht aussprechen. »Ich gehöre zu den tolerantesten Menschen der Welt«, erklärte sie, »aber was zuviel ist, ist zuviel.«

Eric stand auf. »Wir sprechen uns dann beim EKG wieder, Frau Becker«, sagte er freundlich. »Ich kann Ihnen nicht einfach ein Beruhigungsmittel verschreiben. Zuerst muß einmal feststehen, woher Ihre Beschwerden kommen.«

»Wenn Sie meinen, Herr Doktor.« Sie reichte ihm die Hand. »Bis dann.«

»Auf Wiedersehen, Frau Becker.« Er lächelte ihr zu. »Und Kopf hoch, es wird schon wieder werden.«

»Hoffen wir es.« Lina Becker nahm ihre Tasche und verließ das Sprechzimmer.

Eric schloß erleichtert die Tür hinter ihr, kehrte an seinen Schreibtisch zurück und bat per Wechselsprecher Tina Martens, seine Sprechstundenhilfe, den nächsten Patienten hereinzuschicken. »Und bringen Sie mir bitte bei Gelegenheit auch eine Tasse Kaffee. Die kann ich jetzt gebrauchen.«

»Wird gemacht, Herr Doktor.« Tina wandte sich Lina Becker zu, die gerade an ihren Schreibtisch trat. »Einen Moment bitte«, bat sie und rief Rainer Flechner auf.

Dr. Baumann streckte sich, dann trat er ans Waschbecken und wusch sich die Hände. Patienten wie Lina Becker, die an anderen Leuten kein gutes Haar ließen, hatte er zum Glück nicht allzu oft. »Ja, bitte!« rief er, als es klopfte, öffnete die Tür und wies in sein Sprechzimmer.

»Danke, Herr Doktor.« Daniela Flechner schob ihren elfjährigen Bruder durch die Tür, dann reichte sie Eric die Hand und stellte sich vor. »Rainer ist gestern gefallen«, sagte sie. »Sein Knie sieht ziemlich schlimm aus. Leider habe ich es erst heute morgen entdeckt. Mir kommt es vor, als würden Splitter in der Verletzung stecken.«

»Daß Frauen immer so ein Theater machen müssen«, erklärte Rainer mißmutig und verdrehte die Augen. »Ein Pflaster hätte es auch getan.«

»Das werden wir sehen, Rainer«, meinte Dr. Baumann. »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Frau Flechner.« Er wies zu dem Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. »Rainer, du ziehst dir bitte die Jeans aus und setzt dich auf die Liege.«

Der Junge grinste. »Meinen Sie das im Ernst, Herr Doktor. Wir sind schließlich nicht allein.« Er wies zu Daniela.

»Nun, ich nehme an, daß deine Schwester dich bestimmt auch schon in der Badehose gesehen hat«, erwiderte Eric lachend und berührte die Schulter des Jungen. »Also, runter mit den Jeans. Ich brauche von deiner Schwester noch ein paar Angaben.«

»Wenn es denn sein muß.« Rainer öffnete den Gürtel.

Aus Rainers Krankenakte ging hervor, daß die Flechners schon zu den Patienten seines Vaters gehört hatten. Eric konnte allerdings nicht ersehen, ob der Bub irgendwann gegen Tetanus geimpft worden war.

»Bis jetzt noch nicht, Herr Doktor«, sagte Daniela, als er sie fragte.

»Dann wird es allerhöchste Zeit, diese Impfung nachzuholen«, meinte Eric. »Und das werden wir nachher auch gleich tun.«

»Keine Spritze!« Rainer streckte abwehrend die Hände vor.

»An einer Tetanusspritze führt kein Weg vorbei, Brüderchen«, meinte seine Schwester. »Im übrigen hätte Rambo dafür nur ein Schulterzucken.«

Eric wandte sich dem Buben zu. »Da hat sich jemand aber große Mühe gegeben, dein Bein so sorgfältig wie das einer Mumie zu umwickeln«, bemerkte er und machte sich daran, die Binde, mit der Daniela die Wunde versorgt hatte, zu lösen. »Wo bist du denn gestürzt?«

»Irgendwo«, erklärte der Junge leichthin.

»Dieselbe Antwort habe ich vorhin bekommen«, warf die junge Frau ein. »Ich bin mir sicher, daß der Bursche mal wieder etwas angestellt hat.« Sie stand auf. »Es sieht schlimm aus, nicht wahr?«

Der Arzt merkte, daß sie sich wirklich Sorgen machte. »Schlimmer, als es ist«, erwiderte er. »Davon abgesehen, ist es vollkommen richtig gewesen, daß Sie mit Ihrem Bruder gekommen sind. Außerdem steckt tatsächlich etwas in der Wunde.« Er richtete sich auf und trat an den Instrumentenschrank. Gleich darauf kehrte er mit einer Pinzette zurück. »Könnten Sie bitte das Bein Ihres Bruders halten?«

»Ja.« Daniela nahm Rainers Fuß.

»Das haben wir gleich, Rainer.« Vorsichtig griff der Arzt mit der Pinzette nach dem Holzstückchen, das aus der Wunde herausragte.

»Au!« schrie der Junge auf.

»Denk an Rambo«, erinnerte ihn seine Schwester.

»Der ist bestimmt nie so brutal behandelt worden.« Rainer hielt den Atem an.

»So, da haben wir schon den Übeltäter.« Eric hielt das Corpus delicti hoch. »Fast drei Zentimeter lang, würde ich sagen.« Er ließ das Holzstückchen in eine Nierenschale fallen. »Da sind noch zwei.«

»Einem bleibt auch nichts erspart«, meinte Rainer resignierend.

Zehn Minuten später hatte er alles überstanden. Ausgestattet mit einem neuen Verband und wieder völlig bekleidet, reichte er Eric die Hand und bedankte sich.

»Ich würde dich gern übermorgen wiedersehen, Rainer«, sagte der Arzt. Er griff ihm unters Kinn und hob es leicht an. »Willst du mir nicht doch verraten, wo du gewesen bist? Dein Bein sieht aus, als wärst du auf einem Reibeisen entlanggerutscht.«

»Das ist nur der Kies, auf den ich gefallen bin.«

»Ach, und wie sind dann die Holzstückchen in die Wunde gekommen?« Eric lachte. »Schon gut, behalt dein Geheimnis nur für dich.« Er nahm Danielas Hand und zwinkerte ihr zu. »Vielleicht sollten Sie oder Ihre Eltern dem Burschen hin und wieder den Hosenboden strammziehen.«

»Das haben wir leider versäumt, als noch Zeit dazu gewesen ist«, meinte die junge Frau und stimmte in sein Lachen ein. »Inzwischen ist Hopfen und Malz verloren.« Sie legte den Arm um die Schultern ihres Bruders. »Auf Wiedersehen, Herr Doktor.«

»Auf Wiedersehen.« Eric verstrubbelte Rainers Haare. »Und vergiß nicht deinen Termin.«

»Habe ich schon in meinem Computer eingespeichert.« Rainer schlug mit dem Fingerknöchel gegen seine Stirn. »Da geht nichts verloren.«

Tina Martens brachte den Kaffee und eine weitere Krankenkarte. »Herr Petersen klagt über unbestimmte Leibschmerzen«, sagte sie. »Ich dachte, Sie sehen ihn sich lieber gleich an. Sonst hätte ich ihn gebeten, heute nachmittag zu kommen.«

»Ist schon recht, Tina.« Dr. Baumann nahm einen Schluck Kaffee. »Kennen Sie diese Frau Becker eigentlich näher, die vorhin bei mir gewesen ist?« Unwillkürlich rieb er sich die Stirn.

»Nein, ich habe nur gehört, daß sie die Ärzte wechselt wie andere Leute ihre Hemden«, erwiderte die Sprechstundenhilfe. »Außerdem soll sie nur selten an jemanden einen guten Faden lassen. Sie ist vor eineinhalb Jahren in den Narzissenweg gezogen. Vermutlich hätte Ihnen Frau Flechner mehr über sie sagen können. Die Arme wohnt in ihrer Nähe.« Sie zögerte einen Augenblick, dann meinte sie: »Wenn Sie mich fragen, Herr Doktor, braucht Frau Becker keinen Allgemeinmediziner, sondern einen Neurologen.«

Ihre Meinung deckte sich mit seiner, doch das sagte ihr Dr. Baumann nicht. »Vielleicht sehen Sie etwas zu schwarz, Tina«, antwortete er. »Nun ja, wie dem auch sei, Frau Becker ist jetzt unsere Patientin, und wir werden alles tun, um ihr zu helfen.« Er reichte seiner Sprechstundenhilfe die Tasse. »Danke, für den Kaffee. Schicken Sie mir erst einmal Herrn Petersen herein. Wenn er Schmerzen hat, sollten wir ihn nicht warten lassen.«

»Mach ich, Herr Doktor«, erwiderte Tina und ging hinaus. Leise schloß sie die Tür hinter sich.

*

»Einen schönen Tag noch, Herr Eschen«, wünschte der alte Josef, der seit fast vierzig Jahren einen Bootsverleih am Tegernsee betrieb. Stefan Eschen kannte er seit einer Woche. Der junge Mann kam fast täglich, um ein, zwei Stunden auf dem Wasser zu verbringen.

»Danke, Josef, Ihnen auch«, erwiderte Stefan, tippte an seine Schirmmütze und wandte sich dem Trampelpfad zu, der vom Wasser weg auf die Straße hinaufführte. Bis zum Narzissenweg, wo er sich in einer kleinen Pension ein Zimmer genommen hatte, war es nicht weit. Der junge Mann steckte die Hände in die Hosentaschen und hob das Gesicht der Sonne entgegen. Er genoß die Wärme auf seiner Haut, genoß den Blütenduft um sich herum und das Gefühl, unendlichen Friedens.

Stefan war kein Phantast und er wußte nur zu gut, daß es diesen unendlichen Frieden nicht gab und daß auch am Tegernsee die Welt nicht so in Ordnung war, wie er es sich gewünscht hätte, doch er brauchte diese Illusion, um weiterleben zu können.

Der junge Mann ging langsam in Richtung Gmund. Kurz vor dem Ortsausgang von Tegernsee bog er zum Narzissenweg ab.

Entlang der schmalen Straße standen hübsche Häuschen mit kleinen Gärten, geranien- und freesiengeschmückten Holzbalkons und liebevoll bemalten Untergeschossen. Etwas abseits gab es einen alten Bauernhof, in dessen ehemaliger Scheune ein Antiquitätengeschäft untergebracht war. Das erst vor wenigen Jahren renovierte Haus gehörte zu den Schmuckstücken der Umgebung. Es besaß sogar noch einen alten Ziehbrunnen mit einem Eimer, der aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte.

Stefan zögerte kurz, dann entschloß er sich, dem Hof einen Besuch abzustatten. Er hatte sich ohnehin vorgenommen gehabt, sich bei Gelegenheit in dem Antiquitätengeschäft etwas umzusehen. Enttäuscht stellte er fest, daß es geschlossen war.

Der junge Mann wollte gerade wieder gehen, als ein Wagen in den Hof einbog und vor dem Haus hielt. Daniela Flechner stieg aus. »Hallo!« rief sie zu ihm hin­über. »Wir öffnen erst heute nachmittag wieder.«

»Meine Eltern sind nach München gefahren«, fügte Rainer hinzu, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen war. Er öffnete den Kofferraum des Wagens, um einen Einkaufskorb herauszunehmen.

»Schade, da kann man nichts machen«, meinte Stefan und trat zu Daniela. Er stellte sich vor. »Ich bin seit zehn Tagen in Tegernsee.«

Die junge Frau nickte. »Sie sind bei den Bartels abgestiegen«, sagte sie. »Bestimmt wundern Sie sich, woher ich das weiß. Ich habe zufällig gesehen, wie Sie angekommen sind.«

»Wie lange werden Sie bleiben?« fragte Rainer und stellte den Einkaufskorb ab.

»Sei nicht so neugierig«, mahnte seine Schwester.

»Bis Mitte August, dann sind die Schulferien in Nordrhein-Westfalen zu Ende«, erwiderte Stefan. Er sah Rainer an. »Ich bin Lehrer.«

»Lehrer?« Der Bub verzog das Gesicht.

»Dachte ich es mir doch, daß du nicht allzu viel von Lehrern hältst«, bemerkte der junge Mann lachend. »Aber das macht nichts. In deinem Alter habe ich auch noch um jeden Lehrer einen großen Bogen gemacht.«

»Was für ein Lehrer sind Sie denn?« erkundigte sich Rainer.

»Ich unterrichte Geschichte.«

»Geschichte!« Das Gesicht des Elfjährigen verklärte sich. »Dafür interessiere ich mich auch. Haben Sie schon von der Althof-Mühle gehört? Die ist uralt. Es soll sogar in ihr spuken.«

Diesmal war es Daniela, die lachte. »Geschichte bedeutet für meinen Bruder hauptsächlich Schatzsuche«, erklärte sie. Generationen von Kindern und Jugendlichen aus der ganzen Umgebung haben schon nach dem Schatz gesucht, der angeblich in der Mühle vergraben liegt. Dabei ist es verboten, sie zu betreten, da Teile von ihr jederzeit zusammenbrechen können. Die Mühle soll zwar irgendwann restauriert werden, doch wie es aussieht, steht der Termin dazu noch in den Sternen.« Die junge Frau legte eine Hand auf die Schulter ihres Bruders. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo du gestern gestürzt bist.«

»Ich hatte auch nicht vor, es dir zu sagen«, antwortete Rainer grinsend.

»Paß auf, daß ich dir nicht die Ohren langziehe«, scherzte Da­niela. »Davon abgesehen haben wir uns noch nicht einmal vorgestellt, Herr Eschen. Das ist Rainer, und ich bin Daniela Flechner.«

»Freut mich.« Er nahm ihre Hand. »Haben Sie morgen geöffnet?« Er wies zur Scheune. »Ich würde mir bei Gelegenheit gern die Sachen anschauen, die Sie verkaufen.«

»Wir öffnen fast jeden Morgen um halb neun, Herr Eschen«, antwortete die junge Frau. »Es ist bestimmt einiges dabei, was Sie interessieren wird. Unsere ganze Familie beschäftigt sich mit Altertümern und Antiquitäten. Mein Vater hat eine eigene Werkstatt, in der er alte Möbel und Gegenstände wieder instandsetzt, und meine Mutter restauriert hauptsächlich Bilder aus den verschiedensten Epochen.«

»Und was machen Sie?«

»Nun, ich helfe beiden und ich arbeite im Geschäft mit.« Daniela legte den Arm um Rainers Schultern. »Aber jetzt wird es Zeit für uns. Wenn meine Eltern zurückkehren, erwarten sie, daß das Essen auf dem Tisch steht.«

»Dann bis zum nächsten Mal«, wünschte Stefan.

»Auf Wiedersehen«, sagte Daniela.

»Tschüs!« rief Rainer und brachte den Korb zum Haus.

Der Lehrer fühlte sich in der Gesellschaft der jungen Frau ausgesprochen wohl. Es tat ihm leid, jetzt schon gehen zu müssen. »Also…« Zögernd hob er die Hand zum Gruß und wandte sich dann widerwillig der Straße zu. Als er sich nach wenigen Schritten umdrehte, sah er, daß Daniela noch immer bei ihrem Wagen stand und ihm nachschaute.