Der Arzt vom Tegernsee Staffel 1 – Arztroman - Laura Martens - E-Book

Der Arzt vom Tegernsee Staffel 1 – Arztroman E-Book

Laura Martens

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Beschreibung

Dr. Baumann ist ein echter Menschenfreund, rund um die Uhr im Einsatz, immer mit einem offenen Ohr für die Nöte und Sorgen seiner Patienten, ein Arzt und Lebensretter aus Berufung, wie ihn sich jeder an Leib und Seele Erkrankte wünscht. Seine Praxis befindet sich in malerischer, idyllischer Lage, umgeben von Bergen, Hügeln und kristallklaren Bergseen – in Deutschlands beliebtestem Reiseland, in Bayern, wo die Herzen der Menschen für die Heimat schlagen. Der ideale Schauplatz für eine besondere, heimatliches Lokalkolorit vermittelnde Arztromanserie, die ebenso plastisch wie einfühlsam von der beliebten Schriftstellerin Laura Martens erzählt wird. Die große Serie Der Arzt vom Tegernsee steht für Erfolg – Arztroman, Heimatroman und romantischer Liebesroman in einem! E-Book 1: Lass Vergangenes vergessen sein E-Book 2: Ich muss leben für Alisa E-Book 3: Die traurige Frau am See E-Book 4: Der Tag, der die Entscheidung brachte E-Book 5: Überstunden für den Schutzengel E-Book 6: Von New York an den Tegernsee E-Book 7: Auf Jessica wartet das Leben E-Book 8: Auf dem Weg zu sich selbst E-Book 9: Wenn Liebe krank macht E-Book 10: Ich möchte dir so gerne glauben

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Seitenzahl: 1233

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Inhalt

Lass Vergangenes vergessen sein

Ich muss leben für Alisa

Die traurige Frau am See

Der Tag, der die Entscheidung brachte

Überstunden für den Schutzengel

Von New York an den Tegernsee

Auf Jessica wartet das Leben

Auf dem Weg zu sich selbst

Wenn Liebe krank macht

Ich möchte dir so gerne glauben

Der Arzt vom Tegernsee – 1–

E-Book 1 -10

Staffel 1

Laura Martens

Lass Vergangenes vergessen sein

Dr. Eric Baumann blickte von der Höhe der Straße auf den Tegernsee hinunter, der eingebettet zwischen grünen Wiesen und Wäldern wie ein kostbares Juwel in der Sonne spiegelte. Er dachte daran, wie oft sein Vater mit ihm auf den See hinausgerudert war. Wie hatte er diese Ausflüge geliebt! Eine tiefe Sehnsucht nach seinem Vater ergriff ihn. Eine Sehnsucht, von der er wußte, daß sie nie mehr erfüllt werden konnte. Verstohlen wischte er sich über die Augen.

Der Arzt atmete tief durch, dann drehte er sich um und kehrte zu dem Wagen zurück, den er gleich nach seiner Ankunft am Münchener Flughafen geliehen hatte. Gestern um diese Zeit war er noch in Kenia gewesen und hatte in einem winzigen Dorf rund hundert Kilometer von Mombasa entfernt eine Sprechstunde abgehalten. Vom Tod seines Vaters hatte er erst am späten Abend erfahren, als er nach der einwöchigen Tour durch das Gebiet des Tsavo Nationalparks in die Klinik zurückgekommen war.

Erics Elternhaus lag etwas außerhalb des Städtchens Tegernsee. Zwei Jahre war er nicht mehr zu Hause gewesen, obwohl er es sich immer wieder vorgenommen hatte, wenigstens ein paar Urlaubstage daheim zu verbringen. Jetzt kam es ihm vor, als hätte er seinen Vater im Stich gelassen. Was hatte er nicht alles für Ausreden gefunden, um nicht nach Deutschland zurückkehren zu müssen.

Rechts der Straße fuhr ein Traktor den Hang hinunter. Plötzlich hielt er an. Ein Mann sprang aus der Kabine, eilte nach vorn und bückte sich, um einen Baumstamm aus dem Weg zu räumen. Im selben Moment begann der Traktor zu rollen. Bevor der Bauer noch recht wußte, wie ihm geschah, lag er bereits unter dem rechten Vorderrad des schweren Fahrzeugs, das über ihn hinwegrollte.

Dr. Baumann brachte seinen Wagen abrupt zum Stehen. Er hastete stolpernd den Hang hinauf und kniete sich neben den Verunglückten, der bereits das Bewußtsein verloren hatte. »Um Gottes willen, Löbl!« stieß er hervor. Er kannte Anton Löbl seit seiner Kindheit und hatte unzählige glückliche Stunden auf dessem Hof verbracht.

Eric kontrollierte die Atmung des Bauern, dann zog er sein Jackett aus und klemmte es ihm so hinter den Rücken, daß Anton Löbl seitlich zu liegen kam. Nach einem letzten Blick auf den inzwischen zu einem Halt gekommenen Traktor sprang der Arzt auf. Er rannte zum Wagen zurück, griff nach dem Autotelefon und tippte die Nummer des Notrufs in den Apparat.

Während Dr. Baumann noch mit der Frau sprach, die seinen Notruf entgegennahm, hielt ein anderer Wagen am Straßenrand. Ein junger, dunkelhaariger Mann stieg aus. Obwohl er durchtrainiert wirkte, fiel es ihm schwer, den Hang hinaufzukommen. Nur mit viel Mühe schaffte er es. Nachdenklich blickte er auf den Traktor und überlegte, wie man dem Verletzten helfen konnte.

»Ich habe bereits alles Nötige veranlaßt«, sagte Eric und kniete sich wieder neben Anton Löbl. Erleichtert atmete er auf, als er feststellte, daß der Bauer nach wie vor keine Schwierigkeiten beim Atmen hatte.

»Sind Sie Arzt?« fragte der junge Mann.

»Ja.« Eric nickte flüchtig. Aus dem rechten Bein des Verletzten sickerte Blut hervor. Dr. Baumann konnte nur hoffen, daß nicht die Hauptschlagader verletzt worden war.

»Kann ich Ihnen etwas helfen? – Mein Name ist Seeger, Thorsten Seeger. Ich bin seit zwei Wochen in Bad Wiessee.«

»Ich wünschte, Sie könnten mir helfen«, sagte Dr. Baumann und nahm Antons Hand, um den Puls zu kontrollieren. Er hatte nicht einmal seine Arzttasche dabei. Sie befand sich bei den Sachen, die erst am nächsten Tag vom Zubringerdienst des Flughafens angeliefert werden sollte.

Von fern war ein Martinshorn zu hören. Thorsten, der sich ebenfalls neben den Verletzten gekniet hatte, richtete sich auf. »Sieht aus, als würde Hilfe kommen«, meinte er.

Eric antwortete ihm nicht. Er wußte, daß es auf jede Minute ankam. Der Puls des Bauern ging rasch, war aber kaum zu spüren. Seine Haut fühlte sich feucht und kalt an. Der Arzt verzweifelte fast bei dem Gedanken, daß er nichts tun konnte, um Anton Löbl zu helfen.

Am Straßenrand hielt ein Polizeiwagen. Noch während die Beamten den Hügel hinaufeilten, kamen auch schon ein Krankenwagen und die Feuerwehr.

»Gott sei Dank!« stieß Thorsten Seeger hervor. Da er die Helfer nicht behindern wollte, kehrte er zur Straße zurück. Am liebsten wäre er weitergefahren, doch er nahm an, daß die Polizei vielleicht auch an ihn Fragen hatte. Deshalb blieb er an den Kotflügel seines Wagens gelehnt stehen. Sein rechter Fuß schmerzte wieder einmal entsetzlich. Vergeblich versuchte er, den Schmerz zu ignorieren. Von Sekunde zu Sekunde wurde es schlimmer.

Es dauerte einige Zeit, bis es den Helfern mit vereinten Kräften gelungen war, Anton Löbl zu versorgen. Die Hosen des Bauern waren blutgetränkt.

Eric legte sofort einen Druckverband. Er wußte zwar nicht, wieviel Blut der Verletzte schon verloren hatte, aber es schienen mindestens zwei Liter zu sein. Zudem mußten sie auch davon ausgehen, daß er schwere innere Blutungen hatte. Rasch legte er noch eine Infusion, um den Kreislauf des Bauern zu stabilisieren, dann half er den Sanitätern dabei, Anton Löbl auf die Trage zu heben, und folgte ihnen den Hang hinunter zum Krankenwagen.

»Fahren Sie mit, Herr Doktor?« erkundigte sich einer der Polizisten.

»Ja, ich fahre mit«, antwortete

Eric. »Können Sie sich um meinen Wagen kümmern?«

»Selbstverständlich. Ich werde dafür sorgen, daß er Ihnen zum Krankenhaus nachgebracht wird«, versprach der Beamte.

»Danke.« Eric nickte ihm kurz zu und kletterte in den Krankenwagen. Kaum hatten sich die Türen hinter ihm geschlossen, gab der Fahrer auch schon Gas. In rasender Fahrt, mit eingeschaltetem Martinshorn, fuhr er nach Tegernsee zurück.

Thorsten Seeger blickte dem Krankenwagen nach, dann wandte er sich dem Polizeibeamten zu, der mit Dr. Baumann gesprochen hatte. »Brauchen Sie mich noch?« erkundigte er sich. Seine Aussage hatte er bereits gemacht.

»Nein, Herr Seeger«, antwortete der Polizist. »Falls es noch Fragen geben sollte, wissen wir ja, wo wir Sie finden.«

»Ich werde noch einige Wochen in Bad Wiessee bleiben.« Thorsten verlagerte sein Gewicht auf den linken Fuß. »Praktiziert Doktor Baumann hier?« wollte er wissen.

»Im Moment noch nicht«, bekam er zur Antwort. »Doktor Baumann ist heute erst aus Afrika zurückgekehrt. Sein Vater ist vor wenigen Tagen gestorben. Ich weiß nicht, ob er dessen Praxis übernehmen wird.« Der Mann stieß heftig den Atem aus. »War ein verdammt guter Arzt, der alte Baumann. Ich selbst bin auch bei ihm in Behandlung gewesen. Er hatte sich nicht nur der Schulmedizin verschrieben, sondern war auch bereit, es hin und wieder mit alternativen Methoden zu versuchen.« Er kratzte sich am Kinn. »Nun ja, einmal trifft es jeden von uns.« Sein Blick wanderte den Hang hinauf. »Eine schlimme Sache.«

»Hoffentlich kommt der Mann mit dem Leben davon«, bemerkte Thorsten. Er konnte es sich nicht vorstellen. Fröstelnd zog er die Schultern zusammen, wechselte einen kurzen Gruß mit dem Polizisten und ging zu seinem Wagen.

*

Susanne Arendt saß seit dem frühen Nachmittag am Flügel und übte für das Konzert, das sie am Abend geben sollte. Sie war mit der Musik aufgewachsen und hatte sich schon als Kind gewünscht, eines Tages als Pianistin weltberühmt zu werden. Jetzt mit dreiundzwanzig Jahren schien sie es geschafft zu haben. Während der letzten Monate hatte sie Konzerte in New York, Tokio, Moskau, London, Zürich und Paris gegeben. Jedes dieser Konzerte war ausverkauft gewesen. Ihre CDs erwiesen sich als Renner. Sie hatte sogar eine Einladung in den Buckingham-Palast bekommen. Im nächsten Jahr sollte sie vor Königin Elisabeth und deren Familie spielen.

An diesem Abend standen weltberühmte Musical-Melodien auf dem Programm. Selbstvergessen summte sie das Lied ›Memory‹ aus dem Musical ›Cats‹ mit.

Manchmal kam es Susanne vor, als wäre sie besonders vom Glück begünstigt worden. Auch wenn sie es nicht fassen konnte, von der ersten Minute ihres Lebens an schien jemand an ihrer Seite zu stehen, der ihr alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumte. Selbst damals, als ihre Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren, hatte es das Schicksal noch gut mit ihr gemeint. Ihre Großmutter hatte sie bei sich aufgenommen und dafür gesorgt, daß sie ihre Träume realisieren konnte.

Die letzten Klänge von ›Memory‹ verhallten. Susanne blickte auf ihre Finger. Sie fühlten sich schon seit dem Morgen etwas steif an. Irrte sie sich, oder wirkten sie auch blasser als gewöhnlich? Entschlossen begann sie, die Hände zu massieren. Hoffentlich bekomme ich kein Rheuma, dachte sie erschrocken.

Die junge Frau spulte die Kassette zurück, auf der sie ihr Spiel aufgenommen hatte, drückte auf den Wiedergabeknopf und lauschte mit angehaltenem Atem. Ein erleichtertes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie hörte, daß ihr Spiel genauso perfekt klang wie sonst. Sie stand auf und ging in die Küche ihres Appartements, um die Espresso-Maschine einzuschalten.

Erst in der Küche wurde ihr bewußt, daß sie starre, eiskalte Zehen hatte. Sie setzte sich auf einen der hellgrünen Stühle, zog ihre Pantoletten aus und beugte sich hinunter. Ihre Zehen waren weiß vor Kälte, und rechts spürte sie sogar ein leichtes, schmerzhaftes Ziehen.

Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, das ganze Appartement mit Fliesen auslegen zu lassen. Ihr Freund hatte sie noch davor gewarnt. »Du wirst mit der Zeit Rückenschmerzen bekommen, glaub mir das«, hatte er gesagt. »Meiner Mutter ist es so ergangen. Meine Eltern mußten die Fliesen durch Parkett ersetzen.«

Aber ich liebe nun einmal Fliesen, dachte Susanne resignierend. Außerdem lagen im Wohnzimmer dicke Teppiche. Selbst der Flügel stand auf einem. – Nein, es konnte nicht sein, daß ihre kalten Füße mit den Fliesen zusammenhingen.

Sie stand auf und griff nach ihrem Espresso. Kalte Füße waren nichts, worüber man sich Sorgen machen mußte. Sie hatte schon immer unter etwas zu niedrigem Blutdruck gelitten. Der Espresso würde genau das Richtige sein, um sie wieder auf Vordermann zu bringen und die Kälte zu vertreiben.

Die junge Frau machte es sich in der Hollywood-Schaukel auf der Terrasse bequem. Ihr Appartement gehörte zu einem Penthouse, das hoch über den Häusern der Umgebung lag. Von der Terrassenbrüstung aus konnte sie einen Großteil Münchens überblicken. Manchmal stand sie hier noch am späten Abend, schaute über die Stadt hinweg zum sternenüberfluteten Himmel und lauschte auf die leise Musik, die aus dem Wohnzimmer zu ihr herüberwehte.

»So allein?«

Susanne wandte den Kopf der Tür zu. Ihre braunen Augen begannen zu strahlen. »Ich habe dich überhaupt nicht gehört, Rainer«, meinte sie, stellte die Espressotasse ab und streckte ihrem Freund die Arme entgegen. »Bist du schon lange hier?«

»Nein, ich bin gerade erst gekommen, Liebling.« Rainer Merkle, ein hellblonder Mann von dreißig, setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. »Ich habe dich vermißt.« Liebevoll strich er ihr die

dunklen Haare aus der Stirn. »Gott weiß, wie sehr ich dich vermißt habe.« Er sah ihr in die Augen.

Susanne lachte leise auf. »Du tust ja gerade, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen«, meinte sie geschmeichelt. »Dabei sind wir vorgestern noch zusammen im Kino gewesen.«

»Zwischen vorgestern und heute liegt eine Ewigkeit«, behauptete Rainer. Er hielt sie etwas von sich ab. »Aber du bist noch genauso hübsch wie bei unserem letzten Treffen.«

Die junge Frau schlang impulsiv die Arme um seinen Nacken. »Warum küßt du mich nicht endlich?« fragte sie herausfordernd. »Wie lange soll ich noch warten?«

Rainer gab ihr keine Antwort. Er zog sie stürmisch an sich. Seine Lippen berührten zärtlich Susannes Augen, ihre Nase und ihre Wangen, bevor sie ihren Mund fanden und sie sich leidenschaftlich küßten.

»Kommst du heute abend zu meinem Konzert?« fragte seine Freundin, als er sie endlich wieder freigab.

»Das werde ich mir auf keinen Fall nehmen lassen«, erwiderte Rainer. »Meine Eltern werden übrigens auch dort sein.« Er sah sie an. »Ich bin so froh, daß du das Herz meiner Eltern gewonnen hast. Du weißt, besonders mein Vater ist ein etwas schwieriger Mensch. Er wünscht sich eine vollkommene Schwiegertochter. Zum Glück bist du einfach vollkommen.« Seine Finger glitten sanft über ihr Gesicht.

Susanne gestand sich ein, daß sie Rainers Vater nicht besonders mochte. Jedesmal, wenn sie einander begegneten, rann ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Aber nicht nur ihr erging es so. Arthur Merkle hatte aus dem Nichts ein riesiges Imperium aufgebaut, in dem er rücksichtslos seine Ellbogen gebrauchte. Seine erste Ehefrau hatte sich das Leben genommen, wie es hieß, weil sie das Leben an seiner Seite nicht länger ertragen konnte, und auch seine zweite Frau, Rainers Mutter, schien an der Seite ihres Mannes nicht allzu glücklich zu sein.

»Du hast mich noch nicht einmal gefragt, ob ich dich überhaupt heiraten möchte«, scherzte sie.

»Das setze ich voraus.« Rainer küßte sie erneut. »Mein Vater möchte spätestens an seinem Geburtstag in zwei Monaten unsere Verlobung bekanntgeben.« Er sah ihr wieder in die Augen. »Ich liebe dich, Susanne. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.« Leise seufzte er auf. »Du kannst sicher sein, daß ich nicht in die Fußstapfen meines Vaters treten werde. Ich habe zu oft erlebt, wie er meine Mutter mit wenigen Worten am Boden zerstört hat. Er ist nun einmal ein Tyrann, der kein Widerwort gelten läßt.«

»Ich möchte nicht mit deinem Vater unter einem Dach leben«, sagte Susanne ernst. »Dann wäre unsere Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt.«

»Nein, wir werden uns natürlich ein eigenes Haus kaufen«, versprach Rainer. »Ich denke nicht daran, meine Frau mit meinen Eltern zu teilen.« Er küßte sie auf die Stirn. »Es reicht schon, daß du oft im Ausland sein wirst, denn selbstverständlich werde ich niemals von dir verlangen, daß du deinen Beruf aufgibst.«

»Das ist lieb von dir, Rainer.« Die junge Frau legte wieder die Arme um seinen Nacken. »Ja, ich möchte deine Frau werden. Ich stelle es mir wunderbar vor, an deiner Seite zu leben. Wenn… Au!« Sie verzog das Gesicht.

»Was hast du?« Rainer sah sie besorgt an.

»Es ist nichts weiter.« Susanne griff nach ihrem rechten Fuß. »Mein kleiner Zeh tat plötzlich so weh, als hätte jemand mit einem Messer hineingestoßen.«

»Hast du das öfters?« Er umfaßte ihren Fuß.

»Nein.« Susanne schüttelte den Kopf. »Es ist nichts, glaub mir.« Sie lächelte ihm zu. »Wer wird denn gleich aus einer Mücke einen Elefanten machen?«

»Ist wirklich wieder alles in Ordnung?« fragte Rainer skeptisch.

»Ja.« Susanne nickte. Sie entzog ihm ihren Fuß, schlüpfte in die Pantoletten und stand auf. »Fährst du vor dem Konzert noch einmal nach Hause, oder ziehst du dich bei mir um?«

»Ich bleibe hier und kümmere mich darum, daß du wenigstens eine Kleinigkeit ißt«, versprach Rainer. »Wie wäre es mit Putenbrust auf chinesische Art?«

»Klingt verlockend«, meinte sie. »Ich werde mich noch etwas ausruhen und die Augen schließen. Ein paar Minuten Schlaf können Wunder wirken.«

»Tu’ das, Liebes.« Rainer legte den Arm um ihre Taille. Susanne schmiegte sich vertrauensvoll an ihn, als sie gemeinsam das Wohnzimmer betraten.

*

Dr. Eric Baumann stand in der kleinen Friedhofskapelle und sprach ein stummes Gebet. Noch immer brannten auf dem Altar die Kerzen. Der Duft der unzähligen Blumen, mit denen der Raum geschmückt worden war, vermischte sich mit dem Geruch des Weihrauchs.

Der Arzt dachte daran, wie er vor Jahren an der Hand seines Vaters hier Abschied von der Mutter genommen hatte. Damals war er noch ein kleiner Bub gewesen und hatte nicht recht verstanden, weshalb seine Mutter nicht mehr aufwachen wollte. Wochen nach ihrem Tod hatte er noch immer darauf gehofft, daß sie eines Tages aus ihrem Grab steigen und wieder zu ihnen kommen würde.

Aufseufzend berührte er den schmalen, niedrigen Tisch, auf dem der Sarg seines Vaters gestanden hatte. Er war zu spät gekommen. Die Beerdigung hatte ohne ihn stattgefunden. Es kam ihm vor, als hätte er seinen Vater verraten, weil er nicht einmal dabeigewesen war, als man ihn zu Grabe getragen hatte. Aber was hatte er tun sollen? War es nicht seine Pflicht gewesen, Anton Löbl beizustehen?

Niedergeschlagen wandte sich Eric um und verließ die Kapelle. Der Friedhof war fast menschenleer. Ein leichter Wind strich durch die Wipfel der Bäume, die zwischen den blumengeschmückten Gräbern standen.

Eric wandte sich dem Grab seines Vaters zu, das im hinteren Teil des Friedhofs lag. Hin und wieder blieb er stehen und betrachtete die Grabsteine und Kreuze, die sich entlang des Weges erhoben. In den beiden Jahren, die er in Afrika verbracht hatte, waren einige dazugekommen. Die meisten der Toten hatte er von Kindheit an gekannt. Es versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, als er auf einem Grabstein den Namen eines früheren Schulkameraden las.

Endlich hatte er das Grab seines Vaters erreicht. Zwei Friedhofsarbeiter waren bereits dabei, es zuzuschaufeln. Die Kränze, Gestecke und Schalen voller blühender Blumen, die auf einem fahrbaren Gestell unweit des Grabes hingen und standen, zeugten davon, wie beliebt der alte Doktor gewesen war.

Die Friedhofsarbeiter hielten in ihrer Arbeit inne. Auf die Schaufeln gestützt beobachteten sie, wie Eric an die offene Grube trat und einen Strauß blaßroter Rosen auf den Sarg hinunterwarf, von dem unter seinem Blumenschmuck und Erde nur noch ein Stückchen zu sehen war.

»Lebwohl, Vater«, sagte er fast tonlos. »Lebwohl und bitte verzeih mir, daß ich nicht bei deiner Aussegnung dabei sein konnte.« Abrupt drehte er sich um und ging mit raschen Schritten zu seinem Leihwagen, den er vor dem Friedhof abgestellt hatte.

Das Doktorhaus lag etwas außerhalb der Stadt direkt am Ufer des Tegernsees. Nur ein schmaler, mit Büschen gesäumter Weg trennte den Garten vom Wasser. Entlang der Straße, die weiter nach Rottach-Egern führte, und in der Auffahrt des Hauses standen mehrere Wagen. Eric fuhr an ihnen vorbei und parkte direkt vor der Garage.

Kaum hatte er gehalten, öffnete sich auch bereits die Haustür, und eine etwas behäbige Frau Anfang der Sechzig stieg die Eingangsstufen hinunter. Sie trug ein schwarzes Kleid, vor das sie eine dunkle, mit Spitzen besetzte Schürze gebunden hatte. Ihr gutmütiges Gesicht, das von grauen Haaren eingerahmt wurde, wirkte verweint.

Eric stieg aus. »Katharina«, sagte er leise und ging ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Katharina, ich…«

Laut kläffend schoß ein mittelgroßer, schwarzer Hund an Katharina vorbei und stürzte sich auf den Arzt. Stürmisch sprang er an ihm hoch. Sein langer Schwanz wirbelte nur so herum.

»Ist ja gut, ist ja schon gut, Franzl«, versuchte Eric den Hund zu beschwichtigen. »Ich freue mich ja auch, daß ich wieder daheim bin.« Er drückte ihn an sich.

»Ist es nicht schön, so freudig begrüßt zu werden, Eric?« fragte Katharina Wittenberg, die gute Seele des Doktorhauses. In ihren Augen standen Tränen.

»Franzl, jetzt ist es genug«, sagte Eric streng und ließ den Hund los. »Platz!«

Gehorsam setzte sich Franzl, wedelte dabei aber immer noch so schnell mit dem Schwanz, das man den Bewegungen kaum folgen konnte. Mit glänzenden Augen sah er zu seinem Herrn auf.

Eric schloß die Haushälterin in die Arme. »Es tut gut, dich wiederzusehen, Katharina«, bekannte er. »Was meinst du, wie oft ich in Kenia daran gedacht habe, wie du mich immer mit deinen Kochkünsten verwöhnt hast.«

»Wenn das alles ist, weshalb du meiner gedacht hast, dann ist es nicht viel«, erwiderte Katharina. Sie griff in seine dunklen Haare. »Ich bin froh, daß du wieder daheim bist, Eric.«

»Ich bin auf dem Friedhof gewesen.« Der Arzt schluckte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie elend mir bei dem Gedanken ist, meinen Vater nicht noch ein einziges Mal vor seinem Tod gesehen zu haben.«

»Gleich, nachdem dein Vater mit dem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden ist, habe ich versucht, dich zu erreichen. Man sagte mir, es sei momentan unmöglich, dich zu verständigen.« Sie atmete tief durch und schaute ihm ins Gesicht. »Ich hatte so gehofft, daß du wenigstens bei der Beerdigung dabei sein kannst. Wo bist du gewesen? Ich habe auf dem Flughafen angerufen. Man sagte mir, daß die Maschine aus Kenia bereits vor Stunden gelandet ist.«

Eric hörte deutlich den Vorwurf in ihrer Stimme. Er konnte verstehen, daß sie sich Sorgen gemacht hatte. »Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber ihr seid wahrscheinlich schon auf dem Friedhof gewesen.« Er blickte zum Haus. »Sind Franziska und die Walkhofers bei uns?«

»Nur die Franziska. Magdalena Walkhofer und Paul sind heute morgen nach Dingolfing gefahren. Vergangene Nacht hat es auf dem Hof ihrer Eltern gebrannt. Die Walkhoferin und ihr Sohn müssen sich natürlich darum kümmern, sonst wären sie auch zur Beerdigung deines Vaters gekommen.« Katharina runzelte die Stirnz. »Warum fragst du?«

Eric erzählte ihr, was passiert war. »Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht an der Beerdigung teilnehmen konnte«, fügte er hinzu. »Anton Löbl ist im Krankenwagen für ein paar Minuten zu sich gekommen. Er hat mich erkannt und flehte mich geradezu an, bei ihm zu bleiben.«

»Wie steht es um ihn?« fragte die Haushälterin bestürzt.

»Es sieht nicht gut aus. Anton hat bei dem Unfall schwere innere Verletzungen davongetragen. Zudem steht noch nicht fest, ob man sein rechtes Bein retten kann.« Eric zog Katharina für einen Moment an sich. »Gehen wir erst einmal hinein, sonst wundern sich unsere Freunde noch, wo wir bleiben.«

»Es sind nur ein paar Leute da. Dein Vater wollte kein großes Gelage nach seiner Beerdigung. Ich habe ihm noch auf dem Totenbett meine Hand darauf gegeben. Das gesparte Geld soll an eine gemeinnützige Organisation gehen, die er seit Jahren unterstützt hat.«

»Und so wird es auch geschehen«, versprach Eric. »Komm, Franzl!«

Die drei Ehepaare, die im Wohnzimmer des Doktorhauses saßen, kannte Eric seit seiner Kindheit. Herzlich begrüßten sie einander. Der Arzt erwähnte kurz, daß er wegen eines Unfalls aufgehalten worden war und den Verletzten ins Krankenhaus begleitet hatte.

»Dann hast du deine Feuertaufe ja bereits hinter dir«, bemerkte Gunther Fischer, der in Rottach-Egern ein Antiquitätengeschäft besaß. »Ich nehme an, du wirst die Praxis deines Vaters übernehmen. Oder hast du vor, nach Kenia zurückzukehren?«

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Eric. »Wo steckt die Franziska?«

»Sie ist in die Küche gegangen, um frischen Kaffee aufzubrühen«, sagte Maria Vollmer, die zusammen mit ihrem Mann Josef in Bad Wiessee ein Hotel betrieb.

»Gut, dann werde ich erst einmal mit Franziska sprechen«, meinte Dr. Baumann. »Sorg bitte dafür, daß wir ungestört bleiben, Katharina.«

»Du kannst dich darauf verlassen.« Die Haushälterin nickte. Während Eric in die Küche ging, erklärte sie den anderen, daß es sich bei dem Unfallopfer um Franziskas Vater handelte.

Franziska Löbl nahm gerade die gläserne Kanne von der Kaffeemaschine, als Eric in die Küche trat. Er schloß die Tür hinter sich.

Die junge Frau drehte sich um. Als sie Dr. Baumann sah, glitt ein freudiges Lächeln über ihr Gesicht, das gleich darauf jedoch wieder erlosch. Sie ergriff seine Hände und drückte sie stumm. In ihre Augen traten Tränen.

»Ich weiß, wie leid dir der Tod meines Vaters tut, Franziska«, sagte Eric und zog sie für einen Moment an sich. »Ich kann es auch immer noch nicht fassen, daß er nicht mehr bei uns ist.«

Franziska griff nach dem Block und dem Stift, den sie ständig in der Rocktasche bei sich trug. »Es ging alles so schnell«, schrieb sie und hielt ihm den Block entgegen.

»Wie ein Blitz aus heiterem Himmel«, bemerkte der Arzt düster. »Nachdem ich endlich die Nachricht vom Tod meines Vaters erhalten hatte, habe ich Katharina angerufen. Sie hat mir erzählt, wie sie meinen Vater in seinem Arbeitszimmer gefunden hat.« Er nahm den Arm der jungen Frau und führte sie zu einem der Stühle, die um den runden Küchentisch standen. »Bitte, setz dich«, bat er. »Ich muß mit dir sprechen.«

Franziska sah ihn erschrocken an, setzte sich aber gehorsam hin. Sie umklammerte erneut seine Hand. Ihre Lippen formten Worte, die er nicht verstehen konnte, weil sie seit einem Autounfall, den sie als Kind gehabt hatte, stumm war.

Er nahm sich ebenfalls einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber. »Dein Vater hatte einen Unfall«, sagte er und berichtete ihr, was geschehen war. »Es wäre nicht gut, dir die Wahrheit zu verschweigen, Franziska. Es steht ziemlich schlecht um deinen Vater. Eines kannst du mir jedoch glauben, es wird alles für ihn getan, was in der Macht des Arztes liegt.«

Franziska verbarg für einen Augenblick ihr Gesicht in den Händen, dann schaute sie auf, griff wieder nach ihrem Block und schrieb: »Wie stehen seine Chancen?«

Eric zögerte kurz, bevor er sagte: »Wenn dein Vater die nächsten vierundzwanzig Stunden überlebt, stehen seine Chancen etwa zwanzig zu hundert, daß er es schaffen wird.« Er umfaßte erneut ihre Hand. »Ich weiß, das ist nicht viel, trotzdem darfst du die Hoffnung nicht aufgeben.«

Franziskas Stift huschte über das Papier. »Wird er jemals wieder völlig gesund werden?« schrieb sie und bemühte sich, ihre Hand beim Schreiben nicht zittern zu lassen.

»Das kann man zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen«, meinte Eric. »Wir können es nur hoffen. Wenn dein Vater es schaffen sollte, wird es auf jeden Fall sehr lange dauern, bis er wieder in der Lage sein wird, ein relativ normales Leben zu führen. Er wird unsere Hilfe brauchen, speziell deine. Es wird ein Segen für ihn sein, daß du Krankengymnastin bist.«

Franziska holte tief Luft und nickte. »Kann ich zu ihm?« fragte sie schriftlich.

»Ja, ich werde mit dir ins Krankenhaus fahren«, versprach der Arzt. »Keine Widerrede«, fügte er hinzu, als sie den Kopf schüttelte. »Du glaubst doch nicht, daß ich dich jetzt alleine fahren lasse?« Er schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Es gibt immer Situationen, in denen man aufeinander angewiesen ist. Ich bin froh, daß ich für dich da sein kann. Vielleicht werde ich irgendwann einmal deine Hilfe brauchen.«

Franziska steckte Block und Bleistift in die Rocktasche. Sie stand auf, strich sich über die Augen und griff nach der Kaffeekanne. Eric wollte sie ihr aus der Hand nehmen, aber sie hielt sie krampfhaft fest. Wie in Trance verließ sie die Küche und ging ins Wohnzimmer hinüber. Dem Arzt blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

*

Der riesige Konzertsaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Ein paar Leute, die noch darauf gehofft hatten, an der Abendkasse Karten zu bekommen, mußten enttäuscht nach Hause fahren. In der ersten Reihe vor der mit herrlichen Blumen geschmückten Bühne saßen Rainer Merkle und seine Eltern. Während Gerda Merkle wie eine Marionette wirkte, die nur darauf wartete, daß man sie in Bewegung setzte, drückte die Haltung ihres Mannes deutlich aus, für wie wichtig er sich hielt. Breitbeinig, mit vor der Brust verschränkten Armen, unterhielt er sich mit einem Geschäftsfreund, der zufällig den Platz neben ihm hatte.

Die Damen und Herren des Münchener Symphonieorchesters betraten die Bühne. Lauter Beifall klang auf. Dann kam der Dirigent. Auch er wurde mit Beifall empfangen. Er trat vor das Mikrophon, sprach ein paar Worte und kündigte dann den Star des Abends an. Mit einer theatralisch anmutenden Geste wies er nach rechts.

Susanne Arendt trug an diesem Abend ein langes, pastellfarbenes Seidenkleid, das ihre Figur besonders gut zur Geltung brachte. Ihre Füße steckten in hohen Schuhen, die extra zu diesem Kleid angefertigt worden waren. Als sie unter dem heftigen Beifall der Zuschauer geradezu über die Bühne zu schweben schien, merkte ihr keiner an, wie schwer es ihr fiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihre Zehen waren noch immer eiskalt und schmerzten. Der Druck der engen Schuhe tat ein übriges, um ihr das Laufen zu erschweren.

Der Dirigent begrüßte sie mit Handschlag und geleitete sie zu dem riesigen Flügel, der seitlich des Orchesters stand. Susanne setzte sich anmutig hin. Sie bedauerte, nicht bequemere Schuhe angezogen zu haben, und überlegte, ob sie sich nicht von ihnen befreien sollte. Dann dachte sie jedoch daran, daß Rainers Eltern in der ersten Reihe saßen und jede ihrer Bewegungen beobachteten. Nein, irgendwie mußte es ihr gelingen, die nächsten beiden Stunden trotz schmerzender Füße durchzustehen.

Schon nach dem ersten Stück hatte Susanne ihre Füße vergessen. Ihre Finger glitten wie von selbst über die Tasten des Flügels. Sie fühlte sich von der Musik getragen, ging völlig in ihr auf. Nicht einen einzigen Einsatz verpaßte sie. Alles in ihr und um sie herum war nur noch Musik.

»Ist sie nicht wundervoll«, flüsterte Rainer seinem Vater zu.

»Perfekt«, erklärte der Geschäftsmann und blickte besitzergreifend zur Bühne. Eine Schwiegertochter wie Susanne Arendt hatte er sich immer gewünscht. Er hatte fast alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Es gab kaum einen Wunsch, den er sich nicht erfüllen konnte. Aber er wußte auch, daß ihn viele Leute für einen Emporkömmling hielten und er oft nur eingeladen wurde, weil es gefährlich gewesen wäre, ihn zu übergehen. Deshalb war er so glücklich darüber, daß sein Sohn die richtige Wahl getroffen hatte. Eine weltberühmte Pianistin würde seiner Familie den noch fehlenden Glanz verleihen.

Es war kurz vor der Pause, als Susanne plötzlich spürte, daß etwas mit ihren Fingern nicht stimmte. Eine eisige Kälte breitete sich in ihnen aus. Ihre Fingerspitzen verfärbten sich bläulich. Verzweifelt versuchte sie unter Aufbietung ihres ganzen Willens, ihr Spiel nicht darunter leiden zu lassen.

Einige Minuten ging es tatsächlich gut, doch dann konnte die junge Frau ihre Finger kaum noch bewegen. Sie griff daneben. Mit einem Mißton brach ihr Spiel ab, und nur noch das Orchester war zu hören.

Rainer starrte entsetzt zur Bühne, dann wandte er sich seinem Vater zu, dessen Gesicht plötzlich wie eine Maske wirkte. »Wie kann sie uns das antun«, raunte er wütend seinem Sohn zu. »Wie…« Erbittert preßte er die Lippen zusammen.

Es kostete Susanne unendlich viel Kraft, am Flügel sitzenzubleiben und nicht aufzuspringen und davonzulaufen. Sie war es seit ihrer Kindheit gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Schon mit sechs Jahren hatte sie vor Publikum gespielt. Aber diesmal war es etwas anderes. Sie hatte versagt.

Die Musik verwehte. Sekundenlang blieb es so ruhig, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können, dann setzte brausender Beifall ein, doch Susanne nahm ihn kaum wahr. Sie stand auf, verbeugte sich steif und eilte dann von der Bühne zu ihrer Garderobe. Erleichtert schloß sie die Tür hinter sich.

»Ich werde nach Susanne sehen«, sagte Rainer zu seinen Eltern, als sie aufstanden, um im Vorraum des Konzertsaals etwas zu trinken.

»Du kannst ihr ruhig sagen, wie enttäuscht wir von ihr sind«, meinte sein Vater hart. »Hätte ich gewußt, daß sie uns vor allen Leuten blamieren würde, wir wären nicht gekommen.«

»Vater, du wirst doch nicht etwa glauben, daß Susanne absichtlich danebengegriffen hat. Irgend etwas mit ihren Fingern scheint nicht zu stimmen. Sie hat heute nachmittag schon darüber geklagt, daß sie ihr hin und wieder weh tun.«

»Ich hätte es garantiert nicht so weit gebracht, wenn ich jedes Mal eine Sitzung schmeißen würde, nur weil ich Kopfschmerzen habe, oder mich vielleicht der große Zeh juckt«, erklärte sein Vater. »Deine…«

»Könnte es nicht etwas Ernstes sein?« fiel ihm seine Frau ins Wort. »Wir kennen Susanne. Sie…«

»Ich kann mich nicht erinnern, dich um deine Meinung gefragt zu haben, Gerda«, brauste Arthur Merkle auf. Er warf ihr einen wütenden Blick zu und wandte sich wieder an seinen Sohn: »Sag deiner Freundin, daß sie sich zusammennehmen soll.« Abrupt drehte er sich um, ergriff den Arm seiner Frau und führte sie durch den Mittelgang des Konzertsaals nach draußen.

Rainer seufzte leise auf. Daß so etwas ausgerechnet an diesem Abend passieren mußte! Nun, es war nicht mehr zu ändern. Auf jeden Fall mußte er jetzt erst einmal nach Susanne sehen. Er konnte sich denken, wie unglücklich sie sich fühlte.

Susanne saß am Frisiertisch und starrte auf ihre Hände. Ihre Finger waren noch immer fast weiß und wirkten wie mit Haut überzogene Knochen, deren Spitzen in eine hellblaue Flüssigkeit getaucht worden waren. Sie drehte sich nicht um, als Rainer in die Garderobe kam.

Der junge Mann ergriff die eiskalten Hände seiner Freundin. »Das sieht ja schlimm aus«, meinte er betroffen. »Komm, versuchen wir es mit heißem Wasser.«

Susanne stand auf und ließ sich widerstandslos zum Waschbecken führen. Rainer drehte den Wasserhahn auf. »Falls es zu heiß ist, mußt du

es sagen«, warnte er, bevor seine Freundin die Hände ins Wasser steckte.

»Es ist nicht heiß«, sagte sie fast tonlos.

»Natürlich ist es heiß.« Rainer faßte ins Wasser und zog seine Hand sofort wieder zurück, weil er sie sich fast verbrüht hätte. »Das gibt es doch nicht.«

»Vielleicht brauche ich eine Weile, bevor ich die Hitze spüre.« Susanne hatte ihre Schuhe ausgezogen. »Meine Zehen sind genauso kalt.« Sie schaute auf. »Was kann das nur sein?« fragte sie und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.

»Hattest du diese Anfälle schon öfters?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Kalte Finger und Zehen hin und wieder, aber nicht so extrem. Außerdem sind meine Finger noch nie erstarrt.« Sie hob die Hände. Ihre Finger waren noch immer weiß und wirkten verschrumpelt, doch sie ließen sich wieder leichter bewegen. Entschlossen steckte sie die Hände erneut ins Wasser.

»Werden sie warm?«

»Ein bißchen.« Die junge Frau warf einen Blick in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Sie erschrak über die Blässe in ihrem Gesicht. »Ich sehe wie ein Gespenst aus«, bemerkte sie.

»Mit etwas Farbe läßt sich das leicht ändern«, meinte Rainer. »Meinst du, daß du es schaffen wirst, nach der Pause das Konzert fortzusetzen?«

Bevor Susanne noch antworten konnte, klopfte es.

»Ja, bitte!« rief Rainer.

Der Dirigent trat ein. Er wirkte äußerst besorgt. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Frau Arendt?« fragte er.

Susanne schaute auf ihre Hände. Vorsichtig bewegte sie die Finger. Auch wenn sie jetzt wieder gut durchblutet wirkten, sie wußte, es war ein Risiko, sich wieder an den Flügel zu setzen. »Bitten Sie, daß man die Pause noch zehn Minuten verlängert«, bat sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Dann kann ich meine Hände noch etwas länger in heißes Wasser halten.«

»Was ist mit Ihren Händen?« Der Dirigent trat zu ihr.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Susanne dumpf. Sie hob die Schultern. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde den zweiten Teil des Konzerts schon durchstehen.«

»Gut. Ich werde mich um die Verlängerung der Pause kümmern.« Er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich.

»Bist du sicher, daß du es schaffen wirst?« Rainer legte die Hände auf ihre Schultern. »Besser, du brichst das Konzert ab, als daß du wieder versagst.«

Susanne zuckte heftig zusammen. »Ich habe nicht versagt«, widersprach sie und schob seine Hände beiseite. »So etwas kann jedem mal passieren. Womöglich habe ich meine Finger in letzter Zeit überanstrengt. Ich werde ihnen in Zukunft etwas mehr Ruhe gönnen.«

»Du hast keinen Grund, gekränkt zu sein, Liebling.« Rainer nahm sie trotz ihres Sträubens in die Arme. »Ich mache mir nur Sorgen um dich und ich möchte nicht, daß man glaubt, du könntest nicht mehr spielen.« Er strich ihr durch die Haare. »Ich möchte doch stolz auf dich sein. Verstehst du das nicht?«

»Doch, das verstehe ich.« Sie schmiegte sich an ihn. »Aber stell dir einmal vor, ich würde mir die Hände brechen und könnte keine Konzerte mehr geben, weil die Beweglichkeit meiner Finger gelitten hat. Wäre das für dich ein Grund, dich von mir abzuwenden?«

»Natürlich nicht!« Er hielt die junge Frau ein Stückchen von sich ab. »Wie kommst du nur auf so eine irrsinnige Idee? – Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe.« Impulsiv zog er seine Freundin an sich und küßte sie.

*

Es war kurz nach Mitternacht, als Dr. Baumann erwachte. Er brauchte ein paar Minuten, um sich zurechtzufinden. Durch die offene Balkontür drang der Schrei einer Eule. Eric stand auf, schlüpfte in seine Pantoffeln und trat nach draußen. Tief atmete er die reine, klare Nachtluft ein.

An die Balkonbrüstung gelehnt, schaute der Arzt über den See hinweg zu den Bergen. Früher war Eric gerne gewandert. Mit seiner Verlobten hatte er weite Touren durch die Umgebung gemacht. Manchmal hatten sie auch in einsam gelegenen Hütten übernachtet. Es war wundervoll gewesen, mit Lydia am Lagerfeuer zu sitzen und von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen.

Eric stieß heftig den Atem aus. Er mußte Lydia endlich vergessen. Was hatte es für einen Sinn, einer Frau nachzutrauern, die ihn wegen eines anderen im Stich gelassen hatte?

Sein Blick wanderte zum nachtdunklen Himmel hinauf. Gleich einer silbernen Scheibe stand der Mond hoch über dem See und spiegelte sich im Wasser.

Dr. Baumann beschloß, in die Küche hinunterzugehen, um sich ein Glas Milch warmzumachen. Er war sicher, nicht wieder einschlafen zu können. In den letzten achtundvierzig Stunden war einfach zuviel passiert. Es würde noch einige Zeit dauern, bis es ihm gelungen war, wieder ganz er selbst zu sein.

Rasch zog er sich einen Jogginganzug über den Pyjama und stieg leise die Treppe zum Erdgeschoß hinunter. Auf dem Weg zur Küche kam der Arzt an der Verbindungstür zur Praxis seines verstorbenen Vaters vorbei. Sie befand sich in einem Anbau, zu dem es vom Garten aus noch einen separaten Eingang gab. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb er stehen, dann wandte er sich abrupt nach rechts und durchquerte das Treppenhaus. Gleich darauf stand er in der Küche.

Eric öffnete den Kühlschrank, nahm die Milchflasche heraus und trug sie zusammen mit einem kleinen Topf zum Herd. Während er darauf wartete, daß die Milch warm wurde, dachte er daran, wie oft er als kleiner Bub der Küche und besonders der angrenzenden Speisekammer einen Besuch abgestattet hatte. Katharina war eine hervorragende Köchin. Besonders ihre Butterplätzchen hatten es ihm damals angetan gehabt.

Bestimmt waren Katharinas Butterplätzchen noch immer so gut wie damals! Der Arzt schaltete den Herd aus, stellte den Topf mit der Milch beiseite und öffnete die Tür zur Speisekammer. Als das Deckenlicht aufflammte, entdeckte er sofort das große Glas mit dem Gebäck. Er nahm sich einige Plätzchen heraus und aß sie im Stehen.

Die Milch war inzwischen soweit abgekühlt, daß Eric sie trinken konnte. Er hatte nicht vor, in die Praxis hinüberzugehen, aber gerade, als er sich an den Küchentisch setzen wollte, fiel ihm die Krankenakte von Anton Löbl ein. Bestimmt würde es den Kollegen im Krankenhaus helfen, wenn sie Einsicht in die Unterlagen von Franziskas Vater bekamen.

Es fiel dem Arzt nicht leicht, die Praxis zu betreten. Das Sprechzimmer seines Vaters lag am Ende eines langen Korridors, von dem Türen ins Labor, zu den Behandlungsräumen, Franziskas kleinem Büro und dem Wartezimmer abgingen. Als Kind war ihm die Praxis immer als eine Welt für sich erschienen, aber sie hatte ihn von Anfang an fasziniert. Schon mit zehn hatte sich Eric vorgenommen, eines Tages Arzt zu werden. Wann immer es möglich gewesen war, hatte er seinen Vater bei Hausbesuchen begleitet.

Beklommen öffnete Eric die Tür zum Sprechzimmer. Da es ihm wie ein Frevel erschien, das Deckenlicht einzuschalten, tastete er sich bis zur Schreibtischlampe vor. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, im aufflammenden Licht seinen Vater am Fenster stehen zu sehen, doch es war nur der Vorhang, der sich etwas bewegt hatte.

Der Arzt stellte sein Milchglas auf dem Schreibtisch ab und ging zu dem Schrank, in dem die Krankenakten aufbewahrt wurden. Schon nach wenigen Minuten hielt er die Akte von Anton Löbl in der Hand. Er trug sie zum Tisch und schlug sie auf. Im Stehen blätterte er sie durch.

»Warum setzt du dich nicht, Bub?« fragte Katharina Wittenberg von der Tür her.

Eric zuckte zusammen. »Du hast mich erschreckt«, meinte er. »Lustig siehst du mit deinem langen Morgenrock und den offenen Haaren aus.« Er grinste. »Außerdem bin ich schon lange nicht mehr Bub genannt worden.«

»Mit vierzig bist du auch aus dem Alter heraus, Eric.« Katharina schaute sich um. »Ich kann es auch noch nicht fassen, daß dein Vater niemals wiederkommen wird. Es ist alles noch so, wie er es verlassen hat.« Sie strich wehmütig über ein halbhohes Schränkchen, das seitlich der Tür stand.

»Sind viele seiner Patienten bei der Beerdigung gewesen?«

Die Haushälterin nickte. »Selbst auf der Straße standen die Leute, weil sie auf dem Friedhof keinen Platz gefunden haben.« Nachdenklich starrte sie auf den Schreibtischstuhl. »Bitte, Eric, setz dich. Dein Vater hat immer gewollt, daß du eines Tages seinen Platz einnimmst.«

»Mag sein, aber du weißt, weshalb ich nach Kenia gegangen bin.«

»Du solltest diese Frau endlich vergessen«, sagte Katharina. »Ich konnte nie verstehen, daß du ihretwegen deinen Oberarztposten im Krankenhaus aufgegeben hast und alle Brücken hinter dir abbrechen wolltest.« Sie ging um den Schreibtisch herum. »Denk an die Patienten deines Vaters. Sie werden dir dasselbe Vertrauen entgegenbringen wie ihm. Du bist wie er. Du setzt dich auch für deine Patienten bis zum Äußersten ein. Dein Vater war nie abgeneigt, auch einmal etwas Neues zu probieren, wenn er mit der Schulmedizin nicht mehr weitergekommen ist.«

Entschlossen trat sie an den Aktenschrank und zog die Unterlagen einer Bäuerin heraus. »Natürlich hat mir dein Vater keine Akteneinsicht gewährt, aber ich weiß von der alten Stina persönlich, daß sie wieder laufen kann, weil dein Vater sie mit alternativen Methoden behandelt hat. Aber diese Behandlung muß fortgesetzt werden, sonst ist alles umsonst gewesen.«

Eric schlug die Akte auf. Er sah sofort, daß es für die alte Stina nicht leicht sein würde, einen Arzt zu finden, der bereit war, die von seinem Vater begonnene Behandlung weiterzuführen.

»Du kannst nicht dein Leben lang auf der Flucht sein, Eric.« Katharina wies wieder auf den Schreibtischsessel. »Komm, setz dich endlich.«

»Also, wenn es denn sein muß.« Eric nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Überrascht stellte er fest, daß es gar nicht so unangenehm war, hier zu sitzen. Gut, sein Vater war erst am Vortag beerdigt worden, doch er selbst hatte ihn bereits als Kind hin und wieder auf diesen Stuhl gesetzt.

»So ist es gut«, meinte die Haushälterin zufrieden, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ebenfalls. Sie verzog das Gesicht. »Vermutlich steht es mir nicht zu, so mit dir zu sprechen.«

»Wenn nicht dir, wem sonst, Katharina?« fragte Eric. »Nach dem Tod meiner Mutter hast du alles getan, um mich wieder glücklich zu machen Denkst du noch manchmal daran, wie oft du meine Tränen getrocknet hast? Ich hatte einen guten Vater, aber seine Patienten haben ihn so in Anspruch genommen, daß für mich nicht sehr viel Zeit geblieben ist.« Versonnen wandte er seinen Blick dem Fenster zu. »Vielleicht habe ich deshalb unsere gemeinsamen Stunden auf dem See so genossen. Kein Patient weit und breit, nur Vater und ich.«

»Du hast ihm gefehlt, Eric.«

Der Arzt nickte. »Er mir auch.« Nachdenklich starrte er auf Stinas Krankenakte. »Mag sein, daß es ein Fehler gewesen ist, einfach wie ein kleiner Bub davonzulaufen. Ich hätte auch an meinen Vater denken müssen.« Er umklammerte Katharinas Hand. »Es tut mir so leid, daß ich ihn nicht wenigstens noch einmal habe sehen können. Wir hätten einander soviel zu sagen gehabt.«

»Glaub mir, er hat dich verstanden, Eric.« Katharina drückte ihm das Milchglas in die Hand. »Inzwischen dürfte die Milch wohl kalt geworden sein«, stellte sie fest.

»Das macht nichts.« Eric nahm einen Schluck. »Hast du in letzter Zeit mal wieder etwas von Lydia gehört?«

»Seit ihrer Heirat vor etwas über einem Jahr ist sie nicht ein einziges Mal mehr in Bad Wiessee gewesen. Das Haus steht leer. Wie es heißt, soll es sogar verkauft werden.«

Der Arzt blätterte erneut in Stinas Akte, dann stand er auf, trat an den Aktenschrank und nahm noch weitere Unterlagen heraus. Es berührte ihn zutiefst, die kleine, saubere Handschrift seines Vaters zu lesen.

»Bitte bleib, Eric«, bat die Haushälterin und stand ebenfalls auf. »Es geht mir nicht um mich. Ich habe mein Auskommen, dafür hat dein Vater gesorgt. Aber ich denke an all die Leute, die gestern von deinem Vater Abschied genommen haben. Sie verlassen sich darauf, daß du in seine Fußstapfen trittst.«

»Und wenn sie für mich zu groß sind?«

Katharina lachte leise auf. »Das sind sie nicht, Eric, das weiß ich.« Sie legte den Arm um ihn. »Du bist ein guter Arzt. Das Krankenhaus hat dich damals nur ungern ziehen lassen. Und außerdem warst du auch bei den Patienten beliebt.« Sie wies mit einer weitausholenden Bewegung durch das Zimmer. »Soll alles, was dein Vater aufgebaut hat, umsonst gewesen sein?«

Dr. Eric Baumann holte tief Luft. »Ich bleibe«, erwiderte er mit fester Stimme. Katharina Wittenberg hatte recht. Er durfte das Vertrauen all der Menschen, die nur darauf warteten, daß er das Werk seines Vaters fortsetzte, nicht enttäuschen. Zudem war er in Tegernsee geboren. Er gehörte hierher.

»Du ahnst nicht, wie glücklich du mich mit deinem Entschluß machst«, sagte Katharina und wischte sich verstohlen über die Augen, dann schlang sie impulsiv die Arme um ihn. Sie beschloß, gleich am nächsten Morgen in die Kirche zu gehen und eine Kerze anzuzünden. Wie hatte sie darum gebetet, daß Eric den Platz seines Vaters einnehmen würde. Nun war ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen. Im Doktorhaus würde es wieder einen Arzt geben.

*

Es war erst halb sechs, als Franziska Löbl erwachte. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen blieb sie noch ein paar Minuten liegen. Seit dem Unfall ihres Vaters war über eine Woche vergangen, trotzdem konnten ihr die Ärzte noch nicht sagen, ob er überleben würde. Angeschlossen an unzählige Apparate lag er teilnahmslos in einem separaten Zimmer auf der Intensivstation des Tegernseer Krankenhauses. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er spürte, daß sie bei ihm war, wenn sie an seinem Bett stand. Manchmal schlug er zwar die Augen auf, aber er schien durch sie hindurchzusehen.

Franziska wußte, daß ihr Vater sie liebte, auch wenn er es ihr selbst während ihrer Kindheit nur selten gezeigt hatte. Sie konnte nicht vergessen, wie er Tag und Nacht nach dem Autounfall, der ihre Mutter das Leben gekostet hatte, an ihrem Bett gesessen hatte, um ihr Geschichten zu erzählen und ihr vorzulesen. Es war ein gewaltiger Schock für ihren Vater gewesen, als sich herausgestellt hatte, daß sie nicht mehr sprechen konnte, doch er hatte alles getan, um aus ihr einen glücklichen Menschen zu machen.

Im Märchen gibt es Feen, die einfach erscheinen, wenn jemand in Not ist, und ihm die Erfüllung von drei Wünschen gewähren, dachte die junge Frau. Mir würde schon ein einziger Wunsch genügen. Alles, was ich mir wünsche, ist, daß Vater am Leben bleibt.

»Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Franziska«, hatte Dr. Baumann erst am Vortag zu ihr gesagt, als sie so verzweifelt gewesen war, daß sie ihren Tränen freien Lauf gelassen hatte. Aber es war so schwer, nicht den Mut zu verlieren, wenn man wußte, daß das Leben des eigenen Vaters an einem seidenen Faden hing.

Franziska stand auf und trat auf den kleinen Balkon hinaus. Ihr Vetter Paul war bereits mit einem der beiden Knechte dabei, den Stall auszumisten, und Lena, die Magd, kam mit den Milcheimern über den Hof.

Die junge Frau beschloß, ebenfalls aufzustehen. Sie mußte zwar erst um halb neun in der Praxis sein, aber einschlafen konnte sie jetzt ohnehin nicht mehr. Es ging ihr einfach zuviel im Kopf herum.

Als Franziska eine Viertelstunde später nach unten in die Küche kam, duftete es verführerisch nach Kaffee. Ihre Tante Magdalena stand am Herd und bereitete das Frühstück. »Nanu, was tust du denn schon auf?« fragte sie und fügte besorgt hinzu: »Sieht nicht aus, als hättest du viel geschlafen.«

Franziska hob die Schultern.

Magdalena Walkhofer schloß ihre Nichte in die Arme. »Du hilfst deinem Vater nicht, wenn du seinetwegen nicht zur Ruhe kommst«, meinte sie und sah die junge Frau liebevoll an. »Ich kenne doch meinen Bruder. Er ist ein zäher Bursche. Paß auf, er ist schneller wieder auf dem Hof, als wir alle glauben.«

Franziska holte ihren Block aus der Tasche. »Bist du wirklich davon überzeugt, Tante Magdalena?« schrieb sie.

Ihre Tante zögerte nur kurz, dann nickte sie. »Ja, das bin ich, Franziska. Den Anton schmeißt so leicht nichts um. Das war schon in unserer Kindheit so. Habe ich dir jemals erzählt, wie er einmal mitten im Winter in den Brunnen gestürzt ist? Neun oder zehn muß er damals gewesen sein. Keiner hat geglaubt, daß der Anton mit dem Leben davonkommen würde, nachdem man ihn endlich aus dem eiskalten Wasser gezogen hatte. Er lag über einen Monat im Koma, aber dann, von heut auf morgen, schlug er die Augen auf und verlangte sein Lieblingsgericht.«

»Echt mein Vater«, schrieb Franziska und ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht.

»Ja, echt dein Vater«, bestätigte Magdalena Walkhofer. »Aber gerade deshalb glaube ich, daß er es auch dieses Mal schaffen wird. Weißt du noch, wie er an seinem letzten Geburtstag gesagt hat, daß er mindestens hundert werden will?«

Ihre Nichte nickte.

»Er wird alles tun, um sein Versprechen zu halten. Verlaß dich darauf.«

»Worauf soll sich die Franziska verlassen?« fragte Paul Walkhofer von der Tür her. Er hatte seine Stallstiefel bereits ausgezogen und sich auch schon im Vorraum gewaschen. Jetzt trat er an den Herd und schenkte sich einen Becher Kaffee ein.

»Darauf, daß der Anton wieder gesund wird.«

Der junge Mann nickte. »Dein Vater ist zäh, Franziska«, bestätigte er. »Ich wünsche nur, wir wären am Freitag daheim gewesen. Vermutlich wäre es dann gar nicht zu diesem Unfall gekommen.« Erbittert starrte er auf seinen Kaffee. »Ich verstehe ohnehin nicht, weshalb er unbedingt an diesem Nachmittag eine Arbeit erledigen mußte, die auch noch am nächsten Tag Zeit gehabt hätte.«

»Ich kann dir sagen, weshalb er mit dem Traktor rausgefahren ist«, meinte seine Stiefmutter. »Seit dem Tod seiner Frau haßt es Anton, an Beerdigungen teilzunehmen. Die Arbeit auf dem Hang ist für ihn eine gute Ausrede gewesen, um sich vor der Beerdigung zu drücken.«

Franziska wußte, daß sie recht hatte. Ihr Vater hatte mit Grauen an die Beerdigung gedacht. Deshalb hatte sie sich auch nicht gewundert, daß er es vorgezogen hatte, an diesem Nachmittag zu arbeiten. »Ich muß nicht unbedingt auf den Friedhof gehen, um für den Doktor zu beten«, hatte er zu ihr gesagt und war mit dem Traktor vom Hof gefahren.

Magdalena Walkhofer drückte ihrer Nichte einen Stapel Teller in die Hände. »Deck schon immer den Tisch«, sagte sie. »Die anderen werden auch gleich zum Frühstück kommen.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als auch schon die beiden Knechte und die Magd in die Küche traten. »Hat schon einer im Krankenhaus angerufen?« fragte Lena.

»Nein«, erwiderte die Wirtschafterin. »Ich bin gestern extra gebeten worden, nicht vor acht Uhr anzurufen.«

Franziska verteilte die Teller auf dem Tisch, stellte die Kaffeebecher dazu und öffnete die Besteckschublade. Auch wenn sie sich damit abgefunden hatte, daß sie nicht sprechen konnte, es gab Tage, da belastete es sie mehr als an anderen. Wie gerne hätte sie an der Unterhaltung teilgenommen, hätte über ihre Ängste und Sorgen gesprochen. Es war schwer, sich nur mit Gesten und mittels eines Schreibblocks zu verständigen zu.

»Kannst du mich heute abend massieren?« fragte Paul, als sie nach dem Frühstück in ihr Zimmer hinaufgehen wollte, um ihre Handtasche und die Wagenschlüssel zu holen. »Meine Schultern schmerzen, als hätte ich gestern den ganzen Tag Zentnersäcke getragen.«

Die junge Frau nickte. »Fährst du heute wieder nach Dingolfing?« schrieb sie auf ihren Block.

»Ja, es ist besser, wenn ich dort selbst nach dem Rechten sehe«, meinte ihr Vetter. »Auch wenn zum Glück nur die Scheune abgebrannt ist und die Feuerwehr ein Übergreifen des Feuers auf das Haus verhindern konnte, meine Großeltern sind zu alt, um mit dem ganzen Behördenkram noch selbst fertigzuwerden. Vermutlich bin ich gegen fünf wieder zurück.«

»Es kommt immer alles zusammen.«

»Ja«, bestätigte Paul. »Trotzdem haben meine Großeltern noch Glück gehabt. Stell dir vor, daß Feuer wäre nicht rechtzeitig entdeckt worden. Sie hätten in ihren Betten verbrennen können.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich weiß, es ist nicht leicht für dich, Franziska, aber du solltest nie vergessen, daß du nicht alleine bist. Wir sind eine Familie. Keiner von uns würde den anderen jemals im Stich lassen. Du uns genauso wenig wie wir dich.« Er berührte wie absichtslos ihre Wange.

»Ich bin froh, daß ihr nach dem Tod meiner Mutter auf den Hof gekommen seid«, schrieb Franziska. Sie wußte, daß Paul sie liebte und daß ihr Vater ihn gerne als Schwiegersohn gehabt hätte, zumal der junge Mann nur ein angeheirateter Vetter war. Der verstorbene Mann ihrer Tante hatte den Jungen mit in die Ehe gebracht. Damals war Paul erst zwei Jahre alt gewesen. Aber alles, was sie für Paul empfinden konnte, war Sympathie.

»Ich auch«, sagte er. »Ich muß noch rasch telefonieren.« Er nickte ihr zu und ging in die Wohnstube hinüber.

Franziska eilte zu ihrem Zimmer hinauf. Der erste Patient hatte sich zwar erst für halb zehn angesagt, doch es gab genügend Schreibkram, den sie vorher noch erledigen mußte. Außerdem war sie gerne pünktlich. Wenn sie Glück hatte, konnte sie noch mit Dr. Baumann eine Tasse Kaffee trinken, bevor dessen Sprechstunde begann.

Die junge Frau war sich nicht bewußt, wie ihre Augen zu strahlen begannen, wenn sie an Eric Baumann dachte. Schon als Kind hatte sie sich in ihn verliebt und davon geträumt, mit ihm eines Tages vor dem Altar zu stehen. Dabei war Eric fünfzehn Jahre älter als sie, und nichts in seinem Verhalten hatte jemals darauf schließen lassen, daß er ihre Liebe erwiderte.

Franziska ging zu ihrem Wagen, den sie am Abend in der Scheune abgestellt hatte. Kaum hatte sie den Hof hinter sich gelassen, schaltete sie das Radio ein. Ein flüchtiges Lächeln huschte um ihre Lippen, als sie feststellte, daß ihr Lieblingsstück gespielt wurde. Der Bolero von Ravel. Die schwermütige Melodie paßte besonders an diesem Morgen zu ihrer Stimmung. Sie mußte wieder an ihren Vater denken und daran, wie hilflos er allem ausgeliefert war. Dabei haßte er nichts mehr, als nicht Herr seiner selbst zu sein.

Halt durch, Vater, dachte sie. Bitte, halt durch.

*

»Du hetzt einen ganz schön durch die Gegend, Franzl«, meinte Dr. Eric Baumann. Er nahm seinem Hund den Ball ab und warf ihn erneut einige Meter weit ins Gras hinein.

Wie ein Pfeil schoß Franzl davon, stoppte, suchte nach dem Ball, kläffte freudig auf, als er ihn gefunden hatte, und brachte ihn zurück. Erwartungsvoll, den Ball in der Schnauze, setzte er sich zu Füßen seines Herrn.

Eric schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt ist es genug, Franzl«, sagte er. »Wir haben über eine halbe Stunde miteinander herumgetobt. Höchste Zeit, daß wir nach Hause kommen. Katharina wird schon mit dem Frühstück auf uns warten.«

Franzl spuckte den Ball aus. Das Wort ›Frühstück‹ hatte auf ihn eine beinahe magische Wirkung. Ohne Erics Aufforderung abzuwarten, rannte er in Richtung Doktorhaus davon.

Und den Ball darf ich nehmen, dachte der Arzt resignierend. Er ergriff ihn mit zwei Fingern, putzte ihn im Gras ab und steckte ihn in die Tasche seiner Jogginghose, dann blickte er über den See hinweg nach Rottach-Egern. Es war eine Ewigkeit her, seit er zuletzt mit der Seilbahn auf den Wallberg hinaufgefahren war. Er überlegte, ob er nicht am nächsten Sonntag mal wieder einen Ausflug in die Umgebung machen sollte. Vielleicht würde ihn Katharina sogar begleiten.

Tief in Gedanken folgte er seinem Hund zum Doktorhaus. Das letzte Mal war er mit Lydia auf dem Wallberg gewesen. Damals hatte nichts darauf hingedeutet, daß sie ihn schon kurz darauf wegen eines anderen verlassen würde. Damals…

Eric riß sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, ständig an Lydia zu denken. Er mußte sie endlich vergessen, wenn er wieder am Tegernsee Fuß fassen wollte. Wenn er auf Schritt und Tritt Lydia vor sich sah, würde er hier niemals glücklich werden.

Franzl saß vor der Haustür und sah ihn vorwurfsvoll an. Eric wußte nur zu gut, was dieser Blick hieß. ›Wie kannst du mich so lange warten lassen, wenn es drinnen Frühstück gibt?‹

»Schon gut, Franzl, dein Futternapf läuft dir nicht davon«, meinte er und schloß die Haustür auf. Der Hund drängte sich an ihm vorbei und verschwand in der Küche.

»So etwas Verfressenes«, hörte der Arzt gleich darauf Katharina schimpfen. »Du wirst doch noch warten können, bis ich dir den Napf auf den Boden gestellt habe, Franzl.«

»Am besten, wir lassen ihn mit vom Tisch essen«, schlug Eric scherzhaft vor und warf einen Blick in die Küche. Franzl beachtete ihn nicht. Er steckte bis zu den Ohren in seinem Futternapf.

»Soweit kommt es noch«, meinte die Haushälterin. »In zehn Minuten gibt es Frühstück.«

»Ich werde pünktlich sein«, versprach Eric und eilte die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf.

Wochentags nahmen sie das Frühstück immer in der gemütlichen Küche des Doktorhauses ein. Die Haushälterin hatte Brötchen gebacken und ein Glas ihrer Erdbeerkonfitüre geöffnet. Die Morgenzeitung hatte sie auf die Eckbank neben Erics Platz gelegt. Aber Eric verzichtete darauf, schon jetzt einen Blick hineinzuwerfen, weil er wußte, daß Katharina sich beim Frühstück gerne mit ihm unterhielt.

»Hast du schon im Krankenhaus angerufen?« fragte sie, als sie ihm eine zweite Tasse Kaffee einschenkte.

»Ja.« Eric nickte. »Es hat sich nichts geändert. Antons Zustand ist noch immer instabil. Ich werde heute nachmittag ins Krankenhaus fahren, um nach ihm zu sehen.«

»Arme Franziska. Es wäre schrecklich, wenn sie jetzt auch noch ihren Vater verlieren würde. Du weißt, wie sehr sie an ihm hängt.« Katharina seufzte auf. »Hätte nicht der Brand auf dem Hof von Magdalenas Schwiegereltern gereicht? Nein, beim Traktor der Löbls muß sich auch noch die Handbremse lösen! – Wie sagt man so schön? Eines kommt zum anderen.«

»Steht inzwischen eigentlich fest, wodurch es zu diesem Brand gekommen ist?«

»Soviel ich weiß, noch nicht.« Katharina nahm sich ein zweites Brötchen. »Gott sei Dank ist nicht mehr passiert! Vermutlich werden die Walkhofers jetzt wohl endgültig aufgeben und den Hof verkaufen. So ein kleiner Hof rentiert sich ohnehin heutzutage kaum noch. Ich verstehe sehr gut, daß ihn der Paul nicht übernehmen will. Warum sollte er auch? Schließlich hat ihm der Anton versprochen, daß er eines Tages an ihn übergeben wird. Franziska hat ihren Beruf und keine Lust, den Hof ihres Vaters zu übernehmen. Sie wird sich ohnehin einmal mit einer eigenen Praxis selbständig machen.«

»Woher weißt du das?«

»Nun, dein Vater hat mit mir darüber gesprochen. Er wollte ihr sogar dabei helfen.«

»Franziska ist ein nettes Mädchen«, bemerkte Eric. »Ich habe sie immer gemocht. Außerdem bewundere ich sie. Es ist bestimmt nicht leicht für sie, sich trotz ihrer Behinderung überall durchzusetzen.«

»Nein, aber ihr Vater hat sie dazu erzogen, sich nicht unterkriegen zu lassen.« Katharina griff nach der Kaffeekanne. »Soll ich dir nachschenken?«

»Gern.« Eric hörte, wie ein Wagen vorfuhr. »Sieht aus, als würde Franziska schon kommen«, meinte er und stand auf, um die junge Frau hereinzulassen.

Auch Franzl hatte den Wagen gehört. Mit dem Kopf schob er die angelehnte Küchentür auf und rannte nach draußen. Laut begann er zu bellen.

»Ruhig, Franzl, ruhig.« Eric öffnete die Haustür. Sein Hund drängte sich an ihm vorbei und stürmte auf Franziska zu, die gerade ausgestiegen war. Er gab erst Ruhe, als ihn die junge Frau ausgiebig begrüßt hatte.

»Guten Morgen«, sagte Eric. »Möchtest du eine Tasse Kaffee?« Er schaute auf seine Uhr. »Katharina wird frischen aufbrühen und ihn die Praxis hinüberbringen. Wir sind gerade mit dem Frühstück fertig geworden. Oder möchtest du dich noch etwas in die Küche setzen? Tina ist auch noch nicht da.«

Damit hatte Franziska auch nicht gerechnet. Tina Martens, die Sprechstundenhilfe, die noch von Erics Vater eingestellt worden war, kam meistens erst zwei Minuten vor Arbeitsbeginn. Sie wies zur Küche.

»Fein, dann komm!« Der Arzt trat beiseite.

Katharina hatte bereits eine Tasse für Franziska auf den Tisch gestellt. »Möchtest du auch ein Brötchen?« fragte sie. »Ich habe sie erst heut morgen gebacken.«

Franziska hatte zwar keinen Hunger, doch sie wollte die Haushälterin nicht kränken, deshalb nickte sie. »Mein Vater?« schrieb sie auf ihren Block. »Wie geht es ihm?«

»Sein Zustand ist noch immer unverändert«, erwiderte Dr. Baumann. »Tut mir leid, Franziska.«

Sie senkte den Kopf und setzte sich an den Tisch. Geistesabwesend streichelte sie Franzl, der sich neben ihren Stuhl gelegt hatte.

»Es wird schon wieder werden«, meinte Katharina und schenkte Kaffee ein. »Wenn…« Sie wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen.

Eric stand auf und eilte ins Wohnzimmer hinüber. Der Apparat war an diesem Morgen noch nicht auf die Praxis umgestellt worden. »Baumann«, meldete er sich.

»Bitte kommen Sie gleich, Herr Doktor. Meine Frau ist im Hof gestürzt. Sie ist im achten Monat schwanger. Wir haben Angst, daß sie das Kind verliert.«

»Wer spricht denn da?« Eric griff nach einem Kugelschreiber.

»Werner Preiß vom Haselhof.«

»Wo ist Ihre Frau jetzt, Herr Preiß?« fragte Eric.

»Wir haben sie auf die Couch in der Wohnstube gelegt.«

»Gut. Sorgen Sie dafür, daß sie nicht aufsteht und auch keine heftigen Bewegungen macht. Ich bin so schnell ich kann bei Ihnen.« Eric legte auf und eilte in die Praxis hinüber, um seine Tasche zu holen. »Ich fahr zum Haselhof!« rief er Katharina und Franziska noch zu, bevor er das Haus verließ und zur Garage eilte.

*