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Schon zum zweiten Mal hilft die Gewerkschaftssekretärin Fanny Mendes Kommissar Süssli, einen Mord aufzuklären. Dank ihren guten Beziehungen zu ihren portugiesischen Gewerkschaftsaktivisten und in die portugiesische Community deckt Fanny nicht nur einen Mord auf, sondern auch die üblen Machenschaften der Pharmaindustrie in ihrem Heimatland. Die Ereignisse, wie sie im Roman dargestellt werden, haben sich tatsächlich so oder ähnlich ereignet, allerdings nicht in Portugal, sondern in Griechenland. Die Autorin Rita Schiavi hat fast ihr ganzes Berufsleben lang als Gewerkschaftssekretärin gearbeitet. Sie siedelt den Fall in einer Realität an, die sie sehr gut kennt. Natürlich sind alle handelnden Personen und Gegebenheiten erfunden, sie könnten sich aber durchaus so oder ähnlich zugetragen haben.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der aus dem Fenster stürzte
Fanny Mendes’ zweiter Fall
Rita Schiavi
o
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden
oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2025 – Herzsprung-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2025.
Die Ereignisse, die sich in diesem Buch in Portugal abspielen, haben sich tatsächlich so oder ähnlich in Griechenland ereignet.
Coverbild gestaltet von © Marina Bonnot-Schiavi
ISBN: 978-3-96074-867-0 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-868-7 - E-Book
Für Lea und Delio
*
Prolog
Freitag, 15. April
Samstag, 16. April
Sonntag, 17. April
Montag, 18. April
Dienstag, 19. April
Mittwoch, 20. April
Donnerstag, 21. April
Freitag, 22. April
Sonntag, 24. April
Montag, 25. April
Dienstag, 26. April
Donnerstag, 28. April
Samstag, 30. April
Sonntag, 1. Mai
Donnerstag, 5. Mai
9. Mai
10. Mai
11. Mai
14. Mai in Lissabon
15. Mai, Lausanne
19.-21. Mai in Portugal
22. Mai: Wahlsonntag in Portugal
23. Mai in Lissabon
24. Mai
25. Mai
26. Mai
27. Mai
29. Mai
30. Mai in Lissabon
31. Mai in Lausanne
1. Juni in Lausanne
3. Juni in Lausanne
5. Juni in Lausanne
Dienstag, 7. Juni in Lausanne
Mittwoch, 8. Juni in Lausanne
Donnerstag, 9. Juni in Lausanne
Samstag, 11. Juni in Lausanne
Sonntag, 12. Juni in Lausanne
Montag, 13. Juni in Lissabon
Mittwoch, 15. Juni in Lausanne
Freitag, 17. Juni in Lausanne
Montag, 20. Juni
Donnerstag, 23. Juni
Freitag, 24. Juni
Epilog
*
„Hallo, kannst du sprechen?“
„Warte einen Augenblick, ich gehe raus. So, jetzt geht es. Was willst du?“
„Meine Frau will zurück nach Portugal. Es gefällt ihr hier gar nicht. Und ich will weg von der Firma. Ich habe zwar ein schönes Büro im obersten Stock, aber eigentlich keinen Job. Niemand kann mir sagen, was ich eigentlich hier zu tun habe.“
„Du willst dich wieder nach Portugal versetzen lassen? Aber du wolltest doch weg, weil du Angst hattest, Angst, in Portugal verantwortlich gemacht zu werden, wenn die ganze Geschichte vor Gericht kommt!“
„Ich will nicht zurück in die Firma und auch nicht nach Portugal. Ich will fünf Millionen und dann schaue ich, was ich in Zukunft tun werde.“
„Fünf Millionen? Bist du verrückt? Woher soll ich die nehmen?“
„Das ist deine Sache. Aber wenn ich die ganze Geschichte auffliegen lasse, hängst du mit drin.“
„Das kannst du gar nicht. Du kannst nichts beweisen.“
„Oh, doch, das kann ich.“
„Mach keine Dummheiten, Manuel! Ich werde schauen, was ich machen kann. Ich bin nächste Woche eh in der Schweiz. Ich melde mich und wir besprechen dann alles in Ruhe. Bis dann.“
„Okay. Bis dann.“
*
Philipp, der Freund von Fanny Mendes, hatte im Oktober letzten Jahres eine Stelle in Bern angenommen. Zuerst pendelte Philipp jeden Tag von Lausanne nach Bern. Da Fanny bei der Gewerkschaft, wo sie als Rechtsberaterin und Gewerkschaftssekretärin arbeitete, sehr oft auch abends an Versammlungen teilnahm und bisher Philipp hauptsächlich für den Haushalt verantwortlich war, war dessen neuer Arbeitsort keine gute Lösung. Philipp kam abends meist erst gegen halb acht und müde nach Hause. Ruhige Nachtessen, die früher meist Philipp gekocht hatte, gab es unter der Woche nicht mehr. Beide verpflegten sich nur noch aus dem Kühlschrank, wenn sie denn überhaupt noch Hunger hatten. Philipp hatte die schlechte Gewohnheit angenommen, am Bahnhof vor der Heimfahrt eine Cola und ein Sandwich zu kaufen und im Zug zu verzehren.
Schon im Dezember hatte sich Philipp in Bern ein Zimmer bei einem Arbeitskollegen gemietet und blieb nun meistens die ganze Woche in Bern. Dafür versuchte er, am Freitagabend schon früh zu Hause zu sein. Freitag und Samstag waren denn auch die Tage, an denen Fanny und Philipp oft Freunde einluden oder selbst bei Freundinnen zum Nachtessen eingeladen waren.
So auch heute Abend. Sie waren bei Alex und Dino eingeladen, einem befreundeten Paar, das erst vor Kurzem zusammengezogen war. Alex hatte früher auch bei der Gewerkschaft gearbeitet und die Diskussionen mit ihm und seinem Freund Dino waren immer sehr angeregt. Fanny, die eine anstrengende Woche hinter sich hatte, hatte sich auf den Abend gefreut. Als Philipp sie aber um die Mittagszeit anrief, um ihr zu sagen, dass er in Bern bleiben würde, wollte sie die Einladung zunächst absagen. Fanny war wütend und beunruhigt. Philipp hatte als Grund nämlich angegeben, dass er um 18 Uhr eine Wohnung in Bern besichtigen könne.
„Was heißt das, wenn du in Bern eine Wohnung mietest?“, hatte Fanny gefragt. „Ziehst du dann ganz nach Bern?“
„Das weiß ich noch nicht, Fanny. Mal schauen, ob sie mir überhaupt gefällt und ob ich sie bekomme. Ich komme am Sonntag nach Lausanne. Dann können wir in Ruhe darüber reden.“
Für Fanny war klar: Wenn Philipp jetzt eine Wohnung in Bern nahm, würde er wohl bei ihr in Lausanne ausziehen und dann wäre wohl bald auch ihre Beziehung zu Ende. Sie hatte gleich Alex angerufen und das Nachtessen absagen wollen. Aber Alex bestand darauf, dass sie erst recht kommen solle.
Dino und Alex mussten Fanny beim Abendessen trösten. Sie gestand den Freunden, dass sie schon seit einiger Zeit spüre, dass sich die Beziehung zu Philipp verändert habe.
„Schau, Fanny, wenn eine Beziehung die örtliche Entfernung nicht aushält, dann wäre sie sowieso nicht für die Ewigkeit gewesen“, versuchte Dino, etwas altklug zu trösten.
Und Alex meinte: „Philipp engagiert sich zwar auch sozial und umweltpolitisch, aber er kommt aus einem gutbürgerlichen Haus und ist viel weniger links orientiert als du. Wahrscheinlich hat Dino recht, wenn er meint, dass eure Beziehung keine größere Belastung überdauert hätte.“
„Ja, zum Beispiel Kinder. Kinder sind eine große Belastung. Mit Kindern kann man keine Beziehung kitten, wie manche meinen.“ Diese Weisheit kam von Dino, der dann Fanny auch noch fragte, ob sie eigentlich Kinder wolle.
„Das weiß ich nicht. Mit Philipp habe ich auf jeden Fall nie über Kinder gesprochen.“
Die beiden Freunde erzählten Fanny dann, dass sie letztes Jahr eine ganz spezielle Familie kennengelernt hätten. „Zwei Frauen und zwei Männer, die alle zusammen in einem Haus wohnen. Die beiden Frauen waren zusammen und die beiden Männer. Sie hatten zwei fast gleichaltrige Kinder und die zweiten zwei waren unterwegs. Jetzt müssten sie eigentlich schon geboren sein“, sagte Alex. „Sie leben in Schweden und diesen Sommer wollen wir sie besuchen.“ Dino erzählte Fanny noch, dass es für ein gleichgeschlechtliches Paar wie sie, vor allem für zwei Männer, sehr schwierig sei, zu Kindern zu kommen. „Einige Paare behelfen sich mit Leihmüttern, die vor allem aus den USA kommen. Das können wir uns aber nicht vorstellen.“
Und Alex ergänzte: „So ein Modell, wie es diese Bekannten aus Schweden leben, wäre schon schön. Nur müssten wir dazu noch die beiden Frauen finden und wir müssten uns alle gut verstehen.“
Zum Glück kamen die drei dann noch auf die Politik zu sprechen, denn das Thema Kinder machte Fanny traurig, weil sie gerade das Ende ihrer Beziehung mit Philipp kommen sah.
Leider waren auch die politischen Aussichten, die sie erläuterten, nicht sehr rosig.
„Ich spüre immer mehr Fremdenfeindlichkeit bei meinen Schweizer Bekannten. Die Krise, die Portugal gerade durchmacht, wird von vielen so interpretiert, dass die Portugiesen halt selbst daran schuld seien. Sie hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Dabei haben die Leute keine Ahnung von den Verhältnissen in Portugal“, meinte Fanny. Sie war selbst als Doppelbürgerin in Lausanne aufgewachsen, aber ihre Eltern waren beide aus Portugal in die Schweiz gekommen. Sie hatten in der Schweiz sehr hart gearbeitet. Dank einer Schweizer Rente lebten sie jetzt in Portugal recht gut.
Fannys Vater hatte die letzten 20 Jahre vor seiner Pensionierung auch für die Gewerkschaft gearbeitet und seine Landsleute auch im portugiesischen Auslandsrat vertreten. Und auch jetzt noch setzte er sich in Portugal für die Arbeiterinnen und Arbeiter ein und war politisch sehr aktiv.
„Wie geht es eigentlich deinen Eltern?“, wollte Alex wissen, der auch ein paar Jahre mit Fannys Vater zusammengearbeitet hatte.
„Gut, sie kommen am Sonntag in die Schweiz. Und natürlich hat mein Vater schon eine Versammlung des Portugiesen Vereins organisiert und wird am Dienstag über die Situation in Portugal informieren. Ich bin froh, dass er noch so aktiv ist. Das tut ihm gut.“
Gerade als Fanny aufbrechen wollte, klingelte ihr Telefon. Schnell verabschiedete sie sich von den Freunden und trat vor die Tür, um den Anruf entgegenzunehmen.
Maria Fernandez eilte durch den Gang zur Tür, die ins Treppenhaus führte. Die beiden Männer hatten auf der anderen Seite den Fahrstuhl genommen. Marias Herz klopfte laut. Sie schwitzte. Sie eilte die Treppen hinunter bis in die Tiefgarage und durch die Tiefgarage ins Freie. Diesen Weg nahm sie immer, wenn sie schon ausgestempelt hatte, sich aber noch länger in der Firma aufhielt.
Heute hatte sie zwei Schichten gearbeitet, die eigene und eine für ihre Kollegin Matilda, die sich nicht wohlgefühlt hatte. Das war eigentlich verboten, aber viele machten das. Hätte sich Matilda krankgemeldet, hätte sie dafür keinen Lohn bekommen. Das war zwar nicht korrekt, die Firma müsste den Krankenlohn ab dem ersten Tag bezahlen, aber Recht haben und Recht bekommen, das wussten die Reinigerinnen, war nicht dasselbe. Wer sich wehrte, wurde entlassen. Deshalb halfen sich die Frauen gegenseitig und machten Doppelschichten. Mit der Stempelkarte der kranken Kollegin war es ganz einfach.
Die Reinigung im fünften Stock hätte eigentlich Matilda machen müssen. Maria war ganz durcheinander, denn sie hatte die beiden Männer gesehen, die aus dem Büro gestürmt waren, sie hatte auch den Lärm gehört und am schlimmsten war, dass die Männer auch sie gesehen hatten. Den Blick, den ihr der eine der beiden Männer zugeworfen hatte, würde sie nie vergessen. Er war einerseits panisch, aber auch hasserfüllt gewesen.
Als Maria aus der Tiefgarage hinaus auf die Straße trat, sah sie, dass einige Leute sich versammelt hatten. Jemand sprach am Handy. Maria hörte die Sirene des Krankenwagens. Etwas oder jemand lag auf der Straße. An der Haltestelle, wo sie auf ihren Bus wartete, sprachen zwei Männer aufgeregt miteinander: „Er ist sicher tot. Jemand, der noch dort auf die Polizei wartet, hat gesehen, wie er aus dem fünften Stock gefallen ist.“
Maria versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben, bis sie zu Hause war. Dann überkam sie ein Weinkrampf und sie zitterte vor Angst. Sie musste zuerst ein Glas Wasser trinken. Dann erzählte sie ihrem Mann, was sie erlebt hatte: „Ich war im fünften Stock in der Chef-Etage am Putzen. Da hörte ich im Büro nebenan Lärm. Mehrere Männer schienen zu streiten. Plötzlich hörte ich einen Schrei, der mir durch Mark und Bein ging. Und dann war alles still. Als ich das Büro verließ, sah ich zwei Männer, die aus dem Büro kamen. Sie haben mich auch gesehen. Und als ich unten auf der Straße war, da sah ich, dass ein Toter auf der Straße lag. Er muss offensichtlich aus dem Büro im fünften Stock gefallen sein.“
Marias Mann versuchte, seine Frau zu beruhigen, und riet ihr: „Ruf Fanny an, die Gewerkschaftssekretärin. Du musst ihr das erzählen. Sie soll dir raten, was du machen sollst.“ Marias Mann, der als Bauarbeiter arbeitete und Gewerkschaftsmitglied war, gab seiner Frau Fannys Nummer.
Es war schon 22 Uhr abends, als zwei Polizisten bei Luisa Oliveira Martins an der Wohnungstür klingelten. Luisa wohnte mit ihrem Mann Manuel Martins in einem vornehmen Vorort von Lausanne in einer neuen Eigentumswohnung mit Blick auf den See. Obwohl sie sehr schön wohnte, war Luisa nicht glücklich in der Schweiz, wo sie seit zwei Jahren lebte. Sie konnte kein Französisch und nur sehr wenig Englisch. Bis auf einen Bekannten ihres Bruders kannte sie niemanden hier. Auch Manuel brachte nie Bekannte nach Hause. Nicht einmal ihren Schwiegervater hatte sie bisher kennengelernt. Luisa wusste nur, dass Manuels Mutter schon gestorben war und dass der Vater in der Schweiz wohnte und Rentner war. Manuel hatte kein gutes Verhältnis zu ihm. Es irritierte Luisa, dass er seinen Vater nie einladen oder besuchen wollte. Nur ab und zu telefonierte er mit ihm. Er hatte Luisa weder erzählt, warum er seinen Vater nicht sehen wollte, noch was sein Vater in der Schweiz gearbeitet hatte. Luisa wusste nur, dass Manuel das einzige Kind seiner Eltern war und sein Vater auch einige Zeit in derselben Firma wie Manuel gearbeitet hatte. Luisa war immer davon ausgegangen, dass der Vater Chemiker war, aber Genaueres hatte ihr Manuel nicht erzählt.
Bevor Luisa den Türöffner drückte, sah sie, dass unten zwei Uniformierte vor der Haustüre standen.
„Guten Abend. Sind sie Frau Martins?“, fragte der ältere der beiden Polizisten, als er vor der Wohnungstüre stand.
„Luisa Oliveira Martins“, sagte Luisa. Die Frage, welche die Polizisten auf Französisch gestellt hatten, hatte Luisa gerade noch verstanden.
„Wir müssen Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen, Frau Martins. Ihr Mann hatte einen Unfall und ist tot.“
Luisa schüttelte den Kopf und sagte auf Englisch: „I not understand french. Speak english?“
Nun schüttelte der Polizist seinerseits den Kopf und antwortete: „Capisce Italiano?“
„Un poco“, gab Luisa zurück.
In nicht sehr gutem Italienisch versuchte nun einer der beiden Polizisten der Frau verständlich zu machen, dass sie gerne hereinkommen würden. Im Eingang standen Koffer und Taschen herum. Der Polizist fragte in seinem rudimentären Italienisch, ob sie verreisen wolle. Aber die Frau gab keine Antwort. Sie bat sie ins Wohnzimmer und holte zwei Gläser und Wasser. Dann versuchte der Polizist nochmals, der Frau zu erklären, dass ihr Mann tot sei. Da Luisa keine besonderen Regungen zeigte, glaubte der Polizist, dass sie ihn wohl nicht verstanden habe.
„Wir rufen wohl besser Inspektor Süssli an. Er soll eine Übersetzung organisieren“, sagte der ältere zum jüngeren Beamten.
„Ich rufe ihn an“, gab der jüngere zurück und zückte sein Handy.
Als Fanny im Flur von Dino und Alex stand und auf ihr Handy schaute, sah sie, dass Pedro Fernandez anrief. Pedro war ein Vertrauensmann der Gewerkschaft, ein Portugiese, der immer an den Versammlungen teilnahm und Fanny schon viele gute Hinweise auf Unregelmäßigkeiten gegeben hatte. Wenn Pedro um diese Zeit an einem Freitagabend anrief, musste es etwas Wichtiges sein.
„Hallo Pedro, wie gehts?“
„Hallo Fanny, ich bin Maria, Pedros Frau. Pedro hat mir gesagt, ich solle dich anrufen.“
Fanny hörte, dass Pedros Frau unsicher und ängstlich wirkte. „Hallo Maria. Ist etwas passiert?“, fragte Fanny zurück.
„Ja, weißt du, ich putze abends immer die Büros bei der Pharmanova. Heute Abend habe ich in dem Büro neben demjenigen, das ich gerade putzte, einen Streit gehört, und als ich aus dem Büro trat, kamen gerade zwei Männer aus diesem Büro. Ich habe sie gesehen und einer hat auch mich gesehen. Als ich nachher auf der Straße war, sah ich, dass ein Toter auf dem Trottoir lag und die Leute an der Bushaltestelle sagten, er sei aus dem fünften Stock gefallen. Ich glaube, es war kein Unfall. Ich habe gehört, wie im Büro nebenan gestritten wurde, und ich habe auch einen Schrei gehört. Nun habe ich Angst, dass ich den Mörder gesehen haben könnte. Und er hat mich gesehen. Was soll ich jetzt machen?“
Fanny beruhigte Maria. „Du musst im Moment nichts machen. Ich rufe den Kriminalinspektor an, den ich kenne. Morgen rufe ich dich dann wieder an. Wahrscheinlich musst du eine Aussage machen. Ich begleite dich dann.“
Maria sagte, sie würde auf jeden Fall morgen zu Hause bleiben und auf Fannys Anruf warten.
Noch bevor sich Fanny auf den Heimweg machte, rief sie Thierry Süssli an. Thierry hatte sie letztes Jahr kennengelernt. Er war ein Studienfreund ihres Freundes Philipp und seit einem Jahr Inspektor bei der Kriminalpolizei. Fanny hatte letztes Jahr Thierry Süssli geholfen, einen Fall zu lösen.
„Guten Abend, Fanny. Gut, dass du gerade anrufst!“
„Tut mir leid, dass ich noch so spät störe“, entschuldigte sich Fanny. „Hast du schon von einem Toten gehört, der aus dem Verwaltungsgebäude der Pharmanova gestürzt sein soll?“, fragte Fanny.
„Ja, und ich bin gerade auf dem Weg zur Witwe und brauche eine portugiesische Übersetzerin. Ich hätte dich auch gleich angerufen, denn um diese Zeit nimmt der Übersetzungsdienst das Telefon nicht ab. Kannst du mitkommen?“ Thierry verabredete sich mit Fanny in der Nähe des Bahnhofs, wo er sie mit dem Auto abholen würde.
Die beiden Polizisten blieben noch bei Luisa, bis Süssli und Fanny eintrafen, dann verabschiedeten sie sich. Fanny sprach Luisa, die aufgestanden war, sogleich auf Portugiesisch an: „Luisa, haben Sie verstanden, warum die beiden Polizisten hier waren?“, fragte Fanny die Frau, die etwas nervös wirkte, aber nicht so, als wenn sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes schon erhalten hätte.
„Ich verstehe und spreche leider kein Französisch“, sagte Luisa. „Ich habe nur verstanden, dass etwas mit meinem Mann ist. Wurde er verhaftet?“
Fanny stellte zuerst Thierry Süssli vor und sagte, sie sei Anwältin und als Übersetzerin hier. „Ihr Mann, Luisa, ist tot. Er ist aus dem fünften Stock des Bürogebäudes der Pharmanova gestürzt. Wir wissen noch nicht, ob es Selbstmord oder ein Unfall war.“
Luisa war eine zierliche Frau mit rotblonden Haaren und hellen grünen Augen. Fanny vermutete, dass sie noch nicht so lange zu Hause war, denn sie war sportlich elegant gekleidet und geschminkt. Obwohl sie hellhäutig war, sah man, dass sie bleich wurde. Fanny hatte das Gefühl, sie stützen zu müssen, und begleitete sie zu einem Stuhl am Tisch des Wohnzimmers, das zweiteilig war. Ein Cheminée teilte den Essbereich von einem geräumigen Wohnzimmer mit großem Balkonfenster und Blick auf den Genfersee.
Der ganze Wohnraum war mindestens 40 Quadratmeter groß. Es handelte sich um eine luxuriöse, teure Wohnung. Die zierliche Luisa wirkte darin fast etwas verloren.
„Arbeitete Ihr Mann bei der Pharmanova?“, fragte nun Kommissar Süssli und Fanny übersetzte.
„Ja, er arbeitete in der Direktion. Früher war er Leiter des Verkaufs in der portugiesischen Filiale der Pharmafirma. Vor etwas mehr als einem Jahr ist Manuel in die Schweiz zurückversetzt worden.“
Kommissar Süssli, der die Koffer und Taschen im Eingangsbereich gesehen hatte, fragte nun, ob sie verreisen wolle.
„Ich wollte morgen nach Portugal fahren“, sagte Luisa. „Mein Mann nicht, er muss ja arbeiten.“ Noch immer hatte die Frau weder Tränen verloren noch besondere Emotionen gezeigt.
Aber Süssli wusste, dass Hinterbliebene ganz unterschiedlich reagierten, wenn sie die plötzliche Nachricht eines Todes bekamen. „Sie werden morgen nicht verreisen können. Sie müssen Ihren Mann identifizieren und dann wohl auch ein paar administrative Angelegenheiten erledigen. Wollten Sie morgen fliegen?“, wollte Süssli wissen.
„Nein, mein Bruder holt mich mit dem Auto. Aber natürlich werde ich jetzt nicht gleich nach Portugal gehen können“, sagte Luisa etwas zögerlich.
„Wollten Sie ihren Mann verlassen?“, fragte Fanny, ohne dass dies eine Frage war, die Süssli gestellt hatte.
„Eh ... nein, ich wollte nur ein paar Wochen nach Hause gehen, weil ich mich hier in der Schweiz nicht sehr wohlfühle.“
Die Antwort überzeugte Fanny nicht. Thierry bat Fanny, der Frau zu sagen, dass sie morgen um 9 Uhr aufs Präsidium kommen solle. Sie solle den Toten identifizieren und ein paar Fragen beantworten.
Fanny fragte Luisa dann noch, ob sie sie allein lassen könnten oder ob sie psychologische Hilfe organisieren sollten?
„Nein, nein, es geht schon. Ich werde ein Beruhigungsmittel nehmen.“ Luisa wirkte sehr gefasst, sodass Fanny und Süssli sich verabschiedeten und Luisa allein in ihrer großen Wohnung zurückließen.
Auf dem Weg nach Hause in Süsslis Auto erzählte Fanny dem Kommissar, was sie von Maria Fernandez, der Reinigungsangestellten, erfahren hatte. Sie bat Süssli, einen Mord in Betracht zu ziehen und allfällige Spuren zu sichern.
„Das habe ich schon angeordnet“, antwortete der Kommissar. Und dann bat er Fanny, die auch am Gericht akkreditierte Übersetzerin für Portugiesisch war, am nächsten Morgen als Übersetzerin ins Kommissariat zu kommen. Sie sollte zudem Maria bitten, um 10 Uhr zu kommen und ihre Aussage zu machen.
Nachdem Fanny und der Kommissar die Wohnung verlassen hatten, öffnete Luisa die Tür zum Gästezimmer: „Nuno, du kannst jetzt rauskommen. Die Kommissare sind weg“, sagte sie zu ihrem Bruder. „Ich kann morgen nicht nach Portugal mitkommen. Ich muss wohl noch ein paar Tage hierbleiben“, sagte Luisa zu ihrem Bruder, der mit dem Auto gekommen war, um sie abzuholen.
Nuno Oliveria, der hinter der Tür alles mitbekommen hatte, fragte seine Schwester, warum sie den Kommissaren nicht gesagt habe, dass sie ihren Mann verlassen und definitiv nach Portugal zurückkehren wollte. „Das wäre doch ein Motiv für einen Selbstmord“, meinte Nuno.
Luisa wusste selbst nicht, warum sie die Frage von Fanny verneint hatte. Dann bat Luisa ihren Bruder, noch heute Nacht die Rückreise nach Portugal anzutreten.