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Normans Leben ist geprägt von Langeweile, Einsamkeit und der nagenden Frage, was aus seinem Bruder Marc geworden ist, der vor zwölf Jahren spurlos verschwand. Doch als die rätselhafte Miriam in sein Leben tritt, reißt sie ihn aus seinem drögen Alltag und stürzt ihn in ein unvorhersehbares Abenteuer. Was als verlockende Ablenkung beginnt, entwickelt sich schnell zu einem gefährlichen Spiel, das alles auf den Kopf stellt. Zerrissen zwischen der Versuchung, weiter in diese aufregende und riskante Welt einzutauchen, und der lähmenden Angst, alles zu verlieren, bleibt Norman keine Zeit zur Entscheidung – denn schon bald wird ihm die Wahl brutal entrissen. Und die Wahrheit, die ihn erwartet, könnte alles verändern, was er je zu wissen glaubte. Ein fesselnder Thriller über Sehnsucht, Mut und die brüchigen Grenzen unserer Realität.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
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Epilog
Impressum
Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fensterscheiben von Marcs chaotischem Apartment. Die Uhr zeigte 3:22 Uhr und die einzige Lichtquelle im Raum war das flackernde Leuchten seines Computerbildschirms. Marc, mit zerzaustem Haar und dunklen Ringen unter den Augen, starrte immer noch wie versteinert auf die Entdeckung, die er gerade gemacht hatte. Was er vor sich sah, sprengte seine Vorstellungskraft. Konnte das wirklich sein? Oder hatte er mittlerweile so sehr den Bezug zur Wirklichkeit verloren, dass er zwischen Traum und Realität nicht mehr unterscheiden konnte?
Er musste mit jemandem darüber reden. Jemandem, der verstand, worum es hier ging. Norman! Mit seinem Bruder hatte er länger nicht mehr gesprochen, aber er war genau der Richtige. Mit seinem analytischen Verstand und Computer-Know-how konnte er ihm bestimmt sagen, ob es stimmte, was er vor sich sah. Wenn es so war, stellte es alles in Frage, was er je gekannt hatte.
Alles hatte vor einer Woche begonnen. Er war mal wieder in Amsterdam, bei dem Drogendealer seines Vertrauens. Dieser hatte ihm eine neue Art von Pilzen verkauft, angeblich die stärksten, die jemals gezüchtet wurden. Gleich nach seiner Rückkehr hatte er es sich zu Hause auf seiner Couch bequem gemacht und die Pilze zu einem Tee aufgebrüht. Er startete einen Musikstream mit minimalistischer Technomusik und fragte sich vorfreudig, welche verrückten Bilder oder Gedanken er diesmal auf seinem Trip erleben würde. Doch was er kurze Zeit später wahrnahm, was er spürte und sah, waren keine fliegenden Elefanten und leuchtenden Regenbögen. Stattdessen durchströmte ihn eine Erkenntnis, als hätte jemand den Vorhang hinter der Bühne der Welt angehoben und ihm einen Blick dahinter gewährt. Er war überzeugt davon, dass es nicht bloß die Wirkung der Drogen in seinem Kreislauf war; diese hatten ihm höchstens die Richtung gezeigt. Die Visionen und Gedanken, die ihm in diesem Rauschzustand begegnet waren, hatten ihn auf eine Spur gebracht, die er nicht ignorieren konnte. Wie ein Splitter, der sich in seinem Verstand festgesetzt hatte, trieb ihn diese Erfahrung an, nach der Wahrheit zu suchen. In den Untiefen des Internets, in privaten Chatrooms, in psychologischen Archiven – überall suchte er nach Erklärungen oder zumindest nach weiteren Menschen, die eine ähnliche Erfahrung gemacht hatten. Bis er heute auf eine Datei stieß, die es ihm offenbarte.
Marc suchte mit einer Hand hastig nach seinem Telefon, ohne die Augen vom Bildschirm zu lösen. Er musste mit seinem Bruder sprechen. Jetzt.
Norman, der bodenständige Programmierer, war der einzige, dem er sich anvertrauen konnte, der ihm helfen würde, das Ganze zu verstehen. Er fand es schließlich und wählte Normans Nummer aus dem Adressbuch.
Doch plötzlich durchzuckte ein seltsames Gefühl seinen Körper. Ein kaltes Kribbeln breitete sich aus, und er spürte, wie seine Glieder schwer und taub wurden. Seine Bewegungen wurden immer langsamer; es war, als würde er sich durch immer festeren Treibsand kämpfen. Schließlich kam jegliche Bewegung zum Stillstand. Panik überkam ihn, als er realisierte, dass er völlig gelähmt war. Er konnte noch hören, wie eine Mailbox-Ansage aus seinem Handylautsprecher klang; anscheinend war Normans Telefon ausgeschaltet. Marc wollte etwas sagen, doch seine Zunge und seine Lippen verweigerten jeglichen Gehorsam. Er wollte schreien, doch selbst das war ihm unmöglich.
Auf einmal nahm er wahr, wie die Tür zu seiner Wohnung leise geöffnet wurde. Schattenhafte Gestalten traten in den Raum, ihre Gesichter blieben im Dunkeln verborgen. Ihre Bewegungen waren präzise und routiniert. Einer der Männer beugte sich über ihn, seine kalten Augen musterten Marc, während er mit einer Taschenlampe in sein Gesicht leuchtete. Ein anderer begann, seinen Laptop zu inspizieren, während ein Dritter das Mobiltelefon an sich nahm und den Schreibtisch nach Aufzeichnungen durchwühlte.
Marc konnte nur zusehen, unfähig, einen Laut von sich zu geben oder sich zu bewegen. Sein Herz raste, während die Eindringlinge methodisch alles durchsuchten. Er spürte nun zusätzlich, wie sich ein Schleier über seine Wahrnehmung legte. Sein Blickfeld verengte sich, bis nur noch Dunkelheit übrig blieb.
Sein letzter Gedanke, bevor er vollständig das Bewusstsein verlor, galt seinem Bruder. Würde Norman jemals darauf stoßen? Würde er die Wahrheit herausfinden? Würde er verstehen, was Marc entdeckt hatte? Und vor allem, wäre er in der Lage, das Unfassbare aufzuhalten?
Der Regen draußen wurde stärker, als die Männer in der Dunkelheit der Nacht verschwanden. Von Marc und seiner unglaublichen Entdeckung blieb keine Spur, als ob sie nie existiert hätten.
Gelangweilt auf der Couch sitzen, zu mehr konnte sich Norman nicht aufraffen. Draußen war es Spätherbst, die Bäume standen fast kahl da und gegen fünf Uhr nachmittags war es bereits so dunkel, dass man das Gefühl hatte, ins Bett gehen zu müssen. Er betrachtete sein Spiegelbild im Fenster. Die Falten um seine Augen erzählten Geschichten von 42 Jahren, in denen sich Träume und Realität oft nicht einig waren. Er fuhr sich durch das Haar und dachte an Klara, seine 12-jährige Tochter, die ihn immer wieder zum Lächeln brachte, trotz der Trennung von ihrer Mutter. Als Programmierer in einem Softwareunternehmen verdiente er gut und hatte einen sicheren Job. Doch diese scheinbare Stabilität füllte ihn nicht aus. Oft fragte er sich: Sollte das wirklich schon alles gewesen sein? Ein abendliches Bier vor Netflix, sporadische Treffen mit Freunden oder ein Besuch im Fußballstadion – war das wirklich das Leben, das er sich vorgestellt hatte? Er sehnte sich nach mehr, nach einem Ziel, das ihm das Gefühl gab, lebendig zu sein.
Computerspiele zogen ihn zeitweise in andere Welten und lenkten ihn von seinem drögen Leben ab. Doch abends, beim Zähneputzen, fragte er sich immer wieder: War es das schon? Klar, ihm ging es grundsätzlich gut. Er war gesund, hatte keine Schulden, eine großartige Tochter und das Verhältnis zu seiner Exfrau funktionierte. Er hatte die Versuche, sie zurückzugewinnen, inzwischen aufgegeben und sich stattdessen darauf konzentriert, die regelmäßigen Wiedersehen aufgrund der gemeinsamen Tochter zu genießen.
Seine Exfrau Anna hatte einen neuen Freund, doch sie hielt ihn geschickt aus Normans Blickfeld heraus. Sie war stets darauf bedacht, Konflikte zu vermeiden, wohl wissend, dass Norman noch immer mit den Nachwehen ihrer Trennung kämpfte. Ihre Rücksichtnahme war bittersüß, ein ständiger Hinweis auf das, was sie einst geteilt hatten und nun verloren war.
Rückblickend schien es ihm ganz offensichtlich, dass es so kommen musste. Als er Anna im Studium kennenlernte, konnte er durch die anfängliche Verliebtheit und Harmonie ihrer Beziehung seine inneren Geister eine Zeit lang zum Verstummen bringen. Doch im Laufe der Jahre, in denen auch beim innigsten Liebespaar einmal der Alltag Einzug hielt, tauchten seine Dämonen wieder auf. Neben seiner allgemeinen Enttäuschung vom Leben waren es vor allem die nicht verarbeiteten Schuldgefühle wegen des plötzlichen Verschwindens seines Bruders vor 12 Jahren.
Marc war vier Jahre jünger als Norman und im Gegensatz zu diesem immer ein künstlerischer Freigeist gewesen. Er kam schon früh mit Drogen in Kontakt und ist aufgrund seiner Probleme mit Autorität von der Schule geflogen. Mit Gelegenheitsjobs, wie Barkeeper oder Fahrradkurier, balancierte er sich durchs Leben, während er nachts das Partyleben durchstreifte oder in Kommunen alternative Lebensweisen ausprobierte. Norman, der immer sehr bodenständig war und aufgrund seines analytischen Verstandes ein guter Programmierer wurde, hatte immer eine große Verantwortung für seinen kleinen Bruder gespürt. So kam es dann, dass er ihn zwischenzeitlich bei sich aufgenommen hatte, als seine Eltern Marc infolge einer seiner vielen Drogeneskapaden zu Hause rausgeworfen hatten. Er hatte oft versucht, ihn zu überreden, doch noch das Abitur nachzuholen oder wenigstens einen Entzug zu probieren, doch vergeblich. Vor 12 Jahren war er es gewesen, der die Polizei alarmierte, als er über Wochen erfolglos versucht hatte, seinen Bruder zu erreichen. Auch Marcs engste Freunde hatten plötzlich nichts mehr von ihm gehört. Die Polizei war jedoch alles andere als hilfreich. Wegen mehrerer Drogendelikte hatten sie bereits eine Akte über Marc und aus genau dieser Perspektive bewerteten sie auch sein Verschwinden. Als sie nach einer halbherzigen Vermisstenanzeige und anschließender Befragung von Marcs Bekannten keine Spur zu ihm fanden, vertraten sie schließlich die These, dass er sich irgendwo, wo ihn niemand fand, einen goldenen Schuss gesetzt hatte, also an einer Überdosis gestorben war. Ob versehentlich oder als Selbstmord, sei dahingestellt. Ein weiterer Drogentoter halt, wer braucht da schon eine Leiche, wenn der Vermisste ins Profil passte? Als nach einem frustrierend langen, bürokratischen Prozess schließlich Marcs Wohnung von der Polizei geöffnet wurde, hatte Norman die Beamten begleitet. Das Apartment sah, wie bei Marc üblich, völlig chaotisch aus. Überall lagen alte Bücher, Aschenbecher mit Zigaretten und sogar verdorbene Essensreste. Obwohl sein Laptop fehlte, hatte es ansonsten nicht den Eindruck gemacht, als wäre Marc verreist. Da die Polizei in der Wohnung auch Reste von psychedelischen Drogen und Marihuana gefunden hatte, fühlten sie sich in ihrer Goldenen-Schuss-Theorie bestärkt. Doch Norman konnte und vor allem wollte er das nicht glauben, obwohl selbst seine Eltern diese Story relativ widerspruchslos anzunehmen schienen.
Doch neben Normans emotionaler Weigerung, die Sichtweise der Polizei zu akzeptieren, gab es zumindest aus seiner Sicht auch handfeste Indizien, die gegen den Tod durch eine Überdosis sprachen. Erstens hatte Marc nie etwas mit harten Drogen wie Heroin oder Crystal Meth zu tun. Er rauchte Joints und experimentierte mit Magic Mushrooms oder LSD. Keine Drogen, die typischerweise bei Überdosierung zum Tod führen. Außerdem hatte sein Bruder kurz vor seinem Verschwinden noch regen Kontakt zu einigen seiner Bekannten, wenn auch nicht zu Norman selbst. Marc hatte seinen Freunden mitgeteilt, er wäre einer spektakulären Sache auf der Spur und würde ihnen etwas Unglaubliches mitteilen, sobald er mehr Informationen hatte. So verhielt sich aus Normans Sicht niemand, der vorhatte, sein Leben zu beenden. Die Polizei interessierten diese Ungereimtheiten jedoch nicht. Die Hilflosigkeit und Schuldgefühle stürzten Norman damals regelrecht in eine Depression. Marc hatte es zwar nie groß beeindruckt, wenn Norman versucht hatte, ihn zu erziehen oder auf ihn aufzupassen, aber für Norman war sein Verantwortungsbewusstsein und vor allem seine Liebe zu seinem kleinen Bruder immer fester Bestandteil seiner Persönlichkeit. Deswegen konnte er nie aufhören, sich für das Verschwinden seines Bruders Vorwürfe zu machen.
Genau diese plagenden Geister waren es schließlich, die der Beziehung mit Anna den Garaus gemacht hatten. Natürlich war die Trennung auch für sie schwierig gewesen. Sie hatten sich geliebt und eine gemeinsame Geschichte geteilt. Doch nach Jahren, in denen die ursprüngliche Unbeschwertheit zwischen ihnen immer mehr verloren ging, war sie diejenige, die die Reißleine zog. Sie ertrug es nicht mehr, seine schlechten Launen und seine allgemeine Enttäuschung vom Leben ständig spüren zu müssen.
Norman nahm ihr das nicht übel. Er wusste, dass sich seine nagenden Schuldgefühle und auch allgemeine Unzufriedenheit oft in Grobheiten ihr gegenüber entladen hatten. Neben dem Beruf und einigen wenigen Verabredungen mit Freunden, seinen sogenannten Männerabenden, war sie Zentrum seines Alltages und damit sein Blitzableiter geworden.
Doch nun, da Anna nicht mehr seine Partnerin war, hatte sich die tiefe Verdrossenheit nur noch verstärkt. Denn nun hatte sich ihr naher Verwandter, die Einsamkeit, noch dazugesellt. Er hatte jetzt die Freiheit, nach der er sich während der Beziehung früher oft gesehnt hatte. Doch die erdrückende Vereinsamung machte die empfundene Belanglosigkeit seines Lebens noch größer.
Seine Tochter Klara war inzwischen in einem Alter, in dem Norman nicht mehr viel beizutragen hatte. Sie sahen sich regelmäßig, machten gemeinsam Pizzaabende und schauten Filme oder gingen ins Kino, aber Norman merkte, dass sie immer mehr Interessen an Dingen entwickelte, die er ihr nicht bieten konnte. Sie wurde zum Teenager, und da hieß es: Danke für deine Mühe, Papa, aber ich habe jetzt andere Idole. Ihm war klar, dass das irgendwann kommen würde, und es war auch keine Tragödie. Sie ist ein gesundes, fröhliches Kind, er sollte sich verdammt nochmal glücklich schätzen.
Das Schlimmste an seiner Situation war, dass er nicht einmal echte Gründe hatte, zu jammern. Sein Leben lief gut. Auf der Arbeit hatte er einen guten Stand, verstand sich mit seinem Chef und den meisten seiner Kollegen gut.
Wie oft war er diesem gedanklichen Kreisverkehr schon gefolgt? Diesmal bewahrte ihn sein Handyalarm vor ein paar weiteren Runden. Es war Zeit, sich fertig zu machen. Er hatte Anna versprochen, Klara heute Nachmittag zum Reiten zu fahren.
Norman erhob sich widerwillig vom Sofa, durchquerte den engen Flur seiner 40-Quadratmeter-Wohnung, zog seine abgenutzten Schuhe und die schwere Jacke an und trat hinaus in die graue Kälte Hamburgs. Der Ostwind brachte den unverkennbaren Geruch von nahenden Wintertagen mit sich. Normalerweise hätte er die halbstündige Verkehrs-Odyssee durch die verstopften Straßen verflucht, aber heute war er froh über die Ablenkung. Als er vorfuhr, kam Klara schon aus der Tür und ging auf das Auto zu. Schade, dachte er. Er hätte nichts gegen eine kurze Begrüßung von Anna im Hausflur gehabt, wo er manchmal wartete, bis Klara ihre Reitsachen fertig hatte. Vielleicht war Annas Freund da und sie hatte Klara schon rausgeschickt. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er mal wieder spät dran war.
„Hallo Papa“, sagte sie und schlang kurz ihre Arme um ihn, bevor sie sich auf den Beifahrersitz setzte.
„Hey, meine Große. Wie war dein Tag?“
„Ganz gut. Und deiner?“
„Nicht schlecht. Der Verkehr war mal wieder eine Katastrophe. Tut mir leid“
„Schon okay.“
„Wie war’s in der Schule?“, fragte Norman, während er den Verkehr umkurvte.
„Ganz gut“, antwortete Klara und ihre Augen leuchteten auf. „Ich habe eine Eins in Kunst für mein neues Bild bekommen.“
„Wirklich? Das ist ja großartig! Ist das das Bild von der Weltkugel?“
„Nein, Papa, das war letztes Jahr. Diesmal hab ich einen Bauernhof gemalt.“
„Das klingt wunderschön, Klara. Du musst es mir später unbedingt zeigen. Ich bin sicher, es ist fantastisch.“
Norman bemühte sich, auf dem Laufenden zu bleiben, was bei Klara in der Schule und sonst gerade los war, doch es fiel ihm nicht leicht. Sie sahen sich ein- bis zweimal alle zwei Wochen, und da bekam er natürlich nicht alles mit, geschweige denn, konnte er sich alles merken. Der Reiterhof war 15 Minuten entfernt, und obwohl sich Norman darüber ärgerte, dass Anna sie die Strecke nicht mehr mit dem Fahrrad fahren ließ, seitdem sie einmal gestürzt war und sich ein paar Schürfwunden geholt hatte, freute er sich über diese kurzen Gelegenheiten, etwas Zeit mit Klara zu verbringen. Als er sie vor dem relativ großen Gehöft mit geteerter Einfahrt absetzte, gab sie ihm nochmal eine kurze Umarmung, wie immer, und stieg aus dem Auto.
Auf dem Rückweg entschied sich Norman, bei Edeka, seinem Stammsupermarkt, vorbeizufahren. Er hatte mal wieder nichts zum Abendessen da und wollte nicht schon wieder etwas bestellen. Also würde es wohl eine Tiefkühlpizza werden. Er betrat den Supermarkt und ließ seinen Blick über die bunten Auslagen von Obst und Gemüse schweifen. Der Geruch von frischen Äpfeln mischte sich mit dem muffigen Duft von alten Kartoffeln, ein seltsamer Kontrast zu seiner inneren Leere. Er hatte keine Eile; zu Hause erwarteten ihn nur die tristen Wände und der leere Bildschirm. Da war ein Einkaufsbummel im lokalen Supermarkt schon mehr soziales Event, als es sich ihm an den meisten Tagen bot.
Als Programmierer arbeitete er fast ausschließlich von zu Hause aus, nur ab und zu gab es mal einen Kundentermin vor Ort, bei dem er Rede und Antwort stehen musste. Das passierte entweder, wenn einem neuen Kunden ein vollkommen überteuertes, durchschnittliches Produkt als bahnbrechende Innovation verkauft werden sollte, oder wenn in einem bereits angelaufenen Projekt gehörig etwas schiefging. Was in der Softwareentwicklung fast jedes größere Projekt betraf. Die Projektmanager, die gleichzeitig den Vertrieb übernahmen, hatten null Ahnung von Softwareentwicklung und sicherten den Kunden alles Mögliche zu, um sie unter Vertrag zu nehmen. Programmierer wie Norman waren dann diejenigen, die das ausbaden mussten. Nicht selten endete es mit peinlichen Präsentationen beim Kunden, in denen erklärt werden musste, dass ein eigentlich völlig vorhersehbares Problem vollkommen unerwartet auftrat und die speziellen Gegebenheiten beim Kunden ja schuld daran seien.
Gedankenverloren schlenderte Norman bei den Dosensuppen vorbei und überlegte, sich mal wieder eine italienische Tomatensuppe aus der Dose zu gönnen. Vielleicht sogar etwas Basilikum auf den Tellerrand zu legen und sich dabei wie ein Sternekoch zu fühlen. Er lächelte über seine Selbstironie. Sein eigener Humor war immer noch der größte Quell seiner verbliebenen Freuden.
Erst merkte Norman es gar nicht, aber plötzlich wurde es im Laden lauter. Jemand sprach sehr impulsiv und energisch. Norman verließ seine Tagträumereien und bemerkte nun den ungewöhnlichen Krach. Was war da los? Ein Kunde, der sich um sein Wechselgeld betrogen fühlte? Oder jemand, der nicht einsehen wollte, dass man die Einkaufskörbe vor der Kasse abstellen musste und darin den unwiderlegbaren Beweis für unser faschistoides, bürgerunterdrückendes System sah? Aber nein, so klang es nicht. Da redete zwar jemand sehr deutlich wahrnehmbar, er klang dabei aber auch bedacht und wohlüberlegt.
Norman drückte sich hinter einer Reihe von Regalen, sein Herz schlug schneller. Die Stimmen wurden lauter. „Wo ist er?“ Die Frage schnitt durch die Luft und ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. „Wie lange ist das her?“ Die Worte klangen beunruhigend nah, als ob sie direkt für ihn bestimmt wären. Kurz glaubte er sogar, seinen Namen gehört zu haben, aber das konnte nicht sein. Er blickte sich um und sah, wie auch andere Kunden auf den Krach aufmerksam wurden und Richtung Kasse schauten. Jetzt beschloss auch Norman, ein paar Schritte weiterzugehen. Zwischen den Windelvorratspackungen und dem Seifen-Angebotsaufsteller spähte er zu einer der Kassen hinüber.
Dort saß eine eingeschüchterte Frau mit rot gefärbten Haaren – eher ein Mädchen, keine 20 Jahre alt – hinter der Kasse. Davor stand ein großer Mann mit schwarzer Lederjacke und einer schwarzen Wollmütze, der die Kassiererin fixierte. Daneben stand ein weiterer Mann, etwas kleiner, sehr drahtig gebaut, eine Hand in der Tasche seiner Bomberjacke, und ließ seinen Blick durch den Laden schweifen. Waren das Polizisten? So wirkten sie nicht. Sie sahen eher bedrohlich aus, wie jemand, der den Laden ausrauben will. Obwohl keine Waffen oder etwas ähnlich Eindeutiges zu sehen waren, wirkte die Szenerie sehr beängstigend.
Der größere Mann schien etwas in der Hand zu halten – ein Bild von jemandem. Jetzt hob er es hoch und zeigte es nochmal der Kassiererin. Norman hörte ihn klar sagen: „Wo ist dieser Mann?“ Als Norman das Foto erblickte, musste er erst kurz verwirrt blinzeln und spürte dann, wie ihm das Blut in die Beine sackte. Das konnte nicht sein. Doch er erkannte es eindeutig. Der Mann hielt ein Foto von ihm in der Hand, das Bild, das auf seinem Personalausweis war, auf eine etwa halbe DIN-A4-Seite vergrößert. Norman fokussierte nochmals seinen Blick. Es war tatsächlich ein Bild von ihm. Aber was könnten diese düsteren Männer von ihm wollen? Plötzlich blickte der Kleinere der beiden in seine Richtung. Reflexartig zog Norman den Kopf hinter das Regal. Wer waren diese Menschen? Obwohl er sich in seinen regelmäßigen Tagträumen einbildete, ein mutiger Kerl zu sein, war er gerade außerstande, irgendetwas zu unternehmen. Sollte er zu den Männern gehen? Die Bedrohlichkeit, die von dem plötzlichen Auftreten der beiden Männer ausging, gepaart mit dem Foto von ihm, ließ Norman diese Option ausschließen. Seine Gedanken rasten. Egal, wer das war und was sie von ihm wollten, er wollte sich jetzt nur versteckt halten. Hatten sie ihn vielleicht schon bemerkt? Der eine schrie die Frau immer noch regelrecht an. „Gibt es hier noch einen anderen Ausgang?“ Was die junge Frau sagte, wenn sie denn etwas sagte, konnte Norman nicht verstehen.
Die Frage nach dem Ausgang brachte Norman selbst auf eine Idee und er schaute sich um. Da rechts hinter ihm war der Pfandrückgabeautomat und direkt daneben das Lager, aus dem die Niedriglöhner mit ihren Palettenwagen kamen, um die Regale aufzufüllen. Sollte er dorthin flüchten? Normalerweise gab es dort immer einen Hinterausgang, den er nehmen konnte. Das wusste er noch aus seiner Jugend, in der er mal im Supermarkt Regale gefüllt hatte. Sollte er das jetzt wirklich tun? Wenn er darüber nachdachte, zweifelte er wieder daran, dass diese beiden Männer wirklich etwas von ihm wollten. Er musste nochmal zur Kasse schauen. Doch da hörte er schnelle, schwere Schritte durch den Laden stapfen und näherkommen. Verdammt. Dann eben doch.
Er ließ seinen Einkaufskorb auf dem Boden stehen und ging schnellen Schrittes, jedoch ohne zu rennen, ins Lager des Supermarktes. Dort angekommen, bremste er nicht ab, sondern ging an der Pfandflaschensortieranlage vorbei in die Richtung, wo er den Ausgang vermutete. Er musste den Drang, sich umzudrehen, sehr unterdrücken. Er ging an einem älteren Mitarbeiter vorbei, wohl ein Migrant, der sich hier zum Mindestlohn abschuftete. Dieser bemerkte Norman zwar, machte aber keine Anstalten, seine ungebetene Visite im Lager zu kommentieren.
An der Rückwand des Lagers angekommen, wusste Norman nicht, wo er hinmusste. Wo waren diese verdammten, grünen Notausgangsschilder, die einem sonst immer überflüssigerweise zeigen, wo es rausgeht? Jetzt musste er doch unwillkürlich zum Eingang des Lagers schauen. Er hörte die Schritte wieder, und dann tauchten die Männer auf. Doch sie blieben nicht vor dem Lager stehen, sondern gingen anscheinend zu dem Einkaufskorb, den er auffällig auf dem Boden stehen gelassen hatte. Es würde nicht lange dauern, bis die Männer auf die Idee kamen, wohin er verschwunden war. Er schaute sich nochmal um. Da rechts war ein Gang, und es sah so aus, als käme am Ende Licht von draußen rein.
Norman sprang los und hastete den Gang hinab. Tatsächlich, da war ein Ausgang Richtung Parkplatz. Er öffnete die Tür und musste sich kurz orientieren. Da vorne stand sein Auto, schnell hin. Im Auto angekommen, merkte er, wie er nach Luft japsen musste. Er hatte während seiner Flucht aus dem Supermarkt, ohne es zu bemerken, größtenteils die Luft angehalten.
Okay, kurz sammeln, dachte Norman. Er wusste immer noch nicht, was los war, aber wenn er seinem Instinkt trauen sollte, der ihn durch den Hinterausgang aus dem Laden hatte flüchten lassen, dann war es jetzt keine gute Idee, auf dem Parkplatz zu verharren. Es würde nicht lange dauern, bis seine mutmaßlichen Verfolger ihn hier aufspürten. Also los, Motor an, Automatik auf D und dann möglichst ohne quietschende Reifen vom Parkplatz auf die Hauptstraße einfädeln. Als er etwa 100 Meter von der Ausfahrt des Supermarktes entfernt war, wagte er einen Blick in den Rückspiegel, konnte jedoch niemanden sehen, der nach ihm Ausschau hielt oder ihn verfolgte.
Norman blieb weiter auf der Hauptstraße und bog an der nächsten großen Kreuzung willkürlich rechts ab. Bei beschleunigter Fahrt beobachtete er erneut den Rückspiegel. Als er immer noch nichts bemerkte, fing er langsam an, sich zu beruhigen. Seine Hände, die das Lenkrad so fest umklammert hatten, dass die Fingerknöchel weiß waren, lösten sich langsam, und das Blut konnte wieder zirkulieren. Norman atmete immer noch heftig ein und aus, versuchte aber nun, sich bewusst zu beruhigen. Fast hätte er dabei die Augen geschlossen, doch er fuhr immer noch mit etwa 70 km/h durch die belebte Hauptstraße.
Was hatte das gerade zu bedeuten? Wer waren diese Leute? Was wollten sie von ihm? Das konnte doch eigentlich gar nicht sein. War das wirklich passiert? Oder hatte ihm seine Fantasie einen Streich gespielt? Norman zwickte sich in den Arm und spürte den Schmerz. Okay, er träumte also nicht. Er saß wirklich gerade in seinem Auto. Das bedeutete aber nicht, dass da wirklich zwei Männer hinter ihm her waren. Vielleicht hatte er die Situation vollkommen missverstanden und aus einem unterbewussten Anfall von Größenwahnsinn seine Tagträumerei mit der Realität vermischt. Norman beschloss, erstmal nach Hause zu fahren, wählte hierfür jedoch einen großzügigen Umweg, der ihn nicht wieder in die Nähe des Supermarktes führte.
Kurz vor seiner Wohnung, als er die Eingangstür sehen konnte, blieb er nochmals mit seinem Wagen stehen. Ein ungutes Bauchgefühl brachte ihn dazu. Er schaltete den Motor aus und blickte auf die Eingangstür zu dem dreistöckigen Mehrfamilienhaus, in welchem er im obersten Stock eine Zweizimmerwohnung bewohnte. Es sah alles ganz normal aus. Aber wenn die beiden Männer vorhin wirklich hinter ihm her waren, wussten sie bestimmt, wo er wohnt, dachte Norman. Was sollte er jetzt tun? Zur Polizei gehen? Was sollte er dort schon sagen: Zwei düster aussehende Männer haben im Supermarkt nach mir gesucht und ich bin geflüchtet? Die würden ihm bestimmt nicht helfen können. Er wusste ja selbst nicht einmal, worum es bei dieser Sache ging.
Auf einmal öffnete sich die Haustür und heraus kam eine Frau um die 50 mit einem kleinen hellbraunen Terriermischling an der Leine. Hallo Frau Schmidt, dachte Norman. Jetzt, wo er diesen vertrauten Anblick sah, fragte sich Norman abermals, ob er sich das nicht alles nur eingebildet hatte. Ja, je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass es entweder ein Missverständnis war oder seine überbordende Fantasie. Vielleicht ein Symptom einer Midlife-Crisis, die er definitiv im unheilbaren Endstadium hatte. Na gut, stell dich nicht so an und geh nach Hause. Mit diesem Gedanken beschloss Norman, die Sache abzuhaken. Er parkte sein Auto schließlich auf dem nächsten freien Parkplatz.
In der Wohnung angekommen, fiel Norman wieder ein, dass er ja nichts zu essen dahatte. Im Kühlschrank fand er noch ein paar Eier und er machte sich ein Omelett mit dem, was noch so da war: Tomaten und etwas Käse. Als Beilage müssen Kartoffelchips diesmal reichen. Später, auf der Couch vor dem Flimmerkasten, ließ er den Tag noch einmal Revue passieren. So richtig wohl fühlte er sich allein in seiner Wohnung nicht. Es war nicht die Angst vor den Verfolgern, auch wenn er sie noch nicht hundertprozentig abgelegt hatte; es war mehr das allzu bekannte Gefühl der Einsamkeit. Gerne hätte er jemanden gehabt, dem er von seinem Kurzabenteuer hätte erzählen können. Jemanden, mit dem er jetzt eine Flasche Wein oder ein paar Bier hätte aufmachen und über den Vorfall Witze hätte machen können. Es musste keine weibliche Gesellschaft sein, ein guter Kumpel würde auch reichen.
Aber viele Freunde hatte Norman nicht mehr. Früher war es ihm leichtgefallen, Leute kennenzulernen. Jedoch war er nun in einem Alter, in dem man Freundschaften pflegen musste. Viele seiner früheren Freunde hatten Familien oder waren wegen ihrer Karrieren stark eingebunden. Norman beschloss daher, morgen mal wieder vom Büro aus zu arbeiten. Er würde zwar früher aufstehen müssen, aber vielleicht würde er so ja mal wieder ein paar soziale Kontakte bekommen. Wer weiß, vielleicht würden ein paar der anderen Programmierer oder Projektmanager mit ihm zum Mittagessen gehen. Mit diesen recht optimistischen Gedanken ging Norman zu Bett.
Am nächsten Tag raffte er sich tatsächlich früh auf. Er packte seinen Laptop ein, duschte und suchte halbwegs ordentliche Büroklamotten heraus. Obwohl er sich wie immer morgens dafür verfluchte, nicht alles getan zu haben, um etwas länger liegen bleiben zu können, war er, nachdem er aufgestanden war, sehr motiviert, ins Büro zu kommen. Er freute sich richtig darauf, mal wieder ein paar oberflächliche Gespräche zwischen Kaffeeautomat und Kopierer zu führen.
Die S-Bahn brachte ihn in die Hamburger Innenstadt. Das Bürogebäude von CyntaCom, der Firma, für die er arbeitete, lag in einem der schickeren Bürotürme in der Hafencity, und er brauchte ungefähr eine Stunde von zu Hause aus. Norman begrüßte die Dame vom Front-Desk mit den üblichen Floskeln, freute sich jedoch, dass sie ihn mit Vornamen ansprach. Im Großraumbüro suchte sich Norman einen leeren Schreibtisch und packte seinen Laptop aus. Es war nicht viel los. Einige Mitarbeiter von der Marketingabteilung waren zu sehen. Niemand, den Norman gut kannte, daher beließ er es bei einem freundlichen Nicken, als sich die Blicke trafen.
Die meisten Programmierer, wie er einer war, arbeiteten ausschließlich von zu Hause aus, wo sie sich unter Einsatz hoher Eigenmittel ihren Büroarbeitsplatz maximal funktional ausgestattet hatten – mit mehreren Bildschirmen, ergonomischen Tastaturen, optimiert fürs Speed-Programming und allerlei anderem technischen Spielzeug, womit man Computer-Nerds das Geld aus der Tasche locken konnte. Der heutige Tapetenwechsel war es Norman jedoch wert, auf seinen kleinen 15-Zoll-Monitor und die Laptoptastatur angewiesen zu sein. Da es nicht so schien, als würde sich in den nächsten Minuten doch noch ein Gespräch mit einem Kollegen ergeben, begann er mit den ersten Codezeilen und nahm sich vor, zur Mittagspause nochmal sein Glück zu versuchen, einen alten Bekannten zu finden, mit dem er essen gehen könnte.
Nachdem Norman solide 20 Minuten gearbeitet hatte, beschloss er, mal durch seine sozialen Medien zu scrollen. Auf LinkedIn gab es zwei Anfragen von Headhuntern, die etwas von neuen Herausforderungen schrieben. Das Übliche eben, was vor allem IT-Fachkräfte alle paar Tage hörten. Obwohl Norman alles andere als zufrieden mit seiner Arbeitssituation war, reagierte er auf solche Anfragen nicht. Sie konnten ihm nichts bieten, was ihn aus seiner beruflichen Langeweile herausholen würde, höchstens andere Projekte oder ein höheres Gehalt. Aber das war ihm die Mühe nicht wert.
In der Zeitleiste der Online-Begegnungsstätte hatte jemand ein Video gepostet, das einen Polizisten zeigt, der einen im Eis eingebrochenen Hund rettet. Bei den ganzen ein-wahrer-Held- und Finde-Deine-Bestimmung-Hashtags darunter musste Norman zwar genervt die Augen verdrehen, aber innerlich beneidete er den Polizisten für diesen sinnbehafteten und wahrscheinlich zutiefst befriedigenden Zwischenfall während seiner Arbeit.
Plötzlich vibrierte sein Handy. Oh nein, dachte Norman, das ist wahrscheinlich Thomas, der Projektleiter, dem er wieder mal die Basics der Projektsteuerung in Softwareprojekten erklären musste und warum er bestimmte Arbeitspakete in einer anderen Reihenfolge bearbeitete, als es im Projektplan willkürlich festgelegt war. Doch es war nicht Thomas. Es war die Nummer vom Front-Desk.
„Hi Sandra“, sagte Norman, „was kann ich für dich tun?“
„Hey Norman, du bist doch heute bei uns im Büro, oder?“
„Ja klar, wir haben uns doch vorhin gesehen.“
„Genau, hier möchte nämlich jemand ein Paket für dich abgeben und benötigt deine Unterschrift hierfür.“
„Ach so, äh...okay. Ich komme runter.“
Ein Paket? dachte Norman. In der Firma bekam er nie Pakete, zumindest keine, für die er persönlich unterschreiben musste. Vielleicht sein neuer Firmenausweis. Die sollten ja mal ausgetauscht werden, erinnerte er sich. Na, mal schauen.
Er musste eine Weile auf den Fahrstuhl warten, der ihn vom achten Stock ins Erdgeschoss brachte. Ein bisschen neugierig war er schon, was das Paket anging und was für ein Zufall, dass es ausgerechnet heute ankam, wo er mal im Büro war. Als sich im Erdgeschoss die Tür des Fahrstuhls öffnete, hob Norman den Blick und spähte schräg gegenüber zum Empfangstresen. Plötzlich versteifte sich sein ganzer Körper und er konnte sich nicht rühren. Da war er wieder. Einer der Verfolger aus dem Supermarkt stand am Empfang und schien auf ihn zu warten; der Mann in Lederjacke und Wollmütze. Er hielt ein mittelgroßes Paket in der Hand und blickte sich ungeduldig um.
Norman konnte nicht denken, befand sich wieder im Schockzustand, unfähig, auch nur eine Bewegung zu machen. Seine Hände fingen an zu zittern. Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt, sondern erwartete ihn anscheinend von den anderen Fahrstühlen auf der gegenüberliegenden Seite. Normans Gedanken rasten, sein Blick sprang von dem Mann zum Ausgang und wieder zurück. Wohin sollte er flüchten? Ruhig bleiben, dachte Norman. Geh einfach zu ihm und frag, worum es geht. Du bist hier in Sicherheit, hier im Foyer sind überall Kameras.
Er entspannte sich langsam, doch dann entdeckte er etwas anderes an dem Mann, was ihn erneut in Schockstarre verfallen ließ. Unterhalb seiner Lederjacke sah er etwas herausstehen, das wie ein Pistolenholster aussah. Das konnte nichts Harmloses mehr sein. Wie kam er da nun raus? Die Fahrstuhltür wollte sich wieder schließen, und Norman bedankte sich innerlich dafür, doch sie sprang gleich wieder auf, weil Norman bereits die Lichtschranke mit seinem Körper unterbrach und halb in der Tür stand. Schnell zog er sich in die Kabine zurück und drückte sich an die Rückwand des Fahrstuhls.
Die Fahrstuhltür begann erneut, sich zu schließen, doch diesmal wurde sie von jemand anderem daran gehindert. Eine Frau in einem schwarzen Mantel und mit zurückgebundenen schwarzen Haaren stieg in die Kabine. Sie trug eine große Sonnenbrille und schien ihn gar nicht wahrzunehmen, sondern drückte unbekümmert auf die Taste für die Parkebene im Untergeschoss. Norman war irritiert. Das war keine Kollegin von ihm, und sie schien die ganze Situation mit ihm, verängstigt und Deckung suchend, auch nicht sonderlich zu überraschen.
Als die Fahrstuhltür ganz geschlossen war, drehte sie sich plötzlich zu ihm um.
„Herr Beckmann, Sie müssen mir jetzt gut zuhören“,
sagte sie in einem ruhigen, aber dennoch fordernden Ton zu ihm, während sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte.
„Der Mann am Eingang will etwas von Ihnen. Sie dürfen es ihm jedoch keinesfalls aushändigen.“
„Was...? Wer sind Sie und woher... kennen Sie mich?“
„Ich werde es Ihnen in Ruhe erklären, aber jetzt müssen Sie erstmal Ihre Verfolger abschütteln.“
„Meine was?“ Norman verstand gar nichts mehr. „Was soll das? Wohin wollen Sie mit mir?“
„Wir gehen ins Parkhaus, dort steht mein Auto.“
„Was, ich verstehe nicht... Was soll das Ganze?“
„Sie müssen mir jetzt vertrauen. Wenn Sie nicht in große Schwierigkeiten kommen wollen, müssen wir sofort abhauen.“
„Aber...“
Die Türen öffneten sich, vor ihnen lag der dunkle Korridor der Parkebene.
„Dort nach rechts, der schwarze Honda.“
„Was? Nein, ich steige nicht in Ihr Auto.“
Die Frau, die Norman schon zwei Schritte voraus zum Auto geeilt war, hielt plötzlich inne, drehte sich schwungvoll wieder zu Norman herum und nahm in einer bedeutungsvollen Geste ihre Sonnenbrille ab. Norman starrte in tiefgrüne Augen, die ihn nun eindringlich zu beschwören versuchten.
„Herr Beckmann, ich weiß, dass Sie mich nicht kennen und nicht wissen, warum die Männer da oben hinter Ihnen her sind. Aber wenn Sie mit mir kommen, werde ich Ihnen alles erklären. Nur jetzt müssen wir hier weg.“
Norman zögerte immer noch, auch wenn seine Intuition ihm aus unerfindlichen Gründen dazu riet, ihr zu vertrauen. Aber er konnte doch nicht bei einer wildfremden Person einfach ins Auto steigen.
Schließlich sagte die zunehmend ungeduldig wirkende Unbekannte: „Überlegen Sie mal, Herr Beckmann. Vor wem sollten Sie momentan mehr Angst haben: zwei großen bewaffneten Männern, die oben auf Sie warten, oder einer Frau, die einen Kopf kleiner ist als Sie?“
Er musste wieder an den finsteren Mann oben denken. War da noch ein zweiter? Er hatte zumindest bei dem einen ein Pistolenholster gesehen. Vielleicht waren das ja Zivilpolizisten? Nein, die würden sich nicht als Paketboten ausgeben, wenn sie etwas von ihm wollten. Wahrscheinlich ging von der fremden Frau direkt vor ihm tatsächlich ein geringeres Risiko aus.
Langsam setzte sich Norman nun in Bewegung in Richtung des dunklen Autos. Er sprach trotzdem noch voller Zweifel weiter: „Aber wieso? Ich verstehe immer noch nicht.“
„Kommen Sie und steigen Sie auf der Beifahrerseite ein.“
Die Frau hatte etwas Ruhiges, Professionelles und vor allem nichts Bedrohliches in ihrer Stimme, sodass er ihrer Aufforderung folgte und in den Wagen stieg. Das Auto hatte Münchner Nummernschilder. Ist sie vielleicht von der Polizei? fragte er sich.
Die Unbekannte stieg ebenfalls ein, startete den Wagen und fuhr zügig zur Ausfahrt. Aus dem Augenwinkel sah Norman, wie bei einem anderen Fahrzeug hinter ihnen die Scheinwerfer angeschaltet wurden. Die Frau blickte in den Rückspiegel.
„Mist“, rief sie. „Schnallen Sie sich an, ich muss ein bisschen Gas geben.“
Jetzt sah auch Norman in den Rückspiegel und erkannte, was sie meinte. Hinter ihnen folgte ein dunkler BMW und am Steuer saß ein Mann, den Norman schon einmal gesehen hatte. Es war der Partner des anderen, der im Foyer auf ihn wartete. Anscheinend hatte er sich hier unten positioniert, für den Fall, dass Norman abhauen wollte, so wie jetzt. Mit aufheulendem Motor verließen sie die Tiefgarage und bogen rechts in die Hauptstraße ein. Die Unbekannte beschleunigte schnell auf 70 km/h, bremste aber direkt wieder ab, um scharf rechts in eine Nebenstraße abzubiegen.
Sie fuhr etwas langsamer und beobachtete den Rückspiegel. Hinter ihnen tauchte wieder der BMW mit rasanter Geschwindigkeit auf und verringerte schnell den Abstand zu ihnen. Sie drückte das Gaspedal durch, sodass der Motor erneut aufheulte, und folgte mit hoher Geschwindigkeit einer Linkskurve. Direkt vor ihnen lag die belebte Hauptstraße, die aus der Hafencity Richtung Hamburger Hauptbahnhof führte. Sie bogen rechts auf die Straße ein. Aufgrund des Verkehrs waren sie gezwungen, etwas langsamer zu fahren, konnten jedoch durch zwei schnelle Spurwechsel weiter nach vorne kommen. Jetzt tauchte auch der BMW wieder im Rückspiegel auf.
„Wer ist das? Was wollen die von mir?“, fragte Norman, als er nach der Aufregung seine Stimme wiedergefunden hatte.
„Ich werde Ihnen alles erklären, aber erstmal müssen wir hier wegkommen.“
Sie fuhren auf den Wallringtunnel gegenüber dem Hauptbahnhof zu. Die unbekannte Frau beschleunigte noch einmal auf 90 km/h, der Motor dröhnte laut im Tunnel. Als sie herauskamen, bog sie wieder rechts auf die nächste Hauptstraße, die an der Alster entlangführte. Noch zwei schnelle Spurwechsel, und sie waren wieder vor dem Verkehrstross und rollten auf eine Ampel zu, die gerade auf Gelb umsprang. Ein kurzer Kickdown auf dem Gaspedal, und sie überquerten bei Rot, jedoch ohne sichtbare Gefahr, die Verkehrsampel. Die anderen Autos hinter ihnen blieben stehen, und der BMW war nicht mehr zu sehen. Die Frau verringerte die Geschwindigkeit und passte sich dem übrigen Verkehr an.
Sie erreichten den Stadtteil Mundsburg, wo sie in das Parkhaus des gleichnamigen Einkaufszentrums einbogen und den Wagen parkten. Norman fiel auf, dass die Frau rückwärts einparkte. Nicht dumm, dachte er, so kommt man schneller weg, wenn es sein muss. Anscheinend weiß diese Frau, was sie tut, und Situationen wie heute sind ihr wohl nicht allzu fremd. Ist sie vielleicht eine Art Geheimagentin? Norman hatte zwar keine Ahnung, wie Geheimagenten in der echten Welt arbeiteten, aber irgendwie wirkte das hier wie in einem James-Bond-Abklatsch auf ihn. Er merkte, wie er diese ganze Situation nicht ernst nahm und erwartete jeden Moment, dass seine Kollegen von irgendwo hervorsprangen und das alles als einen Scherz enthüllten.
Als die Frau den Motor abstellte und noch eine Weile den Eingang des Parkhauses fixierte, platzte es schließlich aus Norman heraus. „Ich will jetzt endlich wissen, was das Ganze soll! Was passiert hier?“
Seine mysteriöse Chauffeurin schwieg weiterhin, während sie immer noch die Einfahrt beobachtete. Norman wollte schon erneut eine Antwort einfordern, da drehte sie sich zu ihm um und begann: „Okay, Herr Beckmann, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, werden Sie mir vielleicht nicht glauben, aber ich möchte, dass Sie mir bis zum Ende zuhören, okay?“
Woher kannte sie eigentlich seinen Namen? Norman nahm sich jetzt erstmals Zeit, sie genau anzusehen. Auf den ersten Blick wirkte sie sehr unscheinbar. Sie trug einen dunklen Wollkragenpullover, hatte tiefschwarze Haare zu einem Zopf zusammengebunden und war nur leicht geschminkt. Er schätzte sie auf Anfang 30. Ihre grünen Augen waren eingebettet in ein sanftes, weiches Gesicht, was jedoch durch ihren intensiven Blick mit ernster Miene nur erahnt werden konnte. Sie schien einen sehr sportlichen Körper zu haben. Unter ihrem Pullover zeichnete sich eine deutliche Oberweite ab. Norman bemerkte, dass die unbekannte Frau neben ihm eindeutig attraktiv war und dies entfaltete trotz der abstrusen Situation, in der sie sich befanden, eine gewisse Wirkung auf ihn.
„Okay. Sagen Sie mir aber erst, wer Sie sind.“
„Mein Name ist Miriam Schacht. Ich arbeite für ein internationales Kollektiv, von dem Sie wahrscheinlich schon gehört haben. Es setzt sich gegen Internetzensur und die zunehmende Überwachung von Bürgern durch den Staat und große Konzerne ein.“
„Sie meinen Anonymous, diese Hackergruppe?“
„Es ist mehr als eine Hackergruppe. Sie sollten nicht alles glauben, was die Zeitungen darüber schreiben.“
„Okay, aber was hat das mit mir zu tun?“
„Das werde ich Ihnen erklären. Es gibt ein großes Projekt führender Internetfirmen zur intelligenten Nutzererkennung. Vielleicht haben Sie davon gehört, es nennt sich AVF.“
„Authentication... Via... Footprint. Ja, davon habe ich gelesen. Dadurch sollen Passworteingaben überflüssig werden, da mein Browser anhand meines Nutzerverhaltens eindeutig feststellen kann, ob ich es wirklich bin. Aber das gibt es in Europa noch nicht, soweit ich weiß. Es gibt wohl Probleme mit dem Datenschutz.“
„Ja, das ist richtig. Fakt ist aber, dass alle namhaften Browser bereits jetzt schon die notwendigen Daten erfassen, um die intelligente Nutzererkennung durchzuführen. Wenn Sie Chrome, Safari oder Microsoft Edge öffnen, wissen die großen Serviceanbieter spätestens nach zwei Minuten Nutzungsdauer eindeutig, wer Sie sind, und nach 30 Sekunden bereits mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit, egal auf welche Internetseite Sie gehen oder welchen Service Sie nutzen.“
Norman beeindruckte dies wenig. Dass man im Internet immer leichter zu identifizieren war, war nichts Neues. Und er hatte auch immer noch keinen Schimmer, was das alles mit ihm zu tun hatte. Was wollte diese Frau von ihm? Und warum waren diese anderen Typen hinter ihm her? Er beschloss, ihr erstmal weiter zuzuhören und erwiderte:
„Na ja, klar, mit meiner IP-Adresse oder der Nutzung gespeicherter Cookies ist es leicht, jemanden zu identifizieren.“
„Sie hören mir nicht zu. Sie werden allein anhand biometrischer Parameter wie Tastaturanschlag, Klickverhalten, Mausbewegungen und Weiterem eindeutig identifiziert. Das heißt, selbst wenn Sie alle Cookies ablehnen, einen VPN-Tunnel benutzen oder sich im Darknet über mehrere Knoten anonymisieren, macht es keinen Unterschied.“
Das machte Norman jetzt doch etwas nachdenklich. Man soll Menschen trotz VPN- oder Darknet-Nutzung identifizieren können? Als Programmierer mit fast zwanzig Jahren Berufserfahrung wusste er natürlich, was sich hinter diesen Begriffen verbarg. VPN stand für Virtual Private Network und bedeutete, dass man seinen Zugriff ins Netz zu einem anderen Ausgangspunkt tunnelte und somit seinen wahren Standort verbarg. Mit Darknet wurde oft die Nutzung des TOR-Netzwerks gemeint, bei dem die eigene IP beim Internetsurfen verborgen und der Datenverkehr über mehrere Internetknoten geroutet wird, die die eigene Identität zunehmend verschleiern. Ein System, das die DARPA, eine Forschungsbehörde des amerikanischen Militärs, aufgebaut hatte, um anonyme Kommunikation im Internet zu ermöglichen. Jedermann konnte heutzutage leicht eine entsprechende Anleitung im Netz finden, die erklärte, wie man das TOR-Netzwerk nutzt. Soweit Norman wusste, war man hier beim Surfen absolut anonym, weshalb das Darknet vor allem für illegale Geschäfte wie Drogenhandel missbraucht, aber auch von Dissidenten und kritischen Journalisten in autoritären Systemen genutzt wurde. Norman konnte sich nicht vorstellen, dass dies nicht mehr funktionieren sollte. Er entgegnete:
„Soweit ich weiß, muss man erst eine Softwareerweiterung installieren, damit der Auto-Login mittels AVF funktioniert. Und natürlich muss jeder Nutzer sein Einverständnis hierfür geben.“
„Für AVF ja. Aber dies ist nur der kommerzielle Teil eines größeren Projektes, dem sogenannten Argos-Link.“
„Argos-Link?“
„Dies ist ein Geheimprojekt von verschiedenen Internetfirmen zusammen mit Five-Eyes.“
Norman kannte Five-Eyes aus den Nachrichten, damals, als es um Edward Snowden ging. Das waren fünf Staaten, deren Geheimdienste eng verbunden waren. USA und England waren auf jeden Fall dabei, Deutschland jedoch nicht, meinte Norman noch zu wissen.
„Und was macht dieses Projekt?“
„Es wertet Internetnutzerdaten in Echtzeit aus, um die Identität der Nutzer festzustellen – ohne deren Einwilligung. Jeder Klick, jede Suche wird einem zentralen Register zugeordnet, selbst bei Nutzung aller bisher bekannten Verschlüsselungsalgorithmen.“
Norman stockte, da ihm allmählich klar wurde, welche Folgen das hatte: „Das heißt...“
„Die totale Überwachung“, beendete sie seinen Satz. „Das Ende des freien und anonymen Internets. Regierungen wissen alles über ihre Bürger, jeder Klick, jede Suchanfrage wird einem zentralen Register und dem jeweiligen Profil zugeordnet. Und nicht nur Regierungen – die Technik und der Betrieb von Argos-Link werden durch die dominanten Digitalfirmen bereitgestellt. Im Gegenzug können diese die Informationen kommerziell verwerten und an andere Unternehmen verkaufen.
Und das ist nicht alles. Die hieraus erstellten Profile füttern neuronale Netze, die dadurch das Verhalten von Nutzern immer schneller identifizieren und teilweise sogar vorhersagen können.“
„Wow, das klingt ja ziemlich abgefahren, Argos-Link, Five-Eyes – aber ehrlich gesagt, kann ich mir das nicht vorstellen. Ich meine, man müsste davon doch schon gehört haben. Es gibt doch Parlamente und Kontrollausschüsse, die solche Eingriffe in die Privatsphäre regulieren.“
„Ja, hier in Deutschland oder Europa vielleicht. Aber meinen Sie, die mächtigsten Konzerne und Geheimdienste der Welt lassen sich von einem deutschen Gericht oder dem europäischen Parlament sagen, was sie dürfen oder nicht?“
„Na ja, auch in den USA gibt es demokratische Prinzipien und Bürgerrechtsbewegungen.“
„Diese Bewegungen gibt es und zu denen gehört auch Anonymous. Aber es ist nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Jede größere Medienplattform oder Nachrichtenagentur spielt nach den Regeln der Wirtschaft und die haben kein Interesse, es sich mit den Mächtigen zu verscherzen.“
„Das mag ja alles sein, aber… was ich noch immer nicht verstehe, was hat das Ganze mit mir zu tun? Ich bin ein einfacher Programmierer und kein Bürgerrechtler oder Geheimagent.“
„Dazu werde ich gleich kommen“, sagte die Frau, die sich Miriam Schacht nannte und immer wieder das Parkhaus in alle Richtungen abscannte.
„Als das Projekt Argos-Link in Programmierer- und Hackerkreisen langsam durchsickerte, formierte sich Widerstand. Eine kleine Gruppe von Internetaktivisten teilte ihr Wissen mit dem Anonymous-Kollektiv, das daraufhin eine Arbeitsgruppe organisierte, um sich gegen die Massenüberwachung zu wehren.“
„Wie will Anonymous das tun?“
„Zuerst wollte man mit dem Projekt an die Öffentlichkeit gehen. Ähnlich wie Edward Snowden das damals gemacht hatte. Es gab auch einige interessierte Journalisten, die die Geschichte groß rausbringen wollten. Eine große deutsche Wochenzeitung wollte dies sogar als Titelstory aufmachen.“
„Und warum hat das nicht geklappt?“
„Auf einmal flachte das Interesse seitens der Verlage schlagartig ab. Es hieß offiziell, man habe die Angaben der Quelle nicht ausreichend verifizieren können. Außerdem kamen auf einmal Vorwürfe gegen die Teilnehmer der Arbeitsgruppe auf.“
„Was denn für Vorwürfe?“
„Gegen den Informanten, von dem viele Insider-Details von Argos-Link übermittelt wurden. Gegen ihn wurde auf einmal wegen sexuellen Missbrauchs ermittelt. Unhaltbare Vorwürfe, die Polizei hat seine Wohnung durchsucht und seinen Computer beschlagnahmt. Zu einer Anklage kam es zwar nicht, da es keine Beweise gab, aber keines der Medienhäuser hat sich noch für seine Geschichte interessiert. Auch als wir mit anderen Personen die Geschichte neu aufbringen wollten, gab es niemanden mehr, der Interesse daran hatte.“
Norman wusste nicht, was er von diesen Erzählungen halten sollte. Er hatte schon davon gehört, dass unliebsame Whistleblower durch Rufschädigung und dergleichen diskreditiert wurden, aber noch nie hatte ihm das ein Internetaktivist nach einer Verfolgungsjagd heimlich im Parkhaus erzählt. Norman fühlte sich immer mehr wie Alice im Wunderland, nachdem sie in den Kaninchenbau gefallen war, nur dass es sehr echt wirkte. Er erwartete immer noch, dass gleich ein Bekannter von ihm hervorsprang und das Ganze als verspäteten Aprilscherz auflöste.
„Okay, also konnten Sie mit der Geschichte nicht an die Öffentlichkeit.“
„Genau. Anonymous hat sich daher darauf konzentriert, das Projekt direkt anzugreifen.“
„Was? Also mit Hackerangriffen? DDoS-Attacken und so weiter?“
„Nein, damit hätte man nichts erreichen können. Dafür sind sowohl Five-Eyes als auch die Internetgiganten zu gut geschützt. Wir haben stattdessen angefangen, eine technische Lösung zu entwickeln, die einen vor Argos-Link unsichtbar macht. Wir wollten uns die Anonymität zurückerobern.“
An diese Möglichkeit hatte Norman bisher nicht gedacht: „Und wie soll das gehen, wenn es schon mit Darknet etc. nicht klappt?“
„Wissen Sie, was weißes Rauschen ist?“
„Ja, ungefähr. Das ist doch eine Art zufälliges Störsignal, welches keine echten Informationen enthält.“
„Ja, so in etwa. Die Verteidigung gegen Argos-Link ist ein Tool, das die Nutzerdaten im Internet puffert und weißes Rauschen darüberlegt, sodass keine KI hier eine eindeutige Signatur eines Nutzers erkennen kann. Die Kernfunktion von Argos wäre damit unbrauchbar, und die User könnten sich weiterhin im Internet anonymisieren.“
„Also eine Art künstliche Streuung des Nutzerverhaltens?“
„Genau. Der Rhythmus des Tastenanschlags, die Verweildauer auf Seiten, sogar die Mausbewegungen werden durch winzige, für den Nutzer nicht wahrnehmbare, Steuereingriffe unscharf gemacht. Argos-Link könnte nicht unterscheiden, welche Daten vom Störgeräusch und welche tatsächlich vom User sind. Das Tool, das das ermöglichen soll, heißt No-Match.“
Aus der technischen Perspektive klang das für Norman mittlerweile alles ziemlich interessant, allerdings hatte er immer noch nicht die leiseste Idee, warum sie ausgerechnet ihm das erzählte. Er beschloss jedoch, den Ausführungen dieser mysteriösen, wenn auch wenig vertrauenserweckenden Frau weiter zuzuhören:
„Doch die Lösung ist nicht so trivial, wie es gerade klingen mag. Wir reden hier von einem Programm, das auf einem normalen PC läuft, aber es schafft, die leistungsfähigsten Computer der Welt zu täuschen. Schließlich haben wir es hier mit den Internetgiganten und mächtigsten Geheimdiensten zu tun. Um das Programm zu entwickeln, haben wir Teile in mehrere Open-Source-Projekte eingeschleust, an denen die besten Programmierer und Mathematiker teilnehmen, die wir finden konnten. Letzten Endes ist es uns vor drei Monaten gelungen, eine erste Version fertigzustellen.“
Sie setzte fort:
„Das Problem ist nur, dass Five-Eyes wissen, dass es dieses Programm gibt, und wir die Software nicht einfach zum Download anbieten können. Die Internetkonzerne würden sofort die Seite sperren oder Rechner, auf denen das Programm installiert wurde, vom Internet abkoppeln. Wir mussten uns also einen Weg überlegen, die Software unerkannt auf möglichst vielen Rechnern gleichzeitig zu installieren. Und da kam uns die Idee, sie in die Programmbibliothek einer anderen alltäglichen Software einzuschleusen.“
„Ein Trojaner?“
„Ja, aber keiner, der dem Nutzer schadet, sondern der es ihm ermöglicht, unerkannt im Internet zu bleiben.“
Norman ahnte nun langsam, worauf das hinauslief und was er letzten Endes damit zu tun hatte.
„Eine der Firmen, bei denen wir in einem Softwareentwicklungsprojekt die entsprechende Programmbibliothek platziert haben, ist CyntaCom.“
„Die Firma, bei der ich arbeite?“
„Nicht nur die Firma, sondern genau das Projekt, an dem Sie seit zwei Monaten arbeiten.“
„Sie meinen Easy-Bill? Das ist doch nur eine einfache Buchhaltungssoftware für kleine Unternehmen und Startups. Nichts, was sich Millionen Menschen installieren werden.“
„Es ist natürlich nicht das einzige Projekt, bei dem wir die Software eingeschleust haben. Aber es ist eines der wenigen, von denen Five-Eyes weiß.“
„Und was bedeutet das?“
„Dass Five-Eyes seine Agenten losschickt, um an die Software zu kommen.“
„Und was wollen die von mir?“
„Eine Kopie des Sourcecodes. Sie haben schließlich Zugriff darauf. Die benötigen den Code, um den Algorithmus von No-Match zu analysieren und Argos-Link so zu verbessern, dass es das Programm erkennt.“
„Okay, aber warum lauern die mir auf und hacken sich nicht einfach auf unsere Server?“
„Das ist nicht so einfach, wie es im Fernsehen aussieht. Wir haben unter anderem CyntaCom ausgewählt, weil Ihre Firma den höchsten Standards in der IT-Sicherheit entspricht.“
„Das stimmt allerdings“, sinnierte Norman. „Das liegt daran, dass wir viele Projekte für die Gesundheits- und Finanzindustrie machen, die das Einhalten dieser Standards verlangen.“
„Deswegen muss Five-Eyes an jemanden herankommen, der Zugang zum Sourcecode hat.“
„Aber das würde ja bedeuten, dass die größten Internetkonzerne und Geheimdienste der Welt hinter mir her sind.“ Norman musste unwillkürlich lachen. So einen Quatsch hatte er schon lange nicht mehr gehört.
„Also, Frau Schacht, oder wie Sie auch heißen mögen, das ist ja eine ganz nette Story. Aber was wollen Sie wirklich von mir? Geht es um Geld? Ist das eine neue Masche von Trickbetrügern? Ich muss zugeben, Ihr Auftritt vorhin im Fahrstuhl war wirklich gut und die Verfolgungsjagd fast filmreif.“ Norman klatschte sarkastisch mit den Händen.
„Herr Beckmann, so ist es nicht.“
„Ich werde jetzt aussteigen und wenn Sie mich nochmal belästigen, rufe ich die Polizei“, sagte er nun deutlich weniger amüsiert. Nicht zu fassen, dass er dieser Frau anfangs geglaubt hatte.
„Woher weiß ich dann Ihren Namen oder wo Sie arbeiten?“
„Hab ich mich auch schon gefragt, aber dann ist mir klar geworden, dass das alles Infos sind, die auf sozialen Medien frei zugänglich sind. Sie finden meinen Namen außerdem auf der Website von CyntaCom. Also, wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“ Norman machte sich daran, nach dem Türgriff zu suchen.
„Okay, wenn Sie mir nicht glauben, dann schauen Sie bitte ins Handschuhfach.“
„Was? Warum sollte ich?“
„Schauen Sie rein, dann sehen Sie selbst.“
Norman schaute maximal skeptisch zu ihr und wechselte dann mit dem Blick zum Handschuhfach vor ihm. Nach einem kurzen Augenblick des Überlegens obsiegte die Neugier und er öffnete es schließlich. Ihm fiel eine Mappe aus rotem Karton entgegen, auf die jemand mit Filzstift „Norman Beckmann“ geschrieben hatte.
„Was ist das?“
„Machen Sie sie auf und sehen Sie selbst.“
Er schlug die Mappe auf und vor ihm lag eine lose Blättersammlung. Auf der ersten Seite ganz oben war ein Bild von ihm und die Aufschrift Highly Confidential – FVEY Only. Das Bild war das gleiche wie auf seinem Personalausweis, nur stark vergrößert und in Schwarz-Weiß. Er schaute sich auch die folgenden Blätter an; anscheinend handelte es sich um Kopien von Originaldokumenten. Sie waren alle schwarz-weiß, teilweise schief und in schlechter Qualität. Dies änderte jedoch nichts daran, dass Norman beim Durchblättern immer blasser wurde.
Da waren noch mehr Fotos von ihm, aber keine offiziellen, sondern Schnappschüsse aus seinem Alltag: wie er vor seinem Haus ins Auto steigt oder an der Kasse im Supermarkt steht. Da waren auch Bilder von seiner Exfrau Anna und seiner Tochter. Er spürte, wie sein Herz immer schneller schlug. Er blätterte weiter. Da waren Textdokumente, Kopien seiner Gehaltsabrechnungen, und dann, nein, das konnte nicht sein: Mitschriften von Telefonaten, die er geführt hatte. Kurznachrichten, die er versendet oder empfangen hatte. Norman wurde heiß und kalt, ihm schnürte sich regelrecht die Kehle zu. Schockiert schaute er zur Frau neben ihm, die ihn mit einem ernsten Blick bedachte.
„Glauben Sie mir jetzt?“
„Woher haben Sie das?“
„Unser Informant, von dem ich sprach, hat im Zusammenhang mit Argos-Link ein Pamphlet über Sie in die Finger bekommen und uns diese Kopien zukommen lassen. Daher wissen wir auch, dass Five-Eyes es auf Sie abgesehen hat.“
Norman wurde übel, er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
Doch trotz der intimen Informationen, die ihm gerade über sich selbst präsentiert wurden, konnte er das Ganze immer noch nicht glauben. Wieso ausgerechnet er? Was hatte das alles mit ihm zu tun? Er war ein harmloser Programmierer. Nichts in seinem Leben hatte irgendetwas mit Geheimdiensten oder irgendwelcher Verschwörungen zu tun. Plötzlich stieg eine Eingebung aus seinem Unterbewusstsein empor und er erschloss gedanklich einen Zusammenhang, den er eigentlich nicht für möglich hielt. Er hatte Angst nachzufragen, doch gleichzeitig konnte er sich gegen den Gedanken nicht erwehren. Langsam sprach er:
„Hat das etwas… mit Marc zu tun?“
„Was?“, fragte sein Gegenüber überrascht.
Norman wiederholte seine Frage langsam, während er innerlich unter Hochspannung stand.
„Hat das Ganze etwas mit meinem Bruder Marc zu tun?“
Die mysteriöse Frau fixierte ihn. Sie schien mit sich zu ringen, wie viel sie von dem, was sie wusste, wirklich preisgeben sollte. Ihr innerer Kampf war offensichtlich, irgendetwas schien sie zurückzuhalten. Doch dann erwiderte sie mit einer eindringlichen, jedes Wort betonenden Art:
„Ich habe Kontakt zu einer Gruppe von Leuten, die Informationen zu Ihrem Bruder haben. Mehr kann ich Ihnen zurzeit nicht sagen.“
Norman wurde regelrecht zittrig vor Aufregung. Die nächsten Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus.
„Was heißt das? Was wissen Sie über das Verschwinden meines Bruders? Ist er noch am Leben?“
„Herr Beckmann, wie ich Ihnen bereits deutlich gemacht habe, kann ich Ihnen zurzeit nicht mehr sagen. Aber wenn Sie mir helfen, stelle ich Kontakt zu den Leuten her, die Ihnen den Aufenthaltsort Ihres Bruders nennen können.“
„Den Aufenthaltsort? Also lebt er noch?“
„Das weiß ich nicht, Herr Beckmann. Ich weiß nur, dass er eine Rolle bei dem Ganzen spielt.“
Spätestens jetzt wurde es Norman zu viel. Versuchte er es zuvor noch als blöden Scherz und Betrügermasche abzutun, konnte er diese Perspektive nun nicht mehr aufrechterhalten. Seine Welt brach regelrecht in sich zusammen. Er schnappte nach Luft.
„Das ist... das kann nicht... Ich muss hier raus“, sagte er und verließ das Auto.
Norman saß auf einer Bank in der Food-Corner des Einkaufszentrums und blickte ins Leere. Er versuchte immer noch, sich selbst zu erklären, dass das alles ein Traum sein musste oder versteckte Kamera. Doch dafür fühlte es sich viel zu ernst an: die Verfolgungsjagd, die Schilderung seiner neuen Bekanntschaft, die Mappe mit den Fotos und vertraulichen Informationen über ihn.
„Hier, wie gewünscht, Kaffee schwarz mit doppelt Zucker.“ Miriam setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und stellte ihm den dampfenden Pappbecher hin. Es war nicht viel los um sie herum. Eine kleine Schlange stand vor dem Fastfood-Restaurant, und hier und da schlenderte jemand vor den Schaufenstern vorbei.
„Danke“, sagte Norman leise in sich gekehrt.
„Was ich nicht verstehe: Wenn diese Agenten mich schon so genau ausgekundschaftet haben, warum suchen sie dann im Supermarkt nach mir und lassen mich einfach laufen? Warum sind sie nicht zu meiner Wohnung gefahren?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht hatten sie gar nicht vor, Sie wirklich zu erwischen. Vielleicht wollten sie Sie nur ein bisschen einschüchtern, Ihnen Angst machen.“
Norman rieb sich mit gesenktem Blick die Stirn. Er konnte das alles nicht fassen.
„Hören Sie, ich weiß, das ist viel zu verdauen für einen Mittwochvormittag. Aber Sie und ich müssen bald handeln, wenn Sie Ihre Freiheit wiederhaben wollen.“
„Was wollen Sie denn tun? Wie können Sie mir helfen?“
„Es gibt eine Möglichkeit, Ihre Verfolger abzuschütteln.“
„Und die wäre?“
„Wir müssen die Programmbibliothek bei CyntaCom austauschen, sodass sie unbrauchbar für Five-Eyes wird.“
„Aber das würden die doch sofort merken und mich dann erst recht ins Visier nehmen.“
„Nicht unbedingt. Es gibt einen Prototypen von No-Match. Er enthält nicht den echten Algorithmus, aber er ist aufwändig genug geschrieben, um den Eindruck zu erzeugen, echt zu sein, und manchmal ist der Schein trügerischer als die Lüge. Wenn Sie es schaffen, diesen Programmteil gegen den originalen bei CyntaCom auszutauschen, können Sie sich Ihren Verfolgern stellen und mit ihnen kooperieren. Sie bekommen von ihnen dann das manipulierte Programm und werden Sie anschließend in Ruhe lassen.“
„Wissen Sie, was Sie da verlangen? Ich müsste mir Zugang zu dem Zentralrechner von CyntaCom beschaffen. Und nicht nur das, ich müsste auch alle Backup-Dateien ändern.“
„Ich habe nicht gesagt, dass es leicht wird. Wir müssen uns einen Plan überlegen.“
„Und wer garantiert mir, dass die mich in Ruhe lassen, wenn sie haben, was sie wollen? Wenn sie rausfinden, dass sie betrogen wurden, werden sie doch zurückkommen.“
„Ich kann es Ihnen nicht garantieren, aber ich habe eine ähnliche Situation schon mal erlebt. Was diese Leute wollen, ist auf keinen Fall Aufsehen erregen. Five-Eyes werden erst merken, dass sie eine veraltete Version haben, wenn Anonymous mit der echten Version online geht. Niemand wird sicher wissen können, ob Sie die Software ausgetauscht haben oder ob sie vorher schon veraltet auf dem Server lag.“
„Das klingt mir alles etwas sehr riskant und vage. Und ehrlich gesagt, weiß ich auch immer noch nicht, ob ich Ihnen vertrauen soll. Ich meine, woher soll ich wissen, dass Sie mich nicht hinters Licht führen und die Software selbst haben wollen?“
„Wir haben die Software selbst entwickelt und ich habe daher kein Interesse an einer Kopie. Mein Interesse ist allein, zu verhindern, dass die Software in die falschen Hände kommt.“
„Aber Sie wollen, dass ich irgendeine angeblich alte Programmbibliothek an unserem Sicherheitssystem vorbei auf unseren Server lade. Woher soll ich wissen, dass dort kein Virus drauf ist?“
„Sie können die Software vorher analysieren und einen Virenscanner drüber laufen lassen, wenn Sie mögen. Aber ab irgendeinem Punkt müssen Sie entscheiden, ob Sie mir vertrauen.“
Norman blickte sie an. Ihre grünen Augen fixierten ihn. Er versuchte, in ihnen zu lesen, ob sie ehrlich mit ihm war. Doch es fiel ihm schwer, sie hatte diesen eindringlichen Ausdruck in ihren Augen und schien hoch konzentriert, als ginge es um die wichtigste Entscheidung in seinem Leben. Sie versuchte anscheinend nicht, ihn mit ihren Reizen zu verführen, obwohl das sicherlich nicht schwer gewesen wäre. Sie vermittelte Norman mit ihrem festen Blick den Eindruck, dass es ihr absolut ernst war und er eine sehr wichtige Rolle in dieser Sache spielte.
Als er nur in Erwägung zog, dass es wahr war, was diese mysteriöse Frau ihm erzählt hatte, schnürte sich ihm sofort wieder die Kehle zu. Er konnte das nicht alles auf einmal verdauen.
„Ich muss darüber nachdenken. Ich kann gerade keine Entscheidung treffen.“
„Okay, ich muss Sie nur um eines bitten. Gehen Sie heute nicht zurück an Ihren Arbeitsplatz und fahren Sie nicht nach Hause.“ Sie zog etwas aus ihrer Jackentasche und legte es unauffällig unter dem Tisch auf seinen Oberschenkel. Norman hatte nicht mit dieser plötzlichen Berührung gerechnet.
„Dies ist ein Prepaid-Handy. Wenn Sie sich entschieden haben, wählen Sie die Schnellwahltaste eins. Damit erreichen Sie mich.“ Dann fügte sie noch etwas weniger selbstsicher hinzu: „Norman, bitte machen Sie nichts Unüberlegtes und reden Sie mit niemandem über das, was wir besprochen haben.“
Mit diesen Worten stand sie auf und entfernte sich von ihm, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er schaute ihr nach, bis sie in der Menge verlorenging. Er nahm nun erstmals einen Schluck von seinem Kaffee. Das noch heiße und sehr süße Getränk half ihm, sich etwas zu entspannen. Er kratzte sich am Kopf und ging das, was er gerade gehört hatte, noch einmal durch. So ungefähr die attraktivste Frau, die seit Langem mit ihm gesprochen hatte, bittet ihn darum, einen geheimen Programmcode bei seiner Firma zu manipulieren, um Anonymous zu helfen, unerkannt im Internet zu bleiben. Bei der Formulierung dieses Gedankens musste er unweigerlich die Augenbrauen hochziehen und in sich hineinschmunzeln. Das kann doch alles nicht wahr sein. In welchen Film war er da nur hineingeraten?