Der Bastardprinz - Philipp Pfefferkorn - E-Book

Der Bastardprinz E-Book

Philipp Pfefferkorn

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Beschreibung

Das Königreich Ædwen befindet sich in großer Gefahr: Hochkönigin Hela ab Vespan ist von Alter und Krankheiten geplagt, und ihr Thronerbe ist noch ein Säugling, unfähig zu herrschen. In diesen finsteren Zeiten drohen gefährliche Intrigen, das Reich von innen heraus zu zerreißen, während der Feind bereits an den Grenzen lauert und nur auf einen geeigneten Zeitpunkt wartet, um zuzustoßen. Edwyn, ein junger Krieger sowie der einzige Überlebende eines grausamen Massakers, muss sich nun in diesem Wirrwarr aus hinterlistigen Machenschaften und drohenden Kriegen zurechtfinden und erkennen, dass die Weltengeister, die Kinder der Schöpfung, womöglich mehr mit ihm vorhaben und aus diesem Grund die Aufmerksamkeit einer meisterhaften Geistersprecherin auf ihn gelenkt haben. Gleichzeitig wartet er aber auch - ebenso wie viele andere im Reich - sehnsüchtig auf die Ankunft des Bastardprinzen, des verstoßenen Sohns der Hochkönigin, der aus dem Exil gerufen wurde, um Ædwen zu beschützen ...

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Seitenzahl: 749

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Bastardprinz

DIE ACONIA- CHRONIKEN

BUCH EINS

PHILIPP PFEFFERKORN

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Texte: ©2025 Philipp Hentschel

Lektorat & Korrektorat: Mentorium

Coverdesign: Pietro D’Angelo

Weitere Grafiken: Lukas Maier alias Grao Graphics

Buchsatz: Falkenfederdesign unter Verwendung von Grafiken von Grao Graphics

Verleger: Philipp Hentschel

Magdeburger Str. 3

73730 Esslingen

Druck & Distribution im Auftrag des Autors:

epubli

ein Service der Neopubli GmbH Köpenicker Straße 154a 10997 Berlin

Inhalt

Der aconianische Kalender

Prolog

Teil I

1. Edwyn

2. Darian

3. Edwyn

4. Edwyn

5. Edwyn

6. Darian

7. Edwyn

8. Darian

9. Darian

10. Edwyn

11. Edwyn

12. Edwyn

13. Edwyn

14. Edwyn

15. Edwyn

Teil II

Interludium I

Interludium II

1. Darian

2. Edwyn

3. Darian

4. Edwyn

5. Edwyn

6. Darian

7. Edwyn

8. Edwyn

9. Edwyn

10. Edwyn

11. Edwyn

12. Edwyn

13. Edwyn

14. Darian

Teil III

Interludium III

Interludium IV

1. Edwyn

2. Edwyn

3. Darian

4. Edwyn

5. Darian

6. Edwyn

7. Edwyn

8. Darian

9. Edwyn

10. Edwyn

11. Edwyn

12. Darian

13. Edwyn

14. Edwyn

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Der aconianische Kalender

Auszug aus den Annalen des Singenden Volkes von Navia Andronica, der dritten Geschichtsschreiberin Pandars, Erstausgabe aus dem Jahre 681 n. Ex.:

Das Volk der Anya, gemeinhin auch das Elfenvolk genannt, war bekanntermaßen überaus fasziniert von den Sternen und im Allgemeinen den Bewegungen der Himmelsgestirne. Wie genau sie diese Bewegungen nachvollziehen und sogar im Voraus berechnen konnten, bleibt bis heute ein Mysterium, das selbst die Runari nicht zu lüften gewillt scheinen.

Das aconianische Jahr hat, den Messungen der Anya zufolge, eine Länge von 308 Tagen über den Verlauf von elf Monaten. Die Elfen selbst begannen ihre Jahresrechnung vor tausenden von Jahren mit der ‚Zeit des Ersten Lieds‘, während die Runari erst vor einigen Jahrhunderten mit dem Jahr des Exodus begonnen haben, die Jahre zu zählen.

Prolog

Duvinean, Königreich Ædwen; 599 n. Ex.

Es war der 28. Tag des fünften Monats, den die Anya Eon getauft hatten, nach der Sommersonne und dem flammenden Licht der warmen Tage. Es war auch der Abend der Sonnenwende, vom Singenden Volk Eonséira genannt, und es war außerdem – jedenfalls was das Flussvolk von Duvinean betraf – jener Abend, der ihrer Stadt den Tod brachte.

Der Name Duvinean entstammte wie so viele andere Begriffe, den die Menschen auch lange Zeit nach dem Verschwinden der Anya noch verwendeten, der Alten Zunge und bedeutete in etwa so viel wie ‚Die Insel des Duvin‘. Und genau das war es auch: eine Stadt erbaut auf einer Insel inmitten der reißenden Strömung des Grenzflusses zwischen den Königreichen Ædwen und Amon. Viele andere, vor allem jene Menschen im Süden Ædwens, würden Duvinean wohl kaum als eine Stadt bezeichnen, vielmehr als Siedlung oder große Ortschaft, doch für die Flüsslinge war es der ganze Stolz ihrer Heimat und hatte diesen Titel damit mehr als verdient. Duvinean verfügte über einen stattlichen Flusshafen, einen für ländliche Verhältnisse recht eindrucksvollen Schöpferschrein sowie über drei Gasthöfe, die zu den höchsten Gebäuden der Stadt zählten, nur überboten von dem steinernen Festungsturm im Zentrum, von dessen Zinnen das Bärenbanner des Flussvolks hing. Ein Palisadenwall aus dicken, oben angespitzten Eichenstämmen umringte den Ort beinahe zur Gänze, womit neben dem Hafen zwei breite Holzbrücken die einzige Möglichkeit darstellten, vom Land aus in die Stadt zu gelangen. Die Flussleute waren seit jeher ein starkes und unabhängiges Volk, das sich die letzten Jahrhunderte über stur geweigert hatte, diese Unabhängigkeit aufzugeben. Da sie jedoch nicht nur einen wichtigen Flussübergang für sich beanspruchten, sondern auch reichhaltige Fischgründe sowie fruchtbare Ländereien zu beiden Seiten des Flusses ihr Eigen nannten, sahen sie sich mit beständigen Anfeindungen aus den umliegenden Gebieten konfrontiert. Die Pandari patrouillierten den Fluss im Norden der Stadt und erhoben saftige Zölle auf alle Schiffe, die durch ihr Gebiet fuhren, während im Westen die ædwenischen Gutsherren immer abstrusere, nur fadenscheinig rechtmäßige Gebietsansprüche vorlegten und teilweise mit Waffengewalt durchzusetzen versuchten. Aus dem Osten aber drohte die größte Gefahr, denn die Wölfe Amons scherten sich einen feuchten Dreck um vermeintliche Rechtmäßigkeit oder ähnliche Belanglosigkeiten. Sie nahmen sich einfach, was sie wollten, deshalb kam es nicht selten zu blutigen Plünderungszügen durch die östlichsten Gebiete des Flusslandes. Nach Jahrzehnten der Konflikte sahen sich die Flüsslinge schließlich dazu gezwungen, sich unter den Schutz der ædwenischen Krone zu stellen, und seitdem waren sie zu einem noch größeren Dorn in den Augen Amons geworden, zu einem Schandfleck auf der Landkarte und zudem einem der wichtigsten Außenposten ihres ärgsten Feinds: Ædwen.

Dies sollte sich heute, an diesem jungen Sommerabend, der eine erfrischende Kühle nach der sengenden Hitze des Tages bringen sollte, ein für alle Mal ändern.

Duvinean brannte. Lichterloh züngelten die Flammen empor, leckten an den Schindeldächern der Häuser und den Stämmen der Palisade, verzehrten alles auf ihrem Weg und zogen Schneisen der Verwüstung durch die sterbende Stadt. Dichter Rauch hing über dem Inferno und verdeckte sowohl das letzte verwaschene Licht des Tages als auch die ersten Sterne der Nacht. Einzig und allein der Festungsturm im Zentrum ragte über den Rauchschwaden empor, doch auch aus seinen Fenstern quoll es dick und schwarz hervor, was den endgültigen Fall der Bären Duvins markierte. Das Flussblut tränkte die Straßen der Stadt, und ein Ende war noch lange nicht in Sicht.

An diesem Abend lachten und tanzten die Schatten auf den Körpern der Toten, während die Weltengeister, die Kinder der Schöpfung, bitterlich um jede Seele weinten, die zu ihnen geschickt wurde, bevor ihre Zeit gekommen war.

Schreie der Verzweiflung und der Angst drangen seltsam gedämpft durch den Schleier der Zerstörung, trotzdem waren sie wie Musik für die Ohren desjenigen, der für all das hier verantwortlich war. Es war die Melodie seines Triumphs.

Virax ab Makael, der Mann, der König werden wollte, schloss für einen Moment die Augen und sog genüsslich die Luft ein. Er schmeckte Hitze, Rauch und Tod, er schmeckte den Anbruch einer neuen Ära und das Ende von allem, was war. Jetzt würde sich dieser Schwachkopf auf dem Wolfsthron nicht länger vor der Wahrheit verstecken können, ebenso wenig wie seine verschwindend geringe Menge an Unterstützern. Denn wenn Ædwen Vergeltung forderte, würde Amon einen Herrscher brauchen, der nicht vor dem zurückschreckte, was getan werden musste. Es würde Virax brauchen.

»Der letzte Widerstand ist gebrochen, Herr!« Eine beinharte Frauenstimme riss Virax aus seinen Gedanken. Die Frau, die ihr Pferd drei Schritte entfernt zum Stehen gebracht hatte, war weder besonders groß noch besonders kräftig und hatte die Jahre ihrer Jugend bereits hinter sich. Die Krieger nannten sie Wolfskrähe, doch eigentlich hieß sie Nika und zählte zu seinen wichtigsten Gefolgsleuten. Er schätzte ihren Rat sehr – etwas, das er nicht von vielen noch lebenden Menschen behaupten konnte. Ihr rabenschwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden, und im flackernden Feuerschein des brennenden Torhäuschens glänzten Blutspritzer auf ihrem Kettenhemd sowie ihrem Gesicht. Ihr Schwert steckte wieder in der Scheide, und das sagte Virax mehr als alles andere, dass Duvineans Tage gezählt waren.

»Ein paar der Verteidiger haben einen Ausfall über die westliche Brücke versucht, aber der Schlächter hat ihnen den Weg abgeschnitten und sie erledigt«, berichtete Nika weiter. Sie sagte es nüchtern, so als kümmere sie der Tod von dutzenden Menschen keineswegs. Und soweit Virax das beurteilen konnte, kümmerte Nika ohnehin nur sehr wenig, was nicht ihr eigenes Leben betraf; eine Eigenschaft, die er an ihr ebenso schätzte wie ihr Vermögen, sich an jeden Wechsel der Gegebenheiten anzupassen. Sicher, wenn es ihr mehr nützen würde, ihn zu verraten, würde sie das ohne zu zögern tun, doch wenn man ihn fragte, lag darin mehr Ehrlichkeit als in all den Treuebekundungen und Schwüren, die er von seinen anderen Gefolgsleuten zu hören bekam. Er wandte sich an seinen Bruder Rafnar, der neben ihm auf einem kleinen grauen Pferd saß und scheinbar fasziniert beobachtete, wie ein feines Blutrinnsal das nackte Bein einer unweit von ihnen aufgeknöpften Flussfrau hinunterlief und in kleinen Tropfen zu Boden fiel, wo es dann versickerte.

»Du hattest Recht«, sagte Virax und holte damit die Aufmerksamkeit seines Bruders zurück in die Wirklichkeit. Rafnar hob den Kopf. Er war klein und dürr und von Kopf bis Fuß mit schwarzen, ineinander verschlungenen Tätowierungen bedeckt, die im Feuerschein zu tanzen schienen wie dutzende Nachtschlangen.

»Die Flussleute geben nicht so leicht auf.« Virax deutete auf die Frau, die Rafnars Blick auf sich gezogen hatte. »Das dort war eine Metzgerin. Ich habe gesehen, wie sie drei meiner Männer ohne Furcht mit dem Hackbeil angegriffen hat und selbst dann noch Flüche ausspuckte, als man sie mit der Schlinge um den Hals in die Höhe zog.« Er lachte leise. »Nicht, dass es ihr etwas genützt hätte. Am Ende sterben sie alle.«

Rafnar schien unbeeindruckt. »Das Blut der Geister fließt tief im Boden dieses Landes. Das Wasser des Flusses ist erfüllt davon. Es wundert mich nicht, dass diese Leute sich an das Leben klammern. Selbst die Fische hier sind fetter und widerspenstiger als irgendwo sonst. Du tust gut daran, diesen Ort von der Landkarte zu tilgen und sein Volk auszulöschen. Sie hätten uns in den Jahren, die noch kommen, nur Schwierigkeiten bereitet.« Mit diesen Worten zog er an den Zügeln seines Pferds und wandte sich von dem Ende Duvineans ab. Dann jedoch hielt er abrupt inne und hob überrascht die Augenbrauen. »Sieht aus, als hätten deine Krieger jemanden übersehen.«

Virax drehte sich um und sah einen kleinen Jungen, der mitten im Tordurchgang erstarrt war und voller Angst zu ihnen hinüberschaute. Noch bevor sich Virax fragen konnte, wie und wo bei allen verdammten Schattendämonen sich der Junge hatte verstecken können, riss sich der Bursche aus seiner Starre und hechtete los, geradewegs über die hölzerne Brücke auf die vermeintliche Sicherheit des Festlandes zu. Zwar wimmelte es auch dort von amonischen Kriegern, doch Virax wollte es nicht darauf ankommen lassen. Ein Junge würde erwachsen werden, und er hatte in den letzten Tagen zu mehr als einer Gelegenheit mit ansehen dürfen, wozu ein erwachsener Flüssling imstande war.

»Wenn man etwas gut erledigt haben will, muss man es selbst machen, wie?«, sagte er mit einem Seufzen und entriss einem seiner Leibwachen den Speer, bevor er seinem Pferd die Fersen in die Flanken drückte und dem Flüchtenden hinterherritt. Der Junge war verängstigt, müde und erschöpft und stolperte mehrfach, weshalb es dem Hengst keinerlei Schwierigkeiten bereitete, ihn einzuholen, selbst in leichtem Trab. Auf halber Strecke zog Virax ein wenig an den Zügeln, damit er besser zielen konnte, und schleuderte den Speer dann in gerader Linie die Brücke entlang. Es war ein guter Wurf, der Speer bohrte sich geradewegs in den Rücken des Jungen und riss ihn von den Füßen. Der kleine Körper krümmte sich und verschwand außer Sicht, bevor er kurz darauf mit einem Platschen im Wasser des Duvin landete. Virax verharrte für einige Augenblicke und blickte mit grimmiger Zufriedenheit auf das dunkle Wasser, doch das Flussbalg tauchte nicht wieder auf, und damit war die Sache für ihn erledigt. Er wandte sich zu den anderen um und bedeutete ihnen mit einem knappen Handzeichen, ihm zurück ans Ufer zu folgen. Duvinean war Geschichte, und somit hatte es für ihn keinen Wert mehr, seine Zerstörung bis zu ihrem bitteren Ende mitanzusehen.

Es war an der Zeit, sein Schicksal einzufordern.

1

Edwyn

Car Cadwen, Königreich Ædwen; 611 n. Ex.

Ein Schrei zerriss die Stille der Nacht, so qualvoll und unmenschlich, dass Edwyn beunruhigt zusammenzuckte und den Speer fester packte. Sein Atem bildete kleine Wölkchen in der bitterkalten Luft, während der eisige Westwind durch seinen Umhang, sein Kettenhemd und das Wams darunter fuhr und ihn frösteln ließ. Er schickte ein stilles Stoßgebet zu den Schöpfern, auf dass sie den Wind beruhigen und ihnen allen die Kälte ersparen mochten.

Der Winter rückte beständig näher, das war im ganzen Land zu spüren. Zwei Wochen war es bereits her, dass sie Lugnas gefeiert hatten, das Erntedankfest, und schon da hatten die Bauern gesagt, dass der Schnee nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Die Erde war hart und gefroren, die Bäume ragten kahl über der Landschaft auf. Die Welt vor den dicken Mauern der Festung lag still und tot da, als hätten die Sonnengeister sie bereits verlassen und der kalten und trostlosen Leere überantwortet.

Ein weiterer Schrei gellte über den Hof von Car Cadwen, noch lauter als der erste.

Hochkönigin Hela ab Vespan, die Füchsin des Südens, hob träge den Kopf und blickte in den klaren Sternenhimmel hinauf. Eingehüllt in einen Berg aus Pelzen und zusammengesunken in ihrem thronartigen Stuhl, wirkte die Herrscherin Ædwens noch kränklicher und ausgemergelter als sonst.

»Wie stehen die Vorzeichen?«, fragte sie schließlich. Eine gedrungene, in weite Gewänder gehüllte Gestalt trat an die Seite der Königin. Dabei rasselte und klimperte es, als die vielen kleinen bunten Perlen, Muscheln und Knochen aneinanderstießen, die zusammen mit einem einfachen Dolch und mehreren Beutelchen am Gürtel der Frau hingen. Sie hatte ein ausdrucksstarkes, würdevolles Antlitz, und trotz ihres hohen Alters war ihre dunkle Haut frei von Pockennarben oder anderen Anzeichen vergangener Krankheiten. Ein mit weiteren Schmuckkettchen verziertes Kopftuch bedeckte den Großteil ihres grauen Haars, und in die Stirn und die Wangen darunter waren mit Tinte altertümliche Runen eingestochen. Weitere Runen prangten auf ihren Fingerknöcheln sowie auf den beiden kleinen Elfenglassteinchen, die an ihren Ohren hingen. »Unverändert«, erwiderte die Frau knapp. Genau wie Königin Hela sprach auch sie Orbos, die Weltensprache, wenn auch mit leichtem, kaum hörbaren Akzent. »Macht Euch nicht zu viele Sorgen, das bekommt Euch nicht gut.«

Edwyn unterdrückte ein Grinsen und vergaß für einen Moment die Kälte. Niemand außer Morvana würde es wagen, auf diese Art und Weise mit einer der mächtigsten Personen der fünf Menschenreiche Palvans zu sprechen, noch dazu mit einer Königin, die für ihre aufbrausende Art bekannt war. Vorsichtig spähte er aus den Augenwinkeln zu den beiden hinüber und fürchtete fast, die Runa wäre dieses eine Mal tatsächlich zu weit gegangen. Hela jedoch grunzte nur in sich hinein und kratzte sich am Kopf, direkt unterhalb des goldenen, juwelenbesetzten Reifs, der auf ihrem spärlichen weißen Haar lag und ihr als Krone diente. Morvana trat derweil an die Brustwehr und legte die Hände auf den kalten, mit abgestorbenem Moos bewachsenen Stein. Ihr Blick, dem die Weisheit ganzer Äonen innezuwohnen schien, verlor sich in der Ferne, doch ihre Stimme war wie immer fest und klar, mit einem leicht spöttischen Unterton darin.

»Die Geister stehen Euch und Eurem Erben bei, ebenso wie ihre göttlichen Schöpfer. Es wird keine Probleme geben.«

Hela nickte, augenscheinlich zufrieden. Doch als sich beim nächsten Schrei auch noch das wehleidige Wimmern einer Frau hinzugesellte, verzog sie dennoch das zerfurchte Gesicht zu einer mürrischen Grimasse. »Und du bist sicher …«, begann sie, Morvana aber schnitt ihr kurzerhand das Wort ab. »Ich versichere Euch, für den Schutz Eures Erben und seiner Mutter wurde bestens gesorgt. Ich habe die Schutzkreise gezogen und die Bannzauber gesprochen; kein böser Geist wird sich dem Gemach der Lady Arina bis auf zwanzig Schritte nähern können, ohne in der Macht der Schöpfer zu vergehen. Selbst in der Nacht von Sam’han wären die Schatten nicht stark genug, um diese Barrieren zu überwinden.«

Edwyn wusste, wovon sie sprach, denn er selbst hatte sie dabei beobachtet, wie sie die kunstvollen Runen und Formen mit Kreide auf Boden, Wände, Fensterläden und Türen gezeichnet und so die gesamte Festung in ihre schützenden Zauber eingehüllt hatte. Morvana war eine der Geistersprecher oder auch Runari in Anya, der Alten Zunge. Nur sehr wenige Menschen wurden mit dem Talent geboren, auf die Energien der Geisterwelt zuzugreifen und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen, und nur die wenigsten von ihnen brachten es zu der Meisterschaft der Runari.

»Ich kanalisiere die Energien der guten Geister«, hatte Morvana gesagt, als Edwyn sie gefragt hatte, was genau sie denn da tat. »Aber keine Sorge. Ich erwarte nicht, dass so ein Holzkopf wie du das versteht.«

Dann hatte sie gelächelt und ihm diesen Blick zugeworfen, den Edwyn im Laufe der Jahre zu schätzen gelernt hatte. Zuerst hatte er ihn gehasst und sich darüber geärgert, wie die Runa ihn behandelte, wie sie ihn stets in ihrer Nähe hielt und sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit über ihn lustig machte. Damals wie heute verstand er nicht zur Gänze, was Morvana damit bezwecken wollte, doch zumindest durchschaute er mittlerweile die Neckereien und Scherze der Alten und wusste, dass sie ihn im Grunde genommen nur unterrichtete. Nicht in der Kunst eines Geistersprechers – dass Edwyn dazu keinerlei Talent hatte, bekam er oft genug zu hören –, sondern vielmehr in anderen Dingen, im Lesen, Schreiben und Rechnen, in der Alten Zunge, in den Grundzügen der Kräuterkunde sowie in der Lehre der Schöpfer. Es mochte anstrengend und ermüdend sein, doch andererseits hatte es auch gewisse Vorteile, der Liebling der großen Morvana zu sein, aus welchem verfluchten Grund auch immer.

Lord Eyris ab Cadwen, der Neffe der Königin und zudem Herr der Festung, beugte sich nun ebenfalls vor, damit seine Tante ihn besser verstehen konnte. Er war untersetzt, hatte ein freundlich wirkendes Lächeln und deutlich mehr Haare im Gesicht als auf dem Kopf. »Ihr solltet nicht hier draußen sein, meine Königin«, meinte er. »Die Kälte ist Eurer Gesundheit nicht sehr zuträglich.«

»Ich werde Wache halten wie jeder andere meiner Schwurleute«, knurrte Hela und winkte ab. »Heute Nacht wird kein Schattendämon diese Wälle überwinden und sich der Seele meines Enkels bemächtigen.«

Die Königin mochte vielleicht ihre besten Tage längst hinter sich haben und war zudem gezeichnet von der Vielzahl an Krankheiten, die sie inzwischen immer häufiger plagten, doch das hielt sie noch lange nicht davon ab, gemeinsam mit ihren Soldaten auf den Mauern der Festung zu stehen und mit ihren trüben Augen über das Land zu wachen, das sie zu Recht ihr Eigen nennen konnte.

Fröstelnd zog Edwyn seinen Mantel enger um die Schultern. Er befand sich nicht oft in der Gegenwart einer Königin, von daher war es kaum verwunderlich, dass sich ein nicht enden wollendes Gefühl des Unbehagens in seiner Magengrube ausgebreitet hatte. Er schluckte und umklammerte den Schaft seines Speers noch fester, als fürchtete er, ihn zu verlieren und sich so vor den golden und weiß gekleideten und stoisch dreinblickenden Königswachen lächerlich zu machen, von der Königin selbst ganz zu schweigen.

»Gewöhn dich lieber schon einmal daran, mein Junge«, sagte Morvana plötzlich. Als Edwyn erschrocken aufsah, bemerkte er, dass die Runa ihn amüsiert anblickte. »Sobald der kleine Furzkopf erst das Licht unserer wunderbaren Welt erblickt hat, wird es hier von irgendwelchen Würdenträgern, Speichelleckern und anderem Gewürm nur so wimmeln.«

Lord Eyris verdrehte die Augen und murmelte irgendetwas in seinen Bart hinein, während die Königin nur weiter über die Felder und Wiesen vor der Burg starrte, als höre sie nicht einmal zu.

»Äh …«, stammelte Edwyn verdutzt und schluckte erneut. Es kam nicht selten vor, dass Morvana ihn aufzog, doch bislang hatte sie sich im Beisein anderer hoher Herren und Damen stets zurückgehalten. Das schien sich nun geändert zu haben, aus welchem Grund auch immer. »Nicht mehr lange«, fuhr sie unbeirrt fort, »und du wirst die Hinterlassenschaften eines Prinzen wegwischen dürfen und mit seinem Geschrei in den Ohren einschlafen; genieße also deine letzten halbwegs ruhigen Augenblicke.«

»Lass den armen Jungen in Ruhe«, brummte Hela, bevor sich Edwyn auch nur ansatzweise eine angebrachte Entgegnung überlegen konnte. Morvana kicherte leise und wandte sich wieder zur Brustwehr um, während die Königin zwei runzlige Finger hob und Edwyn zu sich heranwinkte.

»Meine Königin?«, gab dieser kleinlaut von sich und trat unsicheren Schrittes vor, während ein weiterer Schrei über den Hof schallte.

»Wie heißt du, mein Junge?«

»Ed … Edwyn, meine Herrin.«

»Edwyn«, murmelte Hela vor sich hin. »Ein guter Name. Ein starker Name. Der Name deines Vaters, nehme ich an?«

»Ich weiß es nicht, Herrin. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Und als meine Mutter starb, war ich noch ein kleines Kind.« Der verzweifelte Schrei einer Frau hallte durch seinen Kopf, ein verblasster Geist aus den Tiefen seiner Erinnerung. Mit ihm kamen der schwache Geruch nach Feuer und Rauch und ein stechender Schmerz in seinem Rücken und in seiner Brust, außerdem ein Anflug von Atemnot, den er rasch wieder zu unterdrücken versuchte. Er widerstand dem Drang, sich an der Stelle zu kratzen, wo sich unter dem Kettenhemd die wulstige Narbe versteckte, die neben seinen lückenhaften Erinnerungen das einzige Zeugnis seiner Vergangenheit darstelle. »Du hast das Herz eines Bären«, hatte Morvana gesagt, als sie die Narbe das erste Mal bemerkt hatte. Dann hatte sie das Narbengewebe mit den Fingern abgetastet, sehr zu seinem Unbehagen; nicht, dass sie das gekümmert hätte. »Du hättest tot sein sollen, Junge. Niemand sonst hätte eine derartige Verwundung überlebt. Die Geister haben Großes mit dir vor, das sehe ich.« Anschließend hatte sie ihm die Wange getätschelt und war weitergegangen, als wäre nichts gewesen.

Nun aber schlug sie gänzlich andere Töne an, als sie ungefragt einwarf, dass er aus dem Waisenhaus von Paerl stammte. »An der Stelle seiner Eltern hätte ich ihn aber wohl auch dort abgeliefert«, sagte sie dann. »Ein Holzkopf ist er, nichts weiter.«

Die Königin achtete nicht auf die Runa und sagte: »Gib nicht zu viel darauf. Meinen Sohn hat sie auch immer so genannt.«

»Eure beiden Söhne«, korrigierte Morvana. »Und das auch nur, weil sie wirklich welche waren.« Sie schnaubte amüsiert und fügte dann murmelnd hinzu: »Und einer von ihnen ist es noch immer.«

Hela verzog das Gesicht, und für einen winzig kleinen Augenblick meinte Edwyn etwas in ihren wässrigen Augen aufblitzen zu sehen, eine seltsame Mischung aus Trauer und Wut. »Du erinnerst mich an ihn, weißt du?«, meinte sie dann jedoch.

»Äh …« Erneut hatte Edwyn keinen blassen Schimmer, was er darauf antworten sollte. Er hatte Prinz Carvan vor dessen Tod nur ein einziges Mal gesehen, und da war er ihm recht unausstehlich vorgekommen. Nicht, dass er das je laut ausgesprochen hätte. Er mochte vielleicht ein Holzkopf sein, aber lebensmüde war er deshalb noch lange nicht.

Hela schien weitersprechen zu wollen, doch da brach ein letzter unmenschlich wirkender Schrei über sie herein und ließ sie alle vor Schreck zusammenfahren. Alle außer Morvana natürlich.

Dann herrschte Stille.

»Bei allen guten Geistern dieser Welt, was war das?«, fragte die Königin mit leichter Verunsicherung in der Stimme. Edwyn schien sie vergessen zu haben, also trat er wieder zurück auf seinen ursprünglichen Posten.

»Das«, begann Morvana mit dieser bedeutungsschweren Stimme zu sprechen, in die sie, wie Edwyn wusste, nur zu gerne verfiel, wenn die Aufmerksamkeit aller auf ihr lag, »war der Schattengeister letzter verzweifelter Versuch, sich der Seele Eures Erben zu bemächtigen.«

»Und?«, hakte Hela nach. »Ist es ihnen gelungen?«

Morvana lächelte wissend. »Das wird uns nur die Zeit zeigen.«

Die Königin schnaubte verärgert und machte sich daran, sich aus ihrem Stuhl zu erheben. Sofort eilte ihr Lord Eyris zur Seite, um sie zu stützen, doch Hela scheuchte ihn mit einer wirschen Handbewegung fort. »Was bin ich denn noch für eine Herrscherin, wenn ich nicht einmal mit eigener Kraft zu stehen vermag?«

Aus den Augenwinkeln verfolgte Edwyn, wie eine der Kammerzofen der Lady Arina über den Hof eilte und die steilen Stufen zur Torplattform erklomm, die ehemals weiße Schürze blutbesprenkelt. Oben angekommen, kniete sie vor der Königin nieder, den Kopf ehrerbietig gesenkt.

»Sprich«, forderte Hela und wedelte ungeduldig mit der knorrigen Hand. »Wie geht es meinem Enkel?«

»Meine Herrin, Lady Arina ist erschöpft von den Strapazen der Geburt, aber wohlauf. Sie …«

»Was kümmert mich das Weib?«, fuhr die Hochkönigin sie an, und ein paar Speicheltropfen flogen durch die Luft. »Sag mir, wie es dem Kind geht!«

Die Zofe zuckte erschrocken zusammen und neigte den Kopf noch tiefer. Edwyn merkte, dass sie am ganzen Leib zitterte.

»Es … es geht ihm gut«, brachte sie schließlich hervor. »Es ist nur …« Sie stockte und schluckte schwer. »Die Geburt, meine Herrin, sie war sehr schwer und anstrengend für beide. Das Kind ist klein und schwach, und …«

»Ich will ihn sehen«, unterbrach Hela sie. »Bring mich zu meinem Enkel!«

Es war der Befehl einer Königin, und weil man sich dem Befehl einer Königin besser nicht widersetzte, erhob sich die Zofe langsam und wandte sich um, die Hände ineinander verschränkt, um ihr Zittern zu verbergen.

»Na dann«, sagte Morvana amüsiert und löste sich von der Brustwehr. »Sehen wir uns den kleinen Furzkopf einmal an.«

2

Darian

Nein.« Arinas Stimme war fest und klar, scheinbar unberührt von den Spuren der anstrengenden Geburt vor einem knappen halben Monat. Ebenso ihre Augen, mit denen sie den zornigen und bohrenden Blick der Hochkönigin erwiderte, scheinbar auch davon unberührt. Darian aber wusste es besser; er kannte seine Schwester zu gut, um sich davon täuschen zu lassen. Er wusste – auch wenn sie sich das selbst vermutlich nie eingestehen würde –, dass sie die Königin fürchtete, dass es ihr vor ihren unbändigen Wutausbrüchen graute und dass sie Angst hatte vor dem, was sie womöglich tun würde, wenn Arina sie zu sehr verärgerte. Auch konnte sie vor Darian ihre Erschöpfung nicht verbergen, weder die leichten Augenringe noch die blassen Züge um ihre Lippen. Er wusste, wie sehr sie sich in den ersten Tagen nach der Geburt abgemüht hatte, und auch jetzt noch gab es vereinzelte Momente, die ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließen, auch jetzt noch raubten ihr die Erinnerungen an die Schmerzen und die Entbehrungen und an ihren nahen Tod in so mancher Nacht den Schlaf. Er nahm sich vor, ihr später ein heißes Entspannungsbad vorzuschlagen. Seit sie vor zwei Jahren Pandar verlassen hatten, hatte es kaum noch günstige Gelegenheiten für ein richtiges Bad gegeben, wie sie es aus ihrer Heimat gewohnt waren.

»Ich werde meinen Sohn nicht nach seinem Vater benennen«, sagte Arina nun und zwang Darian dadurch, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Konversation zwischen Königin und Prinzessin zu widmen. »Doch, genau das wirst du tun, Weib«, zischte Hela mit hochrotem Kopf, die Hände um die Armlehnen ihres Sessels gekrallt. »Sein Name wird Carvan lauten, so wahr ich hier sitze. Und du wirst dich meiner Anordnung beugen, ohne Widerrede!«

Sie saßen am Kopfende der großen Halle von Car Cadwen, direkt am Kamin, in dem ein großes Feuer brannte und behagliche Wärme aussandte. Über dem Kamin hingen zwei große Banner, eines dunkelrot und das andere strahlend weiß. Auf ihnen prangten einmal der schwarze Eber vom Haus Cadwen und daneben der blutrote Fuchskopf des Königshauses. Eyris ab Cadwen, der Burgherr, war ebenfalls anwesend, außerdem noch eine Handvoll Wachen, die sich sowohl aus der Königsgarde als auch aus den Haustruppen Cadwens zusammensetzten und an den Wänden verteilt standen. Darian selbst stand dem Gespräch am nächsten.

Der Lärm und die Unruhe führten nun dazu, dass der Säugling in Arinas Armen, dieser kleine Wicht von einem Prinzen, lauthals zu schreien begann – ein Umstand, der Darian in den letzten zwei Wochen bereits genug Nerven gekostet hatte. Trotzdem beherrschte er sich und behielt eine gleichgültige Miene bei, starrte stur über die Köpfe seiner Schwester und seiner Königin hinweg geradeaus auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand des Saales und ignorierte das Plärren des Kindes ebenso wie den nagenden Zorn angesichts des Tonfalls, den die Königin seiner kleinen Schwester gegenüber anschlug.

Darian würde sich selbst als einen äußerst disziplinierten Mann bezeichnen – eine Eigenschaft, die er sich bereits in jungen Jahren angeeignet und im Erwachsenenleben noch verfeinert hatte, zunächst als Legionärsknappe am Hofe seines Vaters in Pandars Hauptstadt Calena und zuletzt als Mitglied und später sogar Kommandant der königlichen Leibgarde in Bel’anoria. Nicht ohne Grund hatte er es innerhalb eines Jahrzehnts vom Sohn einer einfachen Wirtshaushure, die bis zu ihrem Tod ein kümmerliches Dasein in einer namenlosen Schenke am Stadtrand von Calena gefristet hatte, bis zu einem geweihten Ritter Ædwens gebracht, der sich in fünffacher Folge den Schwertmeistertitel erkämpft hatte und somit als der »Weiße Prinz von Pandar« in die Turniergeschichte eingegangen war. Er hatte es zu einem ehrbaren und geachteten Mann gebracht, mit Gold in der Tasche, einem kostspieligen Kettenhemd und einem guten Schwert an der Hüfte. Navaanischer Stahl, wie ihm der Waffenhändler versichert hatte. »Nicht so belastbar wie amonische Klingen, Herr, aber dafür leichter und schneller.«

Herr. Darian ließ sich das Wort im Stillen auf der Zunge zergehen, immer und immer wieder. Vor gar nicht allzu langer Zeit wäre es nicht einmal dem ärmsten aller Bettler in den Sinn gekommen, ihn so zu nennen, und mittlerweile sprach ihn beinahe jeder mit »Herr« oder »Sir« an und zollte ihm den Respekt, den er verdiente. Seine Mutter mochte vielleicht eine einfache Hure gewesen sein, in seinen Adern floss trotzdem königliches Blut, das Blut Pandars. Eine gewisse Art von gerechtfertigtem Hochmut erfüllte ihn, als er über seinen Werdegang nachdachte und sich noch einmal seiner Stellung bewusst wurde. Kommandant der ædwenischen Königsgarde! Er wusste, dass Carvan ihn gemocht und ihm vertraut hatte, aber dass es ihm gelungen war, seine Mutter davon zu überzeugen, Darians Wert ebenfalls anzuerkennen, war dennoch überraschend gekommen. Er hatte ihm der Höflichkeit halber noch danken wollen, aber der Prinz war zu diesem Zeitpunkt bereits zu jenem schicksalshaften Feldzug aufgebrochen, der ihn in sein Verderben geführt hatte. Und als er schließlich wieder davon zurückgekehrt war, war er die meiste Zeit kaum noch ansprechbar gewesen. Innerlich zuckte Darian mit den Schultern. Jetzt war Carvan tot, eins mit der Welt und den Geistern, wie es die Runari so schön bezeichneten. Wenigstens bedeutete das, dass er ihn nicht mehr beim Fechten gewinnen lassen musste. Darian hasste es zu verlieren, auch wenn er es mit Absicht tat. Doch auch hier hatten ihm seine Disziplin und seine Willenskraft stets weitergeholfen, weshalb er diese beiden Eigenschaften zu den wichtigsten eines Kriegers zählte, auch wenn sie vielen Ædwenern erschreckend unbedeutend erschienen. Es hatte seine Zeit gedauert, doch inzwischen hatte er die anderen Königsgardisten unter seinem Kommando genügend gedrillt, um seinen Anforderungen zu entsprechen. Doch wie es schien, würde er hier bei den Truppen Car Cadwens von neuem beginnen müssen. Er warf einen kurzen Seitenblick zu diesem vorlauten Burschen Edwyn, der ihn so unverschämt angestarrt hatte, während er seine Antrittsrede gehalten hatte. »Ihr seid weit entfernt von dem, was man bei uns in der Hauptstadt als fähige Krieger bezeichnet, als Soldaten!«, hatte Darian gesagt und die vor ihm versammelte Mannschaft missbilligend gemustert. Sir Pyrell, der bisherige Kommandant der Festungstruppen, war schweigend danebengestanden und hatte sich merklich auf die Zunge gebissen, um ruhig zu bleiben. Zu seinem eigenen Besten, wie Darian sich dachte, denn Pyrell hatte bei der Ausbildung dieses Haufens eindeutig lausige Arbeit geleistet. Zugegeben, sie wussten zu kämpfen, doch das war bei weitem nicht alles, was einen guten Krieger ausmachte. Aber was sollte man auch erwarten? Pyrell war vielleicht einmal ein Kriegsheld gewesen, doch die Zeit als Krüppel und das Alter hatten ihn fett und faul werden lassen.

»Ihr werdet das Leben eures zukünftigen Königs bewachen«, war Sir Darian mit seiner Ansprache fortgefahren und die beiden Reihen von Kriegerinnen und Kriegern abgegangen. »Und deshalb verlange ich von euch absolute Disziplin, absolute Wachsamkeit, und vor allem«, hier hatte er den behandschuhten Zeigefinger erhoben, »absoluten Gehorsam!« Nahe dem Ende der Reihe war er stehengeblieben und zackig herumgefahren. »Du«, er hatte auf Edwyn gezeigt. »Man sagte mir, du seist etwas Besonderes, weil dich die große Morvana zu ihrem persönlichen Laufburschen auserkoren hat, ist das wahr?«

Der Junge hatte nicht geantwortet, vermutlich zu verblüfft über die direkte Ansprache. Das war aber auch nicht notwendig gewesen, denn Darian wollte bei Vorträgen wie diesen grundsätzlich weder Erklärungen noch Entschuldigungen hören. Außerdem machte er dann aus seiner Abneigung keinerlei Hehl. »Das wird nun ein Ende haben. Wenn du eine Zukunft als Krieger Ædwens anstrebst, wirst du dich unterordnen, Bürschchen. Hier wird es keine Sonderbehandlung geben. Für niemanden. Du kannst meinetwegen beim Kräutersammeln helfen, wenn du vom Dienst freigestellt bist.«

Das war jetzt knappe vier Wochen her, und Darians Meinung zu dem Jungen hatte sich seitdem keinen Deut gebessert. Auch jetzt schien es ihm nicht zu gelingen, sein Unwohlsein zu verbergen, so wie er sein Gewicht unruhig von einem Bein auf das andere verlagerte und immer wieder angespannte Blicke in Richtung der Königin warf. Darian würde ihn sich später vorknöpfen müssen. In Habachtstellung zu verharren, war eine Kunst, die geehrt werden sollte.

Arina hatte es inzwischen aufgegeben, den Prinzen beruhigen zu wollen, und übergab den in weiße Tücher gehüllten Säugling stattdessen an ihr Kindermädchen, das sich daraufhin aus dem Raum schlich. Darian versuchte vergeblich, sich an den Namen der Frau zu erinnern, während er gleichzeitig mit einem Anflug von Missbilligung das kleine Lächeln und den kurzen Blick bemerkte, den das Kindermädchen diesem Edwyn zuwarf, als sie an ihm vorbeikam, und wie dieser ihr anschließend nachgaffte wie ein treudoofer Köter.

Schnell jedoch vergaß er sie wieder, als er den Blick bemerkte, mit dem seine Schwester nun ihre Schwiegermutter und Königin bedachte: eisig wie der heraufziehende Winter und unnachgiebig wie die Mauern der Festung. Wie immer erfüllte es ihn mit Ehrfurcht und Stolz, wenn er seine kleine Schwester so erleben durfte. Sie war wie gemacht für das Leben am Hofe, für die emotionsgeladenen Debatten und die endlosen Gespräche, für die geheimen Hinterzimmervereinbarungen und die Ränkespielchen der Reichen und Mächtigen. Jetzt richtete sie sich in ihrem Sessel auf und straffte sich merklich, während sie mit ein paar Handgriffen ihr Haar richtete, das sie zu einer wagemutig aussehenden Turmfrisur hochgesteckt hatte, ebenso rabenschwarz wie sein eigenes. Gold glänzte an ihren Fingern, ihren Armen und an ihrem Hals. Sie sah wahrhaftig königlich aus.

»Ich bin seine Mutter, das kann niemand hier bestreiten«, sagte sie nun in einem unterkühlten Tonfall. »Ebenso wenig kann mir irgendjemand das Recht einer Mutter streitig machen, den Namen ihres Kindes selbst auszuwählen, selbst Ihr nicht!«

Hela kniff die Augen zusammen und beugte sich in ihrem Sessel vor, sodass sie im flackernden Schein des Kaminfeuers wie einer der Dämonen der alten Zeit wirkte, der am Rand eines Hausdachs kauert und auf die bedauernswerten Kreaturen zu seinen Füßen hinabblickt. Als sie sprach, war ihre Stimme ebenso eisig und unnachgiebig wie Arinas Blick und doch so ruhig, als spreche sie über das Wetter.

»Du magst seine Mutter sein, doch ich bin nach wie vor deine Königin. Und als solche werde ich keinen Ungehorsam dulden. Wenn du deinen Sohn behalten willst, dann wirst du tun, wie dir geheißen wird.«

Darian sog unmerklich die Luft ein, bevor er sich wieder beherrschte. Er wusste, dass Arina vor Zorn toben würde, hätte sie sich nicht so sehr unter Kontrolle. Er konnte sehen, wie ihr Widerstand für einen kurzen Moment brach, wie ihr Mundwinkel zuckte und ihr der Atem sichtbar stockte. Hastig griff sie nach ihrem Weinkelch und nahm einen großen Schluck, womöglich um das kaum merkliche Zittern ihrer Finger zu verbergen. »Das würdet Ihr nicht wagen.«

Hela stieß ein kurzes, abgehacktes Lachen aus und wurde daraufhin sofort von einem Hustenanfall durchschüttelt. Lord Eyris, der hinter der Königin stand, wirkte besorgt, hielt sich aber weiterhin zurück und kratzte sich stattdessen am Bart.

»Denkst du wirklich, ich würde vor irgendetwas zurückschrecken?«, erwiderte Hela schließlich, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war. »Denkst du wirklich, ich würde es nicht wagen, meinen eigenen Erben zu mir zu holen? Am Abend des Bal’hain wird mein Enkel im Angesicht der Schöpfer geweiht, und sein Name wird Carvan ab Vespan sein, Sohn von Carvan ab Vespan, Sohn von Hela ab Vespan, der Füchsin des Südens und Königin Ædwens, Hochkönigin der Menschenreiche Palvans. Und wenn du dich mir weiterhin widersetzt, schicke ich dich weit fort von hier, wo du dann den Rest deines kümmerlichen Lebens als alte, einsame, verbitterte und kinderlose Witwe verbringen wirst!«

Mit jedem einzelnen Wort wurde Helas Stimme lauter und wuterfüllter, während die Adern an ihrem Hals hervortraten und ihre Spucke durch die Luft flog. Jeder der Anwesenden trat sofort angesichts des unbeherrschten Zorns der Königin unwillkürlich einen Schritt zurück. Selbst Lord Eyris, der derartige Ausbrüche vermutlich schon des Öfteren erlebt haben musste, wich ein wenig zurück.

Darians behandschuhte Faust hatte sich unwillkürlich verkrampft, und er zwang sich, sie wieder zu öffnen. Leise atmete er die angehaltene Luft aus.

Auch Arina wirkte nicht sonderlich glücklich in diesem Moment, ganz im Gegenteil sogar. Ihr Blick triefte vor Hass und Verachtung, ihre Lippen bebten und ihre Knöchel wurden weiß, so fest umklammerten ihre Hände den Weinkelch. Nun ließ die Königin ein schwaches Lächeln aufblitzen, so kalt und leer wie ihr Blick. Ihr Zorn schien ebenso schnell verraucht, wie er gekommen war. »Hasse mich ruhig, mein Kind. Das kümmert mich nicht, solange du nur meinen Befehlen folgst.«

Mit diesen Worten erhob sie sich langsam, griff nach ihrem eigenen Weinbecher und leerte ihn in einem einzigen Zug. »Wir sehen uns an Bal’hain, Tochter.«

Sie standen auf der Torplattform und blickten hinab auf die brachliegenden Felder vor der Festung und die mittlerweile gefrorene Straße, die gen Westen nach Bel’anoria führte. Und auf die lange Reihe an Reitern, die unter wehenden Fuchsbannern in Richtung Wald zog, in ihrer Mitte einen mit Gold verzierten und mit Eisen verstärkten Wagen, der von vier stolzen Hengsten gezogen wurde.

Arina stand an der Brustwehr, dick in ihren Pelzmantel gewickelt und die behandschuhten Hände auf den kalten Stein vor ihr gepresst. Sie bebte noch immer vor Zorn und Frust, auch wenn es ihr kaum anzumerken war. Wären ihre Blicke Feuerblitze gewesen, so zögen die Zugpferde dort unten bereits vermutlich kaum viel mehr als einen rauchenden Trümmerhaufen auf Rädern hinter sich her anstelle der königlichen Kutsche. Darian konnte ein Schmunzeln bei dieser Vorstellung nicht unterdrücken, doch dann riss er sich zusammen, als sich seine Schwester umdrehte und die beiden Wachen anfuhr, die sie aus der Halle begleitet hatten: »Ihr zwei! Geht zu Morvana und sagt ihr, ich brauche, wonach ich verlangt habe. Sie wird wissen, worum es geht.«

Der rothaarige Arschkriecher Hervard nickte sogleich eifrig und fuhr eilig herum, während Edwyn dagegen einen Augenblick zu lange zögerte, bevor er ehrerbietig den Kopf neigte – vielleicht auch, weil er Darians strengen Blick bemerkt hatte. »Meine Herrin.« Mit diesen Worten folgte er seinem Kameraden die Treppe in den Hof hinunter.

»Ein heißes Bad würde dir guttun, Schwesterchen«, wagte Darian nach kurzem Zögern vorzuschlagen, sobald sie alleine waren. Er sah, wie Arina aufzubegehren versuchte, doch dann wurden ihre Züge mit einem Mal deutlich sanfter. Sie nickte. »Vermutlich hast du recht.«

»Altersschwache Vettel«, zischte Arina, während sie über den Rand des Badezubers griff und sich großzügig Wein nachschenkte. Es war ein guter pandarischer Tropfen, nicht diese Ziegenpisse, die sie hier in Ædwen als Wein verkauften. Darian hatte die Flasche kurz vor ihrem Aufbruch in Bel’anoria gekauft, und sie hatte ihn ein halbes Vermögen gekostet. Nicht, dass ihn derlei Dinge noch sonderlich beschäftigten. Sie war eigentlich für einen besonderen Anlass gedacht gewesen, doch im Nachhinein betrachtet war jeder Anlass eine passende Gelegenheit, um einen guten, pandarischen Wein zu genießen. Er konzentrierte sich wieder auf die Bewegungen seiner Daumen entlang der verspannten Rückenwirbel seiner Schwester. Sanft ließ er seine Finger über ihren nackten Rücken gleiten und genoss währenddessen die angenehme Wärme, die von dem Feuer im Kamin und dem heißen Wasser ausging, das Arinas restlichen Körper bedeckte. Draußen wirbelte ein eiskalter Schneeregen umher, und er war wieder einmal überaus froh darüber, sich um die Kälte keinerlei Gedanken mehr machen zu müssen. Er wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, am ganzen Körper zu frieren und zu zittern, bis man seine Gliedmaßen nicht länger spürte und fürchten musste, am nächsten Morgen mit einem oder mehreren toten Zehen oder Fingern aufzuwachen – wenn man überhaupt wieder aufwachte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal sage, aber manchmal wünsche ich mir doch fast ihren Sohn zurück«, führte Arina derweil ihre Gedanken weiter, auch wenn Darian nur halbherzig zuhörte. »Der war immerhin berechenbarer. Und er hat auf mich gehört. Meistens jedenfalls.«

»Damit warst du aber eine Ausnahme.«

Arina schnaubte und nahm einen großen Schluck aus ihrem Kelch. »Mit der Zeit hätte sich das wahrscheinlich geändert. Nicht umsonst sagt man doch, dass Kinder mit zunehmendem Alter immer mehr wie ihre Eltern werden.«

Unwillkürlich musste Darian an seinen eigenen Vater denken. Die Wahrscheinlichkeit, dass er ihm auch nur im Entferntesten ähnlich werden würde, lag im Bereich des Unmöglichen. Vor allem, wenn dabei einer von ihnen beiden ein Wörtchen mitzureden hatte. Rasch schob er den Gedanken an seinen Vater wieder von sich. Das letzte, was er jetzt sehen wollte, war dieser mitleidslose, verachtende Blick, den manche Eltern für ihre ungeliebten Kinder übrighatten. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Schwester – oder seine Halbschwester, wenn man es genau betrachtete. Nicht, dass das für ihn einen großen Unterschied darstellte.

Seine Finger fanden eine besonders verspannte Stelle über ihrem rechten Schulterblatt, die er nun eingehend zu massieren begann. Gleichzeitig sog er ihren intensiven Rosenduft durch die Nase ein und schloss für einen Moment die Augen, während sich ein unbeabsichtigtes Lächeln auf seine Lippen stahl. Da beugte sich Arina im Zuber nach vorne und entzog sich seiner Berührung. Ein kurzer Anflug von Enttäuschung durchfuhr ihn. »Sie ist alt«, sagte er schnell, um sich abzulenken. »Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Geister sie zu sich rufen.«

»Das ist immer noch zu lange für meinen Geschmack. Außerdem, was denkst du wird passieren, sobald Hela stirbt? Diese gierigen Bastarde in Bel’anoria liegen bereits wie die Geier auf der Lauer, und sie werden nicht lange warten, sobald der geeignete Zeitpunkt erst gekommen ist. In dem Moment, in dem die alte Füchsin das Zeitliche segnet, werden sie sich auf meinen Kleinen stürzen und ihn in der Luft zerfleischen.«

Darian konnte nicht verhindern, dass sich seine Gesichtszüge verzogen; zum Glück wandte Arina ihm nach wie vor den Rücken zu. Er hatte kleine Kinder noch nie ausstehen können, und Säuglinge waren die Schlimmsten von allen. Dazu kam, dass dieser Zwergenprinz seit neustem einen Großteil der Aufmerksamkeit seiner Schwester beanspruchte – Aufmerksamkeit, die bis dahin unter anderem ihm gegolten hatte. Außerdem hatte Darian seit der Geburt des Prinzen eine neue Seite an Arina kennengelernt, die er bei ihr niemals zu sehen erwartet hatte: bedingungslose, scheinbar grenzenlose Liebe. Und das für ein kränkliches kleines Würmchen, das noch absolut nichts getan hatte, um sich diese Zuneigung zu verdienen. Bei den Schöpfern, es gab sich sogar alle Mühe, möglichst unliebsam zu wirken, mit all diesem grundlosen Geschrei und diesem hässlichen, zornesroten Schrumpfgesicht.

»Das wirst du schon zu verhindern wissen«, gab er schließlich eine lahme Erwiderung.

»Ich? Ohne Carvan und Hela bin ich für diese Geier ein Nichts, ein Hindernis. Im besten Fall verheiraten sie mich an irgendeinen stinkenden, fetten Herrn am Rande von Nirgendwo, und im schlimmsten Fall wartet auf mich eine Klinge im Dunkeln oder eine Prise Rotnesselstaub in meinem Essen.«

»Das würden sie nicht wagen. Du bist die Tochter eines Königs!«

Warmes Wasser schwappte über den Rand des Waschzubers auf seine Stiefel, als sich Arina herumdrehte und ihm diesen eindringlichen Blick zuwarf, der ihm sagte, wie ernst ihr diese Angelegenheit war. Trotzdem kam er nicht umhin zu bemerken, dass ihre kleinen und harten Brustwarzen nun knapp über der Wasseroberfläche lagen. Mühsam zwang er sich, Arina stattdessen in die Augen zu schauen, als sie ernsten Tonfalls weitersprach. »Und wenn ich die Tochter der Schöpfer höchstpersönlich wäre, gäbe es in Ædwen immer noch genügend machthungrige Schweine, die über Leichen gehen würden, um die Kontrolle über meinen Sohn zu erhalten. Denn wer auch immer die für sich beansprucht, dem liegt im Grunde ganz Ædwen zu Füßen. Und dann dauert es nicht lange, bis er für diese Person auch nur noch ein Hindernis darstellt, das beiseitegeschafft werden muss.« Sie presste ihre Lippen aufeinander, und in ihren Augen glitzerte eine Entschlossenheit, die er nicht erwartet hatte. »Und das werde ich zu verhindern wissen!«

Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was sie damit meinte. Wie von selbst glitten seine Augen an ihr vorbei zu dem mit einem Tuch bedeckten Vogelkäfig, der auf einer hölzernen Kommode neben ihrem Bett stand. »Du denkst doch nicht etwa daran …«, begann Darian, bis er von Arina unterbrochen wurde: »Ich habe es bereits getan.«

Seine Augen huschten von dem Käfig zu ihr, dann wieder zurück zum Käfig. Abrupt sprang er auf, durchmaß den Raum mit drei großen Schritten und riss das Tuch herunter. Der Käfig war leer.

Eine Mischung aus Enttäuschung und Wut durchflutete ihn, während er zugleich das Plätschern von Wasser hörte. Gerade noch rechtzeitig fuhr er herum, um zu sehen, wie Arina mit einer schwungvollen Bewegung aus dem Badezuber stieg. Das Wasser glänzte auf ihrer blassen, makellosen Haut, die auf einer Seite von den orangeroten Flammen im Kamin beleuchtet wurde, während die andere in den Schatten lag. Für einen Moment waren Darians Gedanken wie leergefegt. Arina war zwölf oder dreizehn gewesen, als er sie das erste Mal kennengelernt hatte, kaum dem Kindesalter entwachsen. Inzwischen jedoch war sie unzweifelhaft zu einer jungen Frau herangereift, was nicht zu übersehen war. Die ungleichen Lichtverhältnisse betonten ihre Rundungen noch mehr, was unweigerlich dazu führte, dass Darian für den Augenblick vollkommen vergaß, was ihn so aufgebracht hatte. Es dauerte daher seine Zeit, bis er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Ich mag ihn nicht«, sagte er schließlich. »Und ich vertraue ihm noch weniger.«

Arina trat näher an ihn heran, scheinbar ungeachtet ihrer Blöße. »Ich traue ihm ebenso wenig. Aber er hat uns das letzte Mal auch geholfen, schon vergessen? Und er wird es wieder tun, davon bin ich überzeugt.«

»Ich kann dich auch beschützen«, entgegnete er schwach. »Besser sogar als dieser falsche Hund.« Arina lächelte warmherzig und streichelte ihm über die Wange. »Ich weiß, dass du das kannst, Bruderherz. Und das wirst du auch. Trotzdem werden wir jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können. Sobald die Königin stirbt, wird es hässlich werden. Darauf müssen wir vorbereitet sein.«

Darian schloss die Augen und ergriff ihre Hand mit seiner. Ein Zittern überkam ihn, und ohne darüber nachzudenken, zog er sie an sich und küsste sie. Ein leises Stöhnen entwich ihm, als sie den Kuss erwiderte und er ihren warmen Atem in seiner Kehle spürte. Seine Hand glitt über die Wölbung ihres Hinterns, während sie spielerisch an seiner Unterlippe knabberte, erst sanft und zärtlich, dann immer stärker, bis es sogar ein wenig schmerzte. Mit der anderen Hand fummelte er nach der Schnalle seines Gürtels, als ihn plötzlich ein richtiger Schmerz durchzuckte. Er schrie auf und taumelte zurück, eine Hand auf die blutende Lippe gedrückt. Arina lächelte noch immer, jetzt jedoch mit seinem Blut an den Zähnen. Er starrte sie fassungslos an.

»Benimm dich, Bruderherz«, durchbrach Arina die Stille, nach wie vor lächelnd. Dabei sprach sie tadelnd, wie mit einem ungezogenen Kind. »Die Gerüchte über uns steigen dir wohl zu Kopf, was?«

Langsam ging sie hinüber zum Bett und streifte sich ein einfaches Leinenkleid über, bevor sie ihm den Rücken zuwandte und sich etwas Wein einschenkte. »Wenn du mich beschützen willst, musst du beginnen, mit etwas anderem zu denken als mit diesem Ding zwischen deinen Beinen. Außerdem«, sie warf ihm einen kurzen, amüsierten Blick über die Schulter zu, »will eine Dame umgarnt werden, bevor man ihr den Hof macht. Und du müsstest bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten.« Belustigung glitzerte in ihren dunklen Augen.

»Sehr witzig«, brummte Darian und zog eine Grimasse. Der Schmerz in seiner Lippe war bereits zu einem dumpfen Pochen abgeklungen. Die Scham dagegen war umso schmerzvoller. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch da fing der kleine Prinz im Nebenzimmer zu weinen an, woraufhin Arina hinübereilte, ohne Darian eines weiteren Blickes zu würdigen. Er blieb noch einige Herzschläge an Ort und Stelle stehen und wusste nicht so recht, wohin mit sich. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.

3

Edwyn

Morvana lebte in einem gedrungenen Haus an der rückwärtigen Seite von Car Cadwen, außerhalb der Festungsmauern und am Fuß der scharfkantigen Felsen, auf deren Spitze die große Halle errichtet worden war. Ein kleines, gut verborgenes Seitentor führte zu dem schmalen Pfad, der sich an den Felsen entlang bis hinunter zum Fluss schlängelte, einem Nebenarm des Duvin. Dort befand sich neben der Hütte der Geistersprecherin auch ein kleiner Anlegesteg, der allerdings nur selten genutzt wurde. Lediglich eine kleine Nussschale von einem Boot schaukelte derzeit gut vertäut im trägen Wasser; das Flaggschiff ihrer ach so mächtigen Kriegsflotte, wie die Runa das kümmerliche Ding oft scherzhaft bezeichnete.

Als eine der mächtigsten, bekanntesten und am höchsten geachtetsten Runari aller fünf Königreiche hätte Morvana ihre eigene Halle haben können, ein weitläufiges Anwesen oder gar ein ganzes Schloss, doch stattdessen hatte sie sich für diese bescheidene Behausung entschieden, ohne den Schutz mächtiger Mauern oder den Prunk von Gold, Silber und Elfenstein. Der einzige Schmuck, der das Äußere der Behausung zierte, waren die zahlreichen Schnitzereien direkt unterhalb des Schindeldachs. Sie zeigten die jahrhundertelange Geschichte der Menschheit in all ihren Ausführungen, vom alles vernichtenden Krieg der Ahnen bis zur Gründung der fünf Königreiche im Süden Palvans. Wichtige Passagen wie der Exodus, der Auszug aus den Alten Reichen Carnacs nach den Weisungen der Schöpfer und unter der Führung der Geister der alten Zeit, waren zudem farblich gekennzeichnet worden, um ihre Bedeutung zu unterstreichen. Ebenso verhielt es sich mit den Darstellungen der Schöpferzeit, als die elementaren Urtitanen, die seit der Entstehung der Welt auf ihr wandelten, in ihren Endlosschlaf verfielen und sich die Weltengeister auf Geheiß der Schöpfer aus ihren Leibern erhoben.

Gedankenverloren strich Edwyn mit den Fingern über die gesichtslosen Schöpfer, die den Menschen auf ihrem Weg über das Große Weltenmeer den Weg wiesen und ihre Geisterschar aussandten, um den Gefahren der Tiefsee zu trotzen. Heutzutage kannten nur wenige die Geschichten der alten Zeit, und ebenso wenige vermittelten sie noch wahrheitsgetreu an ihre Kinder und Enkel, sodass Wissen mit den Jahren zu Glauben geworden war und aus dem Glauben ein Mythos, bis außer der geringen Schar von Geistersprechern und ihren Anhängern immer weniger Menschen mit ihrer Vergangenheit vertraut waren und kaum noch jemand wusste, was der Wahrheit entsprach und was eher ins Reich der Märchen und Legenden gehörte. Weltengeister und Schattendämonen, Hexenmeister und Zauberer, Elfen, Zwerge, Rakusa, Ghule und andere Monster, das alles befand sich weitab von allem, was den Menschen Palvans tagtäglich durch den Kopf ging.

Schließlich erinnerte sich Edwyn wieder an seine Aufgabe und stellte sich unwillkürlich die Miene von Lady Arina vor, sollte er zu lange herumtrödeln. Er schluckte und riss sich rasch von den Schnitzereien los, bevor er sich geräuschvoll räusperte und anklopfte.

»Rein mit dir, Ed!«, ertönte sogleich dumpf die Stimme der Runa, noch bevor er überhaupt seinen Namen nennen konnte – nicht, dass ihn solche Dinge noch sonderlich überraschten, dafür kannte er Morvana schon zu lange.

Ebenso wenig überraschte ihn der starke Geruch nach den verschiedensten Kräutern und anderen nicht genauer bestimmbaren Stoffen, der ihm entgegenschlug, kaum dass er über die Schwelle getreten war. Oder die schwarze Katze, die ihn mit ihren klugen Augen von einem der rußgeschwärzten Dachbalken über der offenen Feuerstelle aus musterte – egal wo Morvana hinging, folgte ihr mindestens eines von diesen unberechenbaren Biestern. Ganz zu schweigen von den viel zu überladenen Regalbrettern an den Wänden, die sich bereits unter der Last der vielen Schriftrollen, in Leder gebundenen Folianten und verschiedenen Gefäßen in allen Größen, Farben und Formen gefährlich nach unten bogen.

Edwyn schlug die Tür hinter sich zu, lehnte Speer und Schild gegen den Rahmen und genoss für einen Moment die Wärme des Feuers. Von Morvana war nichts zu sehen, doch auch das verwunderte ihn nicht. Die Runa hielt sich häufig hinter dem schweren Vorhang auf, der die Rückseite der Hütte verdeckte und das, was auch immer sich dort befand, vor neugierigen Blicken schützte.

Unter den Männern und Frauen der Haustruppe Cadwens liefen nun schon seit einiger Zeit die unmöglichsten Wetten, was genau die Runa hinter dem Vorhang zu verbergen versuchte, doch selbst Edwyn hatte nicht die leiseste Ahnung – was ihm natürlich keiner der anderen Burgbewohner abkaufen wollte. Vor etwas über zwei Jahren hatte sogar einer der Männer versucht, bei Nacht in die Hütte einzubrechen und hinter den Vorhang zu spähen, doch wurde er dabei von Morvana erwischt, die ihm daraufhin androhte, ihn in eine stinkende Kröte zu verwandeln, sollte er sich dem Haus jemals wieder bis auf zehn Schritte nähern. Der Mann war zwar mittlerweile längst tot und begraben – ein Reitunfall während einer Treibjagd in den Wäldern nahe Paerl im letzten Frühling –, doch noch immer wagte sich seitdem niemand mehr in die Nähe der Hütte, wenn es nicht unbedingt sein musste. Das war auch der Grund, warum sich Hervard still und heimlich auf den Pisspott zurückgezogen hatte, als sie sich auf den Weg machen wollten.

»Was führt dich hier her?«, fragte Morvana nun von der anderen Seite des Vorhangs aus. »Aber wehe, du klagst auch über Ohrenschmerzen! Eyris geht mir deshalb schon seit der Geburt dieses Furzkopfes auf die Nerven. Wenn das noch lange so weitergeht, werde ich bald etwas gegen Ohrenschmerzen brauchen. Ach, wie selig muss doch die Welt der Tauben und Ohrenlosen sein, meinst du nicht auch?« Irgendetwas klapperte und fiel lautstark scheppernd zu Boden, woraufhin ein besonders garstiger Fluch ertönte. Erneut schepperte es, dann schoss ein metallener Gegenstand hervor, verfehlte Edwyn um Haaresbreite und krachte klirrend gegen den Türrahmen, wo er in seine Einzelteile zerschellte. Wenige Augenblicke später tauchte Morvana auf, die Ärmel ihrer schlichten grauen Robe bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und einen genervten Ausdruck auf dem zerfurchten Gesicht. Ähnlich wie ihre Stirn und Wangen bedeckten schmuckvolle Tätowierungen – verschnörkelte Runen und seltsame Symbole in Anya, der Alten Zunge – auch ihre nun entblößten Arme. Edwyn verspürte einen Anflug von Stolz, als er erkannte, dass er einige davon entziffern konnte – es waren die Namen von verschiedenen Weltengeistern, jenen Wesen, von denen die meisten Runari ihre Kraft zogen.

Edwyn entschied sich dafür, besser nicht nach dem Grund für den Ärger der Runa zu fragen, und berichtete ihr stattdessen von seinem Auftrag. Zumindest versuchte er es. »Lady Arina bittet …«, begann er, wurde aber von einem heftigen Abwinken unterbrochen. »Pah! Arina bittet nicht, das brauchst du mir gegenüber nicht zu verschönern. Diese hochwohlgeborene Kuh ist zu so etwas vermutlich nicht einmal fähig. Aber keine Sorge, ich habe, was du ihr bringen sollst. Lieber so, als dass ich es ihr persönlich übergeben muss; so kann ich mir wenigstens das Gebrüll unseres königlichen Furzkopfes ersparen.«

Edwyn musste grinsen. »Ihr solltet ihn nicht so nennen, immerhin wird er unser nächster König sein.«

Morvana schnaubte, zu gleichen Teilen amüsiert und verächtlich. »Deshalb ist er ja auch ein königlicher Furzkopf; seine Fürze sind von besonderer Güte.«

Jetzt konnte sich Edwyn ein kurzes Auflachen nicht verkneifen, sosehr er sich auch bemühte.

»Die Königin will ihn an Bal’hain nach Prinz Carvan benennen«, erzählte er schließlich. Die Runa zuckte mit den Schultern. »Natürlich will sie das. Diese sture alte Ziege hat das schon vor Monaten mit mir besprochen, kurz nach dem Tod ihres eigenen Sohnes. Ich sagte ihr, ein Name habe absolut gar nichts zu bedeuten, doch sie bestand darauf. Und wenn Hela sich etwas in den Kopf gesetzt hat, wird sie nichts und niemand davon abbringen. Aber wie dem auch sei«, sie griff in eine ihrer zahlreichen Taschen und holte ein kleines, unscheinbares Fläschchen hervor, in dem sich eine klare Flüssigkeit mit leichtem Grünstich befand, »gib das unserer verbitterten Witwe mit der sauren Milch. Das wird sie glücklich machen – für ihre Verhältnisse zumindest.«

»Was ist das?«

»Grünpollextrakt. Hilft gegen beinahe jede Unpässlichkeit, sei es nun eine leichte Magenverstimmung, eine langsam fortschreitende Vergiftung oder aber gegen das Leben selbst, je nach eingenommener Menge. Mit etwas Glück verabreicht sie dem kränkelnden Windelfurzer von einem Prinzen zu viel davon, dann sind wir wenigstens das Geschrei los.« Sie hob einen schlanken Finger. »Die Gewinnung von Grünpoll ist allerdings nicht gerade einfach, weshalb sich die Witwenkuh durchaus geehrt fühlen darf.«

Edwyn beschloss, nicht näher darauf einzugehen, während er seinen Speer und den Schild mit dem Eber darauf an sich nahm und sich bereitmachte, wieder hinaus in die Kälte zu treten. »Ich werde Lady Arina ausrichten, dass es Euch eine Ehre war, ihr behilflich sein zu können«, sagte er schließlich und warf Morvana ein freches Grinsen zu. Die verdrehte jedoch nur die Augen und drängte ihn zur Tür. »Natürlich wirst du das. Und jetzt auf, ich habe noch zu tun!«

Auf dem Rückweg wäre Edwyn beinahe mit Sir Darian zusammengestoßen, der gerade aus der Kammer der Prinzessin trat. Die sonst so perfekt sitzende Haarpracht des Ritters war ein klein wenig in Unordnung geraten, und an seiner Unterlippe zeigte sich eine kleine offene Wunde. Sein Blick wirkte angespannt, so als hätte er sich aufgeregt. Als er sah, wem er gerade beinahe mit der Türe die Nase zertrümmert hätte, hielt er überrascht inne, während Edwyn hastig zur Seite trat und den Kopf senkte. »Mein Herr.«

Darian fing sich rasch wieder und herrschte ihn an: »Wo bist du gewesen, Junge? Du solltest die Prinzessin bewachen und nicht herumstreunen wie ein räudiger Köter!«

»Lady Arina hatte mir doch aufgetragen …«, begann Edwyn, unterbrach sich jedoch, als Darian ihn kurzerhand packte und gegen die Wand drückte, das Gesicht vor unterdrückter Wut verzerrt. Seine Nasenflügel bebten. »Du befolgst meine Befehle, und keine anderen! Hast du mich verstanden?«

Edwyn nickte stumm.

»Wenn ich sage, du sollst die Prinzessin nicht aus den Augen lassen, dann heißt das, dass sie keinen einzigen verdammten Schritt tun kann, ohne dass du ihr folgst, verstanden?«

Edwyn nickte erneut. Dann lächelte Darian plötzlich und tätschelte ihm die Wange. »Braves Hündchen.« Da erblickte er das Fläschchen in Edwyns Hand und entriss es ihm. »Was ist das?«

»Grünpollextrakt. Von Morvana. Für Eure Schwester, Herr.«

Darian presste die Lippen zusammen und gab ihm das Fläschchen zurück. »Bring ihr das. Und dann wirst du hier den Rest des Tages Wache halten. Nächstes Mal werde ich nicht so gnädig sein, also mach keinen Blödsinn. Wenn ich eine Sache nicht leiden kann, dann sind es freche Hündchen, die ihren Platz nicht kennen und denken, sie könnten tun und lassen, was sie wollen.«

Damit drehte er sich um und rauschte davon, während Edwyn ihm stechende Blicke hinterherwarf. Bei den Schöpfern, er hasste diesen Kerl.

Später an diesem Tag standen Kampfübungen an – ein ermüdender, jedoch unverzichtbarer Aspekt des Lebens als Hauskrieger, den Sir Darian mit Freuden seinem Vorgänger und jetzigen Stellvertreter Pyrell überließ, dem Waffenmeister der Festung. Ebenso wie Darian war Pyrell ein geweihter Ritter Ædwens, darüber hinaus war er aber auch ein Veteran zahlloser Schlachten – Darian dagegen konnte bestenfalls auf die Bindung zu seiner Halbschwester zählen, um seine Position zu rechtfertigen.

Sir Pyrell war es auch gewesen, der Edwyn damals aus dem Waisenhaus mitgenommen hatte, als er kaum dem Kindesalter entwachsen war. »Der sieht mir wie ein zäher Bursche aus«, hatte der Ritter gebrummt und sich den vor Läuse starrenden Bart gekratzt, während er Edwyn genauestens musterte. »Und das ist mehr, als ich vom Rest dieser Bälger hier behaupten kann.«

Dann hatte er ihn zusammen mit fünf anderen Jungen und einem Mädchen mit nach Car Cadwen genommen, um sie dort auszubilden. Es war hart gewesen, hart und anstrengend und ermüdend. Aber es hatte auch gutgetan, etwas mehr Bedeutung im Leben zu finden als nur Unkraut zu jäten, dem Unterricht der Waisenhausmatronen beizuwohnen oder sich mit den anderen Jungen zu prügeln. Das härteste aber waren vermutlich die Stimmungsschwankungen ihres neuen Hauptmanns Darian, gepaart mit seinem Bedürfnis nach übertriebener Korrektheit, Disziplin und Ordnung und seiner Vorliebe für unverhältnismäßige und demütigende Strafen.

So hatte er Edwyn einmal die gesamte Nacht im Unterhemd Wache halten lassen, weil er seinen Helm vergessen hatte. Ein anderes Mal hatte er einen frischen Rekruten grün und blau geschlagen, weil dieser zu spät zum Wachdienst erschienen war; dabei hatte er ihm mehrere Rippen und die Nase gebrochen. Schnell hatte Edwyn gelernt, Sir Darian am besten nicht zu erzürnen und ihm nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Pyrell dagegen war zwar keineswegs liebevoller, aber dafür weitaus gerechter und ehrlicher. Edwyn mochte ihn, und er glaubte zu wissen, dass der Ritter ihn auch ganz gut leiden konnte – auf seine eigene, ruppige Art und Weise.

»Schilde hoch, ihr nichtsnutzigen Bastarde!«, schrie Pyrell jetzt aus vollem Halse und stampfte mit dem Fuß auf, so als wäre sein Gebrüll noch nicht eindeutig genug. »Na los, macht schon! Oder wollt ihr Stahl in der Fresse spüren?«

Edwyn sah, wie sein Gegner – Julan, einer der neuen Rekruten aus Paerl – ihrem Ausbilder einen verunsicherten Blick zuwarf und für einen kurzen Moment abgelenkt war. Kurz, aber mehr als ausreichend für Edwyn. Mit einem raschen Ausfall stieß er den Übungsstab nach vorn und traf sein Gegenüber mitten in die Brust. Ächzend fiel der Junge rücklings auf die gefrorene Erde und hielt sich den Schild über den Kopf, als fürchtete er einen erneuten Angriff.